Romano Guardini und Paul Ludwig Landsberg: Unterschied zwischen den Versionen
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Diese Ausrichtung hat nicht zuletzt bei beiden seinen „Sitz im Leben“ in der jeweiligen Auseinandersetzung mit den damals aktuellen Themen der Jugendbewegung. | Diese Ausrichtung hat nicht zuletzt bei beiden seinen „Sitz im Leben“ in der jeweiligen Auseinandersetzung mit den damals aktuellen Themen der Jugendbewegung. | ||
=== Rezension zu Landsbergs "Die Welt des Mittelalters und Wir" in den Schildgenossen === | |||
Wohl Waldemar Gurian, der zusammen mit Paul Ludwig Landsberg und Werner Becker zu diesem Zeitpunkt noch völlig zwischen Romano Guardini, Max Scheler und Carl Schmitt stand, hatte in der Quickborn-Kulturzeitschrift „Die Schildgenossen“ das Buch „Das Welt des Mittelalters und wir“ besprochen (W. G.: Rezension zu: Landsberg, Die Welt des Mittelalters und Wir, in: Die Schildgenossen, 3, 1922, S. 44 f.). Gurian lobte darin Landsbergs Fähigkeit Geschichte zu deuten, ohne in den Fehler der Verherrlichung einer unmöglichen Restauration zu verfallen. | |||
1922/23 | === Eine Rezension Landsbergs in den Schildgenossen (1922/23) === | ||
Bislang häufig übersehen wurde, dass Landsberg bereits zum Schildgenossen-Jahrgang 1922/23 eine Rezension über Peter Dörflers „Stumme Sünde“ beisteuerte, die ebenfalls die Nähe zu Guardini dokumentiert: | Bislang häufig übersehen wurde, dass Landsberg bereits zum Schildgenossen-Jahrgang 1922/23 eine Rezension über Peter Dörflers „Stumme Sünde“ beisteuerte, die ebenfalls die Nähe zu Guardini dokumentiert: ''„Die ganze Neuzeit krankt an einer Relativierung des Sündenbegriffes, die beginnt bei Jakob Böhme. Für ihn wird das Böse notwendig zur Hervorrufung des Guten. Nicht umsonst gefiel diese späte, in manchem entartete Sproß der deutschen Mystik den Romantikern so gut, deren spielende Seele auch stets in der Gefahr war, den Ernst gerade der moralischen Entscheidung zu vergessen. Hegel endlich trieb durch sein dialektisches Prinzip den Wahnsinn auf die Spitze. Er wagte es, das Identitätsprinzip zu leugnen: Gut war nicht mehr Gut und Böse nicht mehr Böse. Das Ende kennen wir in Nietzsche, den gewaltigen Protest in Kierkegaard, der sich als welthistorischer Gegner gegen Hegel fühle: Der Mann des `Entweder-Oder´ gegen den des `Sowohl-Als auch´. – Diesem unheilvollen Relativierungsprozeß ist nicht in erster Linie durch begriffliche Erwägung zu begegnen, vielmehr durch einfache Hinstellung des Felsens der Realität der Sünde, an dem er scheitern wird.“'' Landsberg übt schließlich ''„Kritik an all diesen `Psychoanalytikern´, diese feinen Versteher der Sünde und Verführer zur Sünde.“'' (Paul Landsberg: Rez. Peter Dörfler, Stumme Sünde, Kempten 1922, in: Die Schildgenossen, 3, 1922/23, Heft 2, S. 78 f.) | ||
=== Der Bonner Scheler-Kreis === | |||
Paul Ludwig Landsberg (1901-1944) wurde eine der führenden Gestalten, vielleicht sogar Mittelpunkt des Bonner Scheler-Kreises, dem neben Landsberg selbst die Kunsthistoriker bzw. Kulturphilosophen Heinrich Lützeler (1902-1988), Paul Clemen (1866-1947), aber auch der schon der ältere herangezogene Wilhelm Robert Worringer angehörten. Dabei scheint Scheler selbst bei den Treffen des Schüler- und Freundeskreises gar nicht so häufig anwesend gewesen zu sein. Überdies hatten einige sogar den Eindruck, dass während seiner Bonner Zeit vielmehr Guardini der eigentliche Inspirator für den Scheler-Kreis war. Tony Foerster zum Beispiel erinnerte sich daran, dass dort immer viel geredet und debattiert worden sei, bevor Guardini dann “das allein Endgültige” ausgesprochen habe (Brief von Tony Foerster an Guardini vom 20.2.1965 (zum 80. Geburtstag, Stabi), zitiert nach Gerl, 1985, a.a.O., S. 132). | |||
Landsberg | === Die Besprechung zwischen Max Scheler, Romano Guardini und einigen Jugendbewegten in Köln === | ||
Dies könnte auch für eine Außenwahrnehmung des Schüler-Kreises gesorgt haben, der zwar Landsberg deutlich widersprochen hat, aber wohl dennoch nicht gänzlich von der Hand zu weisen ist. Im Sommer 1922 fand nämlich eine Besprechung zwischen Max Scheler und einigen Jugendbewegten in Köln statt, an der auch Romano Guardini teilnahm und die zu einem Diskurs zwischen der Pädagogin, Soziologin und Frauenrechtlerin Elisabeth Busse-Wilson (1890–1974), Autorin der Studie „Die Frau und die Jugendbewegung. Ein Beitrag zur weiblichen Charakterologie und zur Kritik des Antifeminismus“ (1920), und Paul Ludwig Landsberg in der Zeitschrift „Die Tat“ führen sollte (Elisabeth Busse-Wilson: Max Scheler und der homo capitalisticus, in: Die Tat, 14, 1922/23, S. 179-186, besonders S. 184f.; dann in dies.: Stufen der Jugendbewegung. Ein Abschnitt aus der ungeschriebenen Geschichte Deutschlands, Jena 1925, S. 55-63, besonders S. 61 f.; Paul Landsberg: Zu „Max Scheler und der homo capitalisticus“, in: Die Tat, 14, 1922/23, S. 468f.; Elisabeth Busse-Wilson: Scheler und seine Schüler, in: Die Tat, 14, 1922/23, S. 469f.). | |||
Wie stark Landsberg die Jugendbewegung wahrgenommen hatte und wie nahe er insbesondere Guardini geistig stand, zeigt unter anderem sein heftiger Einspruch gegen eine Schilderung dieser Versammlung von Jugendbewegten bei Scheler durch Elisabeth Busse-Wilson: ''„Die Auseinandersetzung zwischen Scheler und Guardini war eine rein sachliche. Guardini als Theologe sieht natürlich mehr das rein Religiöse, Scheler als Philosoph und Soziologe mehr die Bedingtheiten der Verwirklichung. Beide zusammen hätten bei einer Fortsetzung der Besprechungen zu einem Gesamtbild gelangen können, das so aus den Wahrheiten beider sich zu bilden jedem einzelnen Teilnehmer der Tagung überlassen blieb. Alles in allem scheint mir die sachliche Einstellung, die für solche Berichte nötig ist, von E. Busse-Wilson fast nirgends eingehalten. Ihr Aufsatz ist geistreich und gebildet, aber er gibt ein falsches Bild von den Tatsachen, Gedanken und Menschen, die er berührt“'' (Paul Landsberg: Max Scheler und der homo capitalisticus, in: Die Tat, 14, 1922/1923, S. 468f., hier S. 469). | |||
Busse hatte in ihrem „Tagungsbericht“ die These aufgestellt, Scheler vertrete ''„eine Renaissance des Katholizismus und des Mittelalters, die man durchaus verkennen würde, wenn man sie mit dem romantischen Zeitalter gleichsetzen würde. Er nennt den Gegenpol des katholischen Prinzips den „homo capitalisticus“, dessen geistige Struktur und Typologie er mit MAX WEBER aus dem Heraufkommen des protestantisch-calvinistischen Bürgertums Mitteleuropas erklärt“'' (Elisabeth Busse-Wilson: Max Scheler und der homo capitalisticus, in: Die Tat, 14/I, 1923, S. 179-186, hier S. 180). Schelers ''„romantische Utopie, Franziskanertum und Heidentum (machiavellistischer und kapitalitischer Artung) zu vereinen, wurde aufgelöst von dem vortrefflichen Führer der katholischen Jugendbewegung ROMAN(O) GUARDINI, der mit dem der Jugendbewegung eigentümlichen Gefühl für ethische Unbedingtheit und Echtheit auftrat: Staatsmoral und Privatmoral sind nicht zu trennen! Bismarck habe seinerzeit mit Genialität und olympischer Ruhe den 70er Krieg vorbereitet - bis zur Fälschung der Emser Depesche. Das Unternehmen verlief glänzend, Gottes Segen ruhte sichtbar auf ihm, und nach 50 Jahren kam die Antwort auf die Emser Depesche im Versailler Friedensschluß von 1919! Scheler musste sich belehren lassen, dass das Moralische in der Politik wie im Einzelleben in der Folge auch das „Nützliche" ist. Denn die geistigen Gesetze können wie Naturgesetze nicht umgangen oder übertreten werden, ohne, unsichtbar zunächst, aber heimlich und sicher sich an den Enkeln zu rächen. Leider wurde in diesem Zusammenhang das Thema des Großinquisitors von keinem von beiden berührt. Gleichwohl vertrat Guardini, ausgerüstet mit philosophischer philosophischer Kultur und geistiger Strenge zugleich, am edelsten jenen Typus des neuen religiösen Menschen, der die kostbarste Frucht der Jugendrevolution ist. Als Scheler dann, politisch und richtig, feststellte, dass die Durchsetzung der neuen antikapitalistischen Gesinnung durch den Einzelnen unfruchtbar bleiben muß, und beinahe vor einem neuen, nutzlosen Freiwilligentum warnte, erwies sich wiederum dieser katholische Geistliche als der dem Ethos des Jugendmenschen verwandtere. Und nützt der Kampf für eine Idee weder mir noch anderen, noch dem Siege dieser Idee selber so muß ich doch sagen - „ich habs gewagt fürwahr" und nach meiner individuellen Ethik handeln. In Sachen der Moral darf nicht gerechnet werden; denn der Gott in mir ist das Höchste. Schelers Bewunderung für den Typus des übermoralischen Helden hängt an einer Stelle mit der Anerkennung einer höchsten zeitlichen und weltlichen Moralinstanz zusammen, die aber der Christ und vor allem der Katholik außerhalb der göttlichen Offenbarungswerte nicht gelten lassen dürfte. Darf ein verantwortlicher politischer Führer seine Privatmoral opfern, um einer überpersönlichen Institution, z. Ä. dem Staat, Vorteil und Ehre oder Wohlfahrt zu retten? Woher nimmt der Staatsmann, der gegen seine politische Überzeugung im Amte bleibt, allein um eine schwere politische Situation zu überwinden, woher nimmt er die Kraft, um vor sich selbst nicht gesinnungslos zu erscheinen? Was ist es, das Hindenburg, einen altpreußischen Militär und kaisertreuen General, seinerzeit befähigte, nach Errichtung einer sozialistischen Republik, die Armeen nach Deutschland zurückzuführen? Bezeichnenderweise fiel hier nicht das Wort „Pflicht", was unangenehm nach kantischer Häresie und Gotteslästerung geschmeckt hätte. Der eigentümliche Riß in Schelers Lehre trat auch zutage, als man ihm die Gewissensfrage stellte, wie die Umgestaltung der kapitalistischen Welt nun realiter zu bewerkstelligen sei. Er neigt sehr dazu, in dem aufgeklärten Absolutismus einer oder zweier Wirtschaftsdiktatoren das Heil zu sehen. Denn er ist zugleich Augustiner und Bewunderer der Kondoitieri des Kapitalismus von der Art eines Hugo Stinnes. Katholik aus metaphysischem Bedürfnis, nicht aus Romantik wie viele Dichter und Denker, ist er gleichzeitig heimlich verliebt in den selbstherrlichen Unternehmer, der doch zugleich sein Antichrist ist. Hierdurch wird Scheler aber zum Romantiker des Kapitalismus. Er glaubt dabei nicht etwa an die Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus von der Selbstaufhebung des Hochkapitalismus, dadurch, dass das in einer Hand voll Leuten konzentrierte und vertrustete Kapital notwendig zur Sozialisierung hinüber führt. Auch seine Vermutung, dass der Abbau des kapitalistischen Zeitalters durch das biologische Aussterben des kapitalistischen Menschentypus erfolgen werde (spärlicher Kindersegen in dem protestantischen höheren Bürgertum, im Gegensatz zu katholischen Familien), erscheint als eine Rassenmythologie. Von hier aus gelangt er, der eine zentralistische Gewalt zur Heilung des demokratisierten Deutschland befürwortet wie viele, zur Ablehnung der Diktatur des Proletariats, mit der Begründung, dass diese soziale Klasse nicht gesellschaftsneubildend sein kann, weil sich im Proletariat wahrscheinlich nicht mehr akapitalistische Menschen befinden als im Bürgerrum. In der Tat ist ja nur eine Elite im Proletariat die neue Rasse, die eine absterbende Menschenschicht ablösen könnte, im ganzen aber stellt es eine barbarische, verschlechterte Auflage des Bürgertums dar. Das Rückgrat der neuen Gesellschaft sollen nach Scheler vielmehr die akapitalistischen und die antikapitalistischen Menschen aus der Jugendgeneration des Bürgertums und des Proletariats bilden. Können nun diese Gottsucher, Beter bleiben, während sie doch gleichzeitig die Welt wandeln sollen, deren Schicksal aber in den Händen jener Eroberernaturen der kapitalistischen Regierungen Europas liegt? Ist so Scheler eine interessante Mischung eines wahrhaftigen und echten Katholiken und eines Kryptokapitalisten und -protestanten, so ist Guardini kristallklar, Heiliger ohne die Intellektscheu des Gläubigen; auch ist er zugleich ein Erbe jener romanischen Kultur, die die katholische Kirche in so großartiger Weise konservierte und die den germanischen „Barbarenhorden“ der Jugendbewegung völlig abgeht. Guardinis Ethik führt in ihrer Reinheit und Unbedingtheit auf jene letzte große Einsamkeit, wo der Mensch mit seinem Gott allein ist. Eben das ist die metaphysische Haltung der Jugendbewegung, nur daß diese kosmische Einsamkeit, eine protestantische Konsequenz, für den Katholiken immer gemildert ist durch Absolution und Zuspruch seiner Kirche“'' (ebd., S. 184). | |||
Im Kontext argumentierte Landsberg also „im Interesse sowohl der Wahrheit wie der beteiligten Personen“ gegen Busse: ''"[…] Als mir der Aufsatz in Händen kam, war mein erster Gedanke: meine Erinnerung täusche mich über den Verlauf der Tagung, von der E. Busse-Wilson berichtet. Da aber alle anderen Teilnehmer der Tagung, die ich erreichen konnte, mit meinem Bilde übereinstimmten und über das von Frau Busse-Wilson gleich erstaunt waren, so wird die Erinnerungstäuschung wohl bei ihr liegen. Unser Gemüt hat ja eine unermeßliche Kraft, Erlebnisse und Erfahrungen schon in sehr kurzer Zeit bis zur Unkenntlichkeit umzuformen. – Und nun zur Sache! Zunächst ist der Standpunkt Schelers bis zur Zerstörung seines Sinnzusammenhanges verzerrt. Scheler vertritt zwar, wenn man durchaus so will, eine Renaissance des Katholizismus, aber durchaus keine Renaissance des Mittelalters, so sicher er meint, daß wir auch von diesem als Strukturvorbild viel lernen können. Im Gegenteil will er gerade einen Katholizismus, in den das Berechtigte der Neuzeit eingegangen ist. Nach meiner Ansicht geht er in diesem Punkte sogar zu weit. | |||
Es ist auch nicht wahr, wenn es dann weiter heißt: „Sehr im Gegensatz zu M. Weber geht Scheler der Anerkennung der großartigen, positiven, moralischen Qualitäten dieses `homo capitalisticus´ aus dem Wege.“ Auch davon kann gar keine Rede sein. Der `homo capitalisticus´ ist für Scheler keine wertlose, sondern eine tragische Figur. Daß Scheler endlich die Neuzeit mit den Mitteln der materialistischen Geschichtsansicht zu erklären suche, ist die falscheste all dieser falschen Behauptungen. Man versteht kaum, wie E. Busse-Wilson darauf verfällt. Der materialistischen Geschichtsauffassung billigt Scheler ein gewisses Recht zu, auch nur mit weitläufigen Modifikationen, zur Erklärung von Phänomenen innerhalb des Kapitalismus, nicht aber zur Erklärung des Kapitalismus selbst, oder gar der gesamten Neuzeit. Deren Gesamtzustand führt er in erster Linie auf religiöse und überhaupt geistige, dann auf biologische Faktoren zurück. Damit wird die Polemik Seite 181, die etwa gegen Kautsky am Platze sein mag, durchaus gegenstandslos. Das Resultat all dieser einzelnen Täuschungen ist dann, daß die Verfasserin in Schelers Lehre einen endgültigen `Riß´ findet und sein Wesen nur als `interessante Mischung´ verstehen kann. Scheler ist eben durchaus kein mittelalterlicher Mensch, aber auch kein `Kryptokapitalist und Protestant´. Er ist ein Drittes, das man noch nicht aussagen mag. Man kann neue Erscheinungen eben nicht immer mit den Kategorien der Mädchenschule begreifen. Noch weit schlimmer als Scheler spielt E. Busse-Wilson Guardini mit. Versteht sie denn nicht, daß ihr unziemliches Lob Guardini tief verletzen muß. An die Stelle des solidarischen Miteinander, welches die Tagung beherrschte, setzt sie ein Gegeneinander, das Gott sei Dank nicht vorhanden war. Die tiefe Einheit, die Scheler und Guardini – trotz der Meinungsverschiedenheiten – verband, scheint sie nicht bemerkt zu haben. Den anwesenden Schülern Schelers streitet sie gar (S. 180) mit journalistischer Leichtfertigkeit die Sachlichkeit ab. Guardini wird dafür danken, als „Heiliger ohne Intellektscheu des Gläubigen“ eingeführt zu werden. Mag es so sein oder nicht so sein; jedenfalls ist es ebenso unerlaubt als grotesk, bei der öffentlichen Beurteilung eines Menschen solche Maßstäbe und Worte zu profanieren. Es bleibt die Annahme, daß sie sich der Tragweite ihrer Worte nicht ganz bewußt war, ein Opfer der seelenverheerenden Wortentwertung unserer Tage. Daß sie einige Zeilen weiter der Jugendbewegung als „germanischen Barbarenhorden“ Guardinis „romanische Kultur“ gegenüberstellt, mutet wie ein schlechter Scherz an. Ich mußte an einen Franzosen denken, der da sagte: in Ostpreußen herrschten noch „lex vieux dieux“ und damit Wodan und Freya meinte. Immerhin ist seit Teuts Zeiten mit den Deutschen doch einiges geschehen. Glaubt sie denn wirklich, daß die Quickborner aus dem Rheinland, aus Schwaben und Bayern, die Wandervögel und Freideutschen aus Berlin, Norddeutschland und dem Osten „germanische Barbarenhorden“ sind? „Das deutsche Wesen und die Form“, das ist ein langes und schwieriges Kapitel, das sich so leichtfertig nicht erledigen läßt“'' (Paul L. Landsberg: Zu „Max Scheler und der homo capitalisticus“, in: Die Tat, 14/I, 1923, S. 468 f.) | |||
Im Kontext argumentierte Landsberg also „im Interesse sowohl der Wahrheit wie der beteiligten Personen“ gegen Busse: | |||
Es ist auch nicht wahr, wenn es dann weiter heißt: „Sehr im Gegensatz zu M. Weber geht Scheler der Anerkennung der großartigen, positiven, moralischen Qualitäten dieses `homo capitalisticus´ aus dem Wege.“ Auch davon kann gar keine Rede sein. Der `homo capitalisticus´ ist für Scheler keine wertlose, sondern eine tragische Figur. Daß Scheler endlich die Neuzeit mit den Mitteln der materialistischen Geschichtsansicht zu erklären suche, ist die falscheste all dieser falschen Behauptungen. Man versteht kaum, wie E. Busse-Wilson darauf verfällt. Der materialistischen Geschichtsauffassung billigt Scheler ein gewisses Recht zu, auch nur mit weitläufigen Modifikationen, zur Erklärung von Phänomenen innerhalb des Kapitalismus, nicht aber zur Erklärung des Kapitalismus selbst, oder gar der gesamten Neuzeit. Deren Gesamtzustand führt er in erster Linie auf religiöse und überhaupt geistige, dann auf biologische Faktoren zurück. Damit wird die Polemik Seite 181, die etwa gegen Kautsky am Platze sein mag, durchaus gegenstandslos. Das Resultat all dieser einzelnen Täuschungen ist dann, daß die Verfasserin in Schelers Lehre einen endgültigen `Riß´ findet und sein Wesen nur als `interessante Mischung´ verstehen kann. Scheler ist eben durchaus kein mittelalterlicher Mensch, aber auch kein `Kryptokapitalist und Protestant´. | |||
Er ist ein Drittes, das man noch nicht aussagen mag. Man kann neue Erscheinungen eben nicht immer mit den Kategorien der Mädchenschule begreifen. Noch weit schlimmer als Scheler spielt E. Busse-Wilson Guardini mit. Versteht sie denn nicht, daß ihr unziemliches Lob Guardini tief verletzen muß. An die Stelle des solidarischen Miteinander, welches die Tagung beherrschte, setzt sie ein Gegeneinander, das Gott sei Dank nicht vorhanden war. Die tiefe Einheit, die Scheler und Guardini – trotz der Meinungsverschiedenheiten – verband, scheint sie nicht bemerkt zu haben. Den anwesenden Schülern Schelers streitet sie gar (S. 180) mit journalistischer Leichtfertigkeit die Sachlichkeit ab. Guardini wird dafür danken, als „Heiliger ohne Intellektscheu des Gläubigen“ eingeführt zu werden. Mag es so sein oder nicht so sein; jedenfalls ist es ebenso unerlaubt als grotesk, bei der öffentlichen Beurteilung eines Menschen solche Maßstäbe und Worte zu profanieren. Es bleibt die Annahme, daß sie sich der Tragweite ihrer Worte nicht ganz bewußt war, ein Opfer der seelenverheerenden Wortentwertung unserer Tage. Daß sie einige Zeilen weiter der Jugendbewegung als „germanischen Barbarenhorden“ Guardinis „romanische Kultur“ gegenüberstellt, mutet wie ein schlechter Scherz an. Ich mußte an einen Franzosen denken, der da sagte: in Ostpreußen herrschten noch „lex vieux dieux“ und damit Wodan und Freya meinte. Immerhin ist seit Teuts Zeiten mit den Deutschen doch einiges geschehen. Glaubt sie denn wirklich, daß die Quickborner aus dem Rheinland, aus Schwaben und Bayern, die Wandervögel und Freideutschen aus Berlin, Norddeutschland und dem Osten „germanische Barbarenhorden“ sind? „Das deutsche Wesen und die Form“, das ist ein langes und schwieriges Kapitel, das sich so leichtfertig nicht erledigen | |||
Es folgt noch das eingangs bereits wiedergegebene Schlussurteil. | Es folgt noch das eingangs bereits wiedergegebene Schlussurteil. | ||
Busse reagierte sehr apodiktisch, aber sehr entschieden auf die Kritik Landsbergs, wobei sie sich darin nicht mehr direkt auf Guardini bezieht: | Busse reagierte sehr apodiktisch, aber sehr entschieden auf die Kritik Landsbergs, wobei sie sich darin nicht mehr direkt auf Guardini bezieht: ''„Immer ist der Zuschauer im Vorteil vor dem Mitspieler. Er sieht bei weitem mehr als jener, und wenn er gar den Vorzug genießt, geistreich und gebildet genannt zu werden, so ist er einfach schon durch die Distanz überlegen. Wieviel größer wird aber seine kritische Fähigkeit zur Synopsis der verschiedensten Köpfe und Temperamente sein können, wenn er außerdem noch frei ist von jeder sektiererhaften Verfallenheit. Die Führerhysterie, diese Epidemie der Jugendbewegung verschont auch die Besten nicht. Sie erzeugt einmal ein merkwürdiges Bedürfnis nach Selbstaufgabe oder eine gereizte Aggressivität. [Das sind die mildernden Umstände, die man dem blutigen Ausfall zubilligen muß, mit dem ein treuer Diener seinen Meister rächen zu müssen glaubt. Man erlebte schon, wie Wyneken kühn und kindlich von seinen Anhängern gedeckt wurde. Aber hier war, weil der Gegner schon überhaupt nicht nach Recht und Unrecht frug, der Verteidigungsfall gegeben. In unserem Falle aber, gibt ein Schildknappe vor, seinen verwundeten Herrn zu verteidigen, während er in Wahrheit sich hinter ihm verschanzt, weil er sich selbst angegriffen fühlt. Es scheint, daß er sich durch eine Stelle meines Aufsatzes getroffen fühlt, die er aber nicht anführt: „Scheler war gleichsam von einer Prätorianergarde von Schülern umgeben, die den Meister vor dem Ansturm der kantisch verdächtigen Eindringlinge schützen sollten.“ – Er entwertet durch seine Affektäußerungen nur seine Argumente, und das Prädikat, das er mannesstolz beliebt, fällt dabei auf ihn selbst zurück, wie auch jene Hörigkeit sonst ja als typisch weibliche Eigenschaft gilt.] Aber wie nun Dante und Goethe durch die Anerkennung überzeugungstreuer Gymnasiasten und Lehrer nicht gehoben und nicht geschmälert werden, so wird die wirkliche Bedeutung Schelers durch die Ergebenheit frommer Jünger weder bewiesen noch überhaupt erreicht. Das Geniale dieses Mannes ist in dem Beisammensein der ganzen Last des entwicklungsgeschichtlichen „wissenschaftlichen“ Zeitalters und der zeitlosen philosophischen Umschau Zeugungskraft. Es schien sonst nur zwei Auswege aus der geistigen Not, aus dem Getriebe der entgötterten und entzauberten Welt zu geben: die Verfluchung der grauenhaften Nüchternheit des kapitalistischen Zeitalters oder aber die Flucht. Darin sehen z.B. alle die ihr Heil, denen der Dichter George Prophet und Vorbild ist. Scheler aber bejaht ungeschönt diese kapitalistische Welt, als deren Repräsentant er sich fühlt. Er handhabt die Wertungen dieses seelenlosen Zeitalters, ihre Wissenschaften als glänzender Meister und bezweifelt sie bereits schon wieder, weil er vielmehr noch Metaphysiker ist. Dies gilt um so mehr, als er trotzdem immer die psycho-materiellen Motive bei der Erklärung scheinbar unauflösbarer geistiger Umstände heranzieht (z.B. erweist er die ungemeine Wirkung des Spenglerschen Untergangswerks aus der Gemütslage der deutschen als besiegter Nation – eine sehr naheliegende materialistische Interpretation). Die „gemeine Natur“ des Menschen, die Triebgrundlagen unserer Existenz, die andere Denker und Propheten verachten oder verdrängen, die proletarischen Philosophen aber nicht nur theoretisieren, sondern auch mit einer gewissen trotzigen Überbetonung hervorkehren – und die gesamte Wissenschaft, die sich auf diesen Seiten der Natur gründet -, diese verwirft er nicht, sondern er ist mit diesem Wissen dennoch gleichzeitig religiöser Denker. Und damit hat er die kapitalistische, entgötterte Welt erlöst, wie sie sonst nur der Prophet, der Dichter erlösen kann. Und trotzdem ist er gegebenenfalls, wie gesagt, reiner Marxist, d. h. Mathematiker der Wirklichkeiten, wenn es sich um die Interpretation des bürgerlich-kapitalistischen Zeitalters handelt, arbeitet er vorwiegend mit psycho- und sozio-ökonomischen Komponenten. Und eben diese schwer erkennbare, unbewußte Wertbetonung macht ihn angreifbar und zugleich unangreifbar, was allerdings nicht leicht zu beweisen war. Denn jene scheinbar materialistische Analyse bleibt dadurch letztlich eine idealistische (wenn auch eine mehr oder weniger negativ wertende). Alle die rationalen Begründungen durch anthropologische Blutmischung, soziologischen Schichtenwechsel usw. sind so erst die Folge jenes schon vorher gefällten, aber unausgesprochenen Werturteiles. Daß Scheler dem großartigen Phänomen des Kapitalismus dabei keineswegs einseitig gegenübersteht, sondern als „heimlich Verliebter“, wie ich es nannte, oder auch als Bewunderer seiner latenten Tragik – das wurde keineswegs verschwiegen. Diese Art notwendigen Subjektivismus in der Wertauslese errichtet nun aber bestimmte Erkenntnisgrenzen: man unterbreite einem Konservativen die Machtgrund. lagen, Werke und Ziele von Sowjetrußland – so wird er sie intellektuell vollkommen verstehen, kann aber trotz einer gewissen Seelenverwandtschaft den geistigen Gehalt dieses Staatswesens nicht assimilieren -, er kann ihn nicht brauchen. Und wenn man einen Hellenen oder einen antik empfindenden Menschen der Moderne in das patristische oder mittelalterliche Christentum versetzte, so kann er die Substanz dieser geistigen Welt, trotz ehrlicher und respektvoller Würdigung sich nicht aneignen. So muß auch Scheler, der die protestantische Geisteshaltung besser als irgendeiner kennt, das gesamte bürgerlich kapitalistische Zeitalter subordinieren und nicht koordinieren. Mag nun meine eingehende Kritik der materialistischen Geschichts- und Gesellschaftsauffassung nur zum kleinsten Teile auf Scheler selbst angewandt werden können, so sagt das nichts gegen die Allgemeingültigkeit und die Bedeutung einer solchen Kritik in einem Zeitpunkte, wo führende sozialistische Theoretiker sich sowohl von der religiösen wie von der philosophischen Seite her dem Standorte Schelers annähern, während er selber von oben her jene moderne Gesellschaftstheorie in ihrem Bereiche anerkennt und mehr noch sie anwendet. Unsere Abhandlung stützte sich hierbei keineswegs nur auf das, was Scheler ausgesagt hat, sondern auch auf seine Werke, wie sie schon ihrem Titel nach sich keineswegs auf einen Tagungsbericht beschränkte. Was nun diesen selbst anbetrifft, so durften wir das Urteil von Schülern gegenüber ihrem Meister als befangen ablehnen. Ihr Erstaunen über die erlittene Darstellung ist ebenso berechtigt, als sie natürlich und einfach ist. Unbequem mag es auch sein, sich einordnen und interpretieren zu lassen und gar sich loben lassen zu müssen. Viel lieber hätte man einen richtigen, d.h. einen ungerechten Gegner gehabt. Unabhängigen Teilnehmern ist es auch nicht überraschend, wenn andere, z.B. die Katholiken, erstaunt und betroffen sind, daß ihre Weltanschauung sich so in dem Kopfe eines Außenstehenden spiegelt. – Wird je ein Protestant sein Reformationszeitalter bei einem englischen Historiker wiedererkennen? Oder: man unterbreite einem Anhänger der monumentalen Geschichtsauffassung eine sozialwissenschaftliche Studie über die Zeit des Siebenjährigen Krieges, und er wird erstaunt und empört sein, was aus dem Helden Fritz unter den Augen eines modernen Sozialpsychologen geworden ist. Und noch ein Fall: die berühmte Bekanntmachung von der Niederlage bei Jena 1806, wie wird sie interpretiert werden von einem Treitschke, von einem Lamprecht, von einem Franz Mehring? Je nach der Gruppenzugehörigkeit verschieben sich die Ereignisse und Ideen und deren Sinngebung. Es gibt aber dennoch ein Unableitbares, Irrationales im Wandel der Geschichte, etwas, das nicht mehr der Relativität unterworfen ist; um dieses freilich zu erkennen, muß man den mühseligen Weg der Wissenschaft gehen. Schelers Schöpfung ist da. Er wird erst Jünger haben, wenn er keine Schüler mehr hat. Es mutet daher auch ein wenig allzu eifrig geschäftig an, wenn Rechtgläubige um seine Geltung besorgt sind. Auch die Jugendbewegung braucht man nicht in Schutz zu nehmen. Denn auch ich bin in Arkadien geboren. – Daß diese nun einen ganz bestimmten Menschentypus repräsentiert, nicht nur im geistigen und ethischen Sinne, sondern auch im sozialen und beinahe im anthropologischen Sinne, kann nur der ermessen, der 15 Jahre zugleich in und über ihr gestanden hat. Diese Menschen, die ihrer Wesensart nach hoffnungsvoller und sieghafter sind, als sie es selber ahnen oder je zugeben würden, stellen gleichzeitig jene Jünglinge mit „den tiefernsten Gesichtern und den schlechten Manieren“, wie sie Verfasserin an anderen Orten charakterisiert hat – eine schwer beschreibbare Ausgeprägtheit deutsch-teutonischen Wesens. Sieht man dann noch die Versammlungen dieser Menschen, wie sie häufig übernationalen oder antinationalen Zielen hingegeben sind, so verschärft sich der Zug, den wir ohne historische Spielerei als germanisch bezeichneten. Nur ein ausgedörrter Intellektualist wird diese eigentümliche körperlich-geistige Mischung nicht bemerken. Es gibt eine klassische Schilderung „jener schweren philosophischen Naturen, die sich bei der kleinsten Frage stracks in eine muskelstarke Position werfen, wie ein starker Mann, der mit Eisenkugeln spielt, und die nicht die leiseste Andeutung eines Gespräches an sich vorbeihuschen lassen können.“ Sie findet sich bei einem dänischen Dichter J. P. Jacobsen in der Gestalt des Hauslehrers Bigum. Aber nun gleich eine Abwickelung jenes großen Problems zu verlangen, das seit 400 Jahren den deutschen Geist quält — vom deutschen Wesen und der Form – eben das wäre eine typisch hochnäsige Pedanterie gewesen“'' (Elisabeth Busse-Wilson: Scheler und seine Schüler, in: Die Tat, 14/I, 1923, S. 469 ff., dann auch in: dies.: Stufen der Jugendbewegung: ein Abschnitt aus der ungeschriebenen …, 1925, S. 64 ff.). | ||
„Immer ist der Zuschauer im Vorteil vor dem Mitspieler. Er sieht bei weitem mehr als jener, und wenn er gar den Vorzug genießt, geistreich und gebildet genannt zu werden, so ist er einfach schon durch die Distanz überlegen. Wieviel größer wird aber seine kritische Fähigkeit zur Synopsis der verschiedensten Köpfe und Temperamente sein können, wenn er außerdem noch frei ist von jeder sektiererhaften Verfallenheit. Die Führerhysterie, diese Epidemie der Jugendbewegung verschont auch die Besten nicht. Sie erzeugt einmal ein merkwürdiges Bedürfnis nach Selbstaufgabe oder eine gereizte Aggressivität. [Das sind die mildernden Umstände, die man dem blutigen Ausfall zubilligen muß, mit dem ein treuer Diener seinen Meister rächen zu müssen glaubt. Man erlebte schon, wie Wyneken kühn und kindlich von seinen Anhängern gedeckt wurde. Aber hier war, weil der Gegner schon überhaupt nicht nach Recht und Unrecht frug, der Verteidigungsfall gegeben. In unserem Falle aber, gibt ein Schildknappe vor, seinen verwundeten Herrn zu verteidigen, während er in Wahrheit sich hinter ihm verschanzt, weil er sich selbst angegriffen fühlt. Es scheint, daß er sich durch eine Stelle meines Aufsatzes getroffen fühlt, die er aber nicht anführt: „Scheler war gleichsam von einer Prätorianergarde von Schülern umgeben, die den Meister vor dem Ansturm der kantisch verdächtigen Eindringlinge schützen sollten.“ – Er entwertet durch seine Affektäußerungen nur seine Argumente, und das Prädikat, das er mannesstolz beliebt, fällt dabei auf ihn selbst zurück, wie auch jene Hörigkeit sonst ja als typisch weibliche Eigenschaft gilt.] Aber wie nun Dante und Goethe durch die Anerkennung überzeugungstreuer Gymnasiasten und Lehrer nicht gehoben und nicht geschmälert werden, so wird die wirkliche Bedeutung Schelers durch die Ergebenheit frommer Jünger weder bewiesen noch überhaupt erreicht. Das Geniale dieses Mannes ist in dem Beisammensein der ganzen Last des entwicklungsgeschichtlichen „wissenschaftlichen“ Zeitalters und der zeitlosen philosophischen Umschau Zeugungskraft. Es schien sonst nur zwei Auswege aus der geistigen Not, aus dem Getriebe der entgötterten und entzauberten Welt zu geben: die Verfluchung der grauenhaften Nüchternheit des kapitalistischen Zeitalters oder aber die Flucht. Darin sehen z.B. alle die ihr Heil, denen der Dichter George Prophet und Vorbild ist. Scheler aber bejaht ungeschönt diese kapitalistische Welt, als deren Repräsentant er sich fühlt. Er handhabt die Wertungen dieses seelenlosen Zeitalters, ihre Wissenschaften als glänzender Meister und bezweifelt sie bereits schon wieder, weil er vielmehr noch Metaphysiker ist. Dies gilt um so mehr, als er trotzdem immer die psycho-materiellen Motive bei der Erklärung scheinbar unauflösbarer geistiger Umstände heranzieht (z.B. erweist er die ungemeine Wirkung des Spenglerschen | |||
Untergangswerks aus der Gemütslage der deutschen als besiegter Nation – eine sehr naheliegende materialistische Interpretation). Die „gemeine Natur“ des Menschen, die Triebgrundlagen unserer Existenz, die andere Denker und Propheten verachten oder verdrängen, die proletarischen Philosophen aber nicht nur theoretisieren, sondern auch mit einer gewissen trotzigen Überbetonung hervorkehren – und die gesamte Wissenschaft, die sich auf diesen Seiten der Natur gründet -, diese verwirft er nicht, sondern er ist mit diesem Wissen dennoch gleichzeitig religiöser Denker. Und damit hat er die kapitalistische, entgötterte Welt erlöst, wie sie sonst nur der Prophet, der Dichter erlösen kann. Und trotzdem ist er gegebenenfalls, wie gesagt, reiner Marxist, d. h. Mathematiker der Wirklichkeiten, wenn es sich um die Interpretation des bürgerlich-kapitalistischen Zeitalters handelt, arbeitet er vorwiegend mit psycho- und sozio-ökonomischen Komponenten. Und eben diese schwer erkennbare, unbewußte Wertbetonung macht ihn angreifbar und zugleich unangreifbar, was allerdings nicht leicht zu beweisen war. Denn jene scheinbar materialistische Analyse bleibt dadurch letztlich eine idealistische (wenn auch eine mehr oder weniger negativ wertende). Alle die rationalen Begründungen durch anthropologische Blutmischung, soziologischen Schichtenwechsel usw. sind so erst die Folge jenes schon vorher gefällten, aber unausgesprochenen Werturteiles. Daß Scheler dem großartigen Phänomen des Kapitalismus dabei keineswegs einseitig gegenübersteht, sondern als „heimlich Verliebter“, wie ich es nannte, oder auch als Bewunderer seiner latenten Tragik – das wurde keineswegs verschwiegen. | |||
Diese Art notwendigen Subjektivismus in der Wertauslese errichtet nun aber bestimmte Erkenntnisgrenzen: man unterbreite einem Konservativen die Machtgrund. lagen, Werke und Ziele von Sowjetrußland – so wird er sie intellektuell vollkommen verstehen, kann aber trotz einer gewissen Seelenverwandtschaft den geistigen Gehalt dieses Staatswesens nicht assimilieren -, er kann ihn nicht brauchen. Und wenn man einen Hellenen oder einen antik empfindenden Menschen der Moderne in das patristische oder mittelalterliche Christentum versetzte, so kann er die Substanz dieser geistigen Welt, trotz ehrlicher und respektvoller Würdigung sich nicht aneignen. So muß auch Scheler, der die protestantische Geisteshaltung besser als irgendeiner kennt, das gesamte bürgerlich kapitalistische Zeitalter subordinieren und nicht koordinieren. Mag nun meine eingehende Kritik der materialistischen Geschichts- und Gesellschaftsauffassung nur zum kleinsten Teile auf Scheler selbst angewandt werden können, so sagt das nichts gegen die Allgemeingültigkeit und die Bedeutung einer solchen Kritik in einem Zeitpunkte, wo führende sozialistische Theoretiker sich sowohl von der religiösen wie von der philosophischen Seite her dem Standorte Schelers annähern, während er selber von oben her jene moderne Gesellschaftstheorie in ihrem Bereiche anerkennt und mehr noch sie anwendet. | |||
Unsere Abhandlung stützte sich hierbei keineswegs nur auf das, was Scheler ausgesagt hat, sondern auch auf seine Werke, wie sie schon ihrem Titel nach sich keineswegs auf einen Tagungsbericht beschränkte. Was nun diesen selbst anbetrifft, so durften wir das Urteil von Schülern gegenüber ihrem Meister als befangen ablehnen. Ihr Erstaunen über die erlittene Darstellung ist ebenso berechtigt, als sie natürlich und einfach ist. Unbequem mag es auch sein, sich einordnen und interpretieren zu lassen und gar sich loben lassen zu müssen. Viel lieber hätte man einen richtigen, d.h. einen ungerechten Gegner gehabt. Unabhängigen Teilnehmern ist es auch nicht überraschend, wenn andere, z.B. die Katholiken, erstaunt und betroffen sind, daß ihre Weltanschauung sich so in dem Kopfe eines Außenstehenden spiegelt. – Wird je ein Protestant sein Reformationszeitalter bei einem englischen Historiker wiedererkennen? Oder: man unterbreite einem Anhänger der monumentalen Geschichtsauffassung eine sozialwissenschaftliche Studie über die Zeit des Siebenjährigen Krieges, und er wird erstaunt und empört sein, was aus dem Helden Fritz unter den Augen eines modernen Sozialpsychologen geworden ist. Und noch ein Fall: die berühmte Bekanntmachung von der Niederlage bei Jena 1806, wie wird sie interpretiert werden von einem Treitschke, von einem Lamprecht, von einem Franz Mehring? Je nach der Gruppenzugehörigkeit verschieben sich die Ereignisse und Ideen und deren Sinngebung. | |||
Es gibt aber dennoch ein Unableitbares, Irrationales im Wandel der Geschichte, etwas, das nicht mehr der Relativität unterworfen ist; um dieses freilich zu erkennen, muß man den mühseligen Weg der Wissenschaft gehen. Schelers Schöpfung ist da. Er wird erst Jünger haben, wenn er keine Schüler mehr hat. Es mutet daher auch ein wenig allzu eifrig geschäftig an, wenn Rechtgläubige um seine Geltung besorgt sind. Auch die Jugendbewegung braucht man nicht in Schutz zu nehmen. Denn auch ich bin in Arkadien geboren. – Daß diese nun einen ganz bestimmten Menschentypus repräsentiert, nicht nur im geistigen und ethischen Sinne, sondern auch im sozialen und beinahe im anthropologischen Sinne, kann nur der ermessen, der 15 Jahre zugleich in und über ihr gestanden hat. Diese Menschen, die ihrer Wesensart nach hoffnungsvoller und sieghafter sind, als sie es selber ahnen oder je zugeben würden, stellen gleichzeitig jene Jünglinge mit „den tiefernsten Gesichtern und den schlechten Manieren“, wie sie Verfasserin an anderen Orten charakterisiert hat – eine schwer beschreibbare Ausgeprägtheit deutsch-teutonischen Wesens. Sieht man dann noch die Versammlungen dieser Menschen, wie sie häufig übernationalen oder antinationalen Zielen hingegeben sind, so verschärft sich der Zug, den wir ohne historische Spielerei als germanisch bezeichneten. Nur ein ausgedörrter Intellektualist wird diese eigentümliche körperlich-geistige Mischung nicht bemerken. Es gibt eine klassische Schilderung „jener schweren philosophischen Naturen, die sich bei der kleinsten Frage stracks in eine muskelstarke Position werfen, wie ein starker Mann, der mit Eisenkugeln spielt, und die nicht die leiseste Andeutung eines Gespräches an sich vorbeihuschen lassen können.“ Sie findet sich bei einem dänischen Dichter J. P. Jacobsen in der Gestalt des Hauslehrers Bigum. Aber nun gleich eine Abwickelung jenes großen Problems zu verlangen, das seit 400 Jahren den deutschen Geist quält — vom deutschen Wesen und der Form – eben das wäre eine typisch hochnäsige Pedanterie | |||
=== Weiteres Treffen zwischen Guardini und Scheler im Garten der Landsbergs (Frühjahr 1923) === | |||
Ein weiteres Zusammentreffen zwischen Guardini und Scheler fand im Frühjahr 1923 im Garten des Elternhauses von Landsberg statt (Gerl, Romano Guardini, 1985, S. 130ff, S. 142). Diese Begegnung hat einem Bericht Heinrich Lützelers zufolge beide Seiten tief beeindruckt, obwohl dabei nicht nur die Übereinstimmung, sondern auch der Gegensatz deutlich geworden sein muss. ''“Welch ein Gegensatz! Scheler sagte erschüttert zu uns, seinen Schülern, es bewege ihn tief, dass einer so fest in Gott stehen könne”'' (Briefliche Auskunft von Heinrich Lützeler vom 25.3.1984 an Hanna Gerl-Falkovitz, zitiert nach Gerl, 1985, S. 142.; aber auch schon in Heinrich Lützeler, Persönlichkeiten, a.a.O., S. 117). | |||
“Guardini, gar nicht belesen, war völlig verschüchtert. Uns Studenten schien es damals, als sei ein Menschenfresser auf den verwirrten Dozenten der Dogmatik zugegangen. Nachher aber zeigte sich Scheler bewegt davon, dass es dies noch gab: einen Menschen unserer Gegenwart, ungezwungen und weiten Herzens aus der Ordnung | Bei diesem Zusammentreffen dürfte auch das von Lützeler erwähnte Gespräch stattgefunden haben, in dem Scheler den jüngeren Kollegen fragte, “wie er denn wohl den Begriff `Weltanschauung´ interpretiere” und “ihm gleich ein halbes Dutzend Möglichkeiten” vorschlug: ''“Guardini, gar nicht belesen, war völlig verschüchtert. Uns Studenten schien es damals, als sei ein Menschenfresser auf den verwirrten Dozenten der Dogmatik zugegangen. Nachher aber zeigte sich Scheler bewegt davon, dass es dies noch gab: einen Menschen unserer Gegenwart, ungezwungen und weiten Herzens aus der Ordnung lebend”'' (Heinrich Lützeler: Persönlichkeiten, a.a.O., S. 117). |
Version vom 17. Dezember 2024, 14:09 Uhr
I. Bonn – Freiburg – Maria Laach – Köln (1920-1922)
Das Elternhaus
Paul Ludwig Landsberg hatte 1920 in Bonn sein Abitur gemacht und stammte aus einer gut vernetzten Familie. Im Freundeskreis der Familien Landsberg sowie von Paul Silverberg (vgl. zu ihm Boris Gehlen: Paul Silverberg (1876-1959), 2007) verkehrten unter anderem Pferdmenges, Wassermann, Jacob Goldschmidt, Oscar Schlitter, Konrad Adenauer, Carl Duisberg, Hermann Hüffer (vgl. dazu Volker Siebels: Ernst Landsberg (1860-1927). Ein jüdischer Gelehrter im Kaiserreich, 2011, S. 134).
Zwischen Sozialismus, Jugendbewegung und George-Kreis
Des jungen Landsbergs Abituraufsatz über Hamlets berühmten Ausspruch: „Die Zeit ist aus den Fugen; Schmach und Gram, daß ich zur Welt, sie einzurichten, kam.“ löste aufgrund des für sozialistisch erachteten Inhalts einen Schulskandal aus (vgl. Stephan Moebius: Paul Ludwig Landsberg - ein vergessener Soziologe? Zu Leben, Werk, Wissens- und Kultursoziologie Paul Ludwig Landsbergs. in: Sociologia Internationalis, 41, 2003, 1, S. 77-112, hier S. 81). Zudem hatte er tatsächlich Kontakte zu Sozialisten, allerdings auch zur Jugendbewegung. So war er unter anderem Mitglied in der Bonner Alt-Wandervogel-Gruppe und arbeitete an der Zeitschrift „Freideutschen Jugend“ mit (z.B. Paul Landsberg: Rezension zu Meinecke, Friedrich: Die Bedeutung der geschichtlichen Welt und des Geschichtsunterrichtes für die Bildung der Einzelpersönlichkeit, in: Freideutsche Jugend, 5, 1919, S. 48; ders.: Hans Blühers politische Irrlehren, in: Freideutsche Jugend, 6, S. 287–289). Hierhin gehört auch die Freundschaft zu Paul Vogler (1899-1969), einem im Alt-Wandervogel und in der Freideutschen Jugend engagierten jungen Mann, der eine Affinität zu Gustav Wyneken aufwies (vgl. dazu Ortrud Wörner-Heil: Von der Utopie zur Sozialreform. Jugendsiedlung Frankenfeld im Hessischen Ried und Frauensiedlung Schwarze Erde in der Rhön 1915-1933. Darmstadt, Marburg 1996, S. 132 ff.). Einige Zeit später hatte Landsberg wohl auch Kontakte zum George-Kreis, dessen aristokratische Ästhetik ihn vorübergehend faszinierte. Die bislang ohne Beleg behauptete Beziehung könnte über den im Hause seines Vaters verkehrenden Friedrich Gundolf und seinem Freiburger Lehrer Ernst Kantorowicz gegeben sein. Schon Adolf Dyroff hatte ihm in Bezug auf sein Mittelalter-Buch im Habilitationsgutachten einen „Bekenntnisfanatismus, der Männern wie Scheler, Bertram, Stefan George gilt und auch im Zitieren eines Zitierens eines Japsers sich verrät“ unterstellt. (zitiert nach Stephan Moebius: Paul Ludwig Landsberg - ein vergessener Soziologe? Zu Leben, Werk, Wissens- und Kultursoziologie Paul Ludwig Landsbergs. in: Sociologia Internationalis, 41, 2003, 1, S. 77-112, hier S. 83). Kurt von Fritz behauptete bereits 1931 Landsberg habe mit seiner Platon-Arbeit endlich, „obwohl er selbst dem `Kreise´ nahe stand, mit dieser ganzen Tradition entschlossen“ gebrochen (Kurt von Fritz: Brecht, Platon und der George-Kreis (Rezension zum gleichnamigen Buch von Josef Franz Brecht), in: Gnomon, 7 1931, S. 359ff., hier S. 360, zu Brechts Schlußkapitel „Die Platondeutung P. L. Landsbergs“).
Studium bei Scheler und Kontakte nach Maria Laach
1920/21 studierte Landsberg zunächst zwei Semester Philosophie, Nationalökonomie, Soziologie und Jurisprudenz in Freiburg, wo er bei Cohn, Diehl und Kantorowicz hörte und mit Husserl, Heidegger und Kroner bekannt wurde.
Aber auch schon in dieser Zeit hatte er offensichtlich und wohl über das Elternhaus bereits Kontakt zu Max Scheler, denn noch vor Landsbergs Wechsel nach Köln zum Wintersemester, stellte Scheler in einem Brief vom 8. August 1921 an Abt Ildefons Herwegen eine Besuchsempfehlung aus: „Hochverehrter hochwürdigster Herr Abt! Der Überbringer dieses Schreibens, Herr cand. Phil. Paul Landsberg, der Sohn des Bonner Ordinarius für Jurisprudenz bittet mich, ihm die Möglichkeit zu eröffnen, in das religiöse und geistige, besonders auch liturgische Leben des Klosters Maria Laach tiefer einzudringen. Er ist einer meiner begabtesten Schüler, von tiefer Religiosität, aber evangelischer Confession. Er ist religiös noch stark in der Entwicklung begriffen, hat aber zu unserer Kirche sehr tiefe Sympathien. Darf ich Sie, hochwürdigster Herr, freundlich bitten, Herrn Landsberg wohl aufzunehmen und ihm einen oder den anderen Ihrer Herrn Patres vorzustellen, der ihm in diesem oder jenem dienlich sein könnte. [...]“ (Archiv Maria Laach: Sign. III A 112, zitiert nach: Johannes Schaber: Max Scheler in Beuron und Maria Laach, in: Erbe und Auftrag. Benediktinische Monatsschrift, 77, 2001, S. 59).
Ob Landsberg bereits beim Überbringen des Schreibens in der Abtei blieb oder zu einem späteren Zeitpunkt für einen längeren Besuch zurückkehrte, muss noch offen bleiben. In jedem Fall hat er sich aber in Maria Laach ein Bild vom benediktinischen Mönchtum gemacht. Denn als 1922 sein Buch „Die Welt des Mittelalters und wir“ erschien, ist darin zu lesen: „Es soll nicht bestritten werden, dass der mystische Weg auch heute der gegebene Weg mancher Einzelperson ist, aber dem Zeitalter als Ganzen tut Bindung und nicht Lösung not. Es torkelt, es braucht einen Halt! Es wird viel über religiöse Verinnerlichung heute geschrieben. Gewiss, eine solche braucht jede Zeit. Aber uns gerade tut in noch höherem Maße Veräußerlichung der Religion not. Wir Erben des Protestantismus haben viele tiefe Seelen, aber wenig klare Gestalten. Wir Erben des Protestantismus haben manche große Schauer ihrer selbst, aber nur einen großen Schauer der Weltordnung, Goethe. Wir Erben der Renaissance haben manchmal ein bis in das Mystische lebendiges Verhältnis mehr zu dem Kosmos als geordnetem Ganzen. Wir haben oft noch Leidenschaft, aber selten Zucht. Uns tut der scholastische und der benediktinische Geist in neuen, aus dem Leben frisch erstandenen Formen und in den alten, soweit sie eben noch lebendig da sind, bitter not.“ (Paul Ludwig Landsberg, Die Welt des Mittelalters und wir, 1922, S. 76) Dabei nimmt Landsberg Bezug auf seine Ausführungen über das benediktinische Mönchtum auf den vorausgehenden Seiten 53-57. Dort hatte er bereits formuliert: „In der Persönlichkeit des heiligen Benedikt von Nursia fand Abt Ildefons Herwegen in seiner im allerbesten Sinne legendären Biographie als Kern eine innige Einung von 'virtus Romana' und 'Caritas Christiana' vor.“ (ebd., S. 53) Schaber urteilt daher nicht zu unrecht, dass Landsberg "auch in seiner Sichtweise des benediktinischen Mönchtums wichtige Impulse von Max Scheler und Maria Laach“ erhalten hat (Schaber, a.a.O., S. 59 f.).
Zum Wintersemester 1921 wechselte Landsberg dann für vier Semester nach Köln, wo er zwar noch bei von Wiese und Kaiserwaldau Soziologie, vor allem aber Philosophie und Soziologie bei Scheler hörte. Er wurde dort auch Schelers letzter Assistent, unter dessen Einfluss sich seine Nähe zum Sozialismus erkennbar verringerte, obwohl sein Verhältnis zu Scheler sowohl persönlich als auch inhaltlich keineswegs spannungsfrei war. Landsberg würdigte Scheler und dessen Werk in mehreren Aufsätzen (Paul Ludwig Landsberg: Zu „Max Scheler und der homo capitalisticus“, in: Die Tat, 14, 1922/23, S. 468-469; ders.: Zum Gedächtnis Max Schelers, in: Rhein-Mainische Volkszeitung, 58, 1928, Kulturelle Beilage Nr. 21 oder 121 vom 25. oder Mai 1928 [muss noch am Original überprüft werden]; vgl. dazu auch Heinrich Lützeler: Der Philosoph Max Scheler: eine Einführung, Bonn 1947 und Stephan Moebius: Paul Ludwig Landsberg - ein vergessener Soziologe? Zu Leben, Werk, Wissens- und Kultursoziologie Paul Ludwig Landsbergs, in: Sociologia Internationalis, 41, 2003, 1, S. 77-112).
II. „Die Welt des Mittelalters und wir“
Gewidmet an Scheler, geschätzt von Guardini
Noch Ende 1921 legte Landsberg eine Scheler gewidmete philosophische Schrift mit dem Titel „Die Welt des Mittelalters und wir“ vor (Bonn 1922; 1923; 1925; vgl. dazu die Rezension von Anton L. Mayer-Pfannholz: Paul Ludwig Landsberg und das Mittelalter, in: Hochland, 20/II, 1923, S. 319-322). Diese Schrift wurde zwar bereits 1922 veröffentlicht, sollte aber noch nicht seine Dissertation werden. Dennoch handelt es sich bei dieser Schrift ohne Zweifel um ein „Schlüsselwerk der Epoche“ (vgl. Otto G. Oexle: Das Mittelalter als Waffe. Ernst H. Kantorowicz’ "Kaiser Friedrich der Zweite" in den politischen Kontroversen der Weimarer Republik, in: ders., Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 116), Göttingen 1996, S. 163-215, hier S. 176). Mit diesem Werk fand er insbesondere in der Jugendbewegung viel Anerkennung (vgl. dazu Seewann, Gerhard: Österreichische Jugendbewegung 1900 bis 1938: Die Entstehung der deutschen Jugendbewegung in Österreich Ungarn 1900 bis 1914 und die Fortsetzung in ihrem katholischen Zweig „Bund Neuland“ von 1918 bis 1938, 1974, S. 453).
Scheler selbst hatte die Arbeit aber als zwar virtuos, aber zu romantisch und rückgewandt beurteilt (so Heinrich Lützeler: Persönlichkeiten. Konrad Adenauer, Paul Clemen, Kardinal Frings, Johannes XXIII., Erich Rothacker, Max Scheler, Freiburg 1978, S. 114). Dagegen hebt Guardini dieses Werk immer wieder hervor. So schreibt er bereits in seiner "Liturgischen Bildung" (S. 76, Anm. 2; Wege, S. 45, Anm. 1): "Es ist in den letzten Jahren nicht viel erschienen, das ich dieser Schrift an die Seite setzen möchte." Dieses Urteil erfolgte keineswegs nur, weil Landsberg sich darin auch auf Guardinis These vom “Primat des Logos vor dem Ethos” beruft (Paul Ludwig Landsberg: Die Welt des Mittelalters und wir, a.a.O., S. 30 und 117f.).
Die Formeln "Gepräge der Negativität" und "Konservative Revolution"
Gleich zu Beginn spricht Landsberg darin nämlich vom neuzeitlichen „Gepräge der Negativität“ und der „konservativen Revolution“, die mit dem „Liebeswort Mittelalter“ verbunden sein sollte (Paul Ludwig Landsberg: Die Welt des Mittelalters und wir, Bonn (3)1925, S. 7 sowie S. 112; vgl. dazu K. Albert: Landsbergs Deutung des Mittelalters und die Idee einer konservativen Revolution, in ders.: Das gemeinsame Sein. Studien zur Philosophie des Sozialen, 1981, S. 21-31; Eduard Zwierlein: Konservative Revolution und Engagement. Paul Ludwig Landsbergs Weg vom Ideal der Konservativen Revolution zur Wirklichkeit des engagierten Humanismus, in: Zeitschrift für Politik, 36, 1989, Nr. 1, S. 88ff.; Schloßberger, Matthias: La rivoluzione dell´eterno: Landsberg e la „rivoluzione conservatrice“, in: Nicoletti, Michele/Zucal, Silvano/Olivetti, Fabio: Da che parte dobbiamo stare. Il personalismo di Paul Ludwig Landsberg, Soveria Mannelli 2007, S. 91ff.).
Landsberg grenzt sich dabei allerdings klar von jeglicher Mittelalter-Nostalgie ab: „Kein `zurück zum Mittelalter´ kann uns helfen, keine Neomystik, keine Neoscholastik, - helfen kann uns die Wiederentdeckung des Ewigen in der Welt, auch in der Geschichte der Welt, auch im Mittelalter“ (Paul Ludwig Landsberg: Die Welt des Mittelalters und wir, 1922, S. 99).
Der Begriff der „konservativen Revolution“ wird von Landsberg aber eng verbunden mit seiner personalistischen Vorstellung eines „engagierten Humanismus“: Es ist heute Umsturz, von der Ordnung im ewigen Sinne her die Zeitlichkeit messend zu betrachten, da seit Jahrtausenden die geordnete Unordnung Zustand ist, für einige wenigstens in ehrliche, unängstliche Anarchie übergegangen. Lange genug hat das europäische Bewusstsein nur den einen Gegensatz, hier Hüter aller Geordnetheit, dort Brecher aller Geordnetheit und Ordnung, hier Bürger und dort Anarchist, Stürmer und Dränger, Romantiker, Sozialist, Menschen der Jugendbewegung gekannt. Die konservative Revolution, die Revolution des Ewigen ist das Werdende und schon Seiende der gegenwärtigen Stunde. Die in ihr Stehenden und die, mit denen mein Titel mich als ‚Wir' zusammenfassen soll. Nicht ‚Die Welt des Mittelalters und ich' konnte es hier heissen. Denn wir jungen Menschen haben die hohe und heilende Freude eines neuen ‚Wir' erfahren, nicht geschaffen, sondern geworden, nicht Feind, sondern Grundlage der Einzelperson. Wir sind von dem Glauben durchdrungen, dass in diesem »Wir« die Gewähr des Vorstoßes zur ewigen Ordnung, die Gewähr der guten Zukunft liegt“ (ebd., S. 112 f.)
Auch wenn Hugo von Hofmannsthal den Begriff nach der Lektüre der dritten Auflage von Landsbergs Mittelalter-Buch übernommen hat (so Oswalt von Nostitz: Zur Interpretation von Hofmannsthals Münchner Rede, in: Festschrift für Rudolf Hirsch, Frankfurt am Main 1975, S. 272-275), bekam die Formel "Konservative Revolution" in dessen Münchner Rede eine ganz andere, mit Landsbergs Ideen nicht zu vereinbarende ideologische Dynamik. Bei Landsberg handelte es sich um “einen geschichtsphilosophischen Versuch über den Sinn eines Zeitalters” und somit eine pointiert “weltanschauliche” Deutung, aber trotz aller politischen Implikationen eben keineswegs einen ideologisch-polemischen Affekt. Das Mittelalter erscheint bei Landsberg vielmehr als “eine menschliche Grund- und Wesensmöglichkeit”, die er an der Romanik und an den antiken Wurzeln anknüpft und die in der Synthese von Antike und Christentum Bestand hat.
Unterschiede und Gemeinsamkeiten mit Guardini
Anders als Guardini, der sowohl den “Geist der Gotik” (K. Scheffler: Vom Geist der Gotik, Leipzig 1917) als auch den “Geist der Romanik” aufgriff und sich gleichermaßen von der "schwächlichen, gekünstelten" Neugotik und deren neuromanisches Pendant der unmittelbaren Vergangenheit abgrenzte (vgl. Thule, S. 69, Anm. 2-4 u. ö.); der ebenso das “klassisch-romanische” und das “germanische” in Ausgleich zu bringen versuchte, findet bei Landsberg das Germanische und das Gotische keine große Beachtung.
Doch geht es ihm wie Guardini um "Gesinnung" und "Haltung": "Die zentrale Ansicht, von der aus Denken, Weltanschauen und Philosophie des Mittelalters verständlich werden, ist die, dass die Welt ein Kosmos sei, dass sie ein sinnvoll und ziervoll geordnetes Ganzes sei, das sich ruhig bewege nach ewigen Gesetzen und Ordnungen, die, aus Gott ersten Anfanges entsprungen, auch auf Gott letzten Endes Beziehung hätten" (Landsberg, Die Welt des Mittelalters und Wir, 1922, S. 12). Diese mittelalterliche Gesinnung (der „Logos des Mittelalters“) und Haltung (der „Ethos des Mittelalters“) basiert für Landsberg wie für Guardini auf der Idee des “Ordo”, auf Ordnung und Ordnungsvertrauen, während die Neuzeit seit dem spätmittelalterlichen Nominalismus das Gepräge der „Negativität“ aufweise (ebd., S. 7, S. 9, S. 78). Diese Negativität der Neuzeit habe eine zentrale Wurzel vor allem auch darin, dass nach der Reformation der Katholizismus "nicht durch die katholische Renaissance, sondern durch die Gegenreformation bestimmt worden sei" (ebd., S. 95).
Die zentralen Gestalten des Mittelalters inklusive der Renaissance sind für Landsberg vor allem Dante und Thomas von Aquin, wobei Landsberg letzteren in seinen Gottesbeweisen ausdrücklich zu widerlegen versucht, wenn auch "auf den Knien unseres Herzens" (ebd., S. 50-65, zu Thomas von Aquin besonders S. 65). Wie Auerbach und später Guardini stellte Landsberg die Nähe von Dantes Gesängen zur Scholastik insbesondere zu Thomas von Aquin heraus, inhaltlich gerade auch bezüglich des „Ordo“-Gedankens (ebd.) Vor allem Thomas von Aquin und Dante verkörpern für Landsberg das Wesen des Mittelalters (vgl. Alfons Knoll: Glaube und Kultur bei Romano Guardini, Paderborn/München/Wien/Zürich 1994, S. 181 und S. 312 in Bezug auf unveröffentlichtes Manuskript „Geordnete Welt”). Die „Divina Commedia” ruhe auf der Ordnungslehre der Scholastik auf und führe sie in literarischer Form zu Ende. Für Guardini wird dabei aber die Erkenntnis bestimmend bleiben, dass Macht immer das ist, was Menschen daraus machen und das es notwendigerweise so etwas geben müsse wie eine „Macht über die Macht” im Sinne eines „Ethos der Macht“. Wie der von Guardini schon früh gelesene Jacob Burckhardt sah auch Guardini die Renaissance als „Anbruch der Neuzeit“ und als Ende der mittelalterlichen Synthese von „germanischem“ Organismus-Denken und „romanischem“ Christentum. Hier unterscheidet Guardini sich von Paul Ludwig Landsberg, der das Wesen des Mittelalters in der Synthese von Antike und Christentums ausmachte und die Renaissance daher positiver und - anders als auch Burckhardt (Paul Ludwig Landsberg: Die Welt des Mittelalters und Wir, a.a.O., S. 89-100) - als „Endblüte und Nachblüte des Mittelalters“ betrachtete, weil hier das Mittelalter “auf seine antiken Quellen, besonders also auf Plato” zurückgehe und dadurch “im vollen Sinne des Wortes `katholischer´” werde (ebd., S. 94).
Den von Alfons Knoll (Glaube und Kultur bei Romano Guardini, a.a.O., S. 181) und Zimmermann (Zimmermann, Die Nachfolge, a.a.O., S. 70) konstruierten starken Unterschied zwischen Landsberg und Guardini in der Einschätzung der Renaissance halte ich insgesamt aber für nicht in Gänze nachvollziehbar. Auch Guardini setzt sich, wie gesehen, von Burckhardt ab und Landsberg sieht die Renaissance wie Guardini auch keineswegs nur positiv. Knoll und Zimmermann schätzen dabei meiner Ansicht nach Guardinis Aufsatz “Gedanken über das Verhältnis von Christentum und Kultur” (1926) einseitig ein und vernachlässigen das gleichermaßen Chamberlain- und Burckhardt-kritische Anliegen seines Rezensionsartikels von 1911 (siehe unten).
Trotz positiverem Renaissance-Bild sieht auch Landsberg, dass durch die Übersteigerung der Subjektivität sich die objektiven Ordnungen in der Renaissance aufzulösen beginnen. Nicht ohne Grund verweist Guardini in seinem eigenen Urteil, in der Renaissance sei die Subjektivität “selbstherrlich” übersteigert worden und die objektiven Ordnungen hätten sich aufgelöst, ausdrücklich auf die Studie von Landsberg (Guardini, Liturgische Bildung, 1923, S. 69, inkl. Anmerkung 1; Werkausgabe, S. 86 inkl. Anm. 62).
Obwohl Landsberg sonst durchaus den “Geist” und das “Wesen” vieler Phänomene zu erfassen sucht und auch entgegen dem noch Jahre später weit verbreiteten Usus (M. Grabmann: Mittelalterliches Geistesleben, Bd. I, München 1926, Bd. II, München 1936; Bd. III, München 1956; E. Gilson: Der Geist der mittelalterlichen Philosophie, Wien 1950), beschreibt er nicht das “Wesen” des Mittelalters bzw. der mittelalterlichen Philosophie, sondern die “Welt des Mittelalters” und das “Weltbild” bzw. “Menschenbild” dieser Epoche. Er bemüht sich – wie Guardini - um die daraus resultierenden „Gesinnungen“ und “Haltungen”, mit dem Ziel die “Negativität der Neuzeit” zu überwinden.
In letzter Konsequenz geht es Landsberg daher - wie Guardini - nicht um ein Zurück zum Mittelalter, denn nichts liege ihm ferner “als der Vorschlag einer unmöglichen und unerfreulichen `Rückkehr´ zum Mittelalter. Wir können nur da von einem anderen Zeitalter lernen, wo es mehr ist als es selbst, wo es in das Ewige ragt” (Paul Ludwig Landsberg: Die Welt des Mittelalters und Wir, a.a.O., S. 12). Guardini verweist in seiner Schrift “Liturgischer Bildung” (Werkausgabe S. 67 f., Anmerkung 43) ausdrücklich auf diese Stelle bei Landsberg.
Landsberg geht es also wie Guardini um ein „Neues Mittelalter“ im Zeichen der „Revolution des Ewigen“. Dabei entwickelt er eine dezidierte Vorstellung einer „Bewegungsgestalt“: „Von der Ordnung der Hochantike führt der Weg zur Gewohnheit der Spätantike und der Anarchie der Übergangszeit. Aus dieser Anarchie dann wieder zur Ordnung des Mittelalters. Von der Ordnung des Mittelalters führt er zur bürgerlichen Gewohnheit und zu jener Anarchie, die sich in den Gegenbewegungen gegen sie anmeldet, um in der heutigen Jugendbewegung, das Wort in ganz wörtlichem und doch weitem Sinne genommen, siegreich zu werden. Es ist die Zukunft, daß aus dieser Anarchie eine neue Ordnung geboren werden wird“ (Paul Ludwig Landsberg: Die Welt des Mittelalters und wir, a.a.O., S. 114). Landsberg stellte darüber hinaus bereits in dieser frühen Schrift seine später immer wirksamere „positiv-christliche Überzeugung schlechthin" heraus, „daß der Sinn des Lebens die gottschauende Ruhe nach dem Tode sei“ (ebd., S. 30).
Im Vergleich zu dieser hier erkennbaren engen geistigen Beziehung zwischen Landsberg und Guardini wird daher Schelers direkter Einfluss auf Guardini meist überschätzt. Bereits Knoll (Glaube und Kultur bei Romano Guardini, a.a.O., S. 237, inklusive Anm. 168) konstatierte: Max Scheler habe 1920 zwar „in seiner Schrift `Vom Ewigen im Menschen´ die Ursprünglichkeit und Unableitbarkeit des religiösen Phänomens gegenüber den erst sekundären philosophischen Gottesbeweisen“ behauptet und habe „damit an die Linie“ angeknüpft, „die im protestantischen Denken von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher ausging und im Jahre 1917 mit Rudolf Ottos Schrift `Das Heilige´ eine neue aufsehenerregende Behandlung erfahren hatte.“ Dabei müsse dahingestellt bleiben, „wie stark der direkte Einfluß Schelers auf Guardini war“. Klarer seien „die Bezüge auf Rudolf Otto, Walter F. Otto, Lucien Lévy-Bruhl und G. van der Leeuw – allerdings auch erst zu einem späteren Zeitpunkt“, nämlich 1934 in seiner Schrift „Religiöse Erfahrung“.
Allerdings darf man trotz aller Würdigungen und Zitierungen einen umgekehrten Einfluß Landsbergs auf Guardinis Mittelalter-Konzeption nicht überschätzen. Eine solche Überschätzung findet sich zum Beispiel – wohl in Unkenntnis des Textes von 1911 bei Joseph Ratzinger (Von der Liturgie zur Christologie. Romano Guardinis theologischer Grundansatz und seine Aussagekraft, in ders. (Hrsg.): Wege zur Wahrheit. Die bleibende Bedeutung von Romano Guardini Katholischen Akademie in Bayern 117), Düsseldorf 1985, S. 121-144, hier S. ???; bisher nur in Englisch: „Turning away from the modern era is combined in the young Guardini with a new, almost rapturous enthusi-asm for the medieval period, as it looked at him out of P. L. Landsberg's book Das Mittelalter und wir [The Middle Ages and us] (Bonn, 1923), which evidently had become for him a sort of key reading experience”; ähnlich einseitig zuletzt auch Lehmann, Karl: Romano Guardini und Mainz, zur debatte (8/2014) 1-4; leicht verändert ders.: Romano Guardini und Mainz (1885-1969). Skizze einer schwierigen Beziehung, in: Claus Arnold/Christoph Nebgen (Hrsg.), Lebensbilder aus dem Bistum Mainz. Band II: Vierzehn Portraits (= Neues Jahrbuch für das Bistum Mainz 2017), Mainz 2017, S. 227-241; auch in: Karl-Heinz Wiesemann, Peter Reifenberg (Hrsg), „In allem tritt Gott uns entgegen“. Zum 50. Todestag von Romano Guardini (= Romano Guardini, Quellen und Forschungen 3), Ostfildern 2018, S. 13-25).
Guardinis erste Rede von der zu Ende gehenden Neuzeit und dem neuen "Mittelalter" (1911)
Guardini selbst hatte nämlich bereits in seinem ersten anonym veröffentlichten Aufsatz vom Dezember 1911 in den „Historisch-politischen Blättern“ unter dem Titel „Interesse der deutschen Bildung an der Kultur der Renaissance“ (in: Historisch-politische Blätter, CXLVIII, 1911, 12, S. 881-891) vom „neuen `Mittelalter´“ gesprochen und sich dabei sowohl durch die Anführungsstriche als auch durch die Erläuterungen von restaurativen Mittelalterkonzepten abgegrenzt. Also lange vor Paul Ludwig Landsberg und Nikolaj Berdjajew hatte Guardini seine Vorstellung von einem "neuen Mittelalter" als Zeit nach der Neuzeit formuliert: “Für unsere Zeit als vorwärtsstrebendem Ganzen hat die Renaissance kein lebendig-praktisches, sondern nur noch ein literarisches, historisches Interesse. Die Renaissance war es, die die Aufmerksamkeit der Schauenden und Handelnden auf allen Gebieten vom geschlossenen Ganzen zu den Teilen, zur Vielheit des Einzelnen führte; vom Allgemeinen zum Mannigfaltig-Individuellen, vom Bleibenden zu Wechsel und Veränderung; vom Absoluten zum Relativen. Nicht nur das. Während bisher die großen objektiven religiösen und sittlichen Ideen das Denken und Handeln beherrscht hatten, richtete das Interesse sich jetzt allmählich auf das Menschliche, auf seine mannigfaltigen Bedingtheiten, auf das Subjektive, und zwar mit natürlicher Folgerichtigkeit immer schärfer auf die jeweilig eigene Menschlichkeit, das Persönlich-Subjektive” (Guardini, a.a.O., S. 886). Und Guardini betonte dabei ausdrücklich, dass wir „jener neuen Art, die Dinge zu sehen, viel” verdanken: "Aber wir haben auch ihren Fluch verkostet, so sehr, scheint mir, dass wir ihrer müde sind. Der Blick hat sich so tief in das Einzelne verloren, dass er das Ganze nicht mehr sieht" (ebd., S. 887). So spricht er schon in diesem ersten Aufsatz von den „Vorboten einer neuen Zeit. Auf dem sozialen Felde hat das Bewusstsein der Solidarität den liberalen Atomismus schon fast verdrängt” (ebd., S. 888). Guardini sah in den aktuellen Strömungen mehr Verwandtschaft zum Hellenismus und zum römischen Kaisertum, also zur Klassik, als zur Renaissance. Auch die Klassik „hatte ein Freiwerden aller individuellen Kräfte und Momente, eine Einstellung der Aufmerksamkeit auf das Ich erlebt. Auch sie war zersplittert, skeptisch und gefangen in dies Ich. Auf sie aber folgte nach langem Ringen eine Periode, die in ihrer Art das hatte, was wir heute suchen, das Mittelalter, jene Jahrhunderte gewaltiger Leistungen, gewaltiger Einheiten. Das Mittelalter ist die modernste Zeit, mehr, es ist unsere Zukunft.... Unsere Aufgabe ist, ein neues `Mittelalter´ zu schaffen. Das braucht niemanden zu erschrecken; nicht zurück zum vergangenen, sondern vorwärts zu `unserem Mittelalter´ solls gehen” (ebd., S. 889 f.) Vom Entstehen des ersten Mittelalters aus dem Germanentum und Christentum „könnten wir lernen, die Welt wieder nicht mit den kleinen, verschleierten Augen unserer Subjektivität, sondern mit dem Blick der Dinge selbst, Gottes, zu sehen.” Er wendet sich gegen die „Enge und Ängstlichkeit der `kritischen´ Zeit” und plädiert für eine Rückkehr zu einer „Klassik..., die in der Linie UNSERER Mittel und Zwecke liegt”. Er betont ausdrücklich, Rückkehr meine nicht kopieren, sondern „dem Geist nachspüren”, um den „neuen Stil zu finden, der die Herbigkeit all der Arbeit unserer Tage hat, die Kraft der sozialen Spannungen, die ernste, selbstlose Sachlichkeit der Maschine, die jubelnde, leichte Grazie der eisernen Brücke” (ebd., S. 891).
Ohne die Renaissance selbst – wie der von Guardini im Zusammenhang mit seiner „religiösen Krise“ während seiner Münchener Studienzeit gelesene Houston Stewart Chamberlain dies getan hatte - abzuwerten, spricht Guardini sich also gegen eine Wiederbelebung der Renaissance aus, wie umgekehrt die Reformtheologen um Josef Müller dies mit ihrer Zeitschrift „Renaissance” anstrebten. Statt eine „Kopie von der Kopie” zu machen, müssten zunächst dem Geist der griechisch-römischen Klassik selbst und schließlich dem Geist des christlich-germanischen Mittelalters nachgespürt werden, um den „neuen Stil” für eine „neue Zeit” zu finden. Die Idee vom „Ende der Neuzeit” klingt hier schon deutlich an und zwar ohne grundsätzliche Vorbehalte gegenüber den sozialen Spannungen und den Errungenschaften der Technik, sondern als Versuch, diese positiv zu integrieren. Dabei verteidigte Guardini wie auch schon sein Freund Neundörfer bei allen persönlichen Vorbehalten sogar das Grundanliegen der Antimodernismusenzyklika von 1907: “Der Wechsel und die Veränderung hat das heutige Denken fasziniert... Es begreift nicht einmal, dass ... eine Enzyklika gegen das PANTA RHEI (=ALLES FLIESST) in der Theologie mehr sein könnte als Gedankenknechtung, und, in der Geschichte des menschlichen Denkens, sich dem weiteren Blick als das Gegengewicht gegen die `Kritik der reinen Vernunft´ offenbaren könnte" (ebd., S. 887).
Papst Pius X. contra Kant, aber nicht als Widerspruch, sondern als polare Gegengewichte. Die Wahrheit liegt daher auch hier schon im konkret-lebendigen Ausgleich der Spannung zwischen Tradition und Fortschritt. Dies wiegt umso mehr, als Guardini und Neundörfer wie gesehen selbst an der mit dem Kulturkampf und Antimodernismus verbundenen innerkirchlichen Gesinnungsschnüffelei zu leiden hatten und natürlich im Rahmen ihrer wiederum gemeinsam durch den Mainzer Bischof Georg Heinrich Kirstein empfangenen Priesterweihe am 28. Mai 1910 auch selbst den „Modernisteneid” abzulegen hatten. Guardini soll vor allem unter „dem den Geistlichen abverlangten Antimodernisteneid zeitlebens gelitten haben, so dass er auch nie ein von Spannungen freies Verhältnis zur Gestalt Papst Pius X. entwickeln konnte” (Frühwald, in: Christliche Weltanschauung, a.a.O., S. 57, FN 32.). In der Zeit von Papst Pius X., von 1903 bis 1914, kulminierte der Anti-Modernismuskampf der römisch-katholischen Kirche, was sich 1907 in der Herausgabe der Enzyklika „Pascendi” und des Dekretes "Lamentabili" ausdrückte. Papst Pius X. sah im Modernismus als „Sammelbecken aller Häresien” und führte daher ab 1910 den sogenannten „Antimodernisteneid” für alle Kleriker ein - Guardini und Neundörfer gehörten also mit zu den ersten, die ihn ablegen mussten. 1966/67, also erst kurz vor Guardinis Tod, wurde er wieder abgeschafft.
Carl Muths Reaktion auf den anonymen Guardini-Aufsatz
Es ist erstaunlich, dass ausgerechnet Carl Muth diesen anonymen Guardini-Aufsatz in den Mittelpunkt seiner Betrachtung „`Reaktion´ und Reaktion“ (Carl Muth unter dem Kürzel –th: `Reaktion´ und Reaktion, in: Hochland, 9, 1912, 2. Bd., H. 12 (September 1912), S. 748-751) stellt: "Es ist nicht uninteressant, zu beobachten, wie in unsern Tagen da und dort kritische Besonnenheit Platz greift, ohne deshalb reaktionäre Formen anzunehmen. Betrachtungen dieser Art liegen auch einem Artikel der `Historisch-Politischen Blätter´ (Dezember 1911) zugrunde, der noch nachträglich einige Beachtung verdient, umso mehr, als man dort Gedanken so fein abwägender Art nicht allzu häufig begegnet. Der ungenannte Verfasser setzt sich mit dem Diederichschen Unternehmen kritisch auseinander, das Zeitalter der Renaissance unserer Zeit durch die Herausgabe ausgewählter Quellenschriften näher zu bringen, und kommt dabei zu sehr richtigen Beobachtungen und Feststellungen.... Der Verfasser ist gegen die Vorzüge und Errungenschaften der Renaissance keineswegs blind; indem er sie ins Licht stellt, zollt er ihnen sogar hohe Bewunderung. Aber mit Recht fährt er fort: `Wir danken jener neuen Art, die Dinge zu sehen, viel. Aber wir haben auch ihren Fluch verkostet, so sehr, scheint mir, dass wir ihrer müde sind´" (ebd., S. 749). Dann lässt Muth den anonymen Verfasser über eine ganze Seite hinweg selbst zu Wort kommen und schließt mit der Bewertung: „Wer in solcher Betrachtung den Ausdruck reaktionärer Gesinnung sehen will, der wird gut tun, auch die weiteren Ausführungen des genannten Artikels zu lesen. Es beweist nichts so sehr geistige Unreife als jeden Anlauf zur Mäßigung sofort als Reaktion zu verschreien“ (ebd., S. 750). Schließlich sei eine Reaktion gegen eine alleinige „Befriedigung individueller Wünsche und Leidenschaften... nicht `Reaktion´ - sondern FORTSCHRITT“ (ebd., S. 751).
Guardini/Landsberg "versus" Blumenberg
Gerd Althoff schreibt in seiner Studie „Die Deutschen und ihr Mittelalter“ (1992) infolgedessen – von Guardinis „Das Ende der Neuzeit“ und Blumenbergs „Die Legitimität der Neuzeit“ ausgehend – durchaus treffend von dem „von Guardini und Blumenberg repräsentierten Schemata des `entzweiten Mittelalters´“: „Guardini diagnostizierte demnach und forderte deshalb zugleich (wie vor ihm schon P.L. Landsberg) die „Auflösung des neuzeitlichen Weltbildes“, er diagnostizierte und forderte (und das ist denn auch der Titel seines Buches): `Das Ende der Neuzeit´. Die dem diametral entgegengesetzte Position hat in diesem Fall anderthalb Jahrzehnte später Hans Blumenberg vertreten, in einem Buch mit dem wiederum programmatischen Titel: `Die Legitimität der Neuzeit´. Hier geht es darum, dass die Neuzeit zum Mittelalter (als einer „Jahrhunderte überspannenden Sinnstruktur"), daß sie dem „theologischen Absolutismus" des Mittelalters mit „humaner Selbstbehauptung" und im Zeichen der „theoretischen Neugierde“, mit der „immanenten Selbstbehauptung der Vernunft durch Beherrschung und Veränderung der Wirklichkeit“ entgegentritt“ (Gerd Althoff: Die Deutschen und ihr Mittelalter, 1992, S. 20).
Guardini versteht infolgedessen Antike, Mittelalter und Neuzeit als menschliche Grund- und Wesensmöglichkeiten mit Vorzügen und Nachteilen, positiven und negativen Prägungen. Gerade an der Tugend der Ordnung und Ordnungsvertrauen, für die das Mittelalter bei Landsberg steht, zeigt Guardini auf, dass auch der mittelalterliche Habitus durchaus ambivalent sein kann. Tugenden sind Gestalten sittlichen Lebens, die von ihrer Wirkung her zu beurteilen sind. Nur jene, die zu vernunftgemäßem, gutem Handeln qualifizieren, sind auch wirklich Tugenden und nicht nur unkritisch übernommene und überkommene Traditionen. Gerade hier zeigt sich wieder Guardinis Nähe auch zu Aristoteles und Thomas von Aquin. So wie bei Aristoteles sich die sittliche Tugend als “Habitus der guten Handlungswahl” definiert und als “Mitte” die Handlungswahl habituell vervollkommnet, es dazu aber auch eine gleichermaßen durch Autorität und Freiheit geprägte „Erziehung zur Tugend“ braucht (vgl. Martin Rhonheimer: Die Perspektive der Moral. Philosophische Grundlagen der Tugendethik, Berlin 190 f.), sieht auch Guardini die Tugenden als dynamischen Habiti. Gerade hier führte Guardini aber vielfach auf den eigentlichen Schauplatz der Auseinandersetzung zurück: auf den politisch-theologischen, denn: „Nur wer Gott kennt, kennt den Menschen“ und mit dem Menschen auch die Welt und ihre „Politik“. Guardini ist Zeit seines Lebens davon überzeugt, dass der trinitarische „Gott ein Politikum“ ist (Guardini, Ethik, a.a.O., S. 881). Es handele sich in der Hauptsache um eine Frage des Gottesbildes und des daraus abgeleiteten Welt- und Menschenbildes und in der keineswegs unwichtigen Nebensache um ein daraus resultierendes methodisches Problem, wie die Gegensätze des Daseins philosophisch zu erfassen sind. Guardini hatte die politisch-theologischen Wurzeln der geistesgeschichtlichen Entwicklung zum Totalitarismus am Beispiel des “Heilbringers” ganz konkret herausgestellt und sie auf antike und neuzeitliche Vorgänge zurückgeführt, ohne dabei - dies sei noch einmal entgegen den gängigen Vorurteilen gegenüber Person und Werk Guardinis betont - das Mittelalter als Idealzustand vorzustellen, sondern um es gemeinsam mit Landsberg lediglich als typisierte Gesinnung und Haltung zum Ausgangspunkt für eine nach-neuzeitliche Neugestaltung zu machen. Wie Guardini eben schon in einem seiner ersten Aufsätze betonte, soll es „nicht zurück zum vergangenen, sondern vorwärts zu `unserem Mittelalter´” gehen. Damit wird aber zwangsläufig die Nach-Neuzeit des Totalitarismus zur Antike dieses neuen Mittelalters und das neue Mittelalter wird ebenfalls nur ein Durchgangsstadium zu einer abermaligen Neuzeit werden. Und auch diese wird wieder zu Ende gehen. Dies stellte für Guardini einen notwendigen Geschichtsprozess dar. Nicht notwendig war für ihn dagegen, dass dieser Geschichtsprozess sich dialektisch in extremen Pendelschlägen vollziehen müsse; gerade dann nicht, wenn man sich auf die polare Grundstruktur des Daseins besinnt und auf ihrer Grundlage ein „Ethos der Macht“ entwickelt, das weder auf Egalitarismus noch auf Titanismus beruhe und so in der Polarität zum „Ethos der Liebe“, jenes konkret-lebendige „Ethos der Verantwortung“ als Spannungseinheit hervorbringe, wie dies auch von Max Weber und von Hans Jonas formuliert wurde. Die akosmistische Liebesethik und die kosmistische Machtethik müssen sich also in einer situations- und umweltbezogenen Verantwortungsethik polar miteinander verbinden.
Sowohl bei Landsberg und noch mehr bei Guardini handelt es sich bei ihrer Mittelalter-Theorie also vorrangig um eine ethische und pädagogische Deutung nicht um eine historisierende oder historistische oder gar im Hegelschen Sinne eine geschichtsphilosophisch orientierte Beschreibung. Sachlich wie polemisch werden in der Folgezeit Landsberg und Guardini im Blick auf ihr Mittelalter-Verhältnis aufgrund der beschriebenen großen Ähnlichkeiten folgerichtig zusammengespannt.
Polemik gegen Guardini und Landsberg durch Robert Kosmas Lewins "Apostaten-Briefe"
Am unsachlichsten und polemischsten ist dabei Robert Kosmas Lewin 1928 in seinen sogenannten „Apostaten-Briefe“ (Wiesbaden 1928), in denen auch Guardini heftig angegriffen wurde, insbesondere sein Kolleg über „das Konkrete und das Reich Gottes“, „worin einerseits die reale Welt mit allen ihren Ordnungen in thomistischer Konzeption auftauchte, er aber andererseits 'der blassen Abstraktion einer Staatsidee, die des Menschen Seele auszufüllen habe', huldige“ (ebd., S. 82 f.). Dabei werde wohl die christliche Idee vom Staate untergeschoben, so wie auch die katholische Presse nicht müde werde, in Erziehung zum Staatsbürgertum diese christliche Idee als das in der modernen Welt realisierbare Ideal hinzustellen. Aber die Civitas Dei, auf die Erde projeziert, wäre Verwirklichung des Dritten Reiches in diesem Jammertale. Lewin hält dies aber für utopistisch, und hätte es auch noch nie gegeben: "Das war nie erfüllt, auch nicht in dem von Landsberg und Guardini verklärten Mittelalter. Guardini träumt von einem Wesenhaftwerden der Staatsidee in der Persönlichkeit, in der Seele, von einem Körperhaftwerden der Liebe zu Staat und Volksgemeinschaft in liturgischer Haltung. Bei einem so selten feinen Denkerkopf kann es wehtun, daß er alle Beziehung zum Konkret-Lebendigen und zur Härte historischen Geschehens verliert. Es entgeht ihm, daß der Weltkrieg eine Cäsur ganz anderen Gewichts im Schicksalsgange der Menschen bedeutet" (ebd., S. 84). Im 17. Brief heißt es dann: "So die Landsberg, die Guardini - offenbar höchst fein besaitete Geister. Haben wohl aber kaum etwas vom Leben erfahren, leben darum und agieren wie in Trance. In jenen Kreisen hegt man den kindlichen Glauben, das Leben sei liturgisch zu formen. Man lernt, das `Leben erfahre sich an Gegensätzen´, man registriere und schematisiere nur all die Gegensätze, und schon begriffe man das Leben, schon habe man es in der Hand. Das wäre dann die neo-katholisch-romantische Pragmasie. Im Grunde sind alle diese Vertreter eines aktivitätlichen, jugendbündlichen, neo-katholischen Intellektualismus im Grunde sind sie alle Esoteriker. .. Wäre nur Romano Guardini zu den Quellen gegangen, er hätte seine Gegensatz-Philosophie nicht betrieben. Obzwar er von den Quellen weiß! Gewiß weiß dieser vortreffliche Magister der Philosophie auch, daß die Griechen schon ihr Spiel mit den Gegensätzen hatten. Doch Guardini vermeint, einen neuen Weg zu gehen, den katholischen Weg zur Erfassung des Konkret-Lebendigen. Ein schöner, aber anaemischer Gedanke! Die germanische Erbschaft im romanischen Guardini trieb den armen Philosophen in das kimmerische Dunkel monströser Philosopheme. Er wird sich vergeblich dagegen sträuben, aber faktisch ist er in den Fängen der Hegel-Fichte-Kant-Abstrusitäten. Schon, weil er aus Erbaffinität das Idiom jener Geister adoptiert. Denn auf Lateinisch oder Italienisch hätte Guardini sein Buch nicht schreiben können. Nur ist Guardini, eben wegen der Quote von Latinität in seiner Geistigkeit, nicht so verschwommen wie jene Köpfe. Aber Gott sei´s geklagt, er spricht den ideologischen neu-romantisch prezieusen Jargon wie nur einer. Also das Konkret-Lebendige wollte erfassen, und griff ganz und gar daneben. Warum? Er spielt mit Antinomien; die aber taugen wohl nicht, einen Hund vor den Ofen zu locken. Guardini verlegt die sterilen dialektischen Antinomien aus der ratiocinierenden Vernunft in das Lebendige selbst. Er vergißt, daß die Oppositio terminorum der Scholastik nichts als begriffliche Analysenarbeit sein will. Indem Guardini die Abstrusitäten der Ideologie in einer gezierten neo-romantischen Sprache denkt, verdirbt er zu neo-idealistischer Spielerei, was die Griechen wenigstens treffsicher hingestellt hatten. ... Alles, was Guardini sagen konnte, nur - sind wir dem Geheimnis des Lebens nicht um Haaresbreite näher gekommen. ... Der romanische Guardini hat dies übersehen. Er revidiere nur noch einmal sein enantiologisches Denken; vielleicht erblickt er erschreckt sein Antlitz in diesem Fichte-Hegel-Spiegel: `Jeder Begriff schlägt in seinen Gegensatz um, um sich mit ihm in einem höheren Begriff zu vereinigen.´ Allenfalls hat enantiologisches Denken etwa heuristischen Wert. Wie Herbart wenigstens für die Psychologie einen Gewinn zog: `Der Gegensatz zweier Vorstellungen ist ein voller, wenn eine von beiden ganz gehemmt werden muß, damit die andere ungehemmt bleibe. Vorstellungen, die einander entgegengesetzt sind und zusammentreffen, werden zu Kräften, die einander widerstehen, hemmen. Grund des Widerstehens ist die Einheit der Seele.´ Ein feinsinniges Apercu! ... Aber Guardinis sämtliche Inferenzen und typologischen Normen sind Gemeinplätze. Bleibt es Apercu, mag´s hingehen. Auch sind Gemeinplätze schöne Erholung und Entspannung. Aber man macht doch kein System aus Binsenweisheiten, keine Typologie aus den Selbstverständlichkeiten der Lebens-Gegensätze! ... Spielerei. Nein, Guardini müßte am Leben zerbrechen, es erleben auf der Konflikts-Ebene aller Agonisten um die Seele herum. ... Aus dem Schema der Lebens-Gegensätze gewinnt man eine spielerische Typologie. Aber in die Tiefe der Persönlichkeit, in das Ich dringt man so nimmer. Daher denn wurde aus Guardinis Typologie eine Normentafel für die Oekonomie des spießerlichen Lebens; eine neue Lebenskunst für die goldene Mittelmäßigkeit; so etwas wie praktische Bürgerkunde mit Eignungsprüfung. ... Guardini sieht wohl selbst, daß er sich an ein fruchtloses Spiel hingibt: `Rechtgesehen, decken sich die Begriffe des Gegensatzes und der Polarität. Ich ziehe den ersteren vor, da er noch weniger zerredet ist.´ (Guardini: Der Gegensatz, p. 16) Warum aber übersieht er, daß gewisse Geister schon an der `Polarität´ ihren armen Geist `zerredet´ haben?" (ebd., S. 392-395).
III. Landsberg und die Jugendbewegung zwischen Scheler und Guardini
Diese Ausrichtung hat nicht zuletzt bei beiden seinen „Sitz im Leben“ in der jeweiligen Auseinandersetzung mit den damals aktuellen Themen der Jugendbewegung.
Rezension zu Landsbergs "Die Welt des Mittelalters und Wir" in den Schildgenossen
Wohl Waldemar Gurian, der zusammen mit Paul Ludwig Landsberg und Werner Becker zu diesem Zeitpunkt noch völlig zwischen Romano Guardini, Max Scheler und Carl Schmitt stand, hatte in der Quickborn-Kulturzeitschrift „Die Schildgenossen“ das Buch „Das Welt des Mittelalters und wir“ besprochen (W. G.: Rezension zu: Landsberg, Die Welt des Mittelalters und Wir, in: Die Schildgenossen, 3, 1922, S. 44 f.). Gurian lobte darin Landsbergs Fähigkeit Geschichte zu deuten, ohne in den Fehler der Verherrlichung einer unmöglichen Restauration zu verfallen.
Eine Rezension Landsbergs in den Schildgenossen (1922/23)
Bislang häufig übersehen wurde, dass Landsberg bereits zum Schildgenossen-Jahrgang 1922/23 eine Rezension über Peter Dörflers „Stumme Sünde“ beisteuerte, die ebenfalls die Nähe zu Guardini dokumentiert: „Die ganze Neuzeit krankt an einer Relativierung des Sündenbegriffes, die beginnt bei Jakob Böhme. Für ihn wird das Böse notwendig zur Hervorrufung des Guten. Nicht umsonst gefiel diese späte, in manchem entartete Sproß der deutschen Mystik den Romantikern so gut, deren spielende Seele auch stets in der Gefahr war, den Ernst gerade der moralischen Entscheidung zu vergessen. Hegel endlich trieb durch sein dialektisches Prinzip den Wahnsinn auf die Spitze. Er wagte es, das Identitätsprinzip zu leugnen: Gut war nicht mehr Gut und Böse nicht mehr Böse. Das Ende kennen wir in Nietzsche, den gewaltigen Protest in Kierkegaard, der sich als welthistorischer Gegner gegen Hegel fühle: Der Mann des `Entweder-Oder´ gegen den des `Sowohl-Als auch´. – Diesem unheilvollen Relativierungsprozeß ist nicht in erster Linie durch begriffliche Erwägung zu begegnen, vielmehr durch einfache Hinstellung des Felsens der Realität der Sünde, an dem er scheitern wird.“ Landsberg übt schließlich „Kritik an all diesen `Psychoanalytikern´, diese feinen Versteher der Sünde und Verführer zur Sünde.“ (Paul Landsberg: Rez. Peter Dörfler, Stumme Sünde, Kempten 1922, in: Die Schildgenossen, 3, 1922/23, Heft 2, S. 78 f.)
Der Bonner Scheler-Kreis
Paul Ludwig Landsberg (1901-1944) wurde eine der führenden Gestalten, vielleicht sogar Mittelpunkt des Bonner Scheler-Kreises, dem neben Landsberg selbst die Kunsthistoriker bzw. Kulturphilosophen Heinrich Lützeler (1902-1988), Paul Clemen (1866-1947), aber auch der schon der ältere herangezogene Wilhelm Robert Worringer angehörten. Dabei scheint Scheler selbst bei den Treffen des Schüler- und Freundeskreises gar nicht so häufig anwesend gewesen zu sein. Überdies hatten einige sogar den Eindruck, dass während seiner Bonner Zeit vielmehr Guardini der eigentliche Inspirator für den Scheler-Kreis war. Tony Foerster zum Beispiel erinnerte sich daran, dass dort immer viel geredet und debattiert worden sei, bevor Guardini dann “das allein Endgültige” ausgesprochen habe (Brief von Tony Foerster an Guardini vom 20.2.1965 (zum 80. Geburtstag, Stabi), zitiert nach Gerl, 1985, a.a.O., S. 132).
Die Besprechung zwischen Max Scheler, Romano Guardini und einigen Jugendbewegten in Köln
Dies könnte auch für eine Außenwahrnehmung des Schüler-Kreises gesorgt haben, der zwar Landsberg deutlich widersprochen hat, aber wohl dennoch nicht gänzlich von der Hand zu weisen ist. Im Sommer 1922 fand nämlich eine Besprechung zwischen Max Scheler und einigen Jugendbewegten in Köln statt, an der auch Romano Guardini teilnahm und die zu einem Diskurs zwischen der Pädagogin, Soziologin und Frauenrechtlerin Elisabeth Busse-Wilson (1890–1974), Autorin der Studie „Die Frau und die Jugendbewegung. Ein Beitrag zur weiblichen Charakterologie und zur Kritik des Antifeminismus“ (1920), und Paul Ludwig Landsberg in der Zeitschrift „Die Tat“ führen sollte (Elisabeth Busse-Wilson: Max Scheler und der homo capitalisticus, in: Die Tat, 14, 1922/23, S. 179-186, besonders S. 184f.; dann in dies.: Stufen der Jugendbewegung. Ein Abschnitt aus der ungeschriebenen Geschichte Deutschlands, Jena 1925, S. 55-63, besonders S. 61 f.; Paul Landsberg: Zu „Max Scheler und der homo capitalisticus“, in: Die Tat, 14, 1922/23, S. 468f.; Elisabeth Busse-Wilson: Scheler und seine Schüler, in: Die Tat, 14, 1922/23, S. 469f.).
Wie stark Landsberg die Jugendbewegung wahrgenommen hatte und wie nahe er insbesondere Guardini geistig stand, zeigt unter anderem sein heftiger Einspruch gegen eine Schilderung dieser Versammlung von Jugendbewegten bei Scheler durch Elisabeth Busse-Wilson: „Die Auseinandersetzung zwischen Scheler und Guardini war eine rein sachliche. Guardini als Theologe sieht natürlich mehr das rein Religiöse, Scheler als Philosoph und Soziologe mehr die Bedingtheiten der Verwirklichung. Beide zusammen hätten bei einer Fortsetzung der Besprechungen zu einem Gesamtbild gelangen können, das so aus den Wahrheiten beider sich zu bilden jedem einzelnen Teilnehmer der Tagung überlassen blieb. Alles in allem scheint mir die sachliche Einstellung, die für solche Berichte nötig ist, von E. Busse-Wilson fast nirgends eingehalten. Ihr Aufsatz ist geistreich und gebildet, aber er gibt ein falsches Bild von den Tatsachen, Gedanken und Menschen, die er berührt“ (Paul Landsberg: Max Scheler und der homo capitalisticus, in: Die Tat, 14, 1922/1923, S. 468f., hier S. 469).
Busse hatte in ihrem „Tagungsbericht“ die These aufgestellt, Scheler vertrete „eine Renaissance des Katholizismus und des Mittelalters, die man durchaus verkennen würde, wenn man sie mit dem romantischen Zeitalter gleichsetzen würde. Er nennt den Gegenpol des katholischen Prinzips den „homo capitalisticus“, dessen geistige Struktur und Typologie er mit MAX WEBER aus dem Heraufkommen des protestantisch-calvinistischen Bürgertums Mitteleuropas erklärt“ (Elisabeth Busse-Wilson: Max Scheler und der homo capitalisticus, in: Die Tat, 14/I, 1923, S. 179-186, hier S. 180). Schelers „romantische Utopie, Franziskanertum und Heidentum (machiavellistischer und kapitalitischer Artung) zu vereinen, wurde aufgelöst von dem vortrefflichen Führer der katholischen Jugendbewegung ROMAN(O) GUARDINI, der mit dem der Jugendbewegung eigentümlichen Gefühl für ethische Unbedingtheit und Echtheit auftrat: Staatsmoral und Privatmoral sind nicht zu trennen! Bismarck habe seinerzeit mit Genialität und olympischer Ruhe den 70er Krieg vorbereitet - bis zur Fälschung der Emser Depesche. Das Unternehmen verlief glänzend, Gottes Segen ruhte sichtbar auf ihm, und nach 50 Jahren kam die Antwort auf die Emser Depesche im Versailler Friedensschluß von 1919! Scheler musste sich belehren lassen, dass das Moralische in der Politik wie im Einzelleben in der Folge auch das „Nützliche" ist. Denn die geistigen Gesetze können wie Naturgesetze nicht umgangen oder übertreten werden, ohne, unsichtbar zunächst, aber heimlich und sicher sich an den Enkeln zu rächen. Leider wurde in diesem Zusammenhang das Thema des Großinquisitors von keinem von beiden berührt. Gleichwohl vertrat Guardini, ausgerüstet mit philosophischer philosophischer Kultur und geistiger Strenge zugleich, am edelsten jenen Typus des neuen religiösen Menschen, der die kostbarste Frucht der Jugendrevolution ist. Als Scheler dann, politisch und richtig, feststellte, dass die Durchsetzung der neuen antikapitalistischen Gesinnung durch den Einzelnen unfruchtbar bleiben muß, und beinahe vor einem neuen, nutzlosen Freiwilligentum warnte, erwies sich wiederum dieser katholische Geistliche als der dem Ethos des Jugendmenschen verwandtere. Und nützt der Kampf für eine Idee weder mir noch anderen, noch dem Siege dieser Idee selber so muß ich doch sagen - „ich habs gewagt fürwahr" und nach meiner individuellen Ethik handeln. In Sachen der Moral darf nicht gerechnet werden; denn der Gott in mir ist das Höchste. Schelers Bewunderung für den Typus des übermoralischen Helden hängt an einer Stelle mit der Anerkennung einer höchsten zeitlichen und weltlichen Moralinstanz zusammen, die aber der Christ und vor allem der Katholik außerhalb der göttlichen Offenbarungswerte nicht gelten lassen dürfte. Darf ein verantwortlicher politischer Führer seine Privatmoral opfern, um einer überpersönlichen Institution, z. Ä. dem Staat, Vorteil und Ehre oder Wohlfahrt zu retten? Woher nimmt der Staatsmann, der gegen seine politische Überzeugung im Amte bleibt, allein um eine schwere politische Situation zu überwinden, woher nimmt er die Kraft, um vor sich selbst nicht gesinnungslos zu erscheinen? Was ist es, das Hindenburg, einen altpreußischen Militär und kaisertreuen General, seinerzeit befähigte, nach Errichtung einer sozialistischen Republik, die Armeen nach Deutschland zurückzuführen? Bezeichnenderweise fiel hier nicht das Wort „Pflicht", was unangenehm nach kantischer Häresie und Gotteslästerung geschmeckt hätte. Der eigentümliche Riß in Schelers Lehre trat auch zutage, als man ihm die Gewissensfrage stellte, wie die Umgestaltung der kapitalistischen Welt nun realiter zu bewerkstelligen sei. Er neigt sehr dazu, in dem aufgeklärten Absolutismus einer oder zweier Wirtschaftsdiktatoren das Heil zu sehen. Denn er ist zugleich Augustiner und Bewunderer der Kondoitieri des Kapitalismus von der Art eines Hugo Stinnes. Katholik aus metaphysischem Bedürfnis, nicht aus Romantik wie viele Dichter und Denker, ist er gleichzeitig heimlich verliebt in den selbstherrlichen Unternehmer, der doch zugleich sein Antichrist ist. Hierdurch wird Scheler aber zum Romantiker des Kapitalismus. Er glaubt dabei nicht etwa an die Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus von der Selbstaufhebung des Hochkapitalismus, dadurch, dass das in einer Hand voll Leuten konzentrierte und vertrustete Kapital notwendig zur Sozialisierung hinüber führt. Auch seine Vermutung, dass der Abbau des kapitalistischen Zeitalters durch das biologische Aussterben des kapitalistischen Menschentypus erfolgen werde (spärlicher Kindersegen in dem protestantischen höheren Bürgertum, im Gegensatz zu katholischen Familien), erscheint als eine Rassenmythologie. Von hier aus gelangt er, der eine zentralistische Gewalt zur Heilung des demokratisierten Deutschland befürwortet wie viele, zur Ablehnung der Diktatur des Proletariats, mit der Begründung, dass diese soziale Klasse nicht gesellschaftsneubildend sein kann, weil sich im Proletariat wahrscheinlich nicht mehr akapitalistische Menschen befinden als im Bürgerrum. In der Tat ist ja nur eine Elite im Proletariat die neue Rasse, die eine absterbende Menschenschicht ablösen könnte, im ganzen aber stellt es eine barbarische, verschlechterte Auflage des Bürgertums dar. Das Rückgrat der neuen Gesellschaft sollen nach Scheler vielmehr die akapitalistischen und die antikapitalistischen Menschen aus der Jugendgeneration des Bürgertums und des Proletariats bilden. Können nun diese Gottsucher, Beter bleiben, während sie doch gleichzeitig die Welt wandeln sollen, deren Schicksal aber in den Händen jener Eroberernaturen der kapitalistischen Regierungen Europas liegt? Ist so Scheler eine interessante Mischung eines wahrhaftigen und echten Katholiken und eines Kryptokapitalisten und -protestanten, so ist Guardini kristallklar, Heiliger ohne die Intellektscheu des Gläubigen; auch ist er zugleich ein Erbe jener romanischen Kultur, die die katholische Kirche in so großartiger Weise konservierte und die den germanischen „Barbarenhorden“ der Jugendbewegung völlig abgeht. Guardinis Ethik führt in ihrer Reinheit und Unbedingtheit auf jene letzte große Einsamkeit, wo der Mensch mit seinem Gott allein ist. Eben das ist die metaphysische Haltung der Jugendbewegung, nur daß diese kosmische Einsamkeit, eine protestantische Konsequenz, für den Katholiken immer gemildert ist durch Absolution und Zuspruch seiner Kirche“ (ebd., S. 184).
Im Kontext argumentierte Landsberg also „im Interesse sowohl der Wahrheit wie der beteiligten Personen“ gegen Busse: "[…] Als mir der Aufsatz in Händen kam, war mein erster Gedanke: meine Erinnerung täusche mich über den Verlauf der Tagung, von der E. Busse-Wilson berichtet. Da aber alle anderen Teilnehmer der Tagung, die ich erreichen konnte, mit meinem Bilde übereinstimmten und über das von Frau Busse-Wilson gleich erstaunt waren, so wird die Erinnerungstäuschung wohl bei ihr liegen. Unser Gemüt hat ja eine unermeßliche Kraft, Erlebnisse und Erfahrungen schon in sehr kurzer Zeit bis zur Unkenntlichkeit umzuformen. – Und nun zur Sache! Zunächst ist der Standpunkt Schelers bis zur Zerstörung seines Sinnzusammenhanges verzerrt. Scheler vertritt zwar, wenn man durchaus so will, eine Renaissance des Katholizismus, aber durchaus keine Renaissance des Mittelalters, so sicher er meint, daß wir auch von diesem als Strukturvorbild viel lernen können. Im Gegenteil will er gerade einen Katholizismus, in den das Berechtigte der Neuzeit eingegangen ist. Nach meiner Ansicht geht er in diesem Punkte sogar zu weit. Es ist auch nicht wahr, wenn es dann weiter heißt: „Sehr im Gegensatz zu M. Weber geht Scheler der Anerkennung der großartigen, positiven, moralischen Qualitäten dieses `homo capitalisticus´ aus dem Wege.“ Auch davon kann gar keine Rede sein. Der `homo capitalisticus´ ist für Scheler keine wertlose, sondern eine tragische Figur. Daß Scheler endlich die Neuzeit mit den Mitteln der materialistischen Geschichtsansicht zu erklären suche, ist die falscheste all dieser falschen Behauptungen. Man versteht kaum, wie E. Busse-Wilson darauf verfällt. Der materialistischen Geschichtsauffassung billigt Scheler ein gewisses Recht zu, auch nur mit weitläufigen Modifikationen, zur Erklärung von Phänomenen innerhalb des Kapitalismus, nicht aber zur Erklärung des Kapitalismus selbst, oder gar der gesamten Neuzeit. Deren Gesamtzustand führt er in erster Linie auf religiöse und überhaupt geistige, dann auf biologische Faktoren zurück. Damit wird die Polemik Seite 181, die etwa gegen Kautsky am Platze sein mag, durchaus gegenstandslos. Das Resultat all dieser einzelnen Täuschungen ist dann, daß die Verfasserin in Schelers Lehre einen endgültigen `Riß´ findet und sein Wesen nur als `interessante Mischung´ verstehen kann. Scheler ist eben durchaus kein mittelalterlicher Mensch, aber auch kein `Kryptokapitalist und Protestant´. Er ist ein Drittes, das man noch nicht aussagen mag. Man kann neue Erscheinungen eben nicht immer mit den Kategorien der Mädchenschule begreifen. Noch weit schlimmer als Scheler spielt E. Busse-Wilson Guardini mit. Versteht sie denn nicht, daß ihr unziemliches Lob Guardini tief verletzen muß. An die Stelle des solidarischen Miteinander, welches die Tagung beherrschte, setzt sie ein Gegeneinander, das Gott sei Dank nicht vorhanden war. Die tiefe Einheit, die Scheler und Guardini – trotz der Meinungsverschiedenheiten – verband, scheint sie nicht bemerkt zu haben. Den anwesenden Schülern Schelers streitet sie gar (S. 180) mit journalistischer Leichtfertigkeit die Sachlichkeit ab. Guardini wird dafür danken, als „Heiliger ohne Intellektscheu des Gläubigen“ eingeführt zu werden. Mag es so sein oder nicht so sein; jedenfalls ist es ebenso unerlaubt als grotesk, bei der öffentlichen Beurteilung eines Menschen solche Maßstäbe und Worte zu profanieren. Es bleibt die Annahme, daß sie sich der Tragweite ihrer Worte nicht ganz bewußt war, ein Opfer der seelenverheerenden Wortentwertung unserer Tage. Daß sie einige Zeilen weiter der Jugendbewegung als „germanischen Barbarenhorden“ Guardinis „romanische Kultur“ gegenüberstellt, mutet wie ein schlechter Scherz an. Ich mußte an einen Franzosen denken, der da sagte: in Ostpreußen herrschten noch „lex vieux dieux“ und damit Wodan und Freya meinte. Immerhin ist seit Teuts Zeiten mit den Deutschen doch einiges geschehen. Glaubt sie denn wirklich, daß die Quickborner aus dem Rheinland, aus Schwaben und Bayern, die Wandervögel und Freideutschen aus Berlin, Norddeutschland und dem Osten „germanische Barbarenhorden“ sind? „Das deutsche Wesen und die Form“, das ist ein langes und schwieriges Kapitel, das sich so leichtfertig nicht erledigen läßt“ (Paul L. Landsberg: Zu „Max Scheler und der homo capitalisticus“, in: Die Tat, 14/I, 1923, S. 468 f.)
Es folgt noch das eingangs bereits wiedergegebene Schlussurteil.
Busse reagierte sehr apodiktisch, aber sehr entschieden auf die Kritik Landsbergs, wobei sie sich darin nicht mehr direkt auf Guardini bezieht: „Immer ist der Zuschauer im Vorteil vor dem Mitspieler. Er sieht bei weitem mehr als jener, und wenn er gar den Vorzug genießt, geistreich und gebildet genannt zu werden, so ist er einfach schon durch die Distanz überlegen. Wieviel größer wird aber seine kritische Fähigkeit zur Synopsis der verschiedensten Köpfe und Temperamente sein können, wenn er außerdem noch frei ist von jeder sektiererhaften Verfallenheit. Die Führerhysterie, diese Epidemie der Jugendbewegung verschont auch die Besten nicht. Sie erzeugt einmal ein merkwürdiges Bedürfnis nach Selbstaufgabe oder eine gereizte Aggressivität. [Das sind die mildernden Umstände, die man dem blutigen Ausfall zubilligen muß, mit dem ein treuer Diener seinen Meister rächen zu müssen glaubt. Man erlebte schon, wie Wyneken kühn und kindlich von seinen Anhängern gedeckt wurde. Aber hier war, weil der Gegner schon überhaupt nicht nach Recht und Unrecht frug, der Verteidigungsfall gegeben. In unserem Falle aber, gibt ein Schildknappe vor, seinen verwundeten Herrn zu verteidigen, während er in Wahrheit sich hinter ihm verschanzt, weil er sich selbst angegriffen fühlt. Es scheint, daß er sich durch eine Stelle meines Aufsatzes getroffen fühlt, die er aber nicht anführt: „Scheler war gleichsam von einer Prätorianergarde von Schülern umgeben, die den Meister vor dem Ansturm der kantisch verdächtigen Eindringlinge schützen sollten.“ – Er entwertet durch seine Affektäußerungen nur seine Argumente, und das Prädikat, das er mannesstolz beliebt, fällt dabei auf ihn selbst zurück, wie auch jene Hörigkeit sonst ja als typisch weibliche Eigenschaft gilt.] Aber wie nun Dante und Goethe durch die Anerkennung überzeugungstreuer Gymnasiasten und Lehrer nicht gehoben und nicht geschmälert werden, so wird die wirkliche Bedeutung Schelers durch die Ergebenheit frommer Jünger weder bewiesen noch überhaupt erreicht. Das Geniale dieses Mannes ist in dem Beisammensein der ganzen Last des entwicklungsgeschichtlichen „wissenschaftlichen“ Zeitalters und der zeitlosen philosophischen Umschau Zeugungskraft. Es schien sonst nur zwei Auswege aus der geistigen Not, aus dem Getriebe der entgötterten und entzauberten Welt zu geben: die Verfluchung der grauenhaften Nüchternheit des kapitalistischen Zeitalters oder aber die Flucht. Darin sehen z.B. alle die ihr Heil, denen der Dichter George Prophet und Vorbild ist. Scheler aber bejaht ungeschönt diese kapitalistische Welt, als deren Repräsentant er sich fühlt. Er handhabt die Wertungen dieses seelenlosen Zeitalters, ihre Wissenschaften als glänzender Meister und bezweifelt sie bereits schon wieder, weil er vielmehr noch Metaphysiker ist. Dies gilt um so mehr, als er trotzdem immer die psycho-materiellen Motive bei der Erklärung scheinbar unauflösbarer geistiger Umstände heranzieht (z.B. erweist er die ungemeine Wirkung des Spenglerschen Untergangswerks aus der Gemütslage der deutschen als besiegter Nation – eine sehr naheliegende materialistische Interpretation). Die „gemeine Natur“ des Menschen, die Triebgrundlagen unserer Existenz, die andere Denker und Propheten verachten oder verdrängen, die proletarischen Philosophen aber nicht nur theoretisieren, sondern auch mit einer gewissen trotzigen Überbetonung hervorkehren – und die gesamte Wissenschaft, die sich auf diesen Seiten der Natur gründet -, diese verwirft er nicht, sondern er ist mit diesem Wissen dennoch gleichzeitig religiöser Denker. Und damit hat er die kapitalistische, entgötterte Welt erlöst, wie sie sonst nur der Prophet, der Dichter erlösen kann. Und trotzdem ist er gegebenenfalls, wie gesagt, reiner Marxist, d. h. Mathematiker der Wirklichkeiten, wenn es sich um die Interpretation des bürgerlich-kapitalistischen Zeitalters handelt, arbeitet er vorwiegend mit psycho- und sozio-ökonomischen Komponenten. Und eben diese schwer erkennbare, unbewußte Wertbetonung macht ihn angreifbar und zugleich unangreifbar, was allerdings nicht leicht zu beweisen war. Denn jene scheinbar materialistische Analyse bleibt dadurch letztlich eine idealistische (wenn auch eine mehr oder weniger negativ wertende). Alle die rationalen Begründungen durch anthropologische Blutmischung, soziologischen Schichtenwechsel usw. sind so erst die Folge jenes schon vorher gefällten, aber unausgesprochenen Werturteiles. Daß Scheler dem großartigen Phänomen des Kapitalismus dabei keineswegs einseitig gegenübersteht, sondern als „heimlich Verliebter“, wie ich es nannte, oder auch als Bewunderer seiner latenten Tragik – das wurde keineswegs verschwiegen. Diese Art notwendigen Subjektivismus in der Wertauslese errichtet nun aber bestimmte Erkenntnisgrenzen: man unterbreite einem Konservativen die Machtgrund. lagen, Werke und Ziele von Sowjetrußland – so wird er sie intellektuell vollkommen verstehen, kann aber trotz einer gewissen Seelenverwandtschaft den geistigen Gehalt dieses Staatswesens nicht assimilieren -, er kann ihn nicht brauchen. Und wenn man einen Hellenen oder einen antik empfindenden Menschen der Moderne in das patristische oder mittelalterliche Christentum versetzte, so kann er die Substanz dieser geistigen Welt, trotz ehrlicher und respektvoller Würdigung sich nicht aneignen. So muß auch Scheler, der die protestantische Geisteshaltung besser als irgendeiner kennt, das gesamte bürgerlich kapitalistische Zeitalter subordinieren und nicht koordinieren. Mag nun meine eingehende Kritik der materialistischen Geschichts- und Gesellschaftsauffassung nur zum kleinsten Teile auf Scheler selbst angewandt werden können, so sagt das nichts gegen die Allgemeingültigkeit und die Bedeutung einer solchen Kritik in einem Zeitpunkte, wo führende sozialistische Theoretiker sich sowohl von der religiösen wie von der philosophischen Seite her dem Standorte Schelers annähern, während er selber von oben her jene moderne Gesellschaftstheorie in ihrem Bereiche anerkennt und mehr noch sie anwendet. Unsere Abhandlung stützte sich hierbei keineswegs nur auf das, was Scheler ausgesagt hat, sondern auch auf seine Werke, wie sie schon ihrem Titel nach sich keineswegs auf einen Tagungsbericht beschränkte. Was nun diesen selbst anbetrifft, so durften wir das Urteil von Schülern gegenüber ihrem Meister als befangen ablehnen. Ihr Erstaunen über die erlittene Darstellung ist ebenso berechtigt, als sie natürlich und einfach ist. Unbequem mag es auch sein, sich einordnen und interpretieren zu lassen und gar sich loben lassen zu müssen. Viel lieber hätte man einen richtigen, d.h. einen ungerechten Gegner gehabt. Unabhängigen Teilnehmern ist es auch nicht überraschend, wenn andere, z.B. die Katholiken, erstaunt und betroffen sind, daß ihre Weltanschauung sich so in dem Kopfe eines Außenstehenden spiegelt. – Wird je ein Protestant sein Reformationszeitalter bei einem englischen Historiker wiedererkennen? Oder: man unterbreite einem Anhänger der monumentalen Geschichtsauffassung eine sozialwissenschaftliche Studie über die Zeit des Siebenjährigen Krieges, und er wird erstaunt und empört sein, was aus dem Helden Fritz unter den Augen eines modernen Sozialpsychologen geworden ist. Und noch ein Fall: die berühmte Bekanntmachung von der Niederlage bei Jena 1806, wie wird sie interpretiert werden von einem Treitschke, von einem Lamprecht, von einem Franz Mehring? Je nach der Gruppenzugehörigkeit verschieben sich die Ereignisse und Ideen und deren Sinngebung. Es gibt aber dennoch ein Unableitbares, Irrationales im Wandel der Geschichte, etwas, das nicht mehr der Relativität unterworfen ist; um dieses freilich zu erkennen, muß man den mühseligen Weg der Wissenschaft gehen. Schelers Schöpfung ist da. Er wird erst Jünger haben, wenn er keine Schüler mehr hat. Es mutet daher auch ein wenig allzu eifrig geschäftig an, wenn Rechtgläubige um seine Geltung besorgt sind. Auch die Jugendbewegung braucht man nicht in Schutz zu nehmen. Denn auch ich bin in Arkadien geboren. – Daß diese nun einen ganz bestimmten Menschentypus repräsentiert, nicht nur im geistigen und ethischen Sinne, sondern auch im sozialen und beinahe im anthropologischen Sinne, kann nur der ermessen, der 15 Jahre zugleich in und über ihr gestanden hat. Diese Menschen, die ihrer Wesensart nach hoffnungsvoller und sieghafter sind, als sie es selber ahnen oder je zugeben würden, stellen gleichzeitig jene Jünglinge mit „den tiefernsten Gesichtern und den schlechten Manieren“, wie sie Verfasserin an anderen Orten charakterisiert hat – eine schwer beschreibbare Ausgeprägtheit deutsch-teutonischen Wesens. Sieht man dann noch die Versammlungen dieser Menschen, wie sie häufig übernationalen oder antinationalen Zielen hingegeben sind, so verschärft sich der Zug, den wir ohne historische Spielerei als germanisch bezeichneten. Nur ein ausgedörrter Intellektualist wird diese eigentümliche körperlich-geistige Mischung nicht bemerken. Es gibt eine klassische Schilderung „jener schweren philosophischen Naturen, die sich bei der kleinsten Frage stracks in eine muskelstarke Position werfen, wie ein starker Mann, der mit Eisenkugeln spielt, und die nicht die leiseste Andeutung eines Gespräches an sich vorbeihuschen lassen können.“ Sie findet sich bei einem dänischen Dichter J. P. Jacobsen in der Gestalt des Hauslehrers Bigum. Aber nun gleich eine Abwickelung jenes großen Problems zu verlangen, das seit 400 Jahren den deutschen Geist quält — vom deutschen Wesen und der Form – eben das wäre eine typisch hochnäsige Pedanterie gewesen“ (Elisabeth Busse-Wilson: Scheler und seine Schüler, in: Die Tat, 14/I, 1923, S. 469 ff., dann auch in: dies.: Stufen der Jugendbewegung: ein Abschnitt aus der ungeschriebenen …, 1925, S. 64 ff.).
Weiteres Treffen zwischen Guardini und Scheler im Garten der Landsbergs (Frühjahr 1923)
Ein weiteres Zusammentreffen zwischen Guardini und Scheler fand im Frühjahr 1923 im Garten des Elternhauses von Landsberg statt (Gerl, Romano Guardini, 1985, S. 130ff, S. 142). Diese Begegnung hat einem Bericht Heinrich Lützelers zufolge beide Seiten tief beeindruckt, obwohl dabei nicht nur die Übereinstimmung, sondern auch der Gegensatz deutlich geworden sein muss. “Welch ein Gegensatz! Scheler sagte erschüttert zu uns, seinen Schülern, es bewege ihn tief, dass einer so fest in Gott stehen könne” (Briefliche Auskunft von Heinrich Lützeler vom 25.3.1984 an Hanna Gerl-Falkovitz, zitiert nach Gerl, 1985, S. 142.; aber auch schon in Heinrich Lützeler, Persönlichkeiten, a.a.O., S. 117).
Bei diesem Zusammentreffen dürfte auch das von Lützeler erwähnte Gespräch stattgefunden haben, in dem Scheler den jüngeren Kollegen fragte, “wie er denn wohl den Begriff `Weltanschauung´ interpretiere” und “ihm gleich ein halbes Dutzend Möglichkeiten” vorschlug: “Guardini, gar nicht belesen, war völlig verschüchtert. Uns Studenten schien es damals, als sei ein Menschenfresser auf den verwirrten Dozenten der Dogmatik zugegangen. Nachher aber zeigte sich Scheler bewegt davon, dass es dies noch gab: einen Menschen unserer Gegenwart, ungezwungen und weiten Herzens aus der Ordnung lebend” (Heinrich Lützeler: Persönlichkeiten, a.a.O., S. 117).