Romano Guardini und Martin Heidegger: Unterschied zwischen den Versionen
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Diese „Württembergischen Universitätswochen“ haben auch nachweislich stattgefunden. Ob dabei Guardini aber auch diese drei Vorlesungen gehalten hat, ist bislang nicht gesichert. Im Guardini-Archiv sind dazu keine einschlägigen Typoskripte bekannt, die im Falle der Ethik und Hölderlins über das schon Publizierte oder die Vorlesungen hinausgeht. Von seiner Auseinandersetzung mit dem französischen und deutschen Existentialismus – namentlich Sartre, Heidegger, Jaspers – existiert in dieser Konstellation wohl auch kein Entwurf mehr, so dass überhaupt fraglich ist, ob er diese Vorlesung so gehalten hat. Dennoch ist allein schon der Umstand interessant, dass er mit diesem Thema angekündigt wurde. Die Universitätsarchive könnten dazu sicher noch weiteren Aufschluss geben. | Diese „Württembergischen Universitätswochen“ haben auch nachweislich stattgefunden. Ob dabei Guardini aber auch diese drei Vorlesungen gehalten hat, ist bislang nicht gesichert. Im Guardini-Archiv sind dazu keine einschlägigen Typoskripte bekannt, die im Falle der Ethik und Hölderlins über das schon Publizierte oder die Vorlesungen hinausgeht. Von seiner Auseinandersetzung mit dem französischen und deutschen Existentialismus – namentlich Sartre, Heidegger, Jaspers – existiert in dieser Konstellation wohl auch kein Entwurf mehr, so dass überhaupt fraglich ist, ob er diese Vorlesung so gehalten hat. Dennoch ist allein schon der Umstand interessant, dass er mit diesem Thema angekündigt wurde. Die Universitätsarchive könnten dazu sicher noch weiteren Aufschluss geben. | ||
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== Der Briefwechsel bezüglich der Heidegger-Festschrift (1949) == | == Der Briefwechsel bezüglich der Heidegger-Festschrift (1949) == |
Version vom 22. Januar 2025, 16:10 Uhr
Vorbemerkungen
Anlass
Nachfolgende Historische Dokumentation wurde im Vorfeld eines Vortrags "Heidegger-Guardini - ein währendes Gespräch? Neue Dokumente zur Forschungslage" im Rahmen der gemeinsamen Tagung "`Sehr bedeutungsvoll scheint mir diese Gedankenwelt.´ Neues zum Gespräch zwischen Romano Guardini & Martin Heidegger" des Freundeskreises Mooshausen e.V. und der Martin-Heidegger-Gesellschaft e.V. vom 9. bis 11. Juli 2021 im Schloss zu Meßkirch erstellt und im Anschluss daran fortlaufend ergänzt. Ursprünglich war eine Buchveröffentlichung unter Abdruck des Briefwechsels und zahlreicher bislang noch unpublizierter Archivalien und weitgehend unbekannter Texte geplant, die sich aber nicht realisieren hat lassen. Um die Ergebnisse möglichst breit der nationalen und internationalen Guardini- und Heidegger-Forschung noch zeitnah zur Verfügung zu stellen, nehme ich die Dokumenation hier in das Romano-Guardini-Handbuch auf.
Liste der ausgewerteten neu- oder wiederabgedruckten Quelltexte
- Q 1: Widmung Heideggers an Guardini (um 1915) [Guardini-Bibliothek gb 4039]
- Q 2: Brief von Romano Guardini an Martin Heidegger (10. April 1916) [Deutschen Literaturarchiv Marbach Nr. 75.6840/1, erstmals in: Heidegger-Jahrbuch I, 2004]
- Q 3: Brief von Romano Guardini an Martin Heidegger (20. April 1916) [Deutschen Literaturarchiv Marbach Nr. 75.6840/2, erstmals in: Heidegger-Jahrbuch I, 2004]
- Q 4: Widmung Heideggers an Guardini (1930) [Guardini-Bibliothek gb 4050]
- Q 5: Widmung Heideggers an Guardini (1930) [Archiv Burg Rothenfels]
- Q 6: Postkarte von Romano Guardini an Fanny Kempner (27. Juni 1931) [Privat-Archiv Gerl-Falkovitz]
- Q 7: Auszug aus dem Brief von Romano Guardini an Johannes Spörl vom 26. Januar 1933 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1240]
- Q 8: Postkarte von Romano Guardini an Fanny Kempner vom 2. Februar 1933 [Pri-vat-Archiv Gerl-Falkovitz]
- Q 9: Auszug aus dem Tagebuch Romano Guardinis (Eintrag vom 12. Juni 1932) [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. …???]
- Q 10: Romano Guardini: Typoskript „Der Zustand des Gefallen-Seins“ [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 86]
- Q 11: Briefauszug von Romano Guardini an Johannes Spörl (13. Mai 1933) [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1240]
- Q 12: Widmung Heideggers an Guardini (vor 1941) [Guardini-Bibliothek gb 4053]
- Q 13: Widmung Heideggers an Guardini (1941) [Guardini-Bibliothek gb 4048]
- Q 14: Gleichlautende Widmungen Heideggers an Guardini (1943) [Guardini-Bibliothek gb 4041, gb 4046 und gb 4047]
- Q 15: Auszug aus dem Brief von Johannes Spörl an Romano Guardini vom 28. September 1944 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1239]
- Q 16: Brief von Martin Heidegger an Romano Guardini vom 6. August 1945 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 875]
- Q 17: Auszug aus Brief von Romano Guardini an Johannes Spörl vom 6. Januar 1946 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1239]
- Q 18: Briefdurchschlag von Romano Guardini an Martin Heidegger vom 14. Januar 1946 [BSB Ana 342, B 12/007, auszugsweise bereits publiziert in: Hugo Ott, 1985]
- Q 19: Briefentwurf von Johannes Spörl an Romano Guardini vom 27. März 1946 (Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1240]
- Q 20: Auszug aus einem Brief von Romano Guardini an Johannes Spörl vom 4. April 1946 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1241]
- Q 21: Briefdurchschlag von Romano Guardini an Johannes Spörl vom 4. April 1946 [BSB, B 13/069, auszugsweise zitiert bei Gerl, 1985, S. 331; Originalbrief]
- Q 22: Brief von Franz Büchner an Romano Guardini vom 3. Mai 1946 [BSB Ana 342, C 112-6]
- Q 23: Brief von Romano Guardini an Franz Büchner vom 20. Mai 1946 [Entwurf BSB, C 112-6 sowie Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1197; Abschrift an Dekan Robert Heiß in Universitätsarchiv Freiburg B 3 77]
- Q 24: Auszug aus einem Briefdurchschlag von Romano Guardini an Johannes Spörl vom 20. Mai 1946 [BSB Ana 342, B 13/069, auszugsweise schon zitiert bei Gerl, 1985, S. 331]
- Q 25: Auszug aus einem Brief von Martin Heidegger an Viktor E. von Gebsattel vom 25. Januar 1973 (DLA Marbach)
- Q 26: Widmung Heideggers an Gebsattel in „Hölderlins Hymne: `Wie wenn am Feiertage …´ vom Mai 1946 (DLA Marbach)
- Q 27: Brief von Franz Büchner an Romano Guardini vom 3. August 1946 [BSB Ana 342, C 112-6]
- Q 28: Brief von Romano Guardini an Franz Büchner vom 4. September 1946 [Entwurf BSB C 1/12-6; Original in Universitätsarchiv Freiburg i. Br., E 23-176]
- Q 29: Brief von Franz Büchner an Romano Guardini vom 21. September 1946 [Original BSB C 112-6; Entwurf im Universitätsarchiv Freiburg i. Br., E 23-176]
- Q 30: Offizielle Anfrage von Franz Büchner an Romano Guardini vom 21. September 1946 [BSB Ana 342, C 112-6 in doppelter Ausführung]
- Q 31: Brief von Romano Guardini an Franz Büchner vom 27. September 1946 [BSB Ana 342, C 112-6]
- Q 32: Briefdurchschlag von Romano Guardini an Franz Büchner vom 9. bzw. 19. Oktober 1946 [BSB Ana 342, C 112-6]
- Q 33: Briefdurchschlag von Romano Guardini an Theodor Steinbüchel vom 9. bzw. 19. Oktober 1946 [BSB Ana 342, C 107-13]
- Q 34: Brief von Romano Guardini an Johannes Spörl vom 19. Oktober 1946 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern, Nr. 1197]
- Q 35: Brief von Johannes Spörl an Romano Guardini vom 24. Oktober 1946 [BSB Ana 342, B 4/3-171]
- Q 36: Brief von Hans-Georg Gadamer an Romano Guardini vom 13. Mai 1949 [BSB, B 11/119]
- Q 37: Beigelegter Brief von Kurt Riezler an Hans-Georg Gadamer (Abschrift) [BSB B 11/119, ohne Datum]
- Q 38: Beigelegter Brief von Werner Gottfried Brock an Hans-Georg Gadamer (Abschrift) vom 28. April 1949 [BSB, B 11/119]
- Q 39: Brief von Gerhard Krüger an Romano Guardini vom 18. Mai 1959 [BSB Ana 342, B 4-Sonderkonvolut, Mappe 3]
- Q 40: Brief von Hans-Georg Gadamer an Romano Guardini vom 21. Mai 1949 [BSB Ana 342, B 11/119]
- Q 41: Brief von Gerhard Krüger an Romano Guardini vom 26. Mai 1949 [BSB Ana 342, B 4 – Sonderkonvolut]
- Q 42: Briefdurchschlag von Romano Guardini an Hans-Georg Gadamer vom 30. Mai 1949 [BSB Ana 342, B 11/119]
- Q 43: Brief von Hans-Georg Gadamer an Romano Guardini vom Juni 1949 [BSB Ana 342, B 22/02-24]
- Q 44: Briefdurchschlag von Romano Guardini an Hans-Georg Gadamer vom 28. Dezember 1949 [BSB Ana 342, B 22/02-24]
- Q 45: Briefdurchschlag von Hans-Georg Gadamer an Romano Guardini vom 20. Januar 1950 [BSB Ana 342, B 22/02-24]
- Q 46: Briefdurchschlag von Romano Guardini an Hans-Georg Gadamer vom 23. Februar 1950 [BSB Ana 342, B 22/02-24, Original in Krüger-Nachlass, Archiv der Universitätsbibliothek Tübingen]
- Q 47: Brief von Gerhard Krüger an Romano Guardini vom 27. Februar 1950 [BSB Ana 342, B 22/02-24]
- Q 48: Briefauszug von Romano Guardini an Gerhard Krüger vom 28. Februar 1950 [Archiv der Universitätsbibliothek Tübingen Mn 13-908]
- Q 49: Briefdurchschlag von Romano Guardini an Hans-Georg Gadamer vom 28. Februar 1950 [BSB Ana 342, B 22/02-24]
- Q 50: Brief von Max Müller an Romano Guardini vom 11. Juni 1949 [BSB Ana 342, B 12/138]
- Q 51: Briefentwurf von Romano Guardini an Max Müller (nach dem 11. Juni 1949) [BSB Ana 342, B 4- Sonderkonvolut, Mappe 1]
- Q 52: Briefentwurf von Romano Guardini an Max Müller vom 18. Juni 1949 [BSB Ana 342, B 4-Sonderkonvolut, Mappe 1]
- Q 53: Briefdurchschlag von Romano Guardini an Max Müller vom 1. Juli 1949 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1246; auszugsweise veröffentlicht bei Hugo Ott, 1985, jetzt vollständig in: Heidegger-Jahrbuch, Band 4: Heidegger und der Nationalsozialismus I, 2009 - dort ist auch die Korrespondenz zwischen Max Müller und den entsprechenden Universitätsgremien abgedruckt - und bei Gerl-Falkovitz, 2019]
- Q 54: Brief von Max Müller an Romano Guardini vom 4. Juli 1949 [BSB Ana 342, B 4- Sonderkonvolut, Mappe 1]
- Q 55: Brief von Max Müller an Guardini vom 13. Juli 1949 [BSB Ana 342, B 4-Sonderkonvolut, Mappe 1; Abschrift in Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1246, veröffentlicht bei Gerl-Falkovitz, 2019]
- Q 56: Abschrift eines Briefes von Romano Guardini an Max Müller vom 26. Juli 1949 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1246, bereits veröffentlicht in: Gerl-Falkovitz, 2019]
- Q 57: Auszug aus einem Brief von Romano Guardini an Johannes Spörl vom 30. Juli 1949 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1246]
- Q 58: Widmung Heideggers an Guardini (1949) [Guardini-Bibliothek gb 4043]
- Q 59: Brief von Romano Guardini an Martin Heidegger vom 10. September 1950 [Nachlass Martin Heidegger Bitte noch genauen Fundort angeben???]
- Q 60: Brief von Martin Heidegger an Romano Guardini vom 18. Dezember 1950 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern, Nr. 878]
- Q 61: Karte von Romano Guardini an Martin Heidegger aus Isola Vicentina vom 30. März 1951 [Nachlass Martin Heidegger Bitte noch genauen Fundort angeben ???]
- Q 62: Karte von Martin Heidegger an Romano Guardini vom 19. Mai 1951 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern, Nr. 882]
- Q 63: Widmung Heideggers an Guardini (1951) [Guardini-Bibliothek gb 4049]
- Q 64: Brief von Martin Heidegger an Romano Guardini vom 19. Januar 1952 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern, Nr. 879]
- Q 65: Widmung Heideggers an Guardini (8. Juli 1952) [Guardini-Bibliothek gb 4052]
- Q 66: Brief von Romano Guardini an Martin Heidegger vom 26. September 1953 [Deutsches Literaturarchiv Marbach, A: Heidegger, Martin 1/Schuber/B 75]
- Q 67: Brief von Martin Heidegger an Romano Guardini vom 23. Oktober 1953 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern, Nr. 880]
- Q 68: Romano Guardini: Zur Absicht der Tagungen der Akademie (1954) [BSB Ana 342, B 23/1-3]
- Q 69: Brief von Max Müller an Romano Guardini vom 19. Januar 1954 [BSB Ana 342, C 2/08-03]
- Q 70: Brief von Romano Guardini an Max Müller vom 27. Januar 1954 [BSB Ana 342, C 2/08-07]
- Q 71: Briefdurchschlag von Romano Guardini an Max Müller vom 20. Februar 1954 [BSB Ana 342, C 2/08-27]
- Q 72: Brief von Max Müller an Romano Guardini vom 28. Februar 1954 [BSB Ana 342, B 4-Sonderkonvolut, Mappe 3]
- Q 73: Widmung Heideggers an Guardini 22. Juni 1954 [Guardini-Bibliothek gb 4044]
- Q 74: Brief von Martin Heidegger an Romano Guardini vom 15. Februar 1955 [(Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern, Nr. 875]
- Q 75: Widmung Heideggers an Guardini zum 70. Geburtstag (1955) [Guardini-Bibliothek gb 4056]
- Q 76: Widmung Heideggers an Guardini (1956) [Guardini-Bibliothek gb 4054]
- Q 77: Widmung Heideggers an Guardini (1957) [Guardini-Bibliothek gb 4059]
- Q 78: Brief von Romano Guardini an Martin Buber vom 11. März 1958 [BSB Ana 342, B 23/01-03-17]
- Q 79: Briefauszug von Clemens Graf Podewils an Romano Guardini vom 8. Oktober 1958 [BSB Ana 342, B 23/01-03]
- Q 80: Postkarte von Martin Heidegger an Romano Guardini vom 23. Dezember 1958 [BSB Ana 342, B 4-Sonderkonvolut, Mappe 1]
- Q 81: Brief von Romano Guardini an den Präsidenten der Akademie der Schönen Künste Herrn Prof. Dr. Emil Preetorius vom 24. Januar 1959 [BSB Ana 342, B 23/01-03-25]
- Q 82: Romano Guardini: Typoskript „Über die neue Aufgabe der Akademie“ (16. März 1959) [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern, Nr. 806]
- Q 83: Widmung Heideggers an Guardini (wohl 1959) [Guardini-Bibliothek gb 4058]
- Q 84: Widmung Heideggers an Guardini (November 1959) [Guardini-Bibliothek gb 4057)
- Q 85: Widmung Heideggers an Guardini (1959/60) [Guardini-Bibliothek gb 4055a]
- Q 86: Zweitexemplar mit Widmung von Max Müller (1960) [Guardini-Bibliothek gb 4055b]
- Q 87: Widmung Heideggers an Guardini (um 1960) [Guardini-Bibliothek gb 4060]
- Q 88: Begleitbrief von Clemens Graf Podewils an Romano Guardini vom 6. Februar 1961 [BSB Ana 342, B 23/01-03]
- Q 89: Kalendereintrag Guardinis vom 8. Februar 1961 [BSB C 115-1
- Q 90: Romano Guardini: Vorschlag für die Zuwahl, datiert vom 8. Februar 1961 [BSB Ana 342, B 23/01-03; Auszug bereits veröffentlicht bei Gerl-Falkovitz, 1985 und 2019]
- Q 91: Romano Guardini: Entwurf zur Sitzung der literarischen Abteilung (April 1961) [ BSB Ana 342, B 23/01-03-37]
- Q 92: Zusammenfassung über Angaben von Fritz Heidegger (1961) [BSB Ana 342, B 23/01-03-36]
- Q 93: Briefentwurf Guardinis vom 18. Mai 1961 [BSB Ana 342, B 23/01-03-40]
- Q 94: Briefdurchschlag von Karl Forster an Martin Heidegger vom 12. Dezember 1963 [Archiv der Katholischen Akademie in Bayern – Ordner: Festschrift für Romano Guardini]
- Q 95: Brief von Martin Heidegger an Karl Forster vom 15. Dezember 1963 [Archiv der Katholischen Akademie in Bayern – Ordner: Festschrift für Romano Guardini]
- Q 96: Brief von Romano Guardini an Percy Ernst Schramm vom 27.02.1964 [BSB Ana 342, B 23/06-3]
- Q 97: Brief von Romano Guardini an Percy Ernst Schramm vom 14.03.1964 [BSB Ana 342, B 23/06-3]
- Q 98: Widmung Heideggers an Guardini wohl Weihnachten 1963 [Guardini-Bibliothek Nr. 4061]
- Q 99: Widmung Heideggers an Guardini (Weihnachten 1964) [Guardini-Bibliothek gb 4042]
- Q 100: Gesprächsnotiz von Werner Dettloff (Juli 1964) [Privat-Nachlass]
- Q 101: Brief von Martin Heidegger an Romano Guardini vom 13. Februar 1965 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 881]
- Q 102: Postkarte Martin Heideggers an Romano Guardini vom 22. Dezember 1966 [BSB Ana 342, B 4-Sonderkonvolut, Mappe 1]
- Q 103: Postkarte von Martin Heidegger an Romano Guardini vom 1. Januar 1968 [BSB Ana 342, B 4-Sonderkonvolut, Mappe 1]
Zum Stand der Guardini- und der Heidegger-Forschung
Die Beziehung zwischen Romano Guardini und Martin Heidegger wurde insbesondere in den achtziger Jahren von beiden Forschungsseiten her erstmals intensiver unter historischen Gesichtspunkten betrachtet.
Von Seiten der Guardini-Forschung geschah dies insbesondere durch die Biographie von Hanna-Barbara Gerl (dann Gerl-Falkovitz) aus dem Jahre 1985 [Gerl, Romano Guardini 1885-1968. Leben und Werk, Mainz 1985 und öfters], später ergänzt durch weitere Funde, unter anderem aus dem Mooshausener Pfarrhaus. [Dort wohnte der langjährige Guardini-Freund Josef Weiger, von Herbst 1943 bis Herbst 1945 auch Romano Guardini, der dorthin auch seine Berliner Bibliothek evakuiert und bis 1954 dort auch seine Berliner Bibliothek aufgestellt. Vgl. „Ich fühle, daß Großes im Kommen ist.“ Romano Guardinis Briefe an Josef Weiger 1908-1962, hrsg. durch Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Ostfildern 2008 - ab jetzt: Guardini, Briefe an Josef Weiger; dazu Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz (Hrsg.), Lauterkeit des Blicks. Unbekannte Materialien zu Guardini, Heiligenkreuz 2013.]
Von Seiten der Heidegger-Forschung ist hier insbesondere zu verweisen auf:
- Bernhard Casper [Martin Heidegger und die Theologische Fakultät Freiburg 1909-1923, in: Freiburger Diözesan-Archiv, 100, 1980, S. 534-541],
- Hugo Ott [Hugo Ott, Martin Heidegger und die Universität Freiburg nach 1945. Ein Beispiel für die Auseinandersetzung mit der politischen Vergangenheit, in: Historisches Jahrbuch, 105, 1985, S. 95-128; ders., Martin Heidegger. Unterwegs zu einer Biographie, Frankfurt/New York 1988; ders., Um die Nachfolge Martin Heideggers nach 1945, in: Annemarie Gethmann-Siefert (Hrsg.), Philosophie und Poesie. Festschrift für Otto Pöggeler, Band 2, Stuttgart 1988, S. 37 ff.] sowie
- Alfred Denker.
Zu deren Studien kam 2004 die Veröffentlichung der ersten beiden Briefe Guardinis an Martin Heidegger aus dem Jahr 1916 hinzu [Briefe Romano Guardinis an Martin Heidegger (1916), in: Heidegger-Jahrbuch, Band I: Heidegger und die Anfänge seines Denkens, Freiburg/München 2004, S. 69-71].
Von beiden Seiten – aber in der Summe eher unabhängig voneinander und bei weitem auch nicht vollständig – wurden insbesondere die Konstellationen zwischen 1945 und 1961 besprochen, vor allem im Blick auf den Umgang mit Martin Heideggers nationalsozialistischer Vergangenheit und auf seine Pensionierung mit Lehrverbot, dann auf die Emeritierung, auf die unterschiedlichen Berufungsanfragen an Guardini aus Freiburg, auf die Zusammenarbeit Guardinis mit Heidegger im Rahmen der „Akademie der Schönen Künste“ in Bayern und nicht zuletzt auf den Vorschlag Guardinis, Heidegger in diese Akademie zuzuwählen [Martin Heidegger, Briefe an Max Müller und andere Dokumente, hrsg. von Holger Zaborowski und Anton Bösl, Freiburg i. Br./München 2003; Heidegger-Jahrbuch, Band 4: Heidegger und der Nationalsozialismus, hrsg. von Alfred Denker und Holger Zaborowski, Freiburg/München 2009; Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: Geheimnis des Lebendigen. Versuche zu Romano Guardini, Heiligenkreuz 2019]. Weder durch die beteiligten Forschergruppen selbst noch durch weitere Kreise wurden diese Funde aber abgeglichen, systematisch überprüft oder durch zum Teil schon länger vorliegende, zum Teil aber auch neuere und neueste Memoiren, Korrespondenzen und unveröffentlichte Archivalien ergänzt.
Erschwert wurde die Forschungslage auch dadurch, dass es zwar im März 1993 eine Anfrage von Franz Henrich, Direktor der Katholischen Akademie in Bayern und Vorsitzender des von Guardini testamentarisch eingesetzten Sachverständigengremiums für seinen Nachlass*, an Curd Ochwadt (1923-2012) bezüglich eventuell vorhandener Briefe von Guardini an Heidegger im Heidegger-Nachlass gab und dass Henrich dazu auch die Kopien der im Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern liegenden sieben Heidegger-Briefe an Ochwadt weitergab; dass Ochwadt aber damals nur auf jene zwei Briefe von 1916 verweisen konnte, die ihm bis dahin bekannt waren, und diese in Kopie an Henrich weiterleitete. Am Ende stand Ochwadts ernüchternde Feststellung, dass „sich kein Briefwechsel ergibt“ [Siehe Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern, Nr. 1921. 1999 hat Henrich im Vorfeld der Herausgabe der zwei Guardini-Briefe an Heidegger aus dem Jahr 1916 gegenüber Alfred Denker auf die Existenz der sieben weiteren Briefe hingewiesen (vgl. Guardini-Archiv ebd., Nr. 1922)]. Die von Henrich wohl schon intendierte Veröffentlichung eines solchen Briefwechsels wurde somit wieder „auf Eis“ gelegt. Die sieben Briefe in der Katholischen Akademie in Bayern sind dadurch selbst für die Guardini-Forschung wieder „in Vergessenheit“ geraten.
[* Dem Sachverständigengremium für Guardinis Nachlass gehörten ursprünglich Johannes Spörl (1904-1977), Bernhardine Sugg-Bellini (gestorben 1979), Werner Dettloff (1919-2016) und Felix Messerschmid (1904-1981) an, der zugleich als Testamentsvollstrecker fungierte. Felix Messerschmid hat dann Ende der siebziger Jahre den Vorsitz des Sachverständigengremiums an den für Johannes Spörl nachgerückten Direktor der Katholischen Akademie, Franz Henrich (* 1931), abgegeben. Für ihn selbst und Frau Sugg-Bellini rückten Eugen Biser (1918-2014) und Richard Heinzmann (* 1933) nach. Beratend fungierten Giuliano Guardini und Hans Mercker (vgl. dazu Romano Guardini, Berichte über mein Leben. Autobiographische Aufzeichnungen, hrsg. durch Franz Henrich, 1985, S. 9).]
Darüber hinaus kannte Henrich damals wohl auch selbst nicht den genauen Inhalt jenes Sonderkonvoluts, das Felix Messerschmid der Bayerischen Staatsbibliothek mit einem Sperrvermerk übergeben hatte, in dem sich – neben Entwürfen Guardinis für seinen Brief an Max Müller – drei weitere Heidegger-Briefe bzw. -Postkarten an Guardini befanden. Diese Mappe hat Henrich schließlich – zusammen mit einer großen Zahl von aus dem Nachlass Felix Messerschmids hinzu gekommener „privater Briefe“ von und an Guardini – Mitte der achtziger Jahre ohne Sperrfrist versiegeln lassen.
[Zur ursprünglichen „Heidegger-Mappe“ hinzugekommen waren rund 220 Briefe in zwei Mappen, darunter eine Mappe mit Briefen von Guardini an Felix Messerschmid persönlich sowie eine zweite umfangreichere mit Briefen und Briefwechseln ganz unterschiedlicher Art. Letztere Mappe konnte Hanna-Barbara Gerl für ihre Guardini-Biographie noch kursorisch, aber zeitlich sehr eingeengt auswerten. Dies erklärt nunmehr auch, warum sie Briefe zitieren konnte, die den nachfolgenden Nutzern des Guardini-Nachlasses in der Bayerischen Staatsbibliothek nicht mehr zugänglich waren, darunter zum Beispiel der Brief Max Schelers an Romano Guardini vom 4. Juli 1919 (Gerl, Romano Guardini, 1985, a.a.O., S. 108 f.).]
Aus diesem nun durch das Sachverständigengremium für den Nachlass Guardinis wieder geöffneten Sonderkonvolut werden im Folgenden insgesamt acht Archivalien aufgenommen. Es sollte daher weitere Jahrzehnte dauern, bis diese weitestgehend noch unbekannte Korrespondenz nun gesammelt veröffentlicht wird. Auch zu den bereits bekannten und ganz oder auszugsweise veröffentlichten drei Briefen Guardinis an Heidegger kommen hier aktuell zwei weitere Funde aus dem Nachlass Heideggers hinzu [Arnulf Heidegger hat sie kürzlich aufgefunden und uns dankenswerterweise noch zur Verfügung gestellt (siehe Q 58 und Q 60)].
Schließlich gibt es eine Vielzahl handschriftlicher Buchwidmungen Heideggers für Guardini, die sich in München in der Guardini-Bibliothek im Schloss Suresnes der Katholischen Akademie in Bayern befinden und die hier erstmals aufgeführt werden [Siehe zu weiteren Beständen Helmut Zenz: Romano Guardini im Spiegel seiner Bibliothek. Eine historische Spurensuche im Rahmen eines Seligsprechungsverfahrens, in: Beiträge zur altbayerischen Kirchengeschichte, 61, 2021 (erschienen 2022), S. 211-330, dort zu Martin Heidegger S. 260 f.].
Es handelt sich in dieser Dokumentation also vor allem auch um eine Auseinandersetzung und Zusammenschau mit insgesamt 103 neu- oder wiederedierte Quelltexte, die im Folgenden daher mit Q gekennzeichnet werden. Zusammen mit noch nicht oder erst jüngst veröffentlichten wechselseitigen Äußerungen in Schriften und Briefen über den jeweils anderen oder sein Werk ergibt sich ein sehr dichtes Bild eines langjährigen freundschaftlich-kritischen, „latenten“, aber auch – mehr als bisher bekannt – „offenen“ Gesprächs.
Dieses gesammelte Material soll hier in einem ersten Zwischenstand dargeboten werden – Zwischenstand deshalb, weil es sicherlich noch zu viel unbearbeitetes Quellenmaterial in Nachlässen und Korrespondenzen von anderen „Beteiligten“ dieses Gespräches gibt; weil allein die Zusammenstellung hier mit Sicherheit weitere Überprüfungen und Ergänzungen nach sich ziehen wird; und weil die folgende Zusammenstellung natürlich noch keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann. Vielmehr werden im Laufe der folgenden Darlegungen sogar einige bereits jetzt bekannte „Lücken“ benannt werden müssen. Offenbleiben muss vorerst zum Beispiel auch, inwieweit es in den Heidegger-Bibliotheken bzw. -Archiven ebenfalls Widmungen Guardinis an Heidegger gibt bzw. ob nicht doch auch noch der ein oder andere Brief von Guardini an Heidegger oder dergleichen auftauchen könnte, was dann diese langjährige Beziehung noch transparenter und verständlicher machen würde.
Vorgeschichten
Die gemeinsame Verbindung zur Erzabtei Beuron
Grundsätzlich bekannt war seit längerem, dass sowohl Heidegger als auch Guardini eine langjährige und intensive Beziehung zur benediktinischen Erzabtei Beuron pflegten. Heidegger hatte bereits als Kind mit seiner Mutter Wallfahrten nach Beuron gemacht. Außerdem hatten die Eltern Kontakte zu Beuroner Künstlermönchen, die in Meßkirch arbeiteten. Noch während der Gymnasialzeit (1903-1909) besuchte Heidegger die Beuroner Bibliothek und lernte darüber vor allem Pater Anselm Manser kennen und schätzen. [Zu Heidegger und Beuron erstmals Hugo Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu einer Biographie, a.a.O., S. 15, S. 23 f., S. 46-49 und S. 284-286; Alfred Denker, „Ein Samenkorn für etwas Wesentliches“. Martin Heidegger und die Erzabtei Beuron, in: Erbe und Auftrag, 79, 2003, S. 91-106; Johannes Schaber, Phänomenologie und Mönchtum. Max Scheler, Martin Heidegger, Edith Stein und Beuron, in: Stefan Loos/Holger Zaborowski (Hrsg.), Leben, Tod und Entscheidung. Studien zur Geistesgeschichte der Weimarer Republik, Berlin 2003, S. 73-103; zuletzt: Beatrix Kersten, Heilig und bergend zugleich? Romano Guardini und Martin Heidegger im Kloster Beuron, in: Beate Beckmann-Zöller/René Kaufmann (Hrsg.), Heimat und Fremde. Präsenz im Entzug. Festschrift für Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Dresden 2015; (2., überarbeitete)2016, S. 387 ff.]
Bei Guardini wusste man bisher, dass er im Wintersemester 1906/07, angeregt durch Josef Weigers Erzählungen, sich intensiver mit Beuron auseinandersetzte. In Guardini-Kreisen kursierte die Anekdote, dass Guardini bereits früh durch Pater Anselm Manser in Beuron auf Max Scheler aufmerksam gemacht worden sei [aufgenommen bei Gerl, Romano Guardini, 1985, a.a.O., S. 64, unter Berufung auf eine mündliche Mittei-lung durch Hans Ruess, einer der Sekretäre Guardinis aus Berliner Zeiten], also etwa um die Zeit, als er im Mai 1907 zusammen mit Karl Neundörfer den ersten eigenen Besuch dort machte. Man nahm zur Kenntnis, dass er gemeinsam mit Karl Neundörfer am 15. März 1908 sein Aufnahmejahr als Oblate des hl. Benedikt – bei Guardini verbunden mit der Annahme des zusätzlichen Namens „Odilo“ – begann und die Oblation im Jahr darauf am 21. April 1909 wiederum zusammen mit Neundörfer ablegte. Auch war bereits bekannt, dass das Mainzer Ehepaar Wilhelm und Josephine Schleußner, zu deren Kreis die Studenten Guardini und Neundörfer gehörten, Bezug zu Beuron hatte und dort ebenfalls Oblaten geworden waren. Übersehen wurde allerdings bei der bisherigen Durchsicht des Gästebuches der Erzabtei, dass darin für das gleiche Wochenende, an dem Guardini zusammen mit Karl Neundörfer seinen ersten Besuch in Beuron machte, tatsächlich auch der Münchner Privatdozent Max F. Scheler für den 21. Mai 1907 als Gast eingetragen ist [Gästebuch im Archiv der Erzabtei Beuron]. Angesichts der „Regeln“ benediktinischer Gastfreundschaft im Speisesaal ist es daher mehr als wahrscheinlich, dass die jungen Tübinger Theologiestudenten den Privatdozenten Scheler wahrgenommen haben, vielleicht auch mit ihm bekannt gemacht wurden; eher unwahrscheinlich ist dagegen, dass sie sich mit ihm bereits ausgiebiger unterhalten haben. Aber die Erzählung Guardinis gegenüber seinem Berliner Sekretär Hans Ruess erhält dadurch eine neue Evidenz.
Aus dem Gästebuch geht darüber hinaus hervor, dass es – neben den Erzählungen Weigers aus seiner Noviziatszeit im Wintersemester 1906/07 in Tübingen – in der Familie des Freundes Karl Neundörfer eine weitere eigenständige „Quelle“ für Guardinis Begeisterung für Beuron gegeben haben wird. Denn im Gästebuch sind bereits Besuche von Karl Neundörfer von dessen eigenen Freiburger Studiensemestern an belegbar, also ab dem Wintersemester 1903/04; darüber hinaus auch Aufenthalte von seinem Vater und seinen Brüdern.
Berücksichtigt werden muss außerdem, dass jeder Oblation ein einjähriges Vorbereitungsjahr vorausgeht, so dass das Ehepaar Schleußner infolgedessen bereits im April 1907, also ebenfalls noch vor dem ersten Besuch Guardinis in Begleitung von Karl Neundörfer im Mai, ihre Vorbereitung auf die Oblation begannen. Dies dürfte Guardini aufgrund seiner engen Zugehörigkeit zum Schleußner-Kreis und seiner besonderen Nähe zu Frau Schleußner wohl kaum entgangen sein [Vgl. Romano Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, Mainz 1995, S. 66]. Kurz nachdem am 15. März 1908 das eigene Vorbereitungsjahr von Guardini und Neundörfer begonnen hatte, legten die Schleußners am 23. April 1908 ihre Oblation ab. Im Archiv der Erzabtei befinden sich auch noch alle Oblaten-Urkunden aus dieser Zeit, sowohl die der Schleußners (Nr. 350 und 351) als auch die von Guardini (Nr. 373) und Neundörfer (Nr. 374), darüber hinaus die von den Mainzer Freunden Adam Gottron (Nr. 441 – Pfingsten 1912) und Erwin Eckert (Nr. 504 – 3. Juni 1914). [Zu Erwin Eckert vgl. Guardinis Besprechung der Aufführung von dessen Weihnachtsmysterium in Mainz, die er unter dem Pseudonym A. Wächter in der „Allgemeinen Rundschau“ veröffentlicht hatte: A. Wächter, Ein deutsches Weihnachtsmysterium, in: Allgemeine Rundschau, München, 1916, 2, 15. Januar 1916, S. 33-34. An dieser Stelle sei auch vermerkt, dass sich Guardinis Bemerkung in seinem Brief an Josef Weiger vom 6. August 1916 („Eckert wollten wir angehen um eine Arbeit über die Bedeutung des religiösen Dramas, bes. des Mysterienspiels für die Volksreligiosität.“) ebenfalls auf Erwin Eckert bezieht und es sich nicht, wie noch von Gerl-Falkovitz vermutet, „vielleicht … um Alois Eckert (1890, Hochheim/Main, bis 1969, Frankfurt)“ handelt (Guardini, Briefe an Josef Weiger, 2008, S. 416).]
Persönliche Begegnungen zwischen Heidegger und Guardini in Beuron in dieser frühen Zeit hat es hingegen mit großer Wahrscheinlichkeit keine gegeben, obwohl Heidegger während seines Studiums und bis zu seiner Habilitation Beuron noch mehrfach besucht haben soll. Das gleiche gilt für Guardini, der ebenfalls nach seiner Oblation am 21. April 1909 noch mehrere Male in Beuron in wechselnder Begleitung zu Besuch oder auf Exerzitien war. So eine frühe Begegnung hätte in den wechselseitigen Erinnerungen sicher einen Niederschlag gefunden.
Dennoch wird diese gemeinsame „Vorgeschichte“ durch die neuen Funde für Guardinis Biographie transparenter und wirkungsgeschichtlich klarer fassbar. Und weitere Funde im Archiv der Erzabtei Beuron oder in den Nachlässen anderer Beuroner Mönche, Oblaten und Freunde auch in Bezug auf Guardini und Heidegger bleiben zu erwarten.
Als ein Beispiel mag noch der Beuroner Malermönch Willibrord Verkade angeführt werden, von dem es schon bei Alfred Denker heißt, dass ihn der dänische Dichter Johannes Jörgensen in Kopenhagen kennengelernt habe. Durch diese Begegnung habe Beuron in Jörgensens Bekehrungsgeschichte eine große Rolle gespielt, so dass er „1895 mit 28 Jahren zum Katholizismus konvertierte und auch als katholischer Schriftsteller beliebt war und viel gelesen wurde“[Denker, Martin Heidegger und die Erzabtei Beuron, a.a.O., S. 94]. Jan Verkade hatte sich selbst erst kurz zuvor – ursprünglich aus einer mennonitischen Familie stammend – 1892 katholisch taufen lassen, war 1894 als Novize in Beuron eingetreten und hatte den Ordensnamen „Willibrord“ angenommen. Verkade wiederum gehörte zu jenen Beuroner Künstlermönchen, die – ähnlich wie Guardini mit den „Weißen Reitern“ um Karl Gabriel Pfeill [Karl Gabriel Pfeill (Hrsg.), Der weiße Reiter. Das erste Sammelbuch, Düsseldorf 1920, darin: Romano Guardini, Die Liturgie als Spiel, S. 70-78] – nach einer katholischen Antwort auf den „Expressionismus“ der „Blauen Reiter“ um Franz Marc suchten. Außerdem war Verkade 1921 Teilnehmer der Älteren-Tagung der Quickbornjugend auf Burg Rothenfels und berichtete in der „Benediktinischen Monatsschrift“ sichtlich beeindruckt von den „Vorträgen des Meisters Guardini“ [Willibrord Verkade, Eindrücke von der Älteren-Tagung der Quickbornjugend auf Burg Rothenfels am Main, in: Benediktinische Monatsschrift, Beuron, 3, 1921, 11/12, S. 472-474, zu Romano Guardini siehe S. 478].
[Zu denken wäre aber zum Beispiel auch an P. Daniel Feuling OSB, der Heidegger 1930 auf der Todtnauer Berghütte besuchte und anschließend Edith Stein davon erzählte (vgl. Johannes Schaber, Zwischen Theologie und Seelsorge. Der Beuroner Benediktinerphilosoph Daniel Feuling (1882-1947), in: Erbe und Auf-trag, 79, 2003, S. 206-223, hier S. 215); an den in Salzburg wirkenden Philosophen P. Alois Mager OSB und an P. Placidus Pflumm, den „besten Freund von P. Anselm“, den Heidegger bei seinem Beuron-Besuch am 10. November 1954 als einzigen von den alten Patres antraf und mit ihm „ins Gespräch über die gute alte Zeit“ kam (Alfred Denker/Elsbeth Büchin, Martin Heidegger und seine Heimat, 2005, S. 33). Alle drei gingen auch im Pfarrhaus Mooshausen von Josef Weiger aus und ein und waren mit Romano Guardini befreundet.]
Heidegger wiederum hat bereits früh zwei Bücher des besagten dänischen Dichters Jörgensen rezensiert. Alfred Denker weist zu Recht auf die Bedeutung hin, wenn Heidegger in seiner Rezension über das Buch „Lebenslüge und Lebenswahrheit“ in diesem Dichter-Vorbild einen modernen Augustinus und einen großen Gottsuchenden sieht. Heidegger kannte nun aber nachweislich auch Pater Verkade schon aus seiner ersten Beuroner Zeit. Denn von seinem Besuch in Beuron im Oktober 1930 schrieb er am 19. Oktober an seine Frau: „Pater Anselm ist rührend u. besorgt; er hatte mir zum Empfang – schon allerlei philosophische Bücher auf die Zelle gestellt; dazu Mörike – der Umgang mit ihm ist mir ein großer Gewinn u. ich habe Vertrauen zu ihm gefaßt. Von den älteren Mönchen, die ich kenne, ist nur der Holländer Verkade da u. der ist sehr herzkrank“[„Mein liebes Seelchen!“. Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride 1915-1970, herausgegeben, ausgewählt und kommentiert von Gertrud Heidegger, München 2005, S. 167].
Die gemeinsame Autorenschaft in der Zeitschrift „Der Akademiker“
Die besagte Heidegger-Rezension über Jörgensens „Lebenslüge und Lebenswahrheit“ wurde in der Zeitschrift „Der Akademiker“ veröffentlicht. 1988 hat Hugo Ott erstmals auf Heideggers Aufsätze in dieser Zeitschrift hingewiesen sowie auf weitere Autoren aufmerksam gemacht, darunter: R. A. Guardini und Oswald von Nell-Breuning [Hugo Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu einer Biographie, a.a.O., S. 62 f. und 71]. In der Guardini-Forschung wurden die beiden Texte Guardinis, eine Rezension und eine Kunstbetrachtung, aber erst viel später durch Berthold Gerner und Gunda Brüske wahrgenommen [Romano Guardini, Rezension zu: P. Sebastian von Oer, Unsere Tugenden, Plaudereien, 3. Aufl. Freiburg 1908, in: Der Akademiker, 2, 1910, 5 (März 1910), S. 79-82; ders., Beuroner Madonnen, in: Der Akademiker, 2, 1910, 7 (Mai 1910), S. 104-105]. Sie waren daher weder in die Mercker-Bibliographie (1978) noch in deren Ergänzung durch Berthold Gerner (1987) eingegangen.
In keinem der beiden Forschungsbereiche war aber in der Folgezeit der Frage nachgegangen worden, um was für eine Zeitschrift genau es sich dabei handelt. Es gab also keine historische Einordnung des Engagements der beiden Studenten. Aber auch die Frage, ob sich aus der Abfolge der Artikel irgendwelche Schlussfolgerungen ziehen lassen, wurde nicht gestellt. Dabei beginnt die Geschichte dieser Zeitschrift interessanterweise mit der Bildung von akademischen Studentenvereinen bzw. Dozenten, Absolventen und Studenten übergreifenden Akademikerverbänden ab Ende des 19. Jahrhunderts. 1901 hatten sich der „Akademische Görres-Verein“ von München und die „Akademischen Leovereine“ von Innsbruck und Wien zusammengeschlossen; 1905 kam die „Akademische Vereinigung ‚Renaissance’“ in Zürich hinzu. Der Zusammenschluss hatte den Namen „Verband katholischer Studentenvereine zur Pflege der Wissenschaft“ und bestand bis 1914. Die zugehörige Verbandszeitschrift waren die „Akademischen Monatsblätter der katholischen Studentenvereine Deutschlands“, die im ersten Jahrgang bereits 1888/89 erschienen sind und 1916/17 mit dem 29. Jahrgang eingestellt wurden [Vgl. zur Entstehungsgeschichte u. a. Eintrag in: Kirchliches Handbuch für das katholische Deutschland, 1908, S. 261; Christoph Baumer, Die „Renaissance“. Verband Schweizerischer Katholischer Akademiker-Gesellschaften, 1904-1996, 1998].
Dieser bereits aus mehreren Komponenten gebildete Verband schloss sich dann 1907 mit den schon älteren Piusvereinen sowie mit den von Carl Sonnenschein ab 1903 gegründeten Sozial-caritativen Vereinigungen zum „Katholischen Akademikerverband“ zusammen – und zwar mit Sitz in München.
[Dieser „Katholische Akademikerverband“ ist zu unterscheiden von dem wenige Jahre später 1913 ins Leben gerufenen Zusammenschluss von katholischen Akademikervereinen als „Verband der Vereine zur Pflege der katholischen Weltanschauungen“ bzw. „Verband der Vereine katholischer Akademiker“, der später schließlich auch als „Katholischer Akademikerverband“ bezeichnet wurde. Die im Umfeld der zur Beuroner Kongregation gehörenden Abtei Maria Laach mit ihrem Abt Ildefons Herwegen protegierte „Katholische Akademikerbewegung“, zu der auch später mit Guardini befreundete Persönlichkeiten wie Hermann Platz, Theodor Abele, Paul Simon gehörten – veranstaltete liturgische Wochen und akademische Tagungen vor Ort, aber auch regionale und nationale Veranstaltungen. Nach dem Ersten Weltkrieg engagierte sich Guardini bis zu seinem Wechsel nach Berlin gemeinsam mit Arnold Rademacher in der Bonner Ortsgruppe dieses Katholischen Akademikerverbandes und hielt auf mehreren regionalen und nationalen Tagungen Vorträge, darunter die besonders bekannt gewordenen über den „Sinn der Kirche“ (1921 in Bonn) und über „Liturgische Bildung“ (1923 in Ulm).]
Unter der Redaktion des Münchner Assyriologen und Orientalisten Ernest Lindl erschien als dessen Organ von November 1908 bis zum 9. Jahrgang 1916/17 eben jene Zeitschrift „Der Akademiker. Monatsschrift des Katholischen Akademikerverbandes“, in der eben auch Guardini und Heidegger veröffentlichten.
Nicht unerwähnt bleiben darf, dass Guardini nach eigenem Bekunden in Tübingen geholfen hatte, Carl Sonnenscheins sozial-caritative Vereinigung aufzubauen [Romano Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, a.a.O., S. 107 f.]; und auch dass mittlerweile herausgefunden werden konnte, dass Guardini in Mainz zum Wintersemester 1908/09 Mitglied des Mainzer Piusvereins wurde und in ihm im Dezember 1908 einen Vortrag „Über das Wesen des Kunstwerks“ gehalten hat, der wohl nicht nur dem Titel nach als erste Vorarbeit für den 1947 in Tübingen gehaltenen Vortrag gelten kann. Ihm folgten noch weitere Referate.
Interessant wird die Einordnung dieses „studentischen“ Katholischen Akademikerverbandes und seiner Zeitschrift „Der Akademiker“ für die Vorgeschichte der Beziehung zwischen Guardini und Heidegger, wenn man sich die Abfolgen einiger Aufsätze in dieser Zeitschrift chronologisch vor Augen führt:
- Im Dezember 1908 stellte Heinrich Auer die sozial-caritativen Vereinigungen katholischer Studenten Deutschlands vor.
- Im Januar 1909 rezensierte Carl Sonnenschein F. W. Foersters „Christentum und Klassenkampf“.
- Im November 1909 rezensierte Karl Neundörfer „Über staatsbürgerliche Bildung“. In diesem Heft ist auch Hertlings „Über alte und neue Philosophie“ abgedruckt.
- Im Januar 1910 machte sich der Mainzer Freund Adam Gottron „Gedanken zur Wiederbelebung des deutschen Volksliedes“. Gottron, ebenfalls Mitglied des Schleußner-Kreises und Beuroner Oblate, schrieb weitere Beiträge bis Mai 1911.
- Im März 1910 folgte nun im selben Heft einerseits Guardinis Rezension über das Buch des Beuroner Paters Sebastian von Oer: „Unsere Tugenden“ sowie andererseits Heideggers schon genannte Rezension über Jörgensens „Lebenslüge und Lebenswahrheit“. In diesem Heft wurden außerdem Passagen aus Foersters „Autorität und Freiheit“ abgedruckt.
- Im Mai 1910 erschienen - wiederum im selben Heft - Guardinis Kunstbetrachtung „Beuroner Madonnen“ und Heideggers Rezension zu Foersters „Autorität und Freiheit“.
- Heidegger publizierte noch weitere Rezensionen und Aufsätze bis Januar 1913.
Nun ist es nahezu ausgeschlossen, dass man nicht über den Namen des jeweils anderen Autors „stolpert“, der zweimal hintereinander jeweils im gleichen Heft über einem selbst nahestehende Themen wie Beuron, Friedrich Wilhelm Foerster oder zeitgenössische katholische Literatur schreibt.
Die gemeinsamen Freiburger Bezugspersonen
Angesichts dieser Zusammenhänge wird auch zukünftig zu prüfen sein, inwieweit nicht auch einige in diesen Kontext involvierte Professoren und Freunde in das in Freiburg beginnende Gespräch zwischen Heidegger und Guardini eingebunden sind. Dafür lohnt es sich, sich noch einmal intensiver über die Vorlesungen und Seminare, die Guardini und Heidegger in Freiburg besucht haben, zu erkundigen. Einige neue Erkenntnisse sollen hier vorgestellt werden:
Die Freiburger Lehrer Guardinis und Heideggers im Überblick
Für Guardini hat Freiburg bekanntlich eine Vorgeschichte durch sein erstes Theologiesemester im Sommer 1906 [Interessanterweise „verlegt“ Guardini selbst dieses eine Semester in einem Brief 1954 an Max Müller gerichteten Brief (siehe Q 69) irrtümlich in das Jahr 1907]. In der Bayerischen Staatsbibliothek liegt dafür das Studien- und Sittenzeugnis vom 14. November 1906 [BSB Ana 342, C. Lebensdokumente, Schachtel 1, Mappe 4.]. Auf der Rückseite des Zeugnisses sind die offiziell belegten Veranstaltungen aufgeführt: Bei Prof. Hoberg belegte er Themen „Einleitung in die Hl. Schriften d. Neuen Testaments“, „Bibel und Wissenschaft“, „Erklärung der Psalmen der Vulgata“ und „Messianische Weissagungen in Verbindung mit den Hauptregeln der Hermeneutik“, bei Prof. Pfeilschifter das Thema „Allg. Kirchengeschichte II“ und bei Prof. Sauer die Themen „Die Anfänge des Christentums u. der Kirche in Deutschland“ und „Die christliche Kunst im 19. Jahrhundert“. Hingewiesen werden muss darauf, dass keineswegs alle Vorlesungen und Seminare, die man belegt hat, von einem solchen Zeugnis erfasst werden, sondern nur diejenigen, bei denen man sich vom Lehrenden auch ein Zeugnis ausstellen hat lassen. So erwähnt Guardini in seinen eigenen Erinnerungen, dass er den Dogmatiker Carl Braig gehört habe, der aber nicht im Studien- und Sittenzeugnis auftaucht, fasst den stark belegten Alttestamentler Hoberg aber unter „andere“, wenn er in seinen Erinnerungen schreibt: „Das Studium machte mir Freude. Ich hörte den Dogmatiker Carl Braig, den Kirchenhistoriker Franz Pfeilschifter, den Archäologen August Sauer und andere“[Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, a.a.O., S. 76]. Bei Vornamen zeigt sich Guardini mehrfach in seinen Erinnerungen nicht treffsicher, denn beim Kirchengeschichtler handelt es sich natürlich um Georg Pfeilschifter und beim Archäologen um Joseph Sauer.
Nun hat auch Heidegger 1909/10 noch bei den Professoren Gottfried Hoberg, Georg Pfeilschifter und Joseph Sauer gehört [Vgl. dazu Bernhard Casper, Martin Heidegger und die Theologische Fakultät Freiburg 1909-1923, in: Freiburger Diözesan-Archiv, 100, 1980, S. 536].
Hoberg und Pfeilschifter haben aber weder bei Guardini noch bei Heidegger einen größeren autobiographischen Nachhall erfahren, daher seien sie hier nur kurz vorgestellt:
Prof. Gottfried Hoberg (1857-1924) hatte nach dem Dr. phil. und Dr. theol. zunächst ab 1886 als Privatdozent der Universität Bonn gewirkt. 1887 wurde er Professor für das Alte Testament in Paderborn. Ab 1890 hatte er an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg zunächst die Professur für das Neue Testament und ab 1893 auch für Altes Testament inne. Das Fach Neues Testament übernahm 1895 Prof. Karl Theodor Rückert, der allerdings 1907 verstarb, ihm folgte von 1907/08 bis 1916 Prof. Simon Weber, bis er 1915 zum Domkapitular berufen worden war. Diese Fach-Aufteilung wird aufgeführt, um Bernhard Caspers Darstellung von 1980 zu stützen, nachdem Hoberg in anderer Heidegger-Sekundärliteratur als Heideggers Professor für „Neues Testament“ vorgestellt wird, zum Beispiel bei Johannes Schaber (Heideggers frühes Bemühen um eine „Flüssigmachung der Scholastik“ und seine Zuwendung zu Johannes Duns Scotus, in: Norbert Fischer/Friedrich W. von Herrmann, Heidegger und die christliche Tradition, 2007, S. 91-128, hier S. 102): „Im zweiten Semester konzentrierte sich seine theologische Arbeit auf die neutestamentliche Exegese und Patristik bei Professor Hoberg“[vgl. dagegen richtig ders., Martin Heideggers „Herkunft“ im Spiegel der Theologie- und Kirchengeschichte des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, in: Heidegger-Jahrbuch, Band 1, a.a.O., 2004, S. 159-184, hier S. 174 und die ebenfalls im Jahrbuch abgedruckte Vorlesungs- und Seminartabelle auf S. 13 f.].
Prof. Georg Pfeilschifter (1870-1936) war nach seiner Habilitation zunächst im Jahr 1900 Privatdozent für Kirchengeschichte in München, erhielt aber im gleichen Jahr die außerordentliche Professur für Kirchengeschichte und Patrologie an der Philosophisch-theologischen Hochschule in Freising. 1903 wechselte er dann auf die Professur für Kirchengeschichte an die Universität Freiburg.
Im Folgenden können wir uns daher auf Joseph Sauer konzentrieren.
Aber auch das „Studien- und Sittenzeugnis” der Universität Freiburg vom 15. Juni 1914 für das Promotionsstudium Guardinis liegt noch vor [BSB Ana 342, C. Lebensdokumente, Schachtel 1, Mappe 4.]. Besonders aufschlussreich ist der Passus über die Fachabfolge: zunächst Theologie, im Sommersemester 1913 und Wintersemester 1913/14 Philologie und seit Ostern 1914 wiederum Theologie. Dieser Studienfachwechsel von der Theologie in die Philologie und wieder zurück, wurde bislang in der Guardini-Forschung nicht wahrgenommen. Aus dem rückseitigen Belegverzeichnis geht hervor, dass Guardini im Wintersemester 1912/13 erneut Kirchengeschichte bei Prof. Pfeilschifter sowie Kirchenrecht bei Prof. Göller hörte, im Sommersemester 1914 schließlich die „Erklärung der Genesis“ bei Prof. Hoberg. Außerdem belegte er im Wintersemester 1912/13 bei Dr. Krebs die Themen „Bonaventura u. seine Schule“ und „Thomas von Aquin, de vita e passione Christi“ und im Sommersemester 1914 das „Dogmatische Seminar“ bei Prof. Braig. Die beiden philologischen Semester weisen jeweils nur eine Veranstaltung aus. Während er im Sommersemester 1913 tatsächlich „Hebräische Laut- und Formenlehre“ bei Prof. Reckendorf belegte, steht für das Wintersemester 1913/14 allein das Thema „Die deutsche Philosophie von Kant bis Nietzsche“ bei Prof. Rickert zu Buche, so dass der Eindruck entsteht, dass diese philosophische Veranstaltung quasi als „philologische“ Belegung gewertet wurde. Diese vierstündige Rickert-Vorlesung hatte auch Heidegger besucht [Siehe Heidegger-Jahrbuch, Band 1, 2004, S. 16]. Es handelt sich um jene Vorlesung, die in einem der beiden Guardini-Briefe an Heidegger aus dem Jahr 1916 erwähnt wird [Siehe unten Q 3].
Für Guardinis Promotionsstudium in Freiburg stehen also auch die Professoren Göller und Reckendorf zu Buche. Göller hat von Guardini immerhin eine Reminiszenz in der Danksagung seiner Promotion über Bonaventura erhalten [Romano Guardini, Die Lehre des heiligen Bonaventura von der Erlösung, Düsseldorf 1921, S. VII].
Prof. Emil Göller (1874-1933) hatte in Freiburg 1900 den Dr. phil., 1907 den Dr. theol. erworben, erhielt dort 1908 den Ruf an die Theologische Fakultät und war ab 1909 Professor für Kirchenrecht. Erst ab 1917 vertrat er dort das Fach Kirchengeschichte. Für Guardini und Heidegger war Göller daher vor allem für das Fach Kirchenrecht relevant.
Reckendorf dagegen blieb bislang ohne weitere Erwähnung.
Prof. Hermann Reckendorf (1863-1924), ursprünglich Samuel Reckendorf, war Orientalist, Arabist und Literaturwissenschaftler, der sich 1888 an der Universität Freiburg habilitiert hatte, war ebendort zunächst als Privatdozent, dann seit 1893 als außerordentlicher, seit 1899 als etatmäßiger außerordentlicher Professor für semitisch-orientalische Philologie und seit 1908 als ordentlicher Professor für Orientalische Sprachen tätig.
Die philosophischen Lehrer Carl Braig, Engelbert Krebs und Heinrich Rickert
Auf die gesamte Studienzeit gesehen werden bei Guardini für das Theologiestudium in Freiburg im Sommer 1906 die Namen Joseph Sauer und Carl Braig, dann für das Promotionsstudium vor allem Engelbert Krebs relevant.
Einflussreich blieb aber auch und zwar durchgängig Herman Schell durch sein Werk: In der Guardini-Bibliothek in München befinden sich Schells „Der Katholizismus als Prinzip des Fort-schritts“ (1897, gb 3401) mit Lesedatum „17.10.-11.11.05“ sowie mit zahlreichen handschriftlichen Eintragungen sowie – ebenfalls mit handschriftlichen Anstreichungen – die Bücher „Das Wirken des dreieinigen Gottes“ (1885, Guardini-Bibliothek gb 3392) und „Die neue Zeit und der alte Glaube“ (1898, Guardini-Bibliothek gb 3403).
Großen Einfluss übte auch Wilhelm Koch in Tübingen aus, nicht nur als Dogmatiker, sondern auch als Beichtvater [Romano Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, a.a.O., S. 79 f.]. Auf philosophischem Gebiet wurde Guardini nachweislich von Georg Simmel, Heinrich Rickert und Max Scheler geprägt.
Auch Heidegger berichtet für den Beginn seines Theologiestudiums eine große Wertschätzung Herman Schells, nachdem ihm die „damals vorgeschriebenen Vorlesungen“ nur „wenig“ befriedigten, er sich daher „auf das Selbststudium der scholastischen Lehrbücher“ verlegt hatte: Diese Lehrbücher verschafften ihm zwar „eine gewisse formale logische Schulung“, gaben ihm „aber in philosophischer Hinsicht nicht das, was“ er „suchte, und auf apologetischem Gebiete durch die Werke von Herman Schell gefunden hatte. Neben der kleinen Summa des Thomas von Aquin und einzelnen Werken von Bonaventura waren es die logischen Untersuchungen von Edmund Husserl“, die für seinen „wissenschaftlichen Entwicklungsgang“ entscheidend wurden [Martin Heidegger, Lebenslauf (Zur Habilitation 1915), in: ders., Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges. 1910-1976, Gesamtausgabe (GA) Band 16, Frankfurt am Main 2000, S. 37-39, hier S. 37].
Bei Heidegger kommt zusätzlich zu den Genannten noch der Einfluss durch den Leiter des Knabenkonvikts in Konstanz, das Heidegger besuchte, hinzu: der Meßkirchner Konrad Gröber, der spätere Erzbischof von Freiburg. Er war mit den Heideggers entfernt verwandt und schenkte ihm 1907 bekanntlich die Aristoteles-Dissertation von Franz Brentano [Heidegger berichtet von diesem Geschenk im Sommer 1907 in: Martin Heidegger, „Aus einem Gespräch von der Sprache. Zwischen einem Japaner und einem Fragenden …“ (1953/54), erstmals gedruckt in: ders., Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, S. 83-155, hier S. 134]. Da Gröber aber für Guardini selbst erst im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit für die Liturgische Bewegung in den dreißiger Jahren relevant wird, muss er an dieser Stelle nicht weiter berücksichtigt werden.
Hier interessieren nun also vor allem Carl Braig, Engelbert Krebs und Heinrich Rickert. Die Unkenntnis von der gemeinsamen Studienzeit in Freiburg und der gemeinsamen „Schülerschaft“ führte wohl auch zu einer lang fehlenden Sensibilität für eine mögliche Beeinflussung Guardinis und Heideggers durch diese Lehrer.
Carl Braig (1852-1923)
In der Guardini-Bibliothek in München befindet sich ein mit handschriftlicher Datumsangabe „17.05.06“ und zahlreichen handschriftlichen Eintragungen versehenes Exemplar von gesammelten Aufsätzen Carl Braigs, die 1896 unter dem Titel „Vom Denken. Abriß der Logik“ erschienen waren. Es gehört daher zu den frühen Studienbüchern Guardinis [gb 4252]. Guardini hatte auch bei seinem ersten theologischen Studiensemester in Freiburg, bevor er nach Tübingen wechselte, bei Braig gehört und in seinen Erinnerungen „Berichte über mein Leben“ auch auf dieses Buch und auf die Persönlichkeit seines Lehrers Braigs verwiesen:
„Ich hatte schon früher seinen ‚Abriß der Philosophie’ studiert und von manchen Teilen – genauer muß ich wohl sagen: Sätzen – einen starken Eindruck gewonnen. Ein philosophischer Urlaut war darin. Man schätzte ihn nicht sehr. Er war von Tübingen gekommen. Von Hause Philosoph, hatte er dann eine theologische Professur übernommen. Seine Vorlesungen waren zu schwer. Er war ein Grübler. Ich sehe ihn noch, wie er, mit einem kleinen Bleistift in der Hand, auf die Spitze dieses Bleistiftes schaut und ganz versunken redet“[Romano Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, a.a.O., S. 25].
Eine tiefergehende Beeinflussung scheiterte bei Guardini also an Sprache und Persönlichkeit Braigs, die später auch dazu führte, dass er die zunächst von Braig gestellte Doktoraufgabe nicht verstand:
„Also ging ich zu Prof. Carl Braig. […] ... Als ich bei meinem Besuch auf ihn zutrat, machte er eine kleine Bewegung des Zurückweichens. Später erfuhr ich, daß er immer so tue; es war für ihn charakteristisch. Ich sagte ihm, welchen Eindruck sein ‚Abriß’ auf mich gemacht hätte; da erwiderte er in seinem schwäbischen Tonfall: ‚Ich weiß gar net mehr, was ich g’schrieben hab.’ Auch das war charakteristisch: er hatte aufgeben müssen, was ihm eigentlich wichtig gewesen war. Dann erzählte ich ihm, woher ich komme, was man mit mir vorhabe und fragte ihn wegen eines Themas. Er riet mir zu einem Vergleich zwischen Thomas von Aquin und Wilhelm Wundt. Ich erinnere mich nicht mehr, wo der Vergleichspunkt liegen sollte; jedenfalls wundere ich mich heute noch, wie ein akademischer Lehrer ein solches Thema geben konnte. Natürlich ging es auch damit schief. Ich konnte mit ihm nichts anfangen und stand nach kurzer Zeit wieder vor dem Nichts“[Ebd., S. 25 f.].
Bei Heidegger wissen wir, dass er Braigs Werke „Vom Sein. Abriß der Ontologie“ (1896) und „Vom Erkennen. Abriß der Noetik“ (1897) durchgearbeitet hat. Er hatte während seines Theologiestudiums viel bei Carl Braig gehört und dessen theologische Vorlesungen sogar noch in den Jahren nach Abbruch des Theologiestudiums weiter besucht. Braigs Sichtweise war, wie Heidegger erwähnte, nicht auf die Untersuchung des Problems des Seins in einem aristotelisch-thomistischen Sinn beschränkt. Durch Braig wurde er sich der Bedeutung moderner Ideen von Metaphysik außerhalb des Rahmens der Kirche bewusst, insbesondere jener Hegels und Schellings – oder mit seinen eigenen Worten ausgedrückt:
„Eine theologische Vorlesung hörte ich auch noch in den Jahren nach 1911, diejenige über Dogmatik bei Carl Braig. Dazu bestimmte mich das Interesse an der spekulativen Theologie, vor allem die eindringlichste Art des Denkens, die der genannte Lehrer in jeder Vorlesungsstunde Gegenwart werden ließ. Durch ihn hörte ich zum ersten Mal auf wenigen Spaziergängen, bei denen ich ihn begleiten durfte, von der Bedeutung Schellings und Hegels für die spekulative Theologie im Unterschied zum Lehrsystem der Scholastik. So trat die Spannung zwischen Ontologie und spekulativer Theologie als das Baugefüge der Metaphysik in den Gesichtskreis meines Suchens“[Martin Heidegger, Mein Weg in die Phänomenologie (1963), in: Martin Heidegger in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, dargestellt von Walter Biemel, Reinbek 1973, S. 21; dann in: ders., Zur Sache des Den-kens, Tübingen 1976, S. 81-90, hier S. 81 f., jetzt auch in: ders., Zur Sache des Denkens, Gesamtausgabe, Bd. 14, 2007, hier S. 94. Vgl. hierzu: Hugo Ott, Zu den katholischen Wurzeln im Denken Martin Heideggers. Der Theologische Philosoph, in: Christoph Jamme/Karsten Harries, Martin Heidegger. Kunst, Politik, Technik, München 1992, S. 225 ff., zu Braig S. 228-230 und 236]
Bezüglich Carl Braig hat erst die 2004 publizierte Doktorarbeit von Daniel Esch das Forschungsdefizit über den Lehrer Guardinis und Heideggers behoben, der die beiden darin ausführlich als „bekannteste Schüler“ Braigs beschreibt [Daniel Esch, Apostolat der Dialektik. Leben und Werk des Freiburger Theologen und Philosophen Carl Braig (1853-1923), 2004]. Bei Esch wird auch deutlich, dass Braig eine „Brücke“ von Heidegger und Guardini zu Engelbert Krebs darstellt, der ebenfalls ein Schüler Braigs war. Johannes Schaber weist in seinem Aufsatz „Der Theologiestudent Martin Heidegger und der Dogmatikprofessor Carl Braig“ darauf hin, dass Heidegger auch noch fünfzig Jahre nach seinem Studium bei Braig die Lektüre der Schriften des Dogmatikers und Philosophen empfahl [Johannes Schaber, Der Theologiestudent Martin Heidegger und sein Dogmatikprofessor Carl Braig, in: Freiburger Diözesan-Archiv, 125, 2005, S. 332-347, hier S. 332]. Vor diesen Arbeiten von Esch und Schaber hatte immerhin Franco Volpi in seinen Beiträgen zur italienischen Heidegger-Forschung den Einfluss von Braigs Buch „Vom Sein“ auf Heideggers eigenes Verständnis herausgearbeitet [Franco Volpi, Heidegger e Brentano. L´ aristotelismo e il problema dell´ univocità dell´ essere nella formazione filosofica del giovane Martin Heidegger, 1976; (2)1984; dann ders., Alle origini della concezione Heideggeriana dell’Essere. Il Trattato Vom Sein di Carl Braig, in: Rivista critica di storia della filosofia, 2, 1980, S. 183-194; ders., Le fonti del problema dell'essere nel giovane Heidegger. Franz Brentano e Carl Braig, in: C. Esposito/P. Porro (Hrsg.), Heidegger e i medievali. Atti del Colloquio Internazionale Cassino 10/13 maggio 2000), Quaestio I, Turnhout-Bari 2001, S. 39-52]. Die Studien Volpis fanden lange Zeit aber nur spärlich und meist auch nur kursorisch erwähnend Eingang in die deutsche Heidegger-Forschung [Rezension zu: Volpi, Heidegger e Brentano, in: Theologie und Philosophie, 62, 1987, S. 116: „Ziemlich unbeachtet von den deutschen Heidegger-Interessenten hat sich in Italien eine ernst zu nehmende, nicht zuletzt historisch angelegte Rezeption des Freiburger Meisters vollzogen.“].
Die „Doktorväter“ Romano Guardinis
In seinen „Berichten über mein Leben“ schrieb Guardini, dass ihm – nachdem die Themenstellung durch Carl Braig schiefgegangen war, ein Bekannter geraten habe, „zu dem damaligen Privatdozenten Engelbert Krebs zu gehen, der als klug und hilfsbereit galt, und dem man große geistige Unbefangenheit nachrühmte“:
„Das tat ich und habe es nicht bereut. Er wies mich auf den heiligen Bonaventura, von welchem die kritische Ausgabe von Quaracchi vorlag, sodaß das erste Erfordernis für eine systematische Untersuchung gegeben war. Und zwar sollte ich seine Erlösungslehre behandeln. So hatte ich denn endlich mein Thema und habe an ihm durch anderthalb Jahre gearbeitet. Eine ziemlich lange Zeit, was man denn auch von Mainz her nicht anzudeuten verfehlte“[Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, a.a.O., S. 27].
Guardini begründete die „lange Zeit“ mit seiner methodischen Schwierigkeit, dass er historisch arbeiten sollte, seine eigenen Interessen „aber auf systematische Fragen“, insbesondere auf die von ihm und Karl Neundörfer entwickelte Typen- und Gegensatzlehre gingen. Daher wollte er mehr über die Gestalt „Bonaventura“ schreiben als über die historischen Kontexte von dessen Erlösungslehre:
„Bonaventura war in besonderer Weise dafür geeignet, denn seine Theologie vereinigt verschiedene Elemente. Er ist Augustinianer, der sich mit einiger Mühe in die aristotelische Zeitströmung fügt, und im übrigen mehr ‚homo religiosus’ und Mystiker als Theoretiker“[Ebd.]
Nachdem Franz Henrich 1984 diese „Berichte über mein Leben“ erstmals herausgegeben hatte, nahm Hanna-Barbara Gerl dies in ihrer Guardini-Biographie von 1985 zum Anlass, richtig zu stellen, dass Engelbert Krebs die Doktorarbeit Guardinis begleitete und nicht Carl Braig [Vgl. Gerl, Romano Guardini, 1985, a.a.O., S. 84]. Ihr Schluss, dass deshalb Krebs und nicht Braig der Doktorvater Guardinis gewesen wäre, ergibt sich daraus aber nicht. Denn erstens war Krebs zum Zeitpunkt der Promotion Guardini noch Privatdozent ohne eigenes Promotionsrecht und zweitens sprechen die Archivalien eine andere Sprache. Schon in der Danksagung bei der Veröffentlichung im Jahr 1921 ist die „Rangfolge“ ziemlich klar geschildert.
„Verfasser hat noch die Pflicht, auch an dieser Stelle dem Hochwürdigsten Herrn Prälaten Prof. Dr. Karl Braig in Freiburg i. Br. für das freundliche Interesse zu danken, das er der vorliegenden Arbeit entgegengebracht hat. Ebenso Hochw. Herrn Prof. Dr. Engelbert Krebs, der sie durch stets bereiten Rat vielfältig gefördert hat. Auch Hochw. Herrn Prof. Dr. Emil Göller ist er zu Dank verpflichtet. Im persönlichen Verkehr mit ihm sowie in dem von ihm geleiteten Collegium Sapientiae zu Freiburg i. Br. hat Verfasser zahlreiche wertvolle Anregungen empfangen“[Romano Guardini, Die Lehre des heiligen Bonaventura von der Erlösung, Düsseldorf 1921, S. VII].
Im Universitätsarchiv der Universität Freiburg liegen aber auch noch die Unterlagen zum Vorgang der Promotion selbst. Daraus geht hervor, dass Guardini im Juni 1914 sein „Gesuch“ betreffend „Zulassung zu den Prüfungen für die Erlangung der Doktorwürde“ eingereicht hat. Dem Gesuch liegt die Erlaubnis zur Promotion durch den Mainzer Bischof Georg Heinrich Kirstein vom 7. Juni 1914 bei; außerdem ein mit Rotstift von dritter Hand korrigierter, handschriftlicher Lebenslauf auf Latein, in dem es im abschließenden Dank heißt: „gratias ago quam maximas praecipue vero admodum Reverendo Domino Praelato Carolo Braig, qui in componenda dissertatione „De S. Bonaventurae doctrina soteriologica, eius systemate et fontibus“ summa beniguitate me adiuvit.”[Universitätsarchiv Freiburg, B 60/45].
Auch im Begleitschreiben „Dissertation Guardini betr.” des Dekans Pfeilschifter für das Einholen der Einverständniserklärungen der Kollegen vom 18. Juni 1914 steht als Referent Prof. Braig, der am 27. Juni 1914 auf dem Gleichen Dokument handschriftlich sein Gutachten notierte. Unter diesem Gutachten stehen die Unterschriften der vier weiteren Professoren:
- Mayer für Karl Julius Mayer (1857–1926), ab 1899 Professor der Moral;
- Weber für Simon Weber (1866-1929), von 1908 bis 1916 Professor für neutestamentliche Literatur und Exegese; sowie die schon bekannten Professoren
- Hoberg und
- Göller.
Auf einem Extrablatt gab Professor Pfeilschifter am 12. Juli 1914 eine Art „Sondervotum“ bezüglich notwendiger Verbesserungen ab [Universitätsarchiv Freiburg, B 60/45]. Mit diesen Archivalien ist eindeutig erwiesen, dass Carl Braig der zuständige Referent und somit „Doktorvater“ Guardinis bis zur Einreichung der Arbeit war. Auch können wir festhalten, dass Braig vor allem sprachliche Mängel geltend macht, die etwas „mageren“ Abschnitte über „Geschichtliches" aber letztlich gutheißt, während der Kirchengeschichtler Pfeilschifter auch einen inhaltlichen Mangel benennt und dessen Nachbesserung verlangte. Guardini selbst vermerkt zur Wertung seiner Doktorarbeit und zum Verlauf des Rigorosums in seinen Erinnerungen:
„Die historischen Partien habe ich nur gemacht, weil ich mußte, und sie sind entsprechend schlecht. Das wurde bei der Beurteilung auch gerügt; trotzdem bekam die Arbeit die beste Zensur. Das Freiburger Rigorosum galt als leicht, weil man die sieben Fächer in drei Stationen absolvieren konnte. Trotzdem haben sie mir sehr viel Mühe gemacht, da der Schwerpunkt fast überall im Historischen lag, und ich für Fakten gar kein Gedächtnis hatte. Ich mußte mich sehr anstrengen, zeitweise bis zur körperlichen Erschöpfung. Immerhin wurde das mündliche Examen mit der zweiten Note bestanden. Die letzte Station stand unter einem äußeren Druck. Italien stand vor dem Krieg. Mein Vater war italienischer Staatsbürger und hatte in Mainz das Konsulat. So konnte von einem Augenblick zum anderen etwas geschehen, das meine Anwesenheit notwendig machte“[Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, a.a.O., S. 27].
Der ursprüngliche Zeitplan hatte insgesamt etwas anders ausgeschaut. Darüber schrieb Guardini seinem Freund Josef Weiger in seinem Brief vom 31. Dezember 1913:
„Meine Arbeit ist im systematischen Teil als Konzept fast fertig. Noch eine Woche. Nun gehe ich auf einige Tage nach Fulda, um dort zu sehen, ob die Franziskaner in ihrer Bibliothek etwas haben. Bis Ostern denke ich mit dem Ganzen fertig zu sein. Wie ists mit dem Abschreiben? [315: Abgeschrieben wurde die Arbeit aus dem Stenogramm von Maria Knoepfler] – Anfangs hieß es, ich solle Ostern wieder in die Seelsorge zurück, weil da der Mangel an Kräften so groß ist. Nun habe ich Hoffnung, daß ich noch das Ostersemester dazukriege. Ich wäre sehr froh darum, schon deswegen, weil die Vorbereitung auf das Rigorosum neben einer wenn auch leichten Seelsorge doch recht lästig wäre. Den Nerven gehts gut. Die Krisis ist vorüber, und ich hoffe auf einen ruhigen Winter“[Guardini, Briefe an Josef Weiger, a.a.O., S. 127].
Guardini hat die „dritte Station“ des Rigorosums wohl erst im Mai 1915 abgeschlossen. [Es konnte noch nicht wieder rekonstruiert werden, worauf sich die um einen Tag abweichende Angabe von Gerl-Falkovitz in Guardini, Briefe an Josef Weiger, a.a.O., 2008, S. 127 und 165 bezieht, er habe das Rigorosum am 15. Mai 1915 bestanden und die Promotion zum Dr. theol. sei am 15. Mai 1915 in Freiburg erfolgt.]. Die Promotionsurkunde datiert mit dem 14. Mai [Universitätsarchiv Freiburg, D 29/23]. Nun steht aber erstaunlicherweise auf der Promotionsurkunde selbst nicht Carl Braig, sondern Gottfried Hoberg als „Promotor“ der Arbeit. Der Grund hierfür konnte bislang noch nicht herausgefunden werden.
Am 20. Mai 1915 hat Guardini in Mainz wieder eine Stelle als Kaplan angetreten. Was den im „Bericht über mein Leben“ beschriebenen Druck auf ihn und die Familie durch den Kriegseintritt Italiens angeht, wurde dieser Ende Mai 1915 konkreter, nachdem Italien am 23. Mai den „Dreierbund“ verlassen und Österreich-Ungarn den Krieg erklärt hatte. Aufgrund der neuen Kriegskonstellation warfen nicht wenige Deutsche allen Italienern pauschal „treuloses Italienertum“ vor, selbst dann, wenn diese, wie die Familie Guardini, schon über zwei Jahrzehnte in Mainz wohnten [Walter Heist, Gespräche in Bayrischzell. Hans Waltmann erzählt von Romano Guardini, in: Romano Guardini. Der Mensch. Die Wirkung. Begegnung, Mainz 1979, S. 60; vgl. dazu Johannes Hürter/Gian Enrico Rusconi (Hrsg.), Der Kriegseintritt Italiens im Mai 1915, München 2007, insbesondere S. 7]. Zunächst hatten seine Eltern die Stadt nicht verlassen dürfen. Sie mussten sich „alle Tage auf der Polizei vorstellen. Von den Brüdern ist der eine in Kopenhagen, der andere in Darmstadt, wo er sich auch alle Tage, u. zw. zweimal, vor der Polizei stellen muss; der dritte ist bei den Alpenjägern.“ Zu diesem Zeitpunkt seien die Leute aber noch „recht freundlich“ gewesen und auch später noch hätten sie „manches Zeichen ehrlicher Teilnahme erfahren“, was aber nichts an der Härte und Unklarheit der Situation und Lage seiner Familie änderte, die eben, „äußerlich und innerlich, sehr kompliziert“ sei[55. Brief vom 26. Mai 1915, Mainz, in: Guardini, Briefe an Josef Weiger, a.a.O., S. 165].
Als der Vater dann - in der letzten Maiwoche[Rückrechnung aus der Aussage Guardinis: „Vater ist immer noch (jetzt 4 ½ Wochen) weg” (57. Brief vom 27. Juni 1915, Mainz, in: Guardini, Briefe an Josef Weiger, a.a.O., S. 170)] - tatsächlich „vom Abend auf den Morgen Deutschland verlassen“ musste, ging er „aber nicht nach Italien zurück, sondern blieb, in der Hoffnung, so eine gewisse Führung behalten zu können, in der Schweiz“[Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, a.a.O., S. 27]. Die Wertung von Gerl-Falkovitz, Guardinis Vater habe die Stadt verlassen müssen, „weil er den Kriegseintritt öffentlich mißbilligt hatte“[Gerl, Romano Guardini, 1985, a.a.O, S. 18], wird durch einen Brief an Weiger vom 8. Juni 1915 undeutlicher. Darin heißt es nämlich:
„Vater ist z.Z. in Bern. In München musste er an der dortigen Versammlung der Konsulatsbeamten teilnehmen und erhielt dann die Weisung, Deutschland zu verlassen. Wir haben aber die Hoffnung, dass eine Rückberufung erreicht wird. Jedenfalls ist die Sache unsicher und wir müssen mit der Möglichkeit rechnen, dass es definitiv bleibt“[56. Brief vom 8. Juni 1915, Mainz, in: Guardini, Briefe an Josef Weiger, a.a.O., S. 168].
Engelbert Krebs (1881-1950)
Ohne Frage hatte Engelbert Krebs im Vergleich zu Braig also den größeren inhaltlichen Einfluss auf Guardinis Doktorarbeit genommen und einen erheblichen auch auf Martin Heideggers Arbeiten. Aber erst durch die theologiegeschichtlichen Forschungen von Albert Junghanns von 1979 [Albert Junghanns, Der Freiburger Dogmatiker Engelbert Krebs (1881-1950). Ein Beitrag zur Theologiegeschichte. Freiburg i. Br. 1979] und Bernhard Casper von 1980 [Bernhard Casper, Martin Heidegger und die Theologische Fakultät Freiburg 1909-1923, in: Freiburger Diözesan-Archiv, 100, 1980, S. 534-541] ist über diesen Einfluss so viel offenbar geworden, dass sich in der Folgezeit zumindest die Heidegger-Forschung intensiver mit Engelbert Krebs auseinandersetzte, vor allem bei Hugo Ott [Hugo Ott, Zu den katholischen Wurzeln im Denken Martin Heideggers. Der Theologische Philosoph, in: Christoph Jamme/Karsten Harries, Martin Heidegger: Kunst, Politik, Technik, 1992, S. 225-239, zu Braig S. 230-233 und 238; ders., Engelbert Krebs und Martin Heidegger 1915, in: Freiburger Diözesan-Archiv, 113, 1993, S. 239-248] und Christoph von Wolzogen [Christoph von Wolzogen, „Gottes Geheimnisse verkosten, bevor sie geschaut werden“: Martin Heidegger und der Theologe Engelbert Krebs, in: Sic et non. Forum for Philosophy and Culture, 2000, November – http://archiv.sicetnon.org/artikel/historie/heidegger.htm (abgerufen im März 2021)].
2004 wurden die Briefe von Heidegger an Krebs und das Gutachten von Krebs für Heideggers Habilitation in einem Brief an Heinrich Rickert veröffentlicht [Briefe Martin Heideggers an Engelbert Krebs (1914–1919), in: Heidegger-Jahrbuch, Band 1, a.a.o, S. 61–68; Gutachten von Engelbert Krebs über Martin Heideggers Habilitationsschrift (Brief von Engelbert Krebs an Heinrich Rickert vom 18. Juni 1915), in: ebd., S. 68].
Oftmals stand aber weniger die konkrete inhaltliche Beeinflussung als vielmehr das „Ende“ der freundschaftlichen Beziehung durch den gemeinhin als „Abschiedsbrief“ bezeichneten Brief Heideggers an Krebs vom 9. Januar 1919 im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, da es sich dabei nicht nur um einen Abschied von Engelbert Krebs, sondern auch um einen ersten Abschied vom Katholizismus insgesamt handelte.
In der Guardini-Forschung begann Krebs zwar mit der Veröffentlichung der „Berichte über mein Leben“ 1984 und die darauf Bezug nehmende Biographie von Hanna-Barbara Gerl 1985 ins Bewusstsein zu rücken, aber auch dies geschah bisher nur in geringem Maße im Blick auf eine mögliche inhaltliche Beeinflussung. Das mag auch daran liegen, dass Guardinis Promotion und Habilitation zwar in der Bonaventura-Forschung durchgängig präsent waren, bis vor kurzem aber nicht als Vergleichs- und Referenzpunkt in der Guardini-Forschung [Erste vergleichende Aufsätze stammen aus der italienischen Guardini-Forschung, vgl. Silvano Zucal, L' Angelo di San Bonaventura. Angelo di San Bonaventura: Romano Guardini e l'angelologia bonaventuriana, in: Emanuele Curzel (Hrsg.), In factis mysterium legere, Bologna 1999, S. 537-552; Italo Sciuto, L' etica di Guardini tra Bonaventura e Agostino, in: Ferdinando L. Marcolungo/Silvano Zucal (Hrsg.), L´ etica di Romano Guardini. Una sfida per il postmoderno, Brescia 2005, S. 27-40; Silvano Zucal, Bonaventura nella formazione del pensiero di Romano Guardini con riferimento all' „Itinerarium mentis in Deum”, in: Studi francescani, 107, 2010, 3-4, S. 423-472; Ilario Tolomio, Introduzione, in: Guardini, Opera Omnia XVIII. Bonaventura, Brescia 2013, S. 7-60. In deutscher Sprache hat erst die Doktorarbeit von Franz-Xaver Heibl, „Geistliche Wissenschaft“. Ein Beitrag zur Theologie der Spiritualität im Trialog mit Bonaventura, Romano Guardini und Joseph Ratzinger, Wien 2017, einen ersten Fokus darauf gerichtet]; und dies obwohl Krebs, der sich 1911 im Fachgebiet „Studium der Scholastik“ habilitiert hatte und anschließend in Freiburg als Privatdozent wirkte, bis er schließlich 1915 außerordentlicher und dann 1919 ordentlicher Professor für Dogmatik wurde, für Guardinis Arbeiten zu Bonaventura und für seine Auseinandersetzung zum Beispiel mit Anselm von Canterbury geradezu grundlegend war. Dieses Manko mag aber auch daran liegen, dass Guardinis Auseinandersetzung mit Bonaventura insgesamt bisher nicht wirklich aufgearbeitet wurde. Nahezu allein das Engagement des jungen Werner Dettloff hat die Bonaventura-Arbeiten Guardinis nach dem Zweiten Weltkrieg Anfang der sechziger Jahre wieder „zugänglicher“ gemacht und dadurch etwas mehr ins Bewusstsein gehoben. Werner Dettloff gab in Zusammenarbeit und Übereinstimmung mit Guardini nämlich 1964 dessen Habilitationsschrift erstmalig heraus.
Dass Krebs – wie später Guardini in Bonn – vorrangig als Dogmatiker an der Theologischen Fakultät wirkte und sein philosophisches Interesse lediglich in den allgemeinen philosophischen Diskurs der Freiburger Universität einbrachte, mag das Seinige zum Übersehen des Einflusses beigetragen haben. Doch hatte Engelbert Krebs 1903 selbst in Freiburg mit einer Arbeit über Meister Dietrich – genannt von Dietrich von Freiburg – den Dr. phil. erworben und verstand sich durchaus als Schüler Rickerts und infolgedessen auch als Philosoph.
Warum man aber auch über einen inhaltlichen Vergleich von Martin Heidegger und Engelbert Krebs nur wenig lesen kann, mag wiederum daran liegen, dass Heidegger nach seiner Studien- und Promotionszeit sowie seiner Habilitation mit seiner Arbeit über die Bedeutungs- und Kategorienlehre des schottischen Franziskaners Duns Scotus, der als Theologe und Philosoph der Scholastik und Begründer der später nach ihm benannten Lehre des „Scotismus“ gilt, nur noch ein relatives Interesse für mittelalterliche Philosophie, Theologie und Mystik gezeigt hat – zumindest im Vergleich zu seiner gleichzeitig immer intensiveren Auseinandersetzung mit der antiken sowie der neuzeitlichen und spätneuzeitlichen Philosophie.
Während Krebs sich meiner Kenntnis nach nicht öffentlich oder publizistisch zu Heideggers philosophischem Werk geäußert hat, sind zu Romano Guardini bislang drei allerdings recht frühe Wortmeldungen bekannt geworden: In seinem Beitrag „Die religiöse Unruhe der Gegenwart und die katholische Kirche“ für das „Jahrbuch des Verbandes der Vereine katholischer Akademiker zur Pflege der katholischen Weltanschauung“ von 1920/21 sieht Krebs durch Guardinis erste Veröffentlichungen bereits die Mauern der katholischen Einengung im protestantischen deutschen Bürgertum durchbrochen[Engelbert Krebs, Die religiöse Unruhe der Gegenwart und die katholische Kirche, in: Jahrbuch des Verbandes der Vereine katholischer Akademiker zur Pflege der katholischen Weltanschauung, Augsburg, 1920/21, S. 8-32, zu Romano Guardini siehe S. 15].
Von Interesse ist auch, dass Krebs, nachdem Guardinis Doktorarbeit im Vorfeld seines Habilitationsprojekts 1921 gedruckt erschienen war, diese selbst – zusammen mit der ebenfalls zu Bonaventura gehenden Doktorarbeit des späteren Mainzer Bischofs Albert Stohr – für die „Franziskanischen Studien“ besprach [Engelbert Krebs, Zur spekulativ-theologischen Eigenart des hl. Bonaventura. Bericht über zwei Freiburger Dissertationen, in: Franziskanische Studien, 19, 1921, S. 136-144]. Eine weitere Rezension schrieb Krebs im Jahrgang 1921/22 für die Zeitschrift „Das Neue Reich“ über eine der zahlreichen Neuauflagen des Buches „Vom Geist der Liturgie“ [Engelbert Krebs, Rezension zu: Guardini, Vom Geist der Liturgie, in: Das Neue Reich, Wien, 4, 1921/22, 24 (12. März 1922), S. 459].
Heinrich Rickert (1863-1936)
Wohl überhaupt erst nach dem Zweiten Weltkrieg erscheinen Rickert, Heidegger und Guardini „nebeneinandergestellt“ in einem philosophischen Werk, nämlich in der 1947 erschienenen Arbeit von Otto Veit „Die Flucht vor der Freiheit. Versuch zur geschichtsphilosophischen Erhellung der Kulturkrise“: Darin verweist er innerhalb der Anmerkungen zu seinem 4. Kapitel „Symptomatik des Wandels“ (S. 265) sowohl auf Heinrich Rickerts „Die Philosophie des Lebens“ als auch auf Martin Heideggers „Sein und Zeit“ und „Was ist Metaphysik?“. Schließlich führt er Guardini neben Theodor Haecker als katholischen Vertreter einer Religionsphilosophie auf, bei denen „Spuren der existentiellen Denkweise“ nachweisbar seien. Veit sieht in Rickerts „scharfsinniger Kritik“ „alle Schwächepunkte des Lebensphilosophie – freilich mit einer gewissen Einseitigkeit – bloß gelegt“, nimmt aber Husserls Phänomenologie vor Rickerts Zuordnung zum Vitalismus in Schutz, da dessen Postulat der „Wesensanschauung“ eine viel breitere erkenntnistheoretische Basis habe. Neben Jaspers „Philosophie“ und „Vernunft und Existenz“ sowie „Die geistige Situation der Zeit“ zählt Veit Heideggers Werke zu den „repräsentativsten Werken“ der Existenzphilosophie.
Aber bei dieser vereinzelten Wahrnehmung ist es auch weitestgehend geblieben, was umso mehr verwundert, als Guardini sich selbst in einem der beiden 1916 an Heidegger geschriebenen Briefen ausdrücklich auf Rickert bezieht, sich aber von dessen Neukantianismus abgrenzt [siehe unten Q 4], andererseits aber just Max Scheler den jungen Theologen Guardini von Heinrich Rickert „vielfach bestimmt“ sieht. Denn Scheler antwortet Guardini 1919 in einem Brief:
„Vor allem aber bitte ich Sie, mir Ihre Arbeit über Lebensgegensätzlichkeiten, die Sie H. Rickert schon vorgelegt, bald zur Lectüre zu übersenden; dann haben wir reichen Stoff für unsere hoffentlich baldige mündliche Unterhaltung. Ich sehe in Manchem, daß Sie durch Windelband und Rickert in Ihrem Denken vielfach bestimmt wurden – und würde Ihnen gern über meinen inneren Gegensatz zu dieser Schule nur meine eigenen positiven Ansichten (Sie finden, was die Ethik betrifft, in meinem ‚Formalismus in der Eth. u. die materiale Werteethik’, Niemeyer) über dieselben Fragen Einiges sagen" [Siehe Gerl, Romano Guardini, 1985, a.a.O., S. 109].
Auch das Interesse am Einfluss von Rickert auf Heidegger wurde erst gehoben durch die Ausführungen Hugo Otts in seiner Heidegger-Biographie im Jahr 1988 [Hugo Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu einer Biographie, 1988, hier S. 74, 82-90, 98, 116. Guardini kommt in dieser Biographie allerdings nicht im Zusammenhang mit Rickert vor.] und schließlich mit der Veröffentlichung des Briefwechsels zwischen Heidegger und Rickert durch Alfred Denker im Jahr 2002 [Martin Heidegger/Heinrich Rickert, Briefe 1912 bis 1933 und andere Dokumente, hrsg. von Alfred Denker, Frankfurt am Main 2002].
Dass Guardini nicht Thema des Briefwechsels war, leuchtet ein, aber es scheint auch keine Veranlassung für die Herausgeber bestanden zu haben, Guardini als nahestehenden Studienkollegen herauszustellen, obwohl zu diesem Zeitpunkt schon, nämlich seit 1983, die weiter unten ausführlicher besprochene, gegenüber Petzet geäußerte Erinnerung Heideggers an das gemeinsam besuchte Seminar bei Rickert vorlag [Heinrich Wiegand Petzet, Auf einen Stern zugehen. Begegnungen und Gespräche mit Martin Heidegger. 1929-1976, 1983, S. 75]. Immerhin wird das inhaltliche Verhältnis Heideggers zu Rickert mittlerweile ausführlicher betrachtet, so unter anderem bei Konrad Hobe in Abgrenzung zum Denken Emil Lasks [Konrad Hobe, Zwischen Rickert und Heidegger. Versuch über eine Perspektive des Denkens von Emil Lask, in: Philosophisches Jahrbuch, 78, 1971, S. 360-376] sowie bei Claudius Strube im Blick auf das Verhältnis von Heidegger zum Neukantianismus [Claudius Strube, Heidegger und der Neukantianismus, Würzburg 2009].
Die „übersehenen“ Bezugspersonen Joseph Sauer, Heinrich Auer und Heinrich Ochsner
Während die gemeinsamen Bezüge zu Braig, Krebs und Rickert also mittlerweile etwas besser bekannt geworden sind, blieben andere relevante Namen weiter außen vor, allen voran der Freiburger Professor Joseph Sauer:
Joseph Sauer (1872-1949)
Joseph Sauer hatte – nach seiner Priesterweihe 1898 – an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg als Schüler von Franz Xaver Kraus im Jahr 1900 seinen theologischen Doktorgrad erworben. Zwei Jahre später folgte ebendort die Habilitation unter Georg Pfeilschifter mit anschließender Tätigkeit als Privatdozent für Kirchengeschichte des Mittelalters. 1905 erhielt Sauer den Titel eines außerordentlichen Professors für Kirchengeschichte. Von 1909 bis 1948 übte Sauer gleichzeitig das Amt des Konservators der kirchlichen Denkmäler in Baden aus. 1911 wurde er schließlich Direktor des Instituts für christliche Archäologie und Kunstgeschichte und im Jahr darauf erfolgte die Berufung zum etatmäßigen außerordentlichen Professor für christliche Archäologie. Von 1916 bis 1937 hatte Sauer schließlich den Lehrstuhl für Patrologie und Christliche Archäologie inne und übte seine Lehrtätigkeit auch noch über die Emeritierung hinaus bis 1948 aus [Vgl. zur Biographie und Bedeutung Claus Arnold, Katholizismus als Kulturmacht. Der Freiburger Theologe Joseph Sauer (1872-1949) und das Erbe von Franz Xaver Kraus, 1999, darin zu Romano Guardini siehe S. 262, 428; zu Heidegger S. 18, 25, 283, 303, 336, 366-379, 384, 392, 410, 417, 419, 422, 448].
Bekannt waren bislang einige Briefe Heideggers an Joseph Sauer in den Jahren 1912 bis 1914, die im Wesentlichen über Heideggers Rezensionen handeln, die in der von Sauer herausgegebenen Zeitschrift „Literarische Rundschau“ erschienen sind [Briefe Martin Heideggers an Joseph Sauer (1912–1914), in: Heidegger-Jahrbuch, Band 1, 2004, S. 57–61. Der erste hier abgedruckte Brief vom 17. März 1912 ist bereits ausschnittsweise zitierend erwähnt in: Christoph von Wolzogen, Natorp-Heidegger-Levinas. Zur Entwicklung des Begriffsfeldes „Es gibt“, in: Il Cannocchiale, 1991, S. 169-194, hier S. 177. Der zweite Brief datiert mit dem 29. August, der dritte mit dem 25. September 1912. Abgedruckt werden auch die Briefe vom 30. Dezember 1913 und vom 23. November 1914. Letzterer war der Begleitbrief zur Übersendung der Doktorarbeit, der eine große Dankbarkeit dafür ausdrückt, dass Sauer ihm während seiner Studienzeit „mit so manchen praktischen Rat und ständiger Aufmunterung in so liebenswürdiger Weise entgegengekommen“ ist (Heidegger-Jahrbuch, Band 1, a.a.O., S. 60). Bei den Rezensionen handelt es sich um: Martin Heidegger, Neuere Forschungen über Logik, in: Literarische Rundschau für das katholische Deutschland, 38, 1912, 10, Sp. 465-472; 11, Sp. 517-524; 12, Sp. 565-570; Rezension zu: F. Ohrmann, Kants Briefe in Auswahl, in: ebd., 39, 1913, 2, Sp. 74; Rezension zu: Nikolai von Bubnoff, Zeitlichkeit und Zeitlosigkeit, in: ebd., 39, 1913, 4, Sp. 178 f.; Rezension zu: Franz Brentano, Von der Klassifikation der psychischen Phänomene, in: ebd., 40, 1914, 5, Sp. 233 f.; Rezension von Charles Sentroul, Kant und Aristoteles, in: ebd., 40, 1914, 7, Sp. 330-332; Rezension von Kant-Laienbrevier, in: ebd., 40, 8, 1914, Sp. 376 f.; jetzt alle in: ders., Frühe Schriften, Gesamtausgabe, Bd. 1, Frankfurt am Main 1978.]
Aus dem nunmehr vorliegenden Online-Findbuch des Nachlasses Joseph Sauer (C 0067) im Universitätsarchiv der Albert-Ludwig-Universität Freiburg wurde schließlich ersichtlich, dass es über die bloße Hörerschaft hinaus auch briefliche Bezüge von Guardini zu Sauer gibt. Im Brief vom 9. November 1906 [Universitätsarchiv Freiburg, C 67/1606] berichtete Guardini aus Tübingen, dass er sich nach seinem Weggang von Freiburg für Tübingen entschieden habe und mit seiner Wahl sehr zufrieden sei, auch wenn Prof. Vetter inzwischen gestorben sei [Gemeint ist der Alttestamentler Paul Alexander Vetter (1840-1906). Dies lässt die Aussage in seinem „Bericht über mein Leben“, er habe in Tübingen von Professoren gehört: „Ludwig Baur über scholastische Philosophie; Franz Xaver Funk, der während meines Dortseins starb, über Kirchengeschichte; J. E. Belser über neutestamentliche Exegese und J. Vetter über Einleitung ins Alte Testament“, noch seltsamer erscheinen, erstens aufgrund der Bezeichnung als „J. Vetter“, zweitens dass er ihn noch im Fach „Altes Testament“ gehört haben will. Ab 1907 las dort Paul Rießler dieses Fach. Tatsächlich ist aber auch Franz Xaver Funk, Professor für Kirchengeschichte, während seiner Tübinger Studienzeit im Jahr 1907 verstorben].
Die Art und Weise, wie Guardini in diesem Brief an seinen Freiburger Professor auch über ganz persönliche oder alltägliche Dinge oder Mitstudenten schreibt, drückt bereits eine sehr große Verbundenheit aus, die sich im Brief vom 31. Dezember 1906 aus Mainz fortsetzt [Universitätsarchiv Freiburg, C 67/1606].
In einem weiteren Brief vom 13. Januar 1910 [Universitätsarchiv Freiburg, C 67/1606] erbittet sich Guardini ein Rezensionsexemplar des Buches von C. Auber „Histoire et Théorie du Symbolisme Religieux (4 voll., 12 Fr)“, um es für Sauers Literaturzeitung zu rezensieren. Am Ende des Briefes folgen kurze persönliche Äußerungen über die „Alumnensemester“ in Mainz sowie die bevorstehende Subdiakonats- und Presbyteratsweihen. Es konnte bislang aber weder in der „Literarischen Rundschau“ noch in einer anderen Zeitschrift eine Rezension Guardinis über das im Brief genannte Werk Aubers gefunden werden. Das Werk von Charles Auguste Auber war allerdings erstmals bereits 1870 erschienen. Vielleicht ist dies der Grund, warum diese Neuauflage dann in Sauers Rezensionszeitschrift nicht bearbeitet wurde.
Über diese drei Guardini-Briefe an Joseph Sauer hinaus ist ein weiterer Brief von Caritassekretär Heinrich Auer an Joseph Sauer von Bedeutung, der auch die Querverbindungen Sauers nach Mainz deutlicher aufzeigt und zugleich einen Aufenthalt Guardinis im Februar 1912 in Freiburg belegt [Universitätsarchiv Freiburg, C 67/1031]. Auer schickt diesen Brief vom 26. Februar 1912 mit einem auf Antwort wartenden Boten zu Sauer, ob Professor Schleußner ihn „heute morgen besuchen“ und ihn am gleichen Tag abends zu einem „Konveniat“ treffen könnte. An diesem Treffen wollten neben Schleußner auch dessen Frau, dessen junge Freunde Guardini und Gottron und auch Auer selbst teilnehmen. Der Brief belegt somit die sehr freundschaftliche Beziehung von Joseph Sauer insbesondere zum Ehepaar Schleußner und ihren „jungen Freunden“ und von diesen auch zu Heinrich Auer, der als mit beiden Seiten befreundeter „Vermittler“ fungiert. Ob an diesem Tage die geplanten Zusammenkünfte allerdings auch zustande kamen, muss offenbleiben.
Mit diesen Briefen ergeben sich zwei neue Aspekte, nämlich Heinrich Auers faktische und Romano Guardinis mögliche Mitarbeit an der von Joseph Sauer herausgegebenen Rezensionszeitschrift „Literarischen Rundschau“. Heinrich Auer erinnert sich in einem Geburtstagsbrief vom 6. Juni 1947 an Sauer zum 75. Geburtstag daran, dass – wenn er sich recht erinnere – die persönlichen Beziehungen schon um das Jahr 1910 herum begonnen hätten, als Sauer ihn zur Mitarbeit bei der „Literarischen Rundschau“ eingeladen habe [Siehe Universitätsarchiv Freiburg i. Br., C 067/1031].
Dass Guardini nicht namentlich als Mitarbeiter dieser Zeitschrift aufscheint, könnte aber unter anderem auch daran liegen, dass Guardini als nichtpromovierter Rezensent in manchen Zeitschriften noch gar nicht unter eigenem Namen veröffentlichen konnte. In dieser Hinsicht fällt auf, dass sowohl Wilhelm Schleußner - bei ihm handelt es sich um 5 Rezensionen zwischen 1908 und 1913 - als auch Guardinis bereits promovierter Freund Karl Neundörfer - Es handelt sich um insgesamt 14 Rezensionen zwischen 1908 und 1913 - mehrfach in Sauers Zeitschrift als Rezensenten vertreten sind. Die gesamte frühe Rezensionstätigkeit Neundörfers wurde bislang nicht wahrgenommen.
[Insgesamt ist Karl Neundörfers Bibliographie wesentlich umfangreicher als es die erste, bislang nicht in Frage gestellte Bibliographie von Heinrich Auer im posthumen Sammelband (Karl Neundörfer, Zwischen Kirche und Welt. Ausgewählte Aufsätze aus seinem Nachlass, hrsg. von Ludwig Neundörfer und Walter Dirks, Frankfurt am Main 1927) vermuten lässt.]
Da die Antwort Sauers auf diesen Brief nicht vorliegt, kann auch die Frage einer konkreten Mitarbeit Guardinis noch nicht abschließend beantwortet werden.
Heinrich Auer (1884-1951)
Über Joseph Sauer wird man nun ein zweites Mal auf Heinrich Auer verwiesen, der von Hans-Josef Wollasch bereits 1983 als „Duz-Freund“ sowohl von Heidegger als auch von Guardini identifiziert wurde [Hans-Josef Wollasch, Heinrich Auer (1884-1951), Bibliotheksdirektor beim Deutschen Caritasverband, als politischer Schutzhäftling Nr. 50241 im Konzentrationslager Dachau, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, 131, 1983, S. 383-429, hier S. 387]. Daher kann er als ein möglicher Freiburger Verbindungsmann gelten. Auer hatte nach dem Abitur im Wintersemester 1905/06 begonnen, in Freiburg Geschichte und Sozialwissenschaften zu studieren. Nach eigener Auskunft hatte er den Studienort aufgrund des dort lebenden Schriftstellers und Stadtpfarrers Heinrich Hansjakob gewählt. Außerdem studierte er bis 1910 auch in Heidelberg und Bonn, blieb aber letzten Endes ohne Promotionsabschluss, so dass ihm eine akademische Karriere versagt blieb. Nachdem er sich schon für Sonnenscheins sozial-caritative Studentenvereine engagiert hatte, gehörte er 1909 zu den Mitbegründern der akademischen Vinzenzkonferenz in Freiburg. Aus dieser Zeit stammt auch seine Bekanntschaft mit dem damaligen Caritaspräsidenten Lorenz Werthmann und dessen Nachfolger Benedict Kreutz, auf deren Vermittlung er zunächst von 1911 bis 1913 als Hilfsarbeiter an der Zentrale des Deutschen Caritasverbandes in Freiburg im Breisgau eine feste Stellung finden konnte. Von 1913 bis 1922 war er dann als hauptamtlicher Bibliothekar tätig, unterbrochen von seiner Teilnahme am Ersten Weltkrieg. 1922 wurde er schließlich zum Direktor dieser Bibliothek berufen [Ebd.].
Zu wenig beachtet wurden in diesem Zusammenhang bisher Karl Neundörfers frühe Beiträge und Rezensionen in der von Auer mit redigierten Zeitschrift „Caritas“; dann die Umstände, dass Guardinis erste Fassung seiner Gegensatzlehre 1914 im Druck und Verlag der Freiburger Caritaszentrale erschien; dass Neundörfer Heinrich Auers Buch über den Gründer der Vinzenzkonferenzen, Friedrich Ozanam, rezensierte [Karl Neundörfer, Rezension zu: Auer, Friedrich Ozanam, der Gründer des Vinzenzvereins. Ein Leben der Liebe, in: Allgemeine Rundschau, Bd. 10/II, 1913, S. 547]; und dass schließlich Guardini auf Wunsch Auers 1914 seinen Freund Josef Weiger um eine Rezension über ein Buch von Saitschik gebeten hat [Guardini, Briefe an Josef Weiger, a.a.O., S. 137 und 144]. Lediglich die gemeinsame Vorliebe Guardinis und Auers für den katholischen Schriftsteller Heinrich Hansjakob wurde 1987 durch Werner Scheurer öffentlich gemacht, indem er die Briefe Guardinis an Hansjakob sowie an Auer herausgab [Werner Scheurer, Heinrich Hansjakob und Romano Guardini, in: Manfred Hildenbrand u.a. (Hrsg.), Heinrich Hansjakob (1837-1916). Festschrift zum 150. Geburtstag, Haslach 1987, S. 246 ff., darin S. 246 und S. 251: Brief von Romano Guardini an Heinrich Hansjakob vom 15. Januar 1904 und Brief von Romano Guardini an Heinrich Auer vom 5. April 1939].
Heinrich Ochsner (1891-1970)
Der Vollständigkeit halber sei hier auch noch auf Heinrich Ochsner verwiesen. Seit 1981 liegt ein Gedenkband vor, der auch dem Verhältnis von Martin Heidegger und Heinrich Ochsner ein ausführliches Kapitel widmet [Curd Ochwadt/Erwin Tecklenborg, Das Maß des Verborgenen. Heinrich Ochsner zum Gedächtnis, 1981, S. 163-185]. Daraus geht ihre gemeinsame Vorliebe für die Vorsokratiker und für Kierkegaard hervor. Martin Heidegger sah in Heinrich Ochsner einen „lebenslangen Freund“ und Ochsner bezeichnete sich gerne als Martin Heideggers „ältester Schüler“ [Laut Max Müller hat Heidegger 1957 bei der 500-Jahres-Feier der Freiburger Alberto-Ludoviciana einen der sieben großen Festvorträge und ein Oberseminar gehalten. Dabei habe er von seinen Freunden und Schülern einen einzigen namentlich begrüßt: „Dr. Heinrich Ochsner, meinen ältesten Freund, der zugleich mir Kommilitone und auch Schüler war“; siehe Max Müller/Wilhelm Vossenkuhl, Auseinandersetzung als Versöhnung, Ein Gespräch über ein Leben mit der Philosophie, Berlin 1994, S. 86]. In einem Brief an den Bürgermeister von Meßkirch bekannte Ochsner darüber hinaus, dass für ihn „die Begegnung mit Martin Heidegger und seinem Denkweg“ „das entscheidendste Geschick“ seines Lebens gewesen sei [Ebd., S. 285].
Auch Ochsner hatte in Freiburg ein Studium der Theologie begonnen und dann Philosophie bei Heinrich Rickert studiert. Nach dem Heeresdienst 1914/15 setzte er sein Studium der Philosophie, Religionsgeschichte und Religionsphilosophie fort. Mit Heidegger gemeinsam hat er etwa im Jahr 1915 das Buch von Emil Lask „Über das Urteil“ gelesen. Mit Heidegger und Guardini teilte Ochsner auch die „benediktinische Ader“ und seine frühe Verbindung zum Benediktinerkloster Beuron. In Beuron lernte auch Ochsner 1916 Max Scheler kennen.
Am 21. März 1917, dem Hochfest des hl. Benedikt, war Ochsner zudem Trauzeuge bei der kirchlichen Eheschließung Martin Heideggers mit seiner Frau Elfride in der Universitätskapelle des Freiburger Münsters [Johannes Schaber, Phänomenologie und Mönchtum, a.a.O., S. 86]. Im August 1917 war Ochsner daher auch bei Elfride Heideggers Geburtstagsfeier eingeladen und äußerte sich später beeindruckt über den auf dieser Feier gehaltenen Vortrag Heideggers über das Problem des Religiösen bei Schleiermacher [Vgl. die Briefe Heinrich Ochsners vom 2. und 5. August 1917, in: Ochwadt/Tecklenburg (Hrsg.), a.a.O., S. 92].
Im Herbst 1917 nahmen Ochsner und Heidegger schließlich gemeinsam an einem Logik-Seminar Husserls teil. Ochsner berichtete später von dem damit beginnenden fruchtbaren Gespräch zwischen Husserl und Heidegger. Nach Bernhard Welte hat Heinrich Ochsner immer wieder darauf hingewiesen, wie wichtig dem jungen Heidegger Husserls Lehre von der kategorialen Anschauung gewesen sei [Vgl. Claudius Strube, Zur Vorgeschichte der hermeneutischen Phänomenologie, 1993, S. 122; Daniel O. Dahlstrom, Das logische Vorurteil, 1994, S. 125].
Später wechselte Ochsner als Stipendiat des Preußischen Kultusministeriums nach Marburg. Husserl empfahl ihn an Rudolf Otto, bei dem Ochsner auch promovieren wollte. 1922 musste er das Studium dort wegen einer schweren Erkrankung abbrechen, betrieb aber seine persönlichen philosophischen Studien weiter, insbesondere mit Scheler so intensiv, dass man ihn als dessen „Adept“ ansah [Müller/Vossenkuhl, Auseinandersetzung als Versöhnung, a.a.O., S. 85].
Von 1923 bis 1933 wurde er von Edmund Husserl als „unterstützender Lehrer“ für japanische Gelehrte und Studenten in Freiburg im Breisgau eingesetzt. Ochsner war ab 1934 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Zentrale des Deutschen Caritasverbandes sowie Verlagslektor beim zugehörigen Caritasverlag in Freiburg. Bei seinen Freunden hatte er während des Dritten Reiches den Decknamen „Don“ oder einfach der „Doktor“. Im sogenannten „Färber-Kreis“, in den hinein Guardini mehrere freundschaftliche Verbindungen hatte und zu dem zuletzt von Berlin her auch die Guardini-Freunde Reinhold Schneider, Ludwig Winterswyl und Hilde Hermann Aufnahme fanden, galt Ochsner als „spiritus rector“ [Vgl. dazu unter anderem: Ekkehard Blattmann, Reinhold Schneiders Ideenlaboratorium. Notate aus dem ‚Freiburger Kreis’ um Karl Färber und Reinhold Schneider, in: Frank-Lothar Kroll (Hrsg.): Die totalitäre Erfahrung. Deutsche Literatur und drittes Reich, Berlin 2003, S. 267-302, hier besonders S. 269 sowie für den "spiritus rector" Müller/Vossenkuhl, Auseinandersetzung als Versöhnung, a.a.O., S. 85].
Geradezu unverständlich bleibt daher, wieso in Guardinis Nachlass bislang keinerlei Bezüge zu diesem gemeinsamen Studienkollegen Guardinis und Heideggers zu finden sind, obwohl sich außer der Verbindungslinie über Heidegger eben auch noch zahlreiche andere finden lassen. Immerhin wissen wir durch Johannes Schaber, dass Heinrich Ochsner in Beuron Guardini kennengelernt und im Haus des Romanisten Ernst Robert Curtius in Marburg Romano Guardini und das Ehepaar Scheler „wiedergetroffen“ haben soll [Johannes Schaber, Artikel „Ochsner, Heinrich“, in: Bio-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. XIV, hrsg. von Traugott Bautz, Herzberg 1998, Sp. 1325-1331]. Auch dieser „Spur“ muss demnächst weiter nachgegangen werden.
Die gemeinsame Freiburger Studienzeit (1912-1915)
Die Personalverzeichnisse der Universität Freiburg (1912-1915)
Mittlerweile ist das „Verzeichnis der Behörden, Lehrer, Anstalten, Beamten und Studierenden der Großherzoglich Badischen Universität Freiburg“ für die entsprechenden Semester im Internet gut einsehbar. So finden wir für das Winter-Semester 1912/13 den Eintrag: „Name: Guardini Romano Geburtsort: Verona Italien St.-A. Hessen Theol. Straße: Karthäuser 41 [=Collegium Sapientiae, HZ] Immatrik.-Zeit: 12/13“[Verzeichnis der Behörden, Lehrer, Anstalten, Beamten und Studierenden der Großherzoglich Badischen Universität Freiburg, Freiburg i. Br. 1912, S. 54].
Auffallend ist, dass im Sommersemester 1913 (Freiburg 1913, S. 59) und im Winter-Semester 1913/14 (Freiburg 1913, S. 54) Guardini auch hier mit dem Studienfach „Philol.“ geführt wird und erst im Sommersemester 1914 (Freiburg 1914, S. 58) und im Wintersemester 1914/15 (Freiburg 1914, S. 52) wieder mit Studienfach „Theol.“. Der Grund hierfür ist noch unklar, eventuell liegt es aber an den für die Bonaventura-Arbeit als notwendig erachteten altphilologischen Kenntnissen. Wenig später wird dieser Wechsel, wie bereits gesehen, auch im „Studien- und Sittenzeugnis“ von 1914 sowie in dem von Guardini zur Promotion eingereichten Lebenslauf bestätigt.
Über Heidegger und Ochsner hinaus findet man für das Wintersemester 1912/13 und das Sommersemester 1913 dort folgende bekannte und für Guardini auch später noch relevante Mitstudenten:
- zum einen:
- Max Bondy (Philosophie seit Wintersemester 1912/13) [Vgl. Max Bondy, Jugendbewegung und Katholizismus, in: Die Schildgenossen, Rothenfels, 2, 1921/22, 1 (Gilbhard 1921), S. 44-56; auch in: Werner Kindt (Hrsg.), Grundschriften der Deutschen Jugendbewegung, Düsseldorf 1963, S. 274; ders., Noch einmal Jugendbewegung und Katholizismus. Eine Entgegnung auf Guardinis Antwort, in: Die Schildgenossen, Rothenfels, 2, 1921/22, 5 (Brachet 1922), S. 275-283; ders., Das neue Weltbild in der Erziehung, Berlin 1922; (2., umgearbeitete)1925, besonders S. 49-60] und
- Harald Schultz-Hencke (Medizin seit Sommersemester 1911) [Vgl. Harald Schultz-Henke, Neue Jugend und katholische Werthierarchie, in: Die Schildgenossen, Rothenfels, 1, 1920/1921, 6 (Ernting 1921), S. 210-216].
- zum anderen:
- August Vonach (Theologie, seit 1911, wohnhaft in Karthäuser 41) [Siehe Buchwidmungen in der Bibliothek des Pfarrhauses Mooshausen] und
- Xaver Zeugmann (Theologie, seit Wintersemester 1911/12, wohnhaft in Karthäuser 41) [Zu Xaver Zeugmann vgl. Brief von Pierre Lorson an Guardini vom 26. Dezember 1946 aus Straßburg (BSB Ana 342, B. II. Sachakten/Schriftwechsel, Schachtel 3: Übersetzungen und Nachdrucke, Mappe 3, Falter: Lorson)]
Während bei den ersten beiden Mitstudenten, Bondy und Schultz-Hencke, bislang eine persönliche Begegnung zur gemeinsamen Studienzeit nicht nachweisbar, aber durchaus wahrscheinlich ist, sind die Mitbewohner im Collegium Sapientiae auch später als befreundete Bekannte dokumentierbar. Zum Wintersemester 1913/14 finden sich Vonach und Zeugmann nicht mehr, dafür aber im Collegium Sapientiae neu:
- Josef Peter, Philosophie [Bzgl. Josef Peter, siehe Brief von Lorson an Guardini vom 26. Dezember 1946, ebd.] sowie
- Alois Eckert (Pülfringen, Rer. pol. ab 13/14).
Zum Sommersemester 1914 fehlt Bondy, dafür kehrt Zeugmann nach Freiburg zurück, allerdings nicht mehr ins Collegium Sapientiae. Dort kommt neu hinzu: Johannes Brinktrine [Vgl. dazu Brinktrines Geburtstagstelegramm zum 70. Geburtstag vom 18. Februar 1955 mit Verweis auf 1915 (BSB Ana 342, B.III. Schriftwechsel zu runden Geburtstagen, Schachtel 1: 70. Geburtstag) und Angabe in Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, a.a.O., S. 31: „In Freiburg war ich tiefer in die liturgischen Probleme hineingekommen und hatte auch Genossen dieses Interesses gefunden, so zum Beispiel den Paderborner Liturgiker Prof. Johannes Brinktrine.“].
Im Wintersemester fehlen dann Eckert, Heidegger und Peter, dafür erscheint im Collegium Sapientiae als neuer Bewohner: Josef Frings, der spätere Kölner Kardinal [Vgl. dazu spätere Briefwechsel mit Frings zu Ehrungen und runden Geburtstagen im Archiv der Bayerischen Staatsbibliothek, besonders eindrücklich Brief von Guardini an Kardinal Frings vom 20. März 1965: „Wie das bei bedeutsamen Lebensabschnitten so zu geschehen pflegt, gehen meine Gedanken zurück, und zwar zu der Studienzeit in Freiburg, in der „Sapienz“, wo ich Ihnen, Hochwürdigster Herr Kardinal, zum ersten Mal begegnet bin. Das geschah an der Schwelle der großen Ereignisse, die dann alle Verhältnisse umgestürzt, einen Schlussstrich unter das, was wir „Neuzeit“ nennen, gemacht und unsere gegenwärtige, noch nicht benannte Epoche eingeleitet haben. Was ist dazwischen alles geschehen! Man sagt wohl nicht zu viel, wenn man denkt, uns stünden die tiefgreifendsten Entscheidungen bevor, bzw. sie seien bereits im Gang. Aber ich habe so zum Greifen deutlich erfahren, was Vorsehung bedeutet, daß ich – in mancher Beziehung freilich ins Dunkle hinein – das Vertrauen habe, die Linie werde zum Guten weiterführen. Das Konzil, in dessen Mitte wir stehen, ist ja wie eine Unterweisung darin, was die Lehre bedeutet, die Kirche sei vom Heiligen Geiste geführt“ (BSB Ana 342, B 4-Sonderkonvolut, Mappe 3). Der letzte Abschnitt ab „Aber ich habe so zum Greifen deutlich erfahren …“ schon bei Gerl, Romano Guardini, 1985, a.a.O., S. 353].
Nach einer Erinnerung des später auch mit Heidegger über das „Philosophische Kränzchen“ befreundeten Philosophen Julius Ebbinghaus (1885-1981) wohnte Heidegger bis Sommer 1914 selbst im Freiburger Priesterseminar, das er mit der sogenannten „Sapienz“ identifiziert, und habe auch die Tracht eines Alumnus der Sapienz getragen [Vgl. Julius Ebbinghaus, Selbstdarstellung, in: Ludwig J. Pongratz (Hrsg.), Philosophie in Selbstdarstellungen, Band 3, Hamburg 1977, S. 1-59, hier S. 31]. Diese Erinnerung birgt aber mehrere Probleme. Erstens handelte es sich bei der Sapienz im eigentlichen Sinne nicht um ein „Priesterseminar“, sondern ein Studentenwohnheim für Theologiestudenten aus anderen Diözesen. Zweitens war Heidegger während seines Theologiestudiums im Erzbischöflichen Konvikt bis zum Sommersemester 1911 in der Burgstr. 1 gemeldet. Als Mathematiker wohnte Heidegger laut Verzeichnis in der Hohenzollernstr. 1 bis zum Abschluss der Promotion 1914 und das auch noch als Privatdozent [Adressangaben für Heidegger in: Verzeichnis der Behörden, Lehrer, Anstalten, Beamten und Studierenden der Großherzoglich Badischen Universität Freiburg, Freiburg im Breisgau, verschiedene Semesterbände]. Auch den Angaben in den Personalverzeichnissen nach hat also Heidegger nie in der Sapienz gewohnt. Schließlich scheint es nahezu ausgeschlossen, dass Heidegger als ab 1913 promovierter Philosoph noch 1914 die „Tracht eines Alumnus der Sapienz“ trug.
Zur Datierung der ersten Begegnung
Die Angabe bei Gerl[Gerl, Romano Guardini, 1985, a.a.O., S. 144], wonach Guardini Heidegger seit 1907 in Tübingen kennt, beruht auf einem redaktionellen Versehen, da sich die Jahreszahl auf die bereits erwähnte Bekanntschaft mit Max Scheler bezieht. Alfred Denker wiederum spricht in seinem Aufsatz in „Erbe und Auftrag“ (2003) davon, dass Heidegger noch als Theologiestudent Guardini getroffen habe[Denker, Martin Heidegger und die Erzabtei Beuron, a.a.O., S. 83]. Aber sowohl diese Aussage als auch jene im ersten Heidegger-Jahrbuch (2004) vom Kennenlernen Guardinis in Rickerts Seminar „im Wintersemester 1910/11“ sind dort nicht belegt und auch höchst unwahrscheinlich [Alfred Denker, Heideggers Lebens- und Denkweg 1909-1919, in: Heidegger-Jahrbuch, Band 1, 2004, S. 97-122, hier S. 105].
Heidegger selbst hat in seinem Brief vom Dezember 1950 an Guardini noch von einer ersten Begegnung „um 1913“ geschrieben. In einer – seit 2020 wieder zugänglichen – Postkarte an Guardini vom 23. Dezember 1958 hielt er dagegen fest, er habe als Gegengabe für Guardinis Weihnachtsgeschenk „‚nur’ das Gedenken an die Jahrzehnte seit 1911 in Freiburg“[Siehe unten Q 80]. Auch in seinem Geburtstagsbrief von 1965 steht „1911“ als Jahr der ersten Begegnung, wobei er sich ausdrücklich an Guardinis "Arbeitszimmer in der „Sapienz“", die Spaziergänge und ihre "Statistenrolle in Rickerts Seminar“ erinnert[Siehe unten Q 101].
Nun wissen wir aus einem Brief Guardinis an Josef Weiger vom 19. November 1911 aus Worms, dass Guardini „vor einigen Tagen … in Freiburg“ war und nun Aussicht habe, „diese Ostern [1912, HZ], auf die Universität zu kommen, falls nichts dazwischengerät.“ Er „werde dann wohl nach Freiburg gehen“ und nach einem Besuch beim Liturgiker Prof. Künstle „irgend etwas Liturgisches als Thema“ wählen[Guardini, Briefe an Josef Weiger, a.a.O., S. 61].
[Karl Künstle (1859-1932) riet Guardini von selbst entwickeltem Thema ab, die Aufbaugesetze, Zuordnung und hervortretenden Gedanken der Responsorien in Anlehnung an die Methoden der kunstwissenschaftlichen Analyse zu untersuchen. Vgl. Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, a.a.O., S. 23: „Über die Frage, in welcher theologischen Disziplin dieses Thema sich einzuordnen habe, machte ich mir wohl nicht viel Gedanken – wie ich sie mir im Grunde genommen nie gemacht habe. Für „Fächer“ habe ich nie viel Sinn gehabt, und es war eine sehr gütige Fügung, die mir erlaubt hat, unbehindert durch Fachzäune meinen Weg zu gehen. Immerhin mußte ich mich aber doch für ein Fach entscheiden, da ja davon die Wahl des promovierenden Professors abhing; und da für mich nur Freiburg in Betracht kam, fuhr ich zu Prof. E. Künstle, der u.a. auch über Liturgik las. Ich legte ihm meine Absichten dar, muß aber damit keinen guten Eindruck hervorgerufen haben. Er war Historiker und konnte sich nicht denken, wie ich die Sache anfassen wollte – ich aber, der keine war, konnte es ihm nicht sagen. Was ich vorbrachte, hielt er für Belletristik und riet mir, die Sache doch sehr zu überlegen.“ Auch hier fällt wieder das abweichende Vornamenkürzel „E.“ statt „K.“ ins Auge.]
Daher wäre eine erste Begegnung Ende 1911 durchaus möglich, allerdings dann wohl eher zufällig oder im Blick auf gemeinsame Freunde („Beuron“) oder Aktivitäten („Der Akademiker“). Guardini schreibt allerdings nie von einer ersten Begegnung vor 1912. Sein 1980 posthum veröffentlichter Tagebucheintrag vom 4. März 1958 lautet bekanntlich: „Seit dem Jahre 1912 oder 13 kennen wir uns, von Freiburg her“[Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, a.a.O., S. 260].
Ansonsten kannte man bisher nur Heideggers Erinnerung an das „Seminar bei Rickert zuhause“ gegenüber Petzet, die seit 1983 veröffentlicht ist:
„Heidegger erzählt von Rickert, der die Seminarreferate nur Auserlesenen vorbehalten habe. So habe er, H., mit Guardini zusammen (der damals schon Kaplan war) im Nebenzimmer am äußerten Tischende gesessen“[Heinrich Wiegand Petzet, Auf einen Stern zugehen. Begegnungen und Gespräche mit Martin Heidegger. 1929-1976, 1983, S. 75 – in der italienischen Übersetzung eines Aufsatzes von Gerl-Falkovitz wird daraus - wohl wegen des Sitzens am Tischende, vielleicht wurde aber auch versehentlich "gegessen" statt "gesessen" gelesen - irrtümlich ein „Mittagessen bei Rickert“ („pranzato“)]
Aus dieser Darstellung ergibt sich aber keine unmittelbare Jahreszahl. Zwar wissen wir, dass Guardini und Heidegger im Wintersemester 1913/14 gemeinsam Rickerts Vorlesung über Kant besuchten, und auch, dass Guardini im Anschluss an eine der Kollegsitzungen über „Kants Erkenntnislehre“ am 4. und 7. Dezember 1913 Skizzen über den „Begriff der Wirklichkeit“ anfertigte, da er diese einem Brief an seinen Freund Josef Weiger beilegte[Guardini, Briefe an Josef Weiger, a.a.O., S. 124 f.]. Dagegen wissen wir noch nicht sicher, um welches Seminar bei Rickert es sich genau gehandelt hat, an das Heidegger sich hier erinnert und zu dem er in seinem Brief an Guardini im Jahr 1965 von einer gemeinsamen „Statistenrolle in Rickerts Seminar“ spricht.
Auch bezüglich der Häufigkeit der gemeinsamen Spaziergänge gibt es Diskrepanzen. In seinem Aufsatz in „Erbe und Auftrag“ (2003) spricht Denker davon, dass Guardini mit Heidegger „in Freiburg wöchentlich Spaziergänge machte“[Denker, Martin Heidegger und die Erzabtei Beuron, a.a.O., S. 83]. Im ersten Heidegger-Jahrbuch (2004) heißt es dagegen vom gleichen Autor, Heidegger habe mit Guardini „öfters Spaziergänge“ gemacht[Denker, Heideggers Lebens- und Denkweg 1909-1919, a.a.O., S. 105].
Wenn zu diesen Datierungen und den Umständen der Freiburger Zeit zukünftig keine neuen Quellen auftauchen, sollte man sich daher unter Korrektur der Datierung von 1911 auf 1912/13 an die Erinnerung Heideggers in seinem Geburtstagsbrief an Guardini vom 13. Februar 1965 halten.
Erste Widmung Heideggers an Guardini
Martin Heidegger promovierte 1913 mit seiner Arbeit über „Die Lehre vom Urteil im Psychologismus. Ein kritisch-positiver Beitrag zur Logik“. Wenn auch diese Arbeit wesentlich durch den Privatdozenten Krebs begleitet worden sein dürfte, reichte Heidegger sie schließlich beim damaligen katholisch-philosophischen Lehrstuhlinhaber Artur Schneider ein. Korreferent war Heinrich Rickert. Heidegger veröffentlichte diese Doktorarbeit noch 1914 im Leipziger Verlag von Johann Ambrosius Barth.
Ein Exemplar dieser Doktorarbeit steht mit einer bislang übersehenen handschriftlichen Widmung auch in der Guardini-Bibliothek im Schloss Suresnes der Katholischen Akademie in Bayern, mit einer erstmaligen, gleichzeitig aber auch der einzigen ausdrücklichen Bezugnahme auf Guardinis „Gegensatzlehre“.
Aufgrund einer fehlenden Datierung der Widmung ist nicht genau zu sagen, wann Heidegger Guardini das Buch geschenkt hat. Ein Bezug auf „Vorarbeiten“ bzw. „Überarbeitungen“ zu der dann 1925 gedruckten zweiten Fassung der Gegensatzlehre [Romano Guardini, Der Gegensatz. Versuche zu einer Philosophie des Lebendig-Konkreten (1925), Mainz (4)1998] scheint zu spät, zumal ja in der Freiburger Caritas-Verlagsdruckerei 1914 eine erste Fassung unter dem Titel „Gegensatz und Gegensätze“ erschienen ist[Romano Guardini, Gegensatz und Gegensätze. Entwurf eines Systems der Typenlehre, Freiburg i. Br. 1914] und Guardini diese – dem Scheler-Brief von 1919 zufolge – wohl auch schon Rickert vorgelegt hatte. Durch die Anrede Guardinis mit „Dr.“ ist aber sowohl eine Schenkung vor 1915 als auch eine nach 1923 ausgeschlossen.
Q001
Widmung Heideggers an Guardini (um 1915) [Guardini-Bibliothek gb 4039]
Die Widmung lautet: "Dem Vf. der vielversprechenden Gegensatzlehre Herrn Dr. R. Guardini freundlichst gewidmet. d. Vf."
Arbeit für die Quickborn-nahestehende Zeitschrift „Heliand“
1915 und 1916 erscheinen in der Quickborn-nahestehenden, von Bernhard Strehler und Hermann Hoffmann herausgegebenen Zeitschrift „Heliand. Monatsschrift zur Pflege religiösen Lebens für gebildete Katholiken“ die Gedichte Trost (Heliand, 6, 1915, S. 161) und „Einsamkeit“ (Heliand, 7, 1916, S. 309). Heidegger erhält dabei das Pseudonym „Martin Heide“. Diese Zeitschrift löste 1909 die Zeitschrift „Friedensblätter. Monatsschrift zur Pflege des religiösen Lebens und Friedens“ ab. Der Vermittler des Gedichts an Hoffmann war der Freiburger Mitstudent und Freund Ernst Laslowski, der am 13. März 1915 an Heidegger schrieb: "[…] Ich habe ein Gedichtlein von Dir im Heliand abdrucken lassen, unter Pseudonym. Der Herausgeber, ein feiner, kluger junger Priester war so dankbar dafür. Du erhältst Belegexemplare. Der Heliand soll durchgehalten werden, er hat seinen Zweck als religiöse Zeitschrift. Ist doch jetzt sehr wertvoll. […]“[9. Brief von Ernst Laslowski an Martin Heidegger vom 13. März 1915 aus Breslau, in: Heidegger-Jahrbuch, Band I: Heidegger und die Anfänge seines Denkens, Freiburg/München 2004, S. 41-45, hier S. 43].
Ernst Laslowski (1889-1961) hatte ab 1910 in Breslau und dann in Freiburg im Breisgau Geschichte studiert. Unterbrochen vom Ersten Weltkrieg schloss er diese Studien 1920 mit einer Promotion in Freiburg ab. Von 1920 bis 1934 war er Leiter der politisch-kulturellen Wochenzeitung „Der Oberschlesier“, von 1923 bis 1930 Leiter des Volksbildungshauses „Heimgarten“ in Neisse-Neuland, 1930 bis 1934 wissenschaftlicher Referent beim Oberpräsidium Oppeln und von 1935 bis 1945 Leiter der Graf von Ballestremschen Archive in Gleiwitz. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm er von 1946 bis 1960 das Amt des Direktors des Zentralarchivar des Deutschen Caritas-Verbandes. 1951 trat er zudem die Nachfolge Heinrich Auers als Bibliotheksdirektor an.
Guardini wiederum veröffentlichte im „Heliand“ wohl erstmals 1918, und zwar unter dem Pseudonym Dr. Anton Wächter seine Texte über „Sagen“ (Heliand, 9, 1918, 5, S. 151-156) und über „Märchen“ (ebd., 6-7, S. 195-202) sowie unter seinem eigenen Namen: „O beata Trinitas“ (ebd., 10-11, S. 265-271). 1920 folgt als Originalbeitrag noch in der Rubrik „Nova et vetera“ eine phänomenologische Betrachtung „Vom Gespräch“ (Heliand, 10, 1920, 5, S. 153-158). Danach folgen noch einige weitere, meist kleinere Auszüge und Nachdrucke in den Jahren zwischen 1920 und 1935.
Über den Kontakt Guardinis zu Strehler nach Neisse sowie zum Quickborn seit dem August 1913 wissen wir aus dem brieflichen Bericht an Josef Weiger. Ob daraus auch schon sein Kontakt zur Zeitschrift „Heliand“ erwachsen ist oder erst später anzusetzen ist, ist schwer zu klären. Auszuschließen ist es nämlich auch nicht, dass Guardini – ähnlich wie Heidegger – die Zeitschrift „Heliand“ schon über die Freiburger Caritas, also durch Ernst Laslowski oder durch den gemeinsamen Freund Heinrich Auer kennengelernt hat [Vgl. dazu auch Ernst Laslowski: Heinrich Auer, der Freund, in: Heinrich Auer zum Gedenken, im Auftrag des Deutschen Caritasverbandes zusammengestellt von Karl Borgmann, Freiburg 1952, S. 31-35]. Immerhin veröffentlichte auch Guardinis Freund Josef Weiger bereits 1916 in dieser Zeitschrift einen Aufsatz „Über die Pietà von Casper in der Stuttgarter Gemäldegalerie“ (Heliand, 7, 1916, 4, S. 104-107). Karl Caspar war ein mit Weiger und Guardini befreundeter expressionistischer Maler. Für 1918 bereitete Weiger für den Heliand auch einen Aufsatz über das Herz Jesu Büchlein des Beuroner Benediktinerpaters Sebastian von Oer vor, der dann aber nicht erschienen ist [77. Brief an Josef Weiger vom 31.07.1918 „Der Aufsatz über das Herz Jesu Büchlein geht mit zurück. Ich habe ihn noch einmal gelesen; er ist sehr gut. Von seinem Inhalt, auch der Kritik, möchte ich nichts missen. Etwas weiter ausführen, und die Gedanken manchmal etwas schärfer von einander abheben; auch besser Absätze machen. Schicke ihn also nur bald. Er wird sicher genommen. Hat Kühnel geschrieben? Vielleicht tust Du es selbst: Kaplan Josef Kühnel, Glogau in Schlesien, kath. Pfarrhaus.“ Kaplan Josef Kühnel war von 1917 an stellvertretender Herausgeber und Schriftleiter von Hermann Hoffmann bei der Zeitschrift „Heliand“].
Im Herbst 1915 sollte Martin Heidegger im Übrigen – auf Vermittlung von Engelbert Krebs und Heinrich Finke – zunächst eine Mitarbeiterstelle im Freiburger Caritas-Bureau übernehmen, dann wurde er allerdings mit Gestellungsbefehl vom 16. August 1915 als Musketier nach Müllheim einberufen, so dass er die Stelle bei der Caritas nicht mehr antreten konnte [Hugo Ott: Engelbert Krebs und Martin Heidegger 1915, in: Freiburger Diözesan-Archiv, 113, 1993, hier S. 244-246].
Aufgrund dieser wechselseitigen Beziehungen Heideggers und Guardinis zur Freiburger Caritaszentrale ist vielleicht doch auch noch aus den dortigen Archiven und Nachlässen der ein oder andere Fund zu erwarten.
Die zwei frühen Briefe Guardinis an Heidegger
Die zwei Briefe und ihre historische Einordnung
Nach Abschluss seiner eigenen Promotion wurde Guardini zum 20. Mai 1915 wieder als Kaplan nach St. Ignaz in Mainz versetzt. Es folgte eine Weiterversetzung nach St. Peter zum 25. November 1915, dann zum 1. Februar 1916 nach St. Emmeran und schließlich zum 21. August 1916 wieder zurück nach St. Peter. Die beiden Briefe wurden infolgedessen aus Mainz, St. Emmeran geschrieben, was im ersten Brief auch vermerkt ist, für den zweiten somit ebenfalls vorausgesetzt werden kann. Obwohl die Briefe bereits im ersten Heidegger-Jahrbuch abgedruckt sind, sollen Sie hier noch einmal in groben Zügen wiedergegeben und eingeordnet werden, auch mit einigen kleineren Korrekturen bezüglich der Transkription.
Q002
Brief von Romano Guardini an Martin Heidegger (10. April 1916) [Deutschen Literaturarchiv Marbach Nr. 75.6840/1, erstmals in: Heidegger-Jahrbuch I, 2004]
Zusammenfassung wird noch erstellt
Q003
Brief von Romano Guardini an Martin Heidegger (20. April 1916) [Deutschen Literaturarchiv Marbach Nr. 75.6840/2, erstmals in: Heidegger-Jahrbuch I, 2004]
Zusammenfassung wird noch erstellt
Brief an Josef Weiger über den polaren Gegensatz von Idee und Ich
Kurz darauf hat Guardini am 26. Mai 1916 in einem Brief an Josef Weiger über seine Versuche berichtet, eine Phänomenologie der Idee und des Ichs im Sinne des Gegensatzgedankens durchzuführen:
„Es handelt sich darum, für die zwei letzten data des menschlichen Daseins, für die Idee (das Objektiv-Letzte) und das Ich (das Subjektiv-Letzte) eine Phaenomenologie aufzustellen. D. h. den Gegensatzgedanken durchzuführen. Dann zu zeigen, wie die beiden Seiten der Idee (Typus des Seins <-> Richtung des Willens, der Tat, der Gesinnung) und des Ichs (Strukturzentrum <-> Richtungskonstante) zueinanderstehen: Primat des Statischen (Wahrheit, Sein, platonische Idee bzw. ruhendes, kontemplatives Ich) oder des Dynamischen (Gutheit, Tat, moderne Wertidee bzw. aktives schöpferisches Ich)? Daraus eine aus dem Innersten heraus arbeitende Analyse des ‚katholischen Geistes’: Primat des Statischen (wie oben.), des ‚Logos’, für gewisse Gebiete; anderseits des Dynamischen, des ‚Ethos’, für andere. Trotzdem aber, und endgültig, einen organischen Primat des Logos über den Ethos, der Kontemplation über die Aktion, des Seins über die Gesinnung. Siehst Du, ich habe hier das Gefühl, wirklich an die letzten Fragen zu rühren, und es ist eine tief beunruhigende Situation, nichts ausdenken zu können. Damit Du die Konsequenzen besser siehst: Die Diskussion von Idee und Ich führt auf die Phaenomenologie des Geistes – und Gottes. Nun denke Dir: Gott ist das absolute, echte Sein – und: Gott ist die absolute ‚Gesinnung’. Was das bedeutet für die Grundlegung des christlichen ‚kontemplativen’ und ‚aktiven’ Lebens! - Ich merke auch allmählich, worauf die Gegensatzlehre im Grund hinauswill. Sie ist das Handwerkzeug für eine ‚Philosophie des Konkreten’; im letzten: für eine ‚Philosophie des Geistes’. - Der Artikel von Simmel s. Z. hat auf mich einen sehr nachhaltigen Eindruck gemacht. Seine Formel ist mir fest geblieben (sie ist übrigens ein Stück aus der Gegensatzlehre)“ (Briefe an Josef Weiger 1908-1962, 2008, S. 183)
Es konnte bislang noch nicht herausgefunden werden, auf welchen Artikel Simmels Guardini sich hier genau bezieht. Gerl-Falkovitz verweist als eine Möglichkeit auf Simmels Text „Die Gegensätze des Lebens und der Religion“ (1904). Dies würde der Formulierung „seiner Zeit“ Rechnung tragen, die nahelegt, dass sie auf das Berliner Studiensemester bei Simmel bezogen ist. Dieser Bezug ist aber nicht zwingend, so dass zum Beispiel auch an etwas später, aber deutlich vor 1916 erschienene Aufsätze zu denken wäre, zum Beispiel an den 1910 in der Zeitschrift „Logos“ publizierten Aufsatz über „Michelangelo. Ein Kapitel zur Metaphysik der Kultur“, in der Simmel seine Gegensatzlehre auf die Kunstanschauung anwendet; zumal dieser Michelangelo-Aufsatz sich an die eigene, von ihm während seiner Berliner Studentenzeit 1905/06 vorbereitete und 1907 erschienene Michelangelo-Sammlung anschließen würde.
Guardini spricht in diesem Brief an Weiger sowohl von einer Phänomenologie der Idee und des Ichs, von einer Phänomenologie des Geistes als auch von einer Phänomenologie Gottes und bindet sie in seine Gegensatzlehre ein, die er als Handwerkszeug für eine „Philosophie des Konkreten“ bzw. eine „Philosophie des Geistes“ sieht. Die im Brief an Heidegger gewählte Formulierung „Phänomenologie der Idee“ ist dabei allem Anschein nach eine originäre Schöpfung Guardinis, sie kommt so bei anderen Denkern nicht vor und wird später sogar von einem Denker wie Jacques Derrida als „Unmöglichkeit“ angesehen [„Daß es keine Phänomenologie der Idee gibt, ist kein Zufall. Sie kann sich nicht leibhaftig geben, sie kann in keiner Evidenz bestimmt werden, denn sie ist die Möglichkeit der Evidenz und die Eröffnung des Sehens selber sie ist nichts anderes als die Bestimmbarkeit als Horizont jeder Anschauung überhaupt, das unsichtbare Medium des Sehens, analog zur Durchsichtigkeit des aristotelischen Diaphanen, elementares Drittes, aber gemeinsame Herkunft des Sehens und des Sichtbaren.“ (Jacques Derrida, Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie. Ein Kommentar zur Beilage III der „Krisis“. Mit einem Vorwort von Rudolf Bernet, München 1987, S. 183 f.)]. Auch Guardini selbst hat die Formulierung später nicht weiterverwendet.
Ein wesentliches „Kapitel“ dieser Vor-Arbeiten ist dann wohl unter dem Titel „Der Primat des Logos über das Ethos“ eingegangen in Guardinis Schrift „Vom Geist der Liturgie“. Da Heidegger in seinem eigenen Werk weder auf irgendwelche frühen Aufsätze Guardinis noch auf „Gegensatz und Gegensätze“ (1914) bzw. „Der Gegensatz“ (1925), und auch nicht auf „Vom Geist der Liturgie“ (1918) und die darin enthaltene Formel vom „Primat des Logos über das Ethos“ eingeht, kann man die Suche nach Vergleichspunkten an dieser Stelle beenden.
Überlegungen zu den nicht erhaltenen Beilagen
Allerdings bedarf es noch einiger weiterer Überlegungen zu den in den Briefen an Heidegger erwähnten und mitgeschickten Manuskripten. Seit der Veröffentlichung der beiden Briefe an Heidegger, die von Gerl-Falkovitz bei der Herausgabe der Briefe Guardinis an Josef Weiger folgerichtig mit dem angeführten Brief an Josef Weiger kombiniert wurden, gibt es verschiedene Mutmaßungen.
Die Herausgeber der Briefe im Heidegger-Jahrbuch vermuteten hinter der religions-kritischen Studie die erste Fassung der Gegensatzlehre von 1914 und in der speziellen Anwendung des „lebendigen Subjekts“ den noch 1916 im Pharus erschienen Aufsatz „Der religiöse Gehorsam“ [in: Pharus. Katholische Monatsschrift für Orientierung in der gesamten Pädagogik, Donauwörth, 7, 1916, Bd. 2, Heft 9 (September 1916), S. 737-744; auch in: Auf dem Wege, 1923; schließlich eingegangen in: Wurzeln eines großen Lebenswerks. Romano Guardini (1885-1968). Aufsätze und kleinere Schriften, Bd. I, 2000], vielleicht zusammen mit „Zum Begriff des Befehls und des Gehorsams“ [in: Pharus. Katholische Monatsschrift für Orientierung in der gesamten Pädagogik, Donauwörth, 7, 1916, Bd. 2, Heft 10 (Oktober 1916), S. 834-843; eingegangen in: Wurzeln eines großen Lebenswerks, Bd. I, a.a.O.] und „Zum Begriff der sittlichen Freiheit“ [in: Pharus. Katholische Monatsschrift für Orientierung in der gesamten Pädagogik, Donauwörth, 7, 1916, Bd. 2, Heft 12 (Dezember 1916), S. 977-989; eingegangen in: Wurzeln eines großen Lebenswerks, Bd. I, a.a.O.]. Das erstere ist nicht (mehr) nachvollziehbar, da Heidegger, wie die oben genannte Widmung zeigt, Guardinis Gegensatzlehre wohl schon in Freiburg kennenlernte, weil diese ja zu diesem Zeitpunkt bereits gedruckt erschienen war und daher weder erst in „Ferienstunden“ entstanden sein konnte noch im eigentlichen Sinne einer ruhigen tiefen Ausarbeitung ermangelte. Das letztere, der Bezug zu den Pharus-Aufsätzen, ist zwar grundsätzlich denkbar, aber eher unwahrscheinlich. Angesichts der im Ersten Weltkrieg erheblich längeren Vorlaufzeiten halte ich die Zeitspanne zwischen April 1916 und dem Erscheinen der Aufsätze im September, Oktober und Dezember 1916 für zu gering; außer man geht davon aus, dass es sich bei Guardinis Formulierung „Aufsatz“ um bereits „gedruckte Aufsätze“ handelt, was aber nicht erklärt, warum Guardini die Rücksendung des einen Aufsatzes an ihn selbst und die Weiterleitung des anderen an Roloff möchte. Eher ist daher von noch nicht veröffentlichten Aufsatz-Typoskripten auszugehen.
Gerl-Falkovitz stellt – in der Edition der Briefe an Josef Weiger (2008) [Guardini, Briefe an Josef Weiger, a.a.O., 2008, S. 182 f., Fußnote 516] - für das zweite eine Nähe zu „Vom Geist der Liturgie“ fest. Das würde dazu passen, dass er kurz darauf in dem oben angeführten Weiger-Brief die Idee des „Primats des Logos über den Ethos“ entwickelte. Allerdings wäre „Vom Geist der Liturgie“ nur in einzelnen Abschnitten als spezielle Anwendung des „lebendigen Subjekts“ anzusehen und geht weit darüber hinaus. Eher schon könnte es sich daher bei der „religions-kritischen Studie“ um eine Vorform des philosophischen Abschnitts „Primat des Logos über den Ethos“ aus „Vom Geist der Liturgie“ handeln, in dem es schließlich gerade auch um den geheimnisvollen „Geist des Katholizismus“ geht.
Dagegen möchte ich in der religions-kritische Studie, wenn es sich also nicht tatsächlich um einen frühen Entwurf des Kapitels „Der Primat des Logos über den Ethos“ handeln sollte, eher den 1918 erschienenen Artikel „Zum Begriff der Ehre Gottes“ [in: Philosophisches Jahrbuch der Görresgesellschaft, Bd. 31, 1918, 4, S. 321-332; auch in: Auf dem Wege, 1923; schließlich eingegangen in: Wurzeln eines großen Lebenswerks, Bd. I, 2000] sehen, dessen religionskritischer Ansatz durchaus erkennbar ist. Und in der speziellen Anwendung des „lebendigen Subjekts“ vermute ich den 1919 erschienenen Artikel „Zum Begriff des Berufes“ [in: Akademische Bonifatius-Korrespondenz, 35, 1919/20, 1 (1. Dezember 1919), S. 29-41; eingegangen in: Wurzeln eines großen Lebenswerks, Bd. I, 2000], in dem Guardini tatsächlich vorrangig der Frage nachgeht, wie das lebendige Subjekt zu dem ihm zugehörigen „Beruf“ kommt und dabei gleichzeitig seiner „Berufung“ von Gott her gerecht wird.
Denkbar sind aber, wie immer, auch verschollene Skripte wie jene der ebenfalls seit 1906 parallel zur Gegensatzlehre entstandenen und auf sie aufbauenden „Charakterlehre“ [Vgl. zur Charakterlehre: Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, a.a.O., S. 26. Guardini, Briefe an Josef Weiger, a.a.O., S. 38, 65, 67, 91. Guardini, Gegensatz und Gegensätze, a.a.O., S. 3, 4, 19 sowie Bericht über mein Leben „Geistige Entwicklung und schriftstellerische Arbeit“ (1943) [Guardini Archiv der Katholischen Akademie in Bayern, Nr. 152].
Aufgrund des Umstandes, dass aber die Charakterlehre gerade auch in der frühen Freiburger Zeit noch in Bearbeitung stand, ist sie für das frühe Gespräch mit Heidegger, aber eben auch für die frühen Briefe an Heidegger mit heranzuziehen.
Wenn Heidegger den einen Aufsatz, wie im Brief von Guardini gewollt, an Roloff weitergeschickt hat, könnte man Näheres über diesen Text nur über einen mir bislang unbekannten Nachlass von Roloff herausfinden. Der andere Text könnte sich rein theoretisch noch irgendwo unerkannt im Nachlass Heideggers verbergen.
Die räumliche Trennung (1915-1930)
Nun folgte eine erste längere „Pause“ in der Begegnung der beiden jungen Wissenschaftler, aus der bislang auch keinerlei Korrespondenzen oder Bezugnahmen auf den anderen in Briefen oder Typoskripten vorliegen. Dies liegt aber durchaus nachvollziehbar vor allem daran, dass es nach 1915 zu einer ständigen räumlichen Trennung kam. Während Heidegger den Ersten Weltkrieg in Freiburg bei der „Post- und Wetterbeobachtung“ (1915-1918) verbrachte, begann für Guardini in Mainz die Zeit als Militärkrankenwärter (1915-1918) und als Kaplan, zuständig vor allem für die katholische Jugendorganisation „Juventus“ (1915-1920). Während Heidegger dann von 1919 bis 1923 Assistent von Husserl in Freiburg wurde, ging Guardini 1920 zur Habilitation nach Bonn und wirkte dort nach deren Abschluss noch kurze Zeit bis 1923 als Privatdozent für Dogmatik.
Während Heidegger schließlich 1923 als außerordentlicher Professor nach Marburg ging und dort auch blieb, bis er 1928 zum Nachfolger Edmund Husserls nach Freiburg zurückberufen wurde, nahm Guardini 1923 den Ruf als Professor für katholische Weltanschauung nach Breslau mit ständigem Sitz in Berlin an. Er blieb dies bis 1939, als ihm seine Professur für katholische Weltanschauung weggenommen wurde. Das Angebot einer theologischen Professur für Dogmatik oder Fundamentaltheologie an einer noch bestehenden Theologischen Fakultät in Bonn, Breslau oder andernorts lehnte Guardini ab, äußerte stattdessen den Wunsch zukünftig als Privatgelehrter zu wirken und fragte deshalb um eine vorzeitige Emeritierung nach, die ihm als Versetzung in den Ruhestand schließlich mit würdigender Versetzungsurkunde auch gewährt wurde [Vgl. dazu meine Ausführung in: Zenz, Romano Guardini. Von der „fama mortalis“ zur Gewissheit einer historischen Ausnahmegestalt, in: Modesto/Seitschek (Hrsg.), Helfen durch die Wahrheit, a.a.O., S. 81-96, hier S. 93 f.].
Nach einem nicht verwirklichten Plan, Berlin bereits 1942 in Richtung Süden Deutschlands zu verlassen, blieb Guardini nach einem Ferienaufenthalt in Grendach im Jahr darauf – nach einem Evakuierungsaufruf für Zivilisten von Herbst 1943 – im Süden und zog bis Kriegsende 1945 zu seinem Freund Josef Weiger in das Pfarrhaus von Mooshausen.
Dagegen kehrte Heidegger zum Wintersemester 1928/29 von Marburg nach Freiburg zurück, nahm im Juli 1929 Wohnung in Zähringen und hielt am 24. Juli 1929 seine Freiburger Antrittsvorlesung „Was ist Metaphysik?“. Nachdem er 1930 eine Berufung nach Berlin abgelehnt hatte, blieb er bis 1945 ordentlicher Professor in Freiburg. Seine Rektoratszeit 1933/34 wird eigens behandelt. Für den Zeitraum von 1915 bis 1923 sind außerdem keine weiteren Aufenthalte Guardinis in Freiburg noch von Heidegger in Mainz oder Bonn belegt, anlässlich derer die beiden Studienkollegen sich hätten wiedersehen können. Das Gleiche gilt für den Zeitraum von 1923 bis 1930, in dem weder Aufenthalte von Guardini in Marburg noch Vortrags- oder sonstige Aufenthalte Heideggers in Berlin bekannt sind.
Erste eigene Auseinandersetzung und zwei persönliche Begegnungen 1930/31
Erste eigene Auseinandersetzung Guardinis mit der Philosophie Heideggers zum Jahreswechsel 1929/30
Seit der Guardini-Biographie von Hanna-Barbara Gerl aus dem Jahr 1985 wissen wir, dass in einem kleinen philosophischen Kreis an Silvester 1929/30 auf „Einladung“ Guardinis Heideggers „Sein und Zeit“ [Martin Heidegger, Sein und Zeit (Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung; Band VIII), Halle 1927] – neben Martin Bubers „Ich und Du“, Kierkegaards „Philosophischen Brocken“, Karl Mannheims „Ideologie und Utopie“ sowie Fritz Heinemanns „Neue Wege der Philosophie“ – besprochen wurden [Vgl. undatierte Einladung als Typoskript im Archiv Burg Rothenfels erhalten laut Gerl-Falkovitz, Geheimnis des Lebendigen, a.a.O., 2019, S. 204, siehe dazu Bericht in Elisabeth Wilmes-Merz, Jahre auf Burg Rothenfels. Chronik 1926-1937, Teil I, im Auftrag der Vereinigung der Freunde von Burg Rothenfels hrsg. vom Theatinerkreis im Quickborn, Typoskriptdruck o.J. (1983), S. 15]. Da sich Heinemann später zwar mit Heidegger [Fritz Heinemann, Jenseits des Existentialismus. Studien zum Gestaltwandel der gegenwärtigen Philosophie, 1957, S. 23-31], aber nicht mit Guardini auseinandersetzt, wird er hier nicht weiter besprochen.
An der Tagung nahmen 15 Gäste teil, darunter der Verfasser eines der Bücher, Fritz Heinemann , und Gustav Siewerth. Zu Siewerth wird später noch einiges zu sagen sein. Im Brief vom 6. Januar 1930 an Weiger berichtete Guardini von dieser dreitägigen philosophischen Tagung auf Burg Rothenfels über die Existenzphilosophie. Vor allem habe man sich mit Martin Heideggers Variante auseinandergesetzt. Guardinis Urteil darüber lautete: „Sehr bedeutungsvoll scheint mir diese Gedankenwelt!“[Guardini, Briefe an Josef Weiger, a.a.O., S. 308 f.]
Bislang nur ins Niederländische übersetzt publiziert, aber in der deutschen Guardini-Forschung noch nicht wirklich beachtet, wurde ein Brief Guardinis vom 11. Januar 1930 an den Philosophen und Soziologen F. F. J. Buytendijk, der ebenfalls in den dreißiger Jahren beginnt, Heidegger stärker zu rezipieren [Vgl. dazu Ralf Becker, Der Sinn des Lebens. Helmuth Plessner und F. F. J. Buytendijk lesen im Buch der Natur, in: Kristian Köchy/Francesa Michelini (Hrsg.), Zwischen den Kulturen. Plessners „Stufen des Organischen“ im zeithistorischen Kontext, Freiburg i. Br./München 2015, S. 65-90, hier S. 65 f.] und gegenüber dem Guardini bekennt:
„Ich lese über Montaigne und den Sinn der Skepsis … Und komme allmählich tief in Dostojewski hinein. Auch an Heidegger fühle ich mich langsam heran“[Im Holländischen veröffentlicht in: De rede van het hart. Correspondentie van F. J. J. Buytendijk met Romano Guardini, hrsg. von Henk Struyker Boudier, Zeist 1986, S. 85; hier zitiert nach der Kopie des deutschen Originalbriefes im Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1927].
Durch letzteren Hinweis wird deutlich, dass Guardini sich gleichzeitig zur Heidegger-Lektüre auch intensiver mit Dostojewskij zu beschäftigen beginnt. Dies kann gleich auch verständlicher machen, warum die Auseinandersetzung mit Heidegger ihren ersten Niederschlag in seinem Buch zu Dostojewskij finden wird.
Die Wieder-Begegnung in der Pfingstwoche 1930 auf Burg Rothenfels
Doch zuvor kam es auch noch zu zwei persönliche Begegnungen, deren zeitliche Einordnung und Abfolge aber aufgrund der bislang vorliegenden „Erinnerungen“ falsch vorgenommen wurde. Eine 1979 erstmals veröffentliche, durch Hans Waltmann begründete und vielfach weiterverwendete Erinnerungs-Tradition besagte nämlich:
„In Rothenfels war es auch, wie Hans Waltmann berichtete, daß Guardini zum erstenmal Heidegger begegnete. Das war 1933 – in dem Jahr, in dem Heidegger seine berüchtigte Freiburger Rektoratsrede hielt! -, irgend jemand hatte ihn zum Pfingsttreffen eingeladen. Ob sie sich damals näherkamen, wußte Waltmann nicht […]“[Hans Waltmann im Gespräch mit Walter Heist in: Romano Guardini. Der Mensch. Die Wirkung. Begegnung, 1979, S. 65].
Heidegger hatte seine Rektoratsrede am 27. Mai 1933 gehalten, das Pfingsttreffen auf Burg Rothenfels fand ab dem 4./5. Juni 1933 statt. Da die Erzählung offensichtlich nicht aus eigener Beteiligung hervorgeht, dürfte die Quelle wohl ebenfalls eine Erinnerung von Waltmanns Schwägerin Elisabeth Wilmes-Merz sein, die dann 1984 publiziert wurde [Elisabeth Wilmes-Merz, Jahre auf Burg Rothenfels 1926-1937. Erinnerungen II B und II C, hrsg. V. Theatinerkreis im Quickborn, Burg Rothenfels o.J. [1984], S. 23 f. (paraphrasiert bei Gerl-Falkovitz 2004 und ausführlicher 2019, S. 205)]. Wilmes datierte das Zusammentreffen auf den „Sommer 1933“.
„An einem Spätnachmittag im Sommer 1933 trat ein schlanker Sportler im blauen Trainingsanzug in die Türe der Kanzlei und stellte sich vor: ‚Mein Name ist Professor Dr. Martin Heidegger, kann ich Herrn Prof. Guardini sprechen?’ Ich bot ihm bejahend einen Platz an, denn ich wußte, daß ich R. Guardini auf dem Philosophenweg treffen konnte, wo er sich vor seinen Abendvorträgen konzentrierte. Im Flur stand durch glücklichen Zufall der Bruder Friedrich Dessauers, der Philosoph Philipp. Ich bat ihn, Professor Heidegger festzuhalten, bis ich mit R. Guardini kam. Diesen sah ich schon vor den nahen Steinbrüchen auf dem Rückweg und informierte ihn. Er machte mit seiner Frau eine Paddelfahrt mainabwärts und wollte im Gasthaus ‚Zum Anker’ übernachten. Als er in Erfahrung gebracht hatte, daß R. Guardini eine Tagung abhielt, war er die Burgtreppe heraufgestiegen. Man darf bemerken, daß der Existentialist als erster den Metaphysiker aufsuchte. Sie vereinbarten für den nächsten Morgen ein gemeinsames Frühstück; denn Prof. Heidegger wollte seine Frau nicht lange allein im Gasthaus lassen, und der Zeitpunkt für R. Guardinis Vortrag im Rittersaal war nahe. Für die eigentliche Begegnung bereiteten wir eine sehr schöne Frühstückstafel vor, bei der ich neben Frau Heidegger saß. Sie war sichtlich beglückt, als sich das Gespräch zwischen den beiden schöpferischen Denkern unverzüglich belebt. […] Nach dem Frühstück erläuterte R. Guardini dem Ehepaar durch seine eigene Führung die künstlerischen Ziele, die in der Kapelle und im Palas realisiert worden waren. Ihn freute der Eindruck, den die Innenarchitekturen und insbesondere die gottesdienstlichen Kunstwerke machten. Der Kontakt, der an diesem sonnigen Morgen seinen Anfang nahm, hat in der Folge viele Jahre anregend fortgesetzt“
Die Erinnerungen von Wilmes-Merz und Waltmann kranken erstens daran, dass sie von einer erstmaligen Begegnung mit Heidegger ausgehen, und zweitens, dass sie diese „erste“ Begegnung in das Jahr 1933 verlegen. Während das bezogen auf das „erstmalig“ bereits von Heidegger-Forschern in Frage gestellt wurde, wurde das „Datum“ als solches bislang nicht überprüft. Gerl-Falkovitz hatte – über Waltmann und Wilmes-Merz hinaus – bereits 1985 unter Berufung auf einer mündlichen Mitteilung von Mathilde Schütter von 1984 festgehalten:
„Guardini hatte Heidegger einmal in Rothenfels als Besuch empfangen und nach einer in Gesprächen verbrachten Nacht am nächsten Morgen gesagt: ‚Ich habe gemerkt, daß ich kein Philosoph bin’“[Gerl, Romano Guardini, 1985, a.a.O., S. 360; auch dies., Geheimnis des Lebendigen, 2019, a.a.O., S. 205].
Gerl-Falkovitz vermerkte dazu, dass es sich möglicherweise um denselben Besuch handle[Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, „Ich will nichts anderes, als die Kirche interpretieren”. Romano Guardini und Martin Heidegger – Anmerkungen zu einem latenten Gespräch, in: Die Tagespost, Würzburg, 57, 2004, 19. Juni].
Dem Besuch im Sommer 1933 stehen nun aber mehrere neue Funde aus der Guardini-Bibliothek und dem Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in München sowie seither veröffentlichten Briefwechseln Heideggers mit anderen Personen entgegen. Zunächst steht in der Guardini-Bibliothek nämlich ein Exemplar eines Sonderdrucks von Martin Heidegger, nämlich der 1929 erschienene Text „Vom Wesen des Grundes“ [Martin Heidegger, Vom Wesen des Grundes, Sonderdruck aus der Festschrift für Edmund Husserl, Halle a.d.S. Max Niemeyer Verlag 1929], mit einem einschlägigen handschriftlichen Eintrag:
Q004
Widmung Heideggers an Guardini [Guardini-Bibliothek gb 4050]
Die Widmung lautet: „Romano Guardini zur Erinnerung an das Gespräch auf der Burg, Pfingsten 1930 Martin Heidegger“
Im Archiv der Burg Rothenfels befindet sich außerdem die Kopie[Das Original habe ich bei meinen Archivaufenthalten nicht gefunden] einer Widmung Heideggers in seinem Buch „Was ist Metaphysik?“ (Bonn 1929), das er wohl einen Monat nach dem Besuch entweder der Burgverwaltung oder aber der von Romano Guardini aufgebauten Burgbibliothek zukommen ließ.
Q005
Widmung Heideggers an Guardini [Archiv Burg Rothenfels]
In der Widmung bedankt sich Heidegger für die "Aufnahme in Burg Rothenfels" und datiert mit Freiburg und "Juli 1930".
Schließlich erinnert sich Heidegger selbst in seinem Brief vom 19. Januar 1952 an ein „Nachtgespräch auf Burg Rothenfels“[Siehe unten Q 64 ] und terminiert dieses im Geburtstagsbrief 1965 eindeutig mit „Nachtgespräch auf der Burg im Jahr 1930“[Siehe unten Q 101 ].
Möglicherweise hat sich daher Heidegger an diesem Abend – nachdem Guardini seinen Vortrag gehalten und Heidegger seiner Frau Bescheid gegeben hatte – noch einmal zur Burg hinaufbegeben und gemäß der Erinnerung von Schütter mit Guardini die Nacht hindurch gesprochen, ohne dass Elisabeth Wilmes-Merz dies mitbekommen hatte. Seine Frau wäre schließlich wie vereinbart am nächsten Morgen lediglich zum Frühstück hinzugekommen. Einen weiteren Hinweis auf den genauen Besuchstermin und -umstand gibt schließlich auch noch die Erwähnung einer Bootstour auf dem Main in einem Brief von Heidegger an Rudolf Bultmann vom 26. Mai 1930:
„[…] Meine Frau und ich wollen von Pfingstmontag ab bis Ende der Woche mit unseren Freunden in Goslar auf dem Main zwischen Würzburg und Aschaffenburg paddeln. Könnten wir uns nicht bei dieser Gelegenheit in irgend einem Mainstädtchen sehen? […]“[Rudolf Bultmann/Martin Heidegger, Briefwechsel. 1925-1975, hrsg. von Andreas Grossmann und Christoph Landmesser, 2009, S. 128 f.. Pfingstmontag 1930 war der 9. Juni 1930. Mit den „Freunden aus Goslar“ ist das Ehepaar Walter und Friedel Daniel gemeint. Frau Daniel geb. Lieber war eine Schulfreundin von Elfride Heidegger.].
Diese Ankündigung passt jedenfalls zeitlich zum „Nachtgespräch“ auf der Burg von 1930 sowie zur sportlichen Paddelfahrt mainabwärts in der Erinnerung von Wilmes-Merz. Der erste Besuch Heideggers auf Burg Rothenfels fand also eindeutig zu Pfingsten 1930 statt. Dennoch bleibt es natürlich theoretisch denkbar, dass es eine zweite Mainfahrt 1933 und einen weiteren Besuch auf Burg Rothenfels im Jahr 1933 gegeben haben könnte, obwohl es dann sehr seltsam anmutet, dass in den Briefen Heideggers von 1952 und 1965 nur von dem einen Treffen 1930 die Rede ist. Ob es einen weiteren Besuch gab oder aber die Erinnerungen von Merz und Waltmann bezüglich 1933 vollständig irren, kann daher noch nicht abschließend beantwortet werden. Dazu müsste man die damalige Terminplanung Heideggers für Pfingsten und August 1933 noch genauer studieren. Die Wahrscheinlichkeit ist aber eher gering, da die möglichen Zeiträume 1933 schon mit den jetzt bekannten Terminen Heideggers als Rektor schwer zu vereinbaren sind.
Der Besuch in Zähringen (wohl 1931)
Die Beurteilung, ob und wann es 1933 einen Besuch Heideggers auf Burg Rothenfels gegeben haben könnte, hängt auch noch davon ab, wie man Guardinis Erinnerung an seinen Besuch in Zähringen terminiert. Denn Guardini schreibt Anfang 1946 in einem Brief an Heidegger:
„Es ist ja so lange her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Ich erinnere mich noch genau an den Besuch in Zähringen und an Ihr schönes Studierzimmer“[Siehe unten Q 18 ].
Diese Formulierung legt nahe, dass der Besuch in Zähringen tatsächlich das letzte Zusammentreffen war. Doch auch die Datierung dieses Besuchs ist noch nicht eindeutig geklärt. Nur wenn dieses Treffen 1933 nach einem Besuch Heideggers auf Burg Rothenfels, also im Sommer oder Herbst 1933, stattgefunden hätte, wären die Aussagen wieder miteinander kompatibel. Während nun aber Hugo Ott 1988 ohne Quellenangabe von einem Besuch „1930“ spricht[Hugo Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu einer Biographie, 1988, S. 301], verknüpft Berthold Gerner diesen Besuch erstmals „vermutlich“ mit einem Vortrag, den Guardini am 26. Juni 1931 in Freiburg über Pascal gehalten hat, genauer: „Die religiöse Krise im Leben Pascals“ bei der Akademisch-Literarischen Gesellschaft[Berthold Gerner, Romano Guardini in München, Bd. 2, München 2000, S. 8 f.]. Gerl-Falkovitz geht, allerdings ohne weitere Quellenangabe, bereits sicher davon aus, dass Guardinis Besuch in Zähringen im Anschluss an diesen Vortrag stattfand[Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, „Ich will nichts anderes, als die Kirche interpretieren”. Romano Guardini und Martin Heidegger – Anmerkungen zu einem latenten Gespräch, in: Die Tagespost, Würzburg, 57, 2004, 19. Juni; dies., Geheimnis des Lebendigen, a.a.O., S. 204].
Q006
Postkarte von Romano Guardini an Fanny Kempner (27. Juni 1931) [Privat-Archiv Gerl-Falkovitz]
Zusammenfassung wird noch erstellt
Ein Aufenthalt Guardinis in Freiburg im besagten Zeitraum ist aber außer für den Vortrag von 1931 auch noch für den 1. Februar 1933 belegbar. Dies wurde von der Heidegger- und der Guardini-Forschung bislang übersehen, obwohl es schon seit 1957 aus dem Tagebuch des 1932/33 amtierenden Rektors Joseph Sauer hervorgeht. Dort heißt es nämlich:
„1. Febr. Senatssitzung … Gleich nach der Sitzung Vortrag Guardinis über den philosophischen Grundgedanken der Divina Comedia, Hörsaal 1 mehr als überfüllt und viele noch vor der Türe. Guardini sprach sehr gewandt, etwas hoch, aber für Kenner ausgezeichnet. Nach dem Vortrag mit Guardini, Funk, Göller, Fränkel, Pringsheim und Freunden noch lange im Freiburger Hof. Der Reichstag gegen Abend aufgelöst, und wir hören Hitler durchs Radio trompeten“[Aus dem Tagebuch des 1932/33 amtierenden Rektors Joseph Sauer, in: Johannes Vincke, Freiburger Pro-fessoren des 19. und 20. Jahrhunderts, Freiburg i. Br. 1957, S. 135. Bei den genannten Personen handelt es sich um Philipp Funk, Emil Göller, Eduard Fraenkel (1888-1970) und Fritz Pringsheim (1882-1967). Der Altphilologe Fraenkel, seit 1931 Lehrstuhlinhaber in Freiburg, wurde auf ministerielle Weisung durch Martin Heidegger seines Amtes enthoben und emigrierte 1934 nach England. Pringsheim, seit 1929 Lehrstuhlinhaber für Römisches und Bürgerliches Recht, wurde wegen seiner jüdischen Abstammung nach der Abschaffung des sogenannten „Frontkämpferprivilegs“ 1935 entlassen und ist 1939 nach Oxford emigriert.]
Ob Heidegger selbst diesen Vortrag gehört hat oder gar zu den von Sauer nicht mehr namentlich genannten „Freunden“ gehörte, ist ungewiss. Zwei Tage darauf hielt Guardini denselben Vortrag über den „Sinn“ der Divina Commedia in München vor dem Deutschen Kulturbund. Aufgrund eines in einem Brief vom 26. Januar 1933 an Johannes Spörl geplanten Nachfolgetermins am darauffolgenden Morgen in Heidelberg und dem in der nachfolgenden Postkarte vom 2. Februar 1933 an Fanny Kempner erwähnten Spaziergang zum Odilienberg scheint die Zeit für einen Besuch in Zähringen am 2. Februar 1933 zwar möglich, aber eher zu knapp.
Q007
Auszug aus dem Brief von Romano Guardini an Johannes Spörl vom 26. Januar 1933 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1240]
Zusammenfassung wird noch erstellt.
Q008
Postkarte von Romano Guardini an Fanny Kempner vom 2. Februar 1933 [Pri-vat-Archiv Gerl-Falkovitz]
Zusammenfassung wird noch erstellt
Daher bleibt ein Besuch Guardinis bei Heidegger in Zähringen anlässlich seines Freiburger Vortrages über Pascal am 26. Juni 1931 die wahrscheinlichste Option. Unabhängig davon würde aber auch die Datierung des Besuchs auf Anfang Februar 1933 dies zum „letzten“ persönlichen Zusammentreffen machen und ein Treffen im Sommer oder Herbst 1933 auf Burg Rothenfels im Grunde ausschließen.
Zu Heideggers Freiburger Vortrag „Vom Wesen der Wahrheit“ (Dezember 1930)
In jedem Fall hat sich im zeitlichen Umfeld des Besuch Heideggers auf Burg Rothenfels an Pfingsten 1930 und des nachfolgenden Guardinis in Zähringen einiges an Funden für die Auseinandersetzungen Guardinis mit der Philosophie Heideggers in der Zeit vor 1933 aufgetan.
Gustav Siewerths Bericht als Druckfahne in der Guardini-Bibliothek
Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei eine Auseinandersetzung Siewerths mit Heideggers „Vom Wesen der Wahrheit“, die sich als Einlage in Heideggers Doktorarbeit in der Guardini-Bibliothek in München erhalten hat[gb 4039] und der Umstand, dass es sich dabei offensichtlich um eine mit handschriftlichen Eintragungen Guardinis versehene Korrekturfahne von einem am 23. und 27. Dezember 1930 in der „Freiburger Tagespost“ erschienenen Artikel Siewerths zu Martin Heideggers Vortrag „Vom Wesen der Wahrheit“ in der Akademisch-literarischen Gesellschaft in Freiburg handelt [Gustav Siewerth, „Vom Wesen der Wahrheit“. Zu Martin Heideggers Vortrag in der Akademisch-liter. Gesellschaft, Freiburg, Teil I und II, in: Freiburger Tagespost, 23./27. Dezember 1930]. Dieser zweiteilige Artikel ist zwar in der Freiburger Siewerth-Bibliographie enthalten, aber irrtümlich auf den „6./7. Januar 1930“ datiert, was chronologisch nicht zum erst am 11. Dezember 1930 gehaltenen Vortrag passt.
Dazu muss man wissen, dass Heidegger sich unter dem Titel „Vom Wesen der Wahrheit“ bereits seit 1926 mit dieser Frage auseinandersetzt. Als Vor-Version gilt ein Vortrag 1926 in Marburg. 1930 hat er mit diesem Titel insgesamt drei Vortragsversionen gehalten, nämlich am 14. Juli 1930 in Karlsruhe, am 8. Oktober 1930 in Bremen und schließlich eine dritte Version am 5. Dezember 1930 in Marburg und dann eben am 11. Dezember 1930 in Freiburg. Nach dem Freiburger Vortrag hielt er unter dem gleichen Titel noch im Herbst 1931 in Beuron und 1932 in Dresden weitere Vorträge. 1931/32 und 1933/34 bot Heidegger außerdem Vorlesungen zum Thema „Vom Wesen der Wahrheit“ an. Bei Siewerths Vortragsbericht geht es aber eindeutig um den Vortrag vom 11. Dezember 1930 in Freiburg.
Nicht in der Siewerth-Bibliographie enthalten, aber ebenfalls als Zeitungsausschnitt in der Heidegger-Doktorarbeit in der Guardini-Bibliothek erhalten ist seine Erwiderung Siewerths an Erich Przywara, der auf Siewerths Vortragsbericht mit einem eigenen Artikel reagiert hatte. Der Zeitungsausschnitt stammt daher wohl von Ende Januar 1931, da Przywaras Artikel „Vom Wesen der Wahrheit“ in der Ausgabe vom 17. Januar 1931 in der Freiburger Tagespost erschienen war. Da nun weder in Siewerths noch in Przywaras Artikel auf Guardini Bezug genommen wurde, sich die Korrekturen an der Druckfahne nur auf orthographische und sinnentstellende Druckfehler beziehen, die Texte also nur die Sichtweisen Siewerths und Przywaras auf Heidegger wiedergeben, kann hier auf ein ausführliches Referat dieser Beiträge verzichtet werden.
Allerdings sind die beiden Funde Beleg dafür, dass Guardini zur Jahreswende 1930/31 – wenn auch nicht persönlich, sondern durch die Berichterstattung Siewerths – Heideggers Auseinandersetzung mit dem „Wesen der Wahrheit“ kennengelernt hat. Bislang ist aber kein direkter Verweis bei Guardini auf diesen Vortrag bekannt geworden. Auch die Formulierung „Wesen der Wahrheit“ kommt in Guardinis eigenen Schriften nicht vor.
Der Kontrahent Erich Przywara
Allerdings lohnen sich einige Beobachtungen zu den beteiligten Protagonisten. Denn immerhin ist der Jesuit Erich Przywara (1889-1972) der erste Autor gewesen, der Guardinis und Heideggers philosophische Arbeit miteinander verglichen hat und dabei früh den Einfluss Georg Simmels und Edmund Husserls auf die katholische Lebens- und Existenzphilosophie erkannte. Przwyara war auf diesen ersten Nachweis später auch sehr stolz:
„Georg Simmel, Edmund Husserl, Max Scheler. Sie sind so groß und so vergessen, daß sie heute Brunnen sind, aus denen man geheim schöpft, ohne Gefahr zu laufen, daß einer diese Brunnen entdeckt. So ist Georg Simmel (wie ich früher nachwies) wesentlicher Brunnen für die Philosophie Romano Guardinis und Martin Heideggers. […]“[Erich Przywara, Simmel – Husserl – Scheler (1954), in: ders., In und gegen. Stellungnahmen zur Zeit, Nürnberg 1955, S. 33-54, hier S. 35 f. Der Beitrag erschien auszugsweise auch in: Kurt Gassen, Kurt/Michael Landmann (Hrsg.), Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie. Zu seinem 100. Geburtstag am 1. März 1958, Berlin 1958, (Neudruck)1993, S. 224-227. Er verweist im Anschluss daran auf seine „genauere Analyse“ der Eigenart der Philosophie Simmels in seinen fünf Vorlesungen „Gott“ (München 1926)].
Przywara hatte diese Analyse tatsächlich bereits im Jahr 1928 in einer Arbeit über die „Probleme der Neuscholastik“ für die „Kant-Studien“ vorgelegt und dabei verschiedene Kreise und Gruppen von Philosophen gebildet, die die Gedanken Simmels, Husserls, Diltheys, Troeltschs und Schelers jeweils weiterentwickelt hätten. Dabei erscheint Heidegger als Vertreter einer „reinen Metaphysik“ und Guardini mit seiner Gegensatzlehre als Vertreter einer „katholischen Phänomenologie“[Erich Przywara, Die Problematik der Neuscholastik, in: Kant-Studien, Berlin, 33, 1928, 1, S. 73-98, hier S. 83 ff. Bei Hans Leisegang, der diese Einteilungen Przywaras in seiner „Religionsphilosophie der Gegenwart“ (Berlin 1930) übernommen hat, ist es dabei zu einem markanten Druckfehler gekommen. Aus Przywaras Einschätzung Guardinis als „selten formstarker Denker“ wurde Guardini bei Leisegang zu einem „selten formstarren Denker“ (S. 24 mit Anmerkungen auf S. 92)].
Der Einfluss Simmels wurde bei Guardini erst wieder von Manfred Hermanns, aber auch nur in Bezug auf die Soziologie adäquat herausgestellt[Manfred Hermanns, Romano Guardini und die Soziologie, in: Renovatio, 44, 1988, 2, S. 65-81; ders., Guardinis soziologisches Denken im Berlin der Vorkriegszeit, in: Hermann Josef Schuster (Hrsg. im Auftrag der Guardini-Stiftung), Guardini weiterdenken, Berlin 1993, S. 179-192]. Auch für Heidegger gibt es nicht viele Studien[Michael Grossheim, Von Georg Simmel zu Martin Heidegger. Philosophie zwischen Leben und Existenz, Bonn/Berlin 1991; Gerhard Ehrl, Heideggers Stellung zu Simmel in der Vorlesung von 1919/20, in: Heidegger Studies, Bd. 23, Berlin 2007, S. 71-93].
Wie sehr Husserl wiederum Guardini schätzte, wurde uns bereits 1981 von Adelgundis Jaegerschmid OSB – einen Spaziergang am 20. April 1936 mit Husserl erinnernd – mitgeteilt:
„Nach dem Tee Spaziergang mit Husserl, der unsicher auf den Füßen war und sich führen ließ. Traurig sagte er: ‚Ich habe mein Vaterland verloren, ich bin ausgestoßen. Echte Philosophie ist das gleiche wie religiöse Selbstbesinnung. Wir sprachen dann über Guardini, dessen Dostojewski-Buch er sehr schätzt. Guardini gehört zu den christlichen Schriftstellern, die er verehrt und zu denen er eine innere Beziehung besitzt. Sein Buch „Der Herr“ hat er mit großer Anteilnahme gelesen. […] Husserl versicherte immer aufs neue, daß er Guardini so schätze. Heute behauptete er, in dem Buch „Spiegel und Gleichnis“, das ich ihm gegeben, habe Guardini sich wörtlich an Hedwig Conrad Martius angeschlossen“[Adelgundis Jaegerschmid, Gespräche mit Edmund Husserl 1931-1936, in: Stimmen der Zeit, 199, 1981, S. 48-58, hier S. 57 f.].
Albino Babolin verweist in seinem Aufsatz „Die religiöse Erfahrung bei Romano Guardini“ wiederum darauf, dass insbesondere Guardinis Werk „Religion und Offenbarung“ von 1958 ihn „als Phänomenologen und Theoretiker der religiösen Erfahrung“ zeige. „Guardini übernimmt Husserls Lehre als kritische Methodologie zur Erfassung der Bedeutung des religiösen Phänomens“[Albino Babolin, L´esperienza religiosa in Romano Guardini, in: Studia Patavina, Padua, 15, 1968, 2, S. 313-322; deutsch unter dem Titel „Die religiöse Erfahrung bei Romano Guardini, in: Philosophische Anthropologie, Rechtsphilosophie, Sozialphilosophie, Politische Philosophie, Religionsphilosophie, Philosophiegeschichtliche Forschung“. Akten des 14. Internationalen Kongresses für Philosophie (1968), Wien 1970, Bd. 1 ,2, S. 371-375, hier S. 372].
Zurück zu Przywara: Dieser gehörte aber auch zu den ersten Autoren, die die gemeinsamen Kierkegaard-Bezüge Guardinis und Heideggers herausstellten. So greift er in seiner eigenen Kierkegaard-Studie von 1929 sowohl Heideggers als auch Guardinis Auseinandersetzung mit Kierkegaard auf[Erich Przywara, Das Geheimnis Kierkegaards, 1929, S. V, 17, 20 f. und 23-29].
Neben ihm haben sich früh dazu geäußert:
- Hans Urs von Balthasar (1928) [Hans Urs von Balthasar, Geschichte des eschatologischen Problems in der modernen deutschen Literatur, Zürich 1930, S. 141 f., 158 und 211; dann in ders., Apokalypse der deutschen Seele. Studien zu einer Lehre von letzten Haltungen, Salzburg/Leipzig 1937-1939, Bd. 1, S. 695-734; in französischer Übersetzung: Kierkegaard et Nietzsche, in: Dieu vivant, 1, 1945, S. 55-80. Balthasar, der in Berlin Guardinis Kierkegaard-Vorlesungen gehört hatte, betont ein „Wink Guardinis“ habe ihn auf die Antithese Kierkegaard-Nietzsche aufmerksam gemacht. Vgl. zu Balthasars Beschäftigung mit Heidegger vor allem: ders., Heideggers Philosophie vom Standpunkt des Katholizismus, in: Stimmen der Zeit, 82, 1940, S. 1-8 und den Abschnitt „Heidegger und Rilke“, in: ders., Apokalypse der deutschen Seele. Studien zu einer Lehre von letzten Haltungen, Bd. 3: Die Vergöttlichung des Todes, Salzburg/Leipzig 1939, S. 193-315].
- Peter Wust (1929) [Siehe zum Beispiel Peter Wust, Die katholische Seinsidee und die Umwälzung in der Philosophie der Gegenwart, in: Max Ettlinger/Philipp Funk/Fritz Fuchs (Hrsg.), Wiederbegegnung von Kirche und Kultur. Eine Gabe für Karl Muth, München 1927, S. 127-150; Die Krisis des modernen Menschen und die Annäherung an das Christentum, in: Deutsche Rundschau, 55/220, 1929, S. 109-123; ders., Der augustinische Denktypus. Zum Vortrag Romano Guardinis in der Kantgesellschaft, in: Kölnische Volkszeitung, 9. März 1929] und
- Theodor W. Adorno (1933) [Theodor W. Adorno, Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, 1933, zu Martin Heidegger besonders S. 76f. und 93, zu Romano Guardini siehe S. 80f., 88 sowie Anmerkungen auf S. 163].
Heidegger hielt von derartigen Interpretationen seiner Arbeiten durch Przywara offensichtlich nicht viel; er bezeichnete Przywara in einem Brief an seinen Freund Rudolf Bultmann von 1929 sogar als einen „Charlatan“[Rudolf Bultmann/Martin Heidegger: Briefwechsel 1925-1975, 2009, S. 105-111: Brief von Heidegger an Bultmann vom 9. April 1929, hier S. 107; dieses harte Urteil dürfte sich wohl auf Przywaras Aufsatz über die „drei Richtungen der Phänomenologie“ beziehen, die er mit Husserl, Scheler und Heidegger identifizierte. Vgl. Erich Przywara, Drei Richtungen der Phänomenologie, in: Stimmen der Zeit, 115, 1928, S. 252-264]. Przywaras Vortrag über „Metaphysik der Endlichkeit oder Unendlichkeit“ am 14. Januar 1930 in der Akademisch-literarischen Gesellschaft in Freiburg hielt er für „miserabel“[Brief von Heidegger an Bultmann vom 15. Januar 1930, in: Bultmann/ Heidegger, Briefwechsel. 1925-1975, a.a.O., S. 123]. Und eine von Przywara gewählte Bezeichnung von Heideggers Denken als „Philosophie der Endzeit“ und als „Ende“ sowie einen dabei angestellten Vergleich mit Freud quittierte Heidegger seinem Freund Bultmann gegenüber am 2. September 1930 mit der Hoffnung, „daß Przywara wirklich seine Entdeckung versteht und fortan aufhört, über mich zu schreiben“[Brief von Heidegger an Bultmann vom 2. September 1930, in: ebd., S. 135-138. Bislang konnte ich im Werk Przywaras dieses „Zusammenbringen” von Heidegger und Freud nicht finden].
Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt, wie Przywaras Artikel vom Januar 1931 zeigt. Angesichts dieser Kritik an Przywara durch Heidegger ist es auch fraglich, ob die Einschätzung von Karl Löwith zutrifft, wenn er neben Guardini auch Przywara als einen jener katholischen Theologen benennt, der vielleicht die „katholischen“ Voraussetzungen von Heideggers Existentialontologie besser durchschauen könnten als die „andern“[Karl Löwith, Der politische Horizont von Heideggers Existentialontologie (1940, 1946), in: Sämtliche Schriften: Band 2: Weltgeschichte und Heilsgeschehen, 1983, S. 473-541, hier S. 517. Es handelt sich dabei um ein Teilkapitel von „Der europäische Nihilismus“ (1940 in japanischer Übersetzung: Yôroppa no nihirizumu (Der europäische Nihilismus), übersetzt von Shibata Jisaburo, ist zuerst in der namhaften Zeitschrift Shisô (Denken ), 1940, Nr. 220 und 221, zuletzt auch in: ders., Der Mensch inmitten der Geschichte: Philosophische Bilanz des 20. Jahrhunderts, hrsg. von Bernd Lutz, 2016, S. 91; auch in: ders., Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933: Ein Bericht, hrsg. von Franz-Rutger Hausmann, 2016, S. 31 f.].
Löwiths Einordnung lautet im Kontext:
„Wodurch er zunächst auf uns wirkte, war nicht die Erwartung eines neuen Systems, sondern gerade das inhaltlich Unbestimmte und bloss Appellierende seines philosophischen Wollens, seine geistige Intensität und Konzentration auf „das Eine was not tut“. Erst später wurde uns klar, dass dieses Eine eigentlich nichts war, eine pure Entschlossenheit, von der nicht feststand Wozu? „Ich bin entschlossen, nur weiß ich nicht wozu“, hieß der treffliche Witz, den ein Student eines Tages erfand. Der innerliche Nihilismus dieser nackten Entschlossenheit vor dem Nichts war zunächst durch Züge verdeckt, die an eine religiöse Bekümmerung denken ließen, und in der Tat hatte sich Heidegger damals noch nicht entschieden von seiner theologischen Herkunft gelöst. Aus dieser Freiburger Zeit erinnere ich mich, auf seinem Schreibtisch Bilder von Pascal und Dostojewski gesehen zu haben, und in einer Ecke des zellenartigen Zimmers hing eine expressionistische Kreuzigung. Weihnachten 1920 schenkte er mir Thomas a Kempis DE IMITATIONE CHRISTI. Noch 1925 schien ihm geistiges Leben nur in der Theologie vorhanden, bei Barth und Gogarten. Am vertrautesten stand er damals mit Bultmann, mit dem er ein Seminar über den jungen Luther abhielt. Es war keine geringe Zumutung an die Studenten der Theologie, die pseudochristlichen Kategorien von Heideggers Existenzialontologie zusammenzubringen mit ihren diversen Theologien. Den Schlüssel für Heideggers gottlose Theologie finde ich in einem Brief von 1921, wo er sein „ich bin“ oder seine „historische Faktizität“ damit bezeichnet, daß er – in Anführungszeichen – „christlicher Theologe“ (sic!) sei, und darin liege „radikale Selbstbekümmerung und zugleich Wissenschaftlichkeit“; denn die wissenschaftliche Strenge des begrifflichen Forschens akzentuiere seine faktische Existenz, die ihm darum als „Faktizität überhaupt“ zum Problem werde. Die Wenigsten von uns vermochten diesen Zusammenhang von persönlichem Pathos und begrifflicher Leidenschaft existentiell zu begreifen. Am ehesten wurde das wohl von katholischen Theologen wie Przywara und Guardini verstanden, die Heideggers Voraussetzungen besser als wir andern durchschauten. Aus Luther stammte auch das unausgesprochene Motto seiner Existenzialontologie: „Unus quisque robustus sit in existentia sua“, was sich Heidegger ohne den Glauben an Christus damit verdeutschte, dass er immer wieder betonte, es komme nur darauf an, „dass jeder das macht, was er kann“, auf „das je eigene Sein-können“ oder die „existentielle Beschränkung auf die eigene historische Faktizität.“ Dieses Können nahm er zugleich als ein Müssen in Anspruch oder als „Schicksal“.“
Exkurs: Die „katholischen“ Schüler und Hörer Martin Heideggers mit Verbindung zu Romano Guardini
Neben Przywara und Guardini hätte von Löwith hier allerdings auch auf die zahlreichen „katholischen“ Hörer und Schüler Heideggers verwiesen werden können, zumal auf diejenigen, die gleichzeitig auch persönliche und inhaltliche Verbindungen zu Romano Guardini hatten. Max Müller lehnte zwar zu Recht die Rede von der Existenz einer „Katholischen Heidegger-Schule“ ab [Müller/Vossenkuhl, Auseinandersetzung als Versöhnung, a.a.O., S. 78] und wehrte sich daher auch gegen das ebenfalls von Przywara bereits 1940 geprägte Schlagwort[Erich Przywara, Die Reichweite der Analogie als katholische Grundform, in: Scholastik, 15, 1940, S. 339-362 und 508-532, hier S. 340; dann in ders., Schriften III, S. 247-301].
Aber wie Bernhard Casper aufgrund der Quästurakten des Universitätsarchivs Freiburg herausgefunden hat, gehörten allein im Wintersemester 1928/29 zu den 232 Hörern, die Heideggers Vorlesungen „Einleitung in die Philosophie“ besucht hatten, zahlreiche Katholiken[Bernhard Casper, Die Zeitigung des Leibes in der Diachronie des „pour l´ autre“, in: Archivio di filosofia, Band: Incarnazione, hrsg. von Marco Olivetti, Padua 1999 S. 159–170, hier S. 160, Fußnote 4]. Zu nennen sind davon in unserem Kontext:
- Max Müller
- Eugen Fink (1905-1975)
- Gustav Siewerth (1903-1963) und
- der spätere Freiburger Fundamentaltheologe und Erzbischof Eugen Seiterich.
Damit sind mit Max Müller, Gustav Siewerth (1903-1963) und Eugen Seiterich (1903-1958) gleich drei Heidegger-Schüler benannt, die auch eng mit Romano Guardini verbunden waren [Siehe für Seiterich: Eugen Seiterich, Die logische Struktur des Typusbegriffes bei William Stern, Eduard Spranger und Max Weber, Freiburg i. Br. 1930, in der er sowohl auf Heideggers „Sein und Zeit“ als auch auf Guardinis „Der Gegensatz“ verweist].
Hinzukommen aber noch:
- der – neben Heidegger und Erzbischof Gröber – „dritte Meßkirchner“, Bernhard Welte (1906-1983) [Vgl. zum Heidegger-Bezug: Bernhard Casper, Bernhard Welte und Martin Heidegger. Zur Stellung Bernhard Weltes im christlichen Denken des 20. Jahrhunderts, in: Klaus Hemmerle (Hrsg.), Fragend und lehrend den Glauben weit machen. Zum Werk Bernhard Weltes anlässlich seines 80. Geburtstages, München 1987, S. 12-28; zu Romano Guardini siehe hingegen Bernhard Welte, Rezension zu: Guardini, Der Engel in Dantes Göttlicher Komödie, in: Oberrheinisches Pastoralblatt, Karlsruhe, 40, 1938, 6 (Juni 1938), S. 168-170 und meist übersehen: Bernhard Welte, La position de la théologie en Allemagne dans le cadre de la philosophie actuelle, in: Catholicisme allemand, Paris 1956, hier S. 540 und 551; dann ebenfalls in französischer Sprache aufgenommen in: ders., Theologische Schriften, hier S. 123 und 130; zu Weltes eigenem, an beiden Maß nehmenden religionsphilosophischen Ansatz neuerdings Markus Endres, Zu Bernhard Weltes (* 1906 in Meßkirch, + 1983 in Freiburg i. Br.) religionsphilosophischer Deutung des menschlichen Daseins, in: Peter Häger/Jakobus Kaffanke OSB (Hrsg.), Beuroner Forum. Edition 2018/2019, 2019, S. 59-77], sodann
- die Jesuiten:
- Johannes Baptist Lotz SJ (1902-1993)[Zu Romano Guardini siehe schon früh: Johannes Baptist Lotz, Rezension zu: Guardini, Das Wesen des Christentums, in: Katholische Bibelbewegung, Stuttgart, 6, 1939, 1, S. 37; ders., Rezension zu: Guardini, Zu Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins, in: Scholastik, Freiburg, 17, 1942, 1, S. 100-103]
- Alfred Delp SJ (1907-1945)[In seinem 1935 erschienenen Buch über die Philosophie Heideggers bezieht Delp Guardini ausdrücklich in seine Auseinandersetzung mit Heidegger ein. Er verweist dabei sowohl auf Guardinis Kierkegaard- als auch auf seine Dostojewskij-Studien und übernimmt dabei Guardinis Interpretation vom „Bloß-Endlichen“ und vom „Titanischen Finitismus“, siehe Alfred Delp, Tragische Existenz. Zur Philosophie Martin Heideggers, 1935, zu Romano Guardini siehe S. 108 und 110; wieder in: ders., Gesammelte Schriften, Band II: Philosophische Schriften, Frankfurt am Main 1983, S. 39 ff.] und
- Karl Rahner SJ (1904-1984)[Vgl. zu Heidegger: Karl Rahner im Gespräch mit Meinold Krauss, 1991, S. 31 und Andreas R. Batlogg, Der Denkweg Karl Rahners: Quellen, Entwicklungen, Perspektiven, 2003, S. 73 f. Mit Ausnahme dieses Theorems vom "Ende der Neuzeit" und einiger weniger anderer Bruchstücke findet aber bei Rahner keine wirkliche Rezeption des Werkes Guardinis statt, auch nicht als Rahner Nachfolger Guardinis auf dessen Münchener Lehrstuhl wurde].
Rahner entstammte einer Reihe von Heidegger-Schülern, die gleichzeitig über Quickborn oder Bund Neudeutschland der von Guardini geprägten katholischen Jugendbewegung angehörten. Zu nennen sind hier:
- Robert Scherer (1904-1997) [Zur Biographie des bislang wenig beachteten Robert Scherer vgl. Bruno Steimer, Bibliotheca Theologica Internationalis. Internationale Aktivitäten des Verlages Herder im Spannungsfeld von Wissenschaft und Ökonomie, in: Johannes Wischmeyer/Claus Arnold (Hrsg.), Transnationale Dimensionen wissenschaftlicher Theologie, 2013, S. 153-168, hier S. 156 f. sowie Müller/Vossenkuhl, Auseinandersetzung als Versöhnung, a.a.O., S. 166; zu seiner Auseinandersetzung mit Guardini und Heidegger siehe Robert Scherer, Das Symbolische. Eine philosophische Analyse, in: Philosophisches Jahrbuch, Fulda, 48, 1935, S. 210-257, zu Romano Guardini siehe S. 249, 251 f. und 255; ders., Besuch bei Heidegger, in: Wort und Wahrheit, 2, 1947, 12, S. 780-782; ders., Martin Heidegger und der wahre Thomismus, in: Wort und Wahrheit, Freiburg/Wien, 4, 1949, 9 (September 1949), S. 680-686].
- Max Müller (1906-1994) und
- Fritz Leist (1913-1974) [Zu Heidegger vgl. Fritz Leist, Der Mensch im Bann der Bilder, 1962, S. 9; ders., Heideggers Fragen an die Theologie, in: Eckart, 21, 1951, S. 147-151; ders., Existenz im Nichts. Versuch einer Analyse des Nihilis-mus, 1961; ders., Heidegger und Nietzsche in: Philosophisches Jahrbuch, Bd. 70, München 1962/63, S. 363-394; zu Romano Guardini siehe ders., Können wir noch Christen sein? Romano Guardini erhält den Friedenspreis des deutschen Buchhandels, in: Münchner Merkur, 1952, 230, 24. September, S. 8; ders., Um die Überwindung der Neuzeit. Zur geschichtsphilosophischen Konzeption im Werk Romano Guardinis, in: Philosophisches Jahrbuch der Görresgesellschaft, Fulda, 62, 1953, 1. Halbband: Deutung der Gegenwart, S. 60-85; ders., Er war der Wegbereiter des Konzils, in: Münchner Merkur, 1968, 3. Oktober; wiederabgedruckt in: Helmut Zenz (Hrsg.): Deuter der christlichen Existenz. Nachrufe – Erinnerungen – Würdigungen. Romano Guardini zum 50. Todestag. Mit einer aktuellen Würdigung von Hans Maier, Mainz 2018, S. 79-81].
Schließlich muss hier zumindest auch noch Ernesto Grassi (1902-1991) erwähnt werden[Einiges bislang wenig Bekannte zum Verhältnis von Grassi zu Guardini und Heidegger findet sich bei Robert Josef Kozljanič, Ernesto Grassi. Leben und Denken, 2003 und bei Wilhelm Büttemeyer, Ernesto Grassi, 2009]. Es wäre eine eigene Studie wert, die vernetzte Beeinflussung dieser jungen Philosophen durch Guardini und Heidegger nachzuzeichnen.
Aufgrund ihrer biographischen Bezüge zwischen Romano Guardini und Martin Heidegger werden im Folgenden von diesen „katholischen“ Schülern nur Gustav Siewerth und weiter unten Max Müller näher betrachtet.
Der Berichterstatter Gustav Siewerth
Gustav Siewerth hatte nach einem Philosophie- und Psychologie-Studium an der Universität Frankfurt und nach seinem 1924 abgeschlossenen „Philosophicum“ am Theologischen Seminar in Fulda, von 1926 bis 1930 in Freiburg an der Albert-Ludwigs-Universität bei Martin Honecker, Martin Heidegger und Edmund Husserl Philosophie gehört und 1930 mit einer Arbeit über „Die Metaphysik der Erkenntnis nach Thomas von Aquin in Freiburg“ zum Dr. phil. promoviert. Nach einem Forschungsauftrag der Forschungsgemeinschaft der deutschen Wissenschaft über die Thematik „Der Gottesgedanke in der Entwicklung des jüngeren Hegel“ erhielt Gustav Siewerth 1932 die Habilitationsgenehmigung der Universität in Frankfurt am Main. 1933 scheiterten seine Habilitation und seine Berufung als Professor am Lyceum Hosianum in Braunsberg aber aufgrund der politischen Verhältnisse. Schließlich konnte Siewerth sich erst 1937 mit der Schrift „Die Apriorität der Erkenntnis als Einheitsgrund der philosophischen Systematik nach Thomas von Aquin“ an der Universität Freiburg habilitieren. Aber auch hier wurde ihm zunächst die Übertragung einer Dozentur verweigert. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg mit Genehmigung durch die Militärregierung wurde er zum Professor für Philosophie und Pädagogik sowie zum Direktor an der Pädagogischen Hochschule Rheinland, Abteilung Aachen, berufen. 1961 wurde Gustav Siewerth Gründungsrektor und Professor für Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg im Breisgau.
Zum „Consensus und Contrarium“ im Denken von Siewerth und Heidegger hat bereits 1964 Heribert Heinrichs einiges herausgearbeitet[Heribert Heinrichs, Gustav Siewerth und Martin Heidegger, Consensus und Contrarium in ihrem Denken, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 40. 1964, S. 135-145], und auch Karl Rahner hat sich mit dem „biographisch-systematischen“ Verhältnis der beiden Denker beschäftigt[Karl Rahner, Gustav Siewerth y Martin Heidegger. Una discutida relacion biografico-sistematica, in: Pensamiento, 52, 1996, S. 115-126].
Besonders Siewerth hatte versucht Heideggers „Existenzialismus“ mit dem „Thomismus“ in Verbindung zu bringen. Dies wird insbesondere in Siewerths Schrift „Der Thomismus als Identitätssystem“ deutlich. Siewerth stellt selbst die Wege des Einflusses auf seine Doktorarbeit sowie frühere und spätere Arbeiten über metaphysische Fragestellungen dar:
„Betrachtet man nun den von M. Heidegger ausgearbeiteten Stand der Seinsfrage, so läßt sich ohne Zweifel eine zu tiefstem Dank verpflichtende fundierende Anregung feststellen für das zentrale Thema der Dissertation, die den sinnlichen Erkenntnisakt erörterte und für das „In-der-Welt-Sein“ von „Sein und Zeit“ die metaphysische Begründung durch die habituell vollendete Unmittelbarkeit des sinnlichen Gewahrens aus thomistischen und aristotelischen Prinzipien beibrachte. Dieses „gestimmte“ „In- der-Welt-Sein“ hat der Verfasser als „Sein in der Wahrheit“ und „im Guten“ in den transzendentalen Dimensionen der apriorisch verfaßten, habituell durch die intelligiblen und sittlichen Prinzipien ermächtigten „Natur“ tiefer ausgefaltet. Dies geschah in mehreren seiner philosophischen und pädagogischen Arbeiten. Besondere Erwähnung verdienen hier die „Metaphysik der Kindheit“ und der Aufsatz über „Reife und Begabung in metaphysischer Sicht und Deutung“. Denn hier wurde in der Konzeption des „Reife-“ oder „Wohnrings“ des Herzens die „Gestimmtheit“ aus der welthaft waltenden, die göttliche Tiefe des Seins exemplarisch repräsentierenden „zeugenden Liebe“ zum erweckenden, einstimmenden, sammelnden und spannenden Ruf der mögend – vermögenden „Natur“, die nur in dieser Eröffnung und Transzendenz in den innerlich „incarnierten Wohnraum“ ins Reifen kommt. Bei diesen Arbeiten stand der Verfasser [25] in der metaphysischen Vertiefung thomistischer Lehren in dauerndem inneren Gespräch mit Martin Heidegger“[Gustav Siewerth, Der Thomismus als Identitätssystem (1939), in: ders., Gesammelte Werke, 1979, S. 24].
Auch nach 1954 bleibt ihm dieses „Maßnehmen“ an Heidegger ein zentrales Anliegen. So gibt es in seinem Kommentar zu der von ihm neu herausgegebenen Schrift Thomas von Aquins „Die menschliche Willensfreiheit“ (1954) einen eigenen Abschnitt „Die Öffnung der Problematik auf Martin Heidegger. Wegen, Wägen, Wagen“[Thomas von Aquin, Die menschliche Willensfreiheit, hrsg. von Gustav Siewerth, 1954, S. 73 f.]. Laut Alma von Stockhausen in ihrer Einleitung zu Siewerths „Das Schicksal der Metaphysik von Thomas zu Heidegger“ wird Siewerths „Versuch, das von Heidegger beschriebene weltgeschichtliche Schicksal der „Irre“ als christliches Ereignis zu begreifen und zu überwinden“, von Heidegger allerdings abgelehnt, da es für diesen „die Frage der persönlichen Freiheit oder Schuld eines für sich gesetzten Subjekts, unabhängig von der je und je sich ereignenden Seinsgeschichte“ nicht gebe und somit auch „die Frage nach Überwindung des Schicksals durch menschliches Bemühen irrelevant“ werde [Gustav Siewerth, Das Schicksal der Metaphysik von Thomas zu Heidegger, Einsiedeln 1959; (Neuausgabe: Gesammelte Werke, Band 4)1987, S. 21]. Auch diese Versuche Siewerths blieben von Seiten Heideggers ohne Antwort. Auch auf seinen Hochland-Aufsatz „Martin Heidegger und die Frage nach Gott“ von 1961 gab es von Heidegger selbst keine Reaktion[Gustav Siewerth, Martin Heidegger und die Frage nach Gott, in: Hochland, 53, 1961, S. 516-526, hier S. 525 f.; auch in: ders., Grundfragen der Philosophie im Horizont der Seinsdifferenz, Düsseldorf 1963, S. 245-259, hier S. 259; und in: ders., Gott in der Geschichte, Düsseldorf 1972 (Siewerth: Gesammelte Werke; Bd. 3), S. 290].
In Bezug auf Guardini ist neben den hier verhandelten Episoden auf Burg Rothenfels 1929/30 und zum Heidegger-Vortrag 1930/31 zu erwähnen, dass Siewerth sich 1933 sehr kritisch mit Guardinis Deutung des „Großinquisitors“ auseinandergesetzt hat. Dies schlug sich in einem offenen Brief an Guardini nieder, der in den „Schildgenossen“ abgedruckt wurde. Dabei kritisierte er zunächst Guardinis Rede von den „bösen Maßlosigkeiten Dostojewskijs“. Außerdem hielt er es für gefährlich, dass Guardini in seiner Deutung bewusst gegen die Sinnrichtung des Werkes „die Legende mit römisch-katholischen Kategorien“ analysiere [Gustav Siewerth, Zur Deutung des Großinquisitors, in: Schildgenossen, 12, 1933, 5, S. 195-202, hier S. 196. Siewerth liefert 1939 und 1941 drei weitere Beiträge für die Schildgenossen, so: ders., Über die Bedeutung und Funktion des Primates in der geschichtlichen Wirklichkeit der christlichen Wahrheit: Ein Brief an Hermann Herrigel, in: Die Schildgenossen, 18, 1939, S. 16-32; ders., Das Gebet in der Ordnung des täglichen Lebens, in: Die Schildgenossen, 18, 1939, S. 289-298; ders., Hinweis auf die Dichtung Orpheus und Eurydike, in: Schildgenossen, 20, 1941, 3, S. 117-119]. Auf sechs weiteren Seiten lieferte Siewerth seine eigenen Interpretationen und möchte dadurch von Guardini aus seiner Sicht nicht berücksichtigte Fragen beantworten. Interessanterweise – und eher unüblich – hat Guardini Siewerth den Brief nicht öffentlich beantwortet; ob es eine persönliche Antwort an Siewerth gab, ist bislang nicht bekannt.
Siewerths Haltung zu Guardini bleibt auch nach 1945 ambivalent. In seinem Aufsatz über die „Gegenwartsphilosophie in Deutschland“ von 1950 charakterisierte Siewerth Guardinis Werk recht positiv: Es sei „für diese liebevolle, hellsichtige Offenheit kennzeichnend, die hiebei für die eigene Theologie und Philosophie der gläubigen Existenz die ganze Breite geistiger Erfahrung gewinnt“[Gustav Siewerth, Gegenwartsphilosophie in Deutschland, in: Wissenschaft und Weltbild, Wien, 3, 1950, S. 129-131 und S. 181-183, hier S. 181]. Dagegen kritisierte Siewerth 1958 und 1961 Guardinis „Grundlegung der Bildungslehre“[Gustav Siewerth, Wagnis und Bewahrung. Zur metaphysischen Begründung des erzieherischen Auftrages, Düsseldorf 1958, S. 73-75; ders. Bildung und Glaube, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 37, 1961, S. 81-113, zu Romano Guardini siehe S. 89 f. Vgl. zur Kritik der Kritik: Reinhold Mühlbauer, Der Begriff „Bildung“ in der Gegenwartspädagogik, 1965, S. 203-205; Berthold Gerner, Guardinis Bildungslehre. Beiträge zur Wirkungsforschung, 1985, S. 65]; und zwar so fundamental, dass Guardini dies wohl als „Integralismus“ wahrgenommen hat. So zumindest erscheint es in einem Brief von Balthasar an Siewerth im Jahr 1958. Anlässlich eines eigenen Vortrags am 24. November 1958 besuchte Balthasar Guardini mit dem Ziel, seinen Freund Gustav Siewerth als Kandidat für die Neubesetzung des Dempf-Lehrstuhls zu protegieren. Der Versuch, das Votum Guardinis zu gewinnen, scheiterte jedoch, nachdem der in Münchener Berufungsfragen durchaus einflussreiche Guardini nach Siewerths Angriff auf seine pädagogischen Schriften gegen ihn votierte. Balthasar berichtet Siewerth daher in einem Brief vom 28. November 1958: „Guardini nannte Sie einen ‚Integralisten’, ich redete ihm das Wort aus, aber ich musste zittern, als ich an die grollenden Gewitter des Buches dachte“[Manfred Lochbrunner, Hans Urs von Balthasar und seine Philosophenfreunde, Würzburg 2005, S. 151 f.].
Schließlich stellte damals die Fakultät in der Dreierliste Josef Pieper auf Platz eins, Max Müller auf zwei und Gustav Siewerth auf drei. Nachdem Pieper nach langem Zögern absagte, wurde im Sommer 1959 Max Müller nach München berufen.
So blieb das Verhältnis zu Guardini und zu Heidegger gleichermaßen und in beiden Fällen bis zum frühen Tod Siewerths 1963 ein „gespanntes“ und ein von Missverständnissen und Einseitigkeiten geprägtes.
Guardinis vertiefte Einarbeitung in Heideggers Philosophie
Ein weiterer Brief an Buytendijk (1931)
Aufgrund dieser Funde in der Guardini-Bibliothek wird nun aber die ergänzende Äußerung zu Heidegger in Guardinis Brief an Buytendijk vom 11. März 1931 nicht mehr nur als „zukünftiger Plan“, sondern als „begleitende Beschreibung“ zu lesen sein:
„[…] Ich möchte nun versuchen, mich in die Philosophie Heideggers einzuarbeiten – der ja von anderer Seite, das heraufhebt, was auch bei Nietzsche das Entscheidende ist: die bloße, mit sich allein seiende Endlichkeit. Ein schweres Problem, mit dem ganzen Kämpfen und Leiden und Sündigen des Abendlandes beladen. Aber hier wird sich die Kraft des Christlichen zu bewähren haben. Ich meine so: Es wird zu sehen sein, was die blosse Endlichkeit bedeutet, und inwiefern wirklich die „absoluten Positionen“ destruiert sind. Dieses Ganze als „Existenz“, d.h. als konkretes, mit dem Accent des persönlichen Heilsschicksals und der persönlichen Entscheidungsnotwendigkeit des Denkenden belastetes Wirklichkeitsgewebe (nicht als blosse Idee, oder Struktur, oder System) zu nehmen sein. Dann gilt es, zu sehen, was das ganz rein und ungebrochen genommene Christentum, die christliche Wirklichkeit dazu zu sagen haben hat. Und da scheinen in einer sehr tief liegenden z. T. verborgen laufenden Tradition des Abendlandes (der Philosophia und Theologia cordis) und im Osten sehr bedeutsame Ansätze zu liegen, die voranführen können. […]“ [Im Holländischen veröffentlicht in: De rede van het hart. Correspondentie van F. J. J. Buytendijk met Romano Guardini, hrsg. von Henk Struyker Boudier, Zeist 1986, S. 87 f.; hier zitiert nach der Kopie des deutschen Originalbriefes im Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1927].
Ein Tagebucheintrag vom Juni 1932
Q009
Immer wieder „im Gehen“ gewinnt Guardini entscheidende Erkenntnisfortschritte in der Auseinandersetzung mit Heidegger. Nach dem Besuch des Gottesdienstes in Sils-Maria am Sonntag, den 12. Juni 1932 bei denen die „Epistel von Dedicatio“ gelesen worden seien, kommen ihm auf dem Nach-Hause-Weg die entscheidenden Gedanken für seine „Lehre vom christlichen Dasein“. Er empfindet dies als ein Geschenk. In seinem Gedankengang gelingt ihm auch die „Aufnahme“ der „ganzen Arbeit“ Heideggers:
Auszug aus dem Tagebuch Romano Guardinis (Eintrag vom 12. Juni 1932) [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. …???]
Eine Zusammenfassung wird noch erstellt
Die „bloße Endlichkeit“ – Guardinis Exzerpt aus Heideggers „Was ist Metaphysik?“
Gerl-Falkovitz weist seit 2004 auf einen „sechsseitigen maschinenschriftlichen Teilentwurf zur noch ungedruckten ‚Anthropologie’ oder – später teiledierten – ‚Existenz des Christen’, welcher Entwurf sich in den sonstigen Typoskripten zur Anthropologie nicht findet“ hin. Er trägt den Titel „Der Zustand des Gefallen-seins. 1. Die bloße Endlichkeit“ und liegt als Typoskript Nr. 86 mit der Seitennummerierung 46 bis 51 im Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern. Darin geht Guardini ausführlich auf Heideggers Freiburger Antrittsvorlesung „Was ist Metaphysik?“ vom 24. Juli 1929 ein. In ihrem Buch von 2019 wird der Text von Gerl-Falkovitz erstmals veröffentlicht. Der Text ist mittlerweile auch in der italienischen Gesamtausgabe und befindet sich auch für die deutsche Werkausgabe zur Anthropologie, herausgegeben durch Alfons Knoll in Vorbereitung. Die Seitenzahlen im Text von Guardini beziehen sich auf die Erstausgabe: Was ist Metaphysik? (Frankfurt 1929).
Q010
Romano Guardini: Typoskript „Der Zustand des Gefallen-Seins“ [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 86]
Zusammenfassung wird noch erstellt
Auch an einigen weiteren Stellen der Typoskripte aus dem Umfeld von Guardinis Anthropologie-Kolleg (1932/39) finden sich noch einzelne Bezugnahmen auf Heidegger, so auf seine Rede von der „Grenze“ und Guardinis Rede vom „tragischen Heroismus“ bei Heidegger und Jaspers und vom „unmittelbaren Eschatologismus" bei Hölderlin, Rilke, Kierkegaard, Nietzche und Heidegger. Diese Verweise sind über die italienische Übersetzung seit 2009 bereits zugänglich[Romano Guardini, L´ uomo. Fondamenti di una antropologia cristiana, Brescia 2009 (Opera omnia, Band III/1.), S. 109, 216 und öfters].
Die „bloße Endlichkeit“ in Guardinis Dostojewskij-Buch „Der Mensch und der Glaube“ (1932)
Die exzerpierten Gedanken Heideggers zur „bloßen Endlichkeit“ aus „Was ist Metaphysik?“ finden inhaltlich erstmals Aufnahme in Guardinis Studien zu den religiösen Gestalten in Dostojewskijs Werk, die Ende 1932 erstmals unter dem Titel „Der Mensch und der Glaube. Versuche über die religiöse Existenz in Dostojewskijs großen Romanen“ als Buch erschienen und so auch in die zweite Auflage unter dem Titel „Religiöse Gestalten in Dostojewskijs Werk“ eingegangen sind. Der Großteil des Inhaltes dieses Buches lag bereits für die vier Vorträge über „Die religiöse Existenz in Dostojewskijs Romanen“ beim Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt vom 11. bis 14. Februar 1931 vor. Einladender Direktor des Hochstifts war damals der deutsche Literaturhistoriker Ernst Beutler (1885-1960). Es gab dazu eine sehr ausführliche Berichterstattung in der Rhein-Mainische Volkszeitung vom 17. bis 20. Februar 1931 und auch in der Frankfurter Zeitung durch Dolf Sternberger (1907-1989), der just in diesem Jahr bei Paul Tillich mit einer Arbeit über Martin Heideggers „Sein und Zeit“ promoviert hatte[d. s. (Dolf Sternberger), Ein geistlicher Redner vor weltlichen Hörern (zu den vier Vortragsabenden vom 11. bis 14. Februar 1931 im Frankfurter „Freien Deutschen Hochstift“ über „Die religiöse Existenz in Dostojewskijs Romanen“), in: Frankfurter Zeitung, Frankfurt am Main, Reichsausgabe, 1931, Nr. 144-146 (24. Februar 1931), S. 14].
Schon beginnend in der März/April-Ausgabe der Schildgenossen 1931 wurden diese vier Vorträge in den nächsten Heften abgedruckt[Romano Guardini, Die religiöse Existenz in Dostojewskijs großen Romanen, in: Die Schildgenossen, 11, 1931, 2 (März/April 1931), S. 98-130; 3 (Mai/Juni 1931), S. 193-228, 4 (Juli/August 1931), S. 316-351; 5 (September/Oktober 1931), S. 420-451]. Nicht in die Buchausgabe übernommen und daher auch nicht wieder über eine Werkausgabe zugänglich ist dabei die Einleitung zu dieser Aufsatzreihe unter dem Titel „Untergehende christliche Werte“[Romano Guardini, Untergehende christliche Werte. Zu der Aufsatzreihe über religiöse Gestalten in den Werken Dostojewskijs, in: Die Schildgenossen, 11, 1931, 2 (März/April 1931), S. 97-98].
In diesen Schildgenossen-Aufsätzen ist aber das sechste Kapitel mit dem oben genannten Passus noch nicht enthalten gewesen. Es findet sich auch nicht bei den Teilen, die Guardini im Rahmen der Salzburger Hochschulwochen vom 3. bis 22. August 1931 bei seinem Kursus „Die religiöse Existenz in Dostojewskijs großen Romanen“ verwendet hat[(Ankündigungen), in: Der Katholische Gedanke, München, 4, 1931 = Mitteilungen des Katholischen Akademiker-Verbandes, 1931, Heft 32, S. 325 f.: „Die Salzburger Hochschulwochen vom 3. bis 22. August 1931 in Salzburg – Dozenten und Themata: … Romano Guardini von der Universität Berlin: Die religiöse Existenz in Dostojewskijs großen Romanen – vom 17. bis 22. August (6 Tage). Dozenten: … Guardini“]. Mitunter erscheint dieser Salzburger Kursus auch unter dem Titel „Die religiöse Wirklichkeit bei Dostojewski“[Aufruf für die Salzburger Hochschulwochen vom 3. bis 22. August 1931, in: Der Katholische Gedanke, München, 4, 1931, S. 117 ff., zu Romano Guardini siehe S. 121: „Romano Guardini von der Universität Berlin: Die religiöse Wirklichkeit bei Dostojewski“].
Übersehen wurde bisher, dass bereits 1931 in der Gesamtdokumentation der Hochschulwochen eine ausführliche Zusammenfassung über Guardinis Vorlesung steht, aus der man aber ebenfalls ablesen kann, dass das sechste Kapitel des Buches in Salzburg 1931 noch nicht herangezogen wurde[Die ersten Salzburger Hochschulwochen. Aufriß und Gedankengänge der Vorlesungen, eingeleitet und herausgegeben von Alois Mager, Salzburg 1931, zu Romano Guardini siehe S. 31 f. und S. 157-168]. Guardini fand auch für diese Vorträge eine durchaus beeindruckende Resonanz. Besonders herausstechend sind dabei die namentlich gekennzeichneten Berichte von Gottfried Hasenkamp (1902-1990) im „Münsterischen Anzeiger“, von Josef Stürmann (1906-1959) in der „Kölnischen Volkszeitung“, von Karl Holzamer (1906-2007) in der „Rhein-Mainischen Volkszeitung“, von Eugen Kogon (1903-1987) in der „Schöneren Zukunft“, von Hugo Lang OSB für die „Münchener Neuesten Nachrichten“ sowie von Max von Brück für die „Augsburger Postzeitung“. Schließlich muss noch der „Schildgenossen“-Bericht von Gerta Krabbel erwähnt werden.[Gottfried Hasenkamp, Die Salzburger Hochschulwoche, Der dritte Kursus, in: Münsterischer Anzeiger, Münster/Westfalen, 1931, Nr. 886 (28. August 1931); Josef Stürmann, Die Salzburger Hochschultagung, in: Kölnische Volkszeitung, Köln, 1931, Nr. 407 (29. August 1931); Karl Holzamer, Katholische Laienbil-dung im Lichte der Salzburger Hochschulwochen, in: Rhein-Mainische Volkszeitung, Frankfurt am Main, 1931, Nr. 207 (6. September 1931); Eugen M. Kogon, Die Salzburger Hochschulwochen, in: Schönere Zukunft, Wien, 6, 1930/31, 50 (13. September 1931), S. 1188-1190, zu Romano Guardini siehe S. 1190; Hugo Lang, Die Salzburger Hochschulwochen 1931, in: Münchener Neueste Nachrichten, München, 1931, Nr. 255 (20. September 1931); Max von Brück, Guardini deutet den Großinquisitor, in: Augsburger Post-zeitung, Augsburg, 1931, Nr. 234 (13. Oktober); Gerta Krabbel, Die Salzburger Hochschulwochen, in: Die Schildgenossen, 11, 1931, 5 (September/Oktober 1931), S. 556-558, zu Romano Guardini siehe S. 557].
Im Februar 1932 hat Guardini dann in Berlin bei der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit Vorträge „Aus Dostojewskis religiöser Welt" gehalten, allerdings erneut ohne Bezug zum sechsten Kapitel des Buches.
Interessant zu erwähnen ist an dieser Stelle noch, dass die Zeitschrift „Die christliche Frau“ das Dostojewskij-Buch im November 1932 noch unter dem Titel „Menschenland und Grenze. Versuche über die religiöse Welt Dostojewskijs“ ankündigt hat[(Verzeichnis von Literatur über den christlichen Osten), in: Die christliche Frau, Münster/Westfalen, 30, 1932, 11 (November 1932), S. 378], was aufgrund der engen Freundschaft Gerta Krabbels mit Guardini als „Insider-Information“ gewertet werden kann. Warum es dann aber zu dem anderen Titel kam, ist bislang nicht bekannt.
So muss an dieser Stelle noch offenbleiben, wann genau für wen und wofür Guardini dieses Heidegger-relevante sechste Kapitel erarbeitet hat und ob bzw. wann er es vorab als Vortrag gehalten haben könnte, ob er es als neuen Beitrag für das Buch oder eine Zeitschrift vorgesehen hatte oder aber von Anfang an als Originalbeitrag für das Buch geplant hatte.
Dieses sechste Kapitel „Gottlosigkeit“ hat insgesamt vier Abschnitte:
- Vorbemerkung
- Kirilloff
- Die Endlichkeit und das Nichts
- Stawrogin
Aus diesem Kapitel sollen nun die wichtigsten Passagen mit unmittelbarem Bezug zu Existentialismus, Existentialphilosophie und Heidegger aufgenommen sein, weil durch sie deutlich wird, wie stark diese Auseinandersetzung mit der Gottlosigkeit, der Endlichkeit und dem Nichts von Guardinis Heidegger-Lektüre geprägt ist:
„‚Gott’; jenes, das gemeint ist, wenn heute von Gott geredet wird, ist überhaupt nicht – er entsteht nur psychologisch aus der Angst vor einem ‚Nichts’. Er ist der zum Eindruck eines Wesens verdichtete Schmerzgehalt der Angst; die Hypostasierung des Daseinsschmerzes. Gott ist selbst ein Nichts; der in der Angst vor dem Nichtseienden erfahrene und zur Weltgewalt werdende Schmerz. Gott ist ein aus gegenstandloser Qual bestehendes Gespenst.[....] Weil aber Angst und Schmerz das Erste [194] sind; genauer der Wille zum Schmerz, das Verlangen nach der Angst – sie sind ja das erste existentielle ‚Weil’ -, darum wird auch jenes Nicht-Seiende, das den Namen ‚Gott’ trägt, vom Menschen gewollt, auf daß es ihn quälen könne, so wie der Aberglaubende, der Angst vergehend, das Gespenst erzeugt, um die wolllüstige Qual des Grausens zu leiden. Am Anfang steht also die sinnzerstörende und nicht nur furchtbare, sondern schmachvolle Liebe zu Schmerz und Angst; der Wille, in einer Weise zu existieren, die gegen Würde und Reinheit geht?[…] Mithin eine Perversion der Existentialhaltung selbst?[…]“[Guardini, Religiöse Gestalten in Dostojewskijs Werk, Mainz (7)1989, S. 193 f.].
In zwei Fußnoten zu dieser Passage, verweist Guardini den Leser einerseits auf einen Vergleich des Dargelegten mit dem „Begriff der „großen Gesundheit““, andererseits darauf, dass „die hier geschilderten Seelenvorgänge“ „zur Krankheitsgeschichte des unerlösten Gottesverhältnisses“ gehören:
„Deren Endstadium ist wohl durch Nietzsches Wort aus dem Zarathustra bezeichnet: ‚Gott ist tot’“ [Ebd.]
Guardini schlussfolgerte daraus:
„Diese Unerlöstheit könnte nur auf Christus hin durchbrochen werden – der freilich selbst frei bleiben müßte, damit sein Bild nicht wiederum dem Trug verfiele; frei erhalten durch die Kirche. In der Hingabe an Christus, im glaubenden und liebenden Mitvollzug seines Daseins würde […] die als Qual und Angst erlebte nackte Endlichkeit zur begnadeten Endlichkeit erlöst; zu jener Endlichkeit, die Gott in die Existenz der Liebe, des Gottmenschen also und der Teilhabe an diesem, aufgenommen hat.“
Davon unterscheidet sich nach Guardini aber die Empfindung und der Wille des neuzeitlichen Menschen:
„Dieses Endliche wird von vornherein als Bloß-Endliches empfunden und gewollt. So zwar, daß es nach der Hingabe verlangt, gegen dieses Verlangen sich aber ein innerer Einspruch erhebt: das Gebot, sich selbst zu genügen, autonom zu sein. Es ist also nicht so, daß sich gegen die Hingabe an das göttliche Du, welches als das Eigentliche, die Seele Beanspruchende anerkannt wäre, nur die Trägheit und Selbstsucht der Natur stemmte. Das Herz verlangt vielmehr nach jener Hingabe; aber aus Geist und Gewissen, aus dem Bereich der Würde und des Berufsbewußtseins wendet sich ein Einspruch dagegen – deshalb, weil jene zur Hingabe auffordernde Angrenzung als quälend, ängstend, als Unwürdigkeit erfahren wird. Es handelt sich also nicht um eine einfache Wertträgheit und Opferscheu, sondern um einen sinnhaften Einspruch, stammend aus einer Krise der Existenzstruktur, und gerichtet gegen eine falsche religiöse Unmittelbarkeit, die nun unerträglich wird. Hier erfährt der religiös sehr wache und fühlige Mensch sich nicht mehr als selbstverständlich auf Gott bezogenes Geschöpf, mit ihm in der Einheit der Liebe und der Gnade verbunden, sondern als ‚Endliches’, das sich vom ‚Absoluten’ kritisch abgrenzt, sich von ihm bedroht fühlt, ja gegen es in Existenzkampf tritt. Ihm ist Gott nicht mehr gegenüber und ringsum und inne und eins, sondern er fühlt sich ‚den Absoluten’, vielleicht ‚das Absolute’ entgegenstehen. Das Bewußtsein erfährt hier das eigene Dasein als abgespaltene, ‚nackte Endlichkeit’; Gott aber als abgespaltene, ‚bloße Absolutheit’. Dessen Macht empfindet es als Bedrohung der in der Emanzipation begriffenen Endlichkeit. Da die Hingabe ersehnt, aber verboten ist, wandelt sich ihr mächtig anziehender Gegenstand in etwas Feindliches, das zu verschlingen droht. Da die Liebe zu ihm nicht sein darf, wird es zum Ungeheuer. Da sich kein personales Verhältnis zu ihm bildet, wird es zu einem Angesichtslosen, Wesenlosen, zu etwas, ‚das es nicht gibt, das aber da ist’, zu einem Gespenst: zum ‚Nichts’, das ängstende, grauenerregende Macht hat – Martin Heideggers Terminus bietet sich an: das ‚nichtet’“[Ebd., S. 197 f.].
In dieser Erwähnung Heideggers und seines Begriffs „nichtet“ ist der bislang erste öffentliche namentliche Verweis auf Martin Heideggers Terminologie und Philosophie zu sehen. Auf den beschriebenen Zusammenhang zwischen Endlichkeit, Nichts und Angst kommt er weiter hinten im Buch noch einmal bei der Analyse der Dämonen-Gestalten Dostojewskijs zurück:
„Der entscheidende Schritt dahin ist im Letzten der Entschluß zur radikalen und ausschließlichen Endlichkeit: der titanische Finitismus. Im Maße, wie dieser Schritt vollzogen wird, wird die Endlichkeit selbst ‚göttlich’; genauer ‚profan-heilig’. Das Gemeinte steht ‚jenseits’ dessen, was die neuzeitliche Gegenüberstellung ‚Welt und Gott’ besagte. Hier ist die Schwelle der kommenden Zeit. Daß dieser Vorgang offenbar wird, macht das Beunruhigende im Werke jener drei Männer aus. Dem ‚absoluten Paradox’ Kierkegaards liegt die nämliche Existentialerfahrung zugrunde wie der Menschen- und Daseinslehre Nietzsches. Kierkegaard überwindet sie christlich – freilich ist’ s zuweilen, als treibe er Satan mit Beelzebub aus. Denn wodurch unterscheidet sich, wenn wir die christliche Gewilltheit wegnehmen, sein Begriff des „ganz verschiedenen Gottes“ inhaltlich noch von Nietzsches und Kirilloffs ‚Nichts’? Könnte ein anders gewilltes Denken nicht Kierkegaards Erbe übernehmen und daraus eine Philosophie der verzweifelten Endlichkeit machen? Die nämliche Grundsituation kehrt bei Nietzsche wieder, nur daß dieser Ja sagt, wo Kierkegaard Nein, und verneint, wo jener bejaht. Diese Ambivalenz offenbart die dialektische Einheit der Position. Noch einmal die gleiche Existenzlage ist es, die in so manchen Gestalten Dostojewskijs deutlich wird, vor allem in den Dämonen. Ihre stärkste Offenbarung ist Kirilloff. In dessen pathologischer Über-Fühligkeit und Phantastik wird offenbar, was jene Situation Furchtbares enthält. Da ist eine starke Gotteserfahrung, aber nicht christlich erlöst, sondern naturhaft-unmittelbar und bannend. Zugleich ist die Existenzerfahrung in jene Phase vorgerückt, wo die Endlichkeit ablösungsbereit erscheint. So wird jene religiöse Unmittelbarkeit zur Qual. Sie müßte christlich aufgearbeitet werden: die naturhafte Unmittelbarkeit ins Christlich-Personale; die schrittbereite Unabhängigkeit des Endlichen in echte christliche Mündigkeit; das falsche Verhältnis von Endlichem und Ewigem in das Eigentlich-Christliche, wie es durch die Menschwerdung und das Geheimnis der Gnade gewiesen ist. Statt dessen wird das Christliche abgelehnt; die Endlichkeit geht in die Empörung; das naturhaft-religiöse Verhältnis vergiftet sich, und, um sich zu befreien, verbündet es sich mit dem Endlichkeitsaffekt: ‚Gott’ soll ausgelöscht, das Endliche als das Einzige erklärt werden, in der Erwartung, dann werde die Existentialnot sich lösen, und die eigentliche sinnerfüllte Menschlichkeit erwachen. Was aber in Wahrheit durchbricht, ist die nackte Endlichkeit; jene, die nicht mehr Symbol ist, die keinen Ort mehr hat und die sich nicht mehr von Gott umfaßt weiß. Erst um sie liegt das ‚nichtende’ Nichts. […] Welches Grauen der Angst wird hier erwachen – falls es nicht dem Menschen gelingt, sich durch eine, christlich gesehen noch weit furchtbarere, Empfindungslosigkeit zu schützen. Also der Mechanismen des Seins wo weit Herr zu werden, [216] daß er die Angst ‚wegoperieren’ kann; […]. Dann wäre der ganz emanzipierte, in seiner Bloß-Endlichkeit ruhig gewordene Mensch da. Aber christlich gesehen würde keine Qual der sich ängstigenden Kreatur an das Grauen dieses Zustandes heranreichen“[Ebd., S. 214 ff.]
In der Deutung des „Existenzphänomens Stawrogin“ spricht er bereits ein frühes Mal von „dem, was nun auf die ‚Neuzeit’ folgt“ und deutet somit ein weiteres Mal [Vgl. unten das Kapitel über „Das Ende der Neuzeit“] in einem Text sein späteres Theorem vom „Ende der Neuzeit“ an:
„Wir glaubten, das entscheidende Moment der neuzeitlichen Entwicklung darin sehen zu sollen, daß die Endlichkeit des Daseins losgelöst und als solche hervortrete. Die christliche Entscheidung aber gehe darum, ob die Endlichkeit neu als Aufgabe vor Gott begriffen werde oder nicht. Einst war das Endliche naiv und ohne weiteres auf Gott bezogen. Der Neuzeit, richtiger, dem, was nun auf die ‚Neuzeit’ folgt, scheint die Entscheidung gestellt zu sein, das Endliche mündig und verantwortungsreif in die Gottesbeziehung zu tragen – oder aber es loszureißen, für autark und autonom zu erklären. Dann wird es nackt. Um es herum ‚nichtet’ das Nichts. Das Dasein fällt und verfällt der Angst ... Mir scheint, aus dem Existenzphänomen Stawrogins tritt etwas Ähnliches hervor. Nur ist die Endlichkeit hier nicht jene des lebendigen Seins, sondern des lebendigen Aktes: Der Lebensakt selbst wird als endlich erfahren. Und zwar nach innen hin, in seiner Intensität, in seiner Innigkeit. Die Endlichkeitsgrenze kommt hier in der Weise zur Geltung, wie das Leben lebendig ist; wie es seiner selbst inne wird, und wie es, im Vollzug seiner Akte, sich seine Gegenstände aneignet. In der Lebendigkeit des Lebens selbst wird hier die Grenze deutlich. Der Mensch sieht sich auf seine Lebensintensität allein angewiesen, und es wird ihm bewußt, daß sie sowohl transitiv, als Macht über die Wirklichkeit, begrenzt ist, wie auch existentiell, als Einheit zwischen Akt und Subjekt, Akt und Aktinhalt, Subjekt und Gegenstand, als Subjektsverwirklichung und Gegenstands-Aneignung, als Selbersein und Wirklich-Haben. Dort fühlt er sich mit dem Sein über dem Nichts hängen – hier mit der Kraft über der Ohnmacht, mit dem Handeln über der Sinnlosigkeit, mit dem Tun über der Langeweile, mit dem Leben über dem Tod ... Auch hier ist ein Nichts. Es sitzt aber im Inneren des Lebens selber. Und auch dieses Nichts ‚nichtet’. Von innen her steigt, wie Pascal sagt, die Langeweile auf, der Überdruß, der Ekel, die Dürre, die Sinnlosigkeit, das Gift. Nicht aus dem umgebenden, sondern aus dem innewohnenden Nichts dringt die Angst hoch. Hier wird auch das Phänomen der Leere deutlich. Ich weiß nicht, hat es diese Leere immer gegeben, ist sie eine einfache Verfallserscheinung, Anzeichen absinkender Kultur – oder ist sie nur der Neuzeit eigen? Jedenfalls wird sie von dieser in einer besonderen Weise empfunden. In Stawrogin tritt sie erschreckend hervor. Das Dasein dieses Menschen ist leer. Nicht weil er nichts besäße, oder weil sich in seinem Leben nichts zutrüge; die Leere steht in seinem Lebensvollzuge selbst. In seinem Herzen gähnt sie“[Ebd., S. 250].
Die Resonanz auf dieses Buch insgesamt, besonders aber auch auf dieses Kapitel über Gottlosigkeit, war groß und zum Teil überschwenglich. Hermann Hesse nennt es im Propyläen, der Beilage zur Münchner Zeitung, und im Schwabenspiegel „das einzige der vielen Bücher über Dostojewski, das im Mutterboden dieser gewaltigen und unheimlichen Dichtungen heimisch wird und das Grundgeheimnis ihres Wesens erfaßt hat“[Hermann Hesse, Rezension zu: Guardini, Der Mensch und der Glaube, in: Die Propyläen. Beilage zur Münchner Zeitung, München, 30, 1932/33, S. 234; auch in: Der Schwabenspiegel. Wochenschrift der Württemberger Zeitung, Stuttgart, 27, 1933, S. 277; dann wieder in: ders., Gesammelte Werke, Frankfurt am Main, Suhrkamp-Verlag, 1970, Bd. 12: Schriften zur Literatur 2, S. 508 f.]. Die mit Guardini befreundeten Rezensenten Fred Neumeyer, Reinhold Schneider, die damaligen Heidegger-Schüler Max Müller und Gustav Siewerth, aber auch Paul Fechter und Hermann Herrigel setzten sich mit Guardinis Dostojewskij-Buch auseinander [Fred Neumeyer, Rezension zu: Guardini, Der Mensch und der Glaube, in: Europäische Revue, Leipzig, 9, 1933, S. 638; Max Müller, Überwelt und Welt, in: Werkblätter, Neudeutschland Älterenbund, Würzburg, 6, 1933, 3/4 (Juni/Juli 1933), S. 84-87; Gustav Siewerth, Zur Deutung des „Großinquisitors“, in: Die Schild-genossen, Rothenfels, 12, 1932/1933, S. 195-202; Paul Fechter, Im Kraftfeld Gottes. Romano Guardini: Der Mensch und der Glaube, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, Berlin 1933, 1. März, Literarische Beilage: Das Unterhaltungsblatt, S. 1; Hermann Herrigel, Rezension zu: Guardini, Der Mensch und der Glaube, in: Frankfurter Zeitung, 1933, 24. September]. Letzterer war immerhin schon gemeinsam mit Guardini Teilnehmer am Frankfurter christlich-jüdischen Religionsgespräch zu Ostern 1923 [Vgl. Rudolf Bultmann/Friedrich Gogarten, Briefwechsel 1921-1967, 2002, S. 26, Fußnote 14 mit Verweis auf einen Brief von Gogarten an E. Thurneysen vom 7. Mai 1923. Die anderen Teilnehmer waren außer Gogarten, Guardini und Herrigel: Martin Buber, Paul Natorp, Arthur Bonus, Alfons Paquet und Ernst Michel].
Heideggers Philosophie in der „Religiösen Offenheit der Gegenwart“ (1932/34)
In dem erst 2008 aus Guardinis Nachlass zugänglich gemachten, von Guardini selbst als „Aufsatz“ bezeichneten Text über „Die Religiöse Offenheit der Gegenwart“ bildet in einer Passage erneut Heideggers Philosophie den Hintergrund für Guardinis Auseinandersetzung mit dem Charakter des christlichen Existierens. Dieser Text ruht wohl auf Vorarbeiten des Jahres 1932, wurde nach Guardinis eigenen Angaben dann größtenteils im Januar 1933 noch vor der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten zu Papier gebracht und dann bis Ostern 1934 fertigstellt:
„Heideggers Philosophie ist eine Herausforderung an den Christen und erinnert ihn an ein langes Versäumnis. Der Charakter des christlichen Existierens muss herausgearbeitet werden, ganz aus dem Eigenen, aus dem ersten Anfang, ‚in Zuversicht“. Was heißt für ihn ‚Sein’? Was ‚Nichts’? Was ‚Selbst’? Was ‚der Andere’? ‚Absolutheit’ und ‚Endlichkeit“? ‚Geburt, Leben, Tod“? Was ist für ihn ‚Angst’? ‚Sünde’, ‚Offenheit“ und ‚Verschlossenheit’? Seit dem ausgehenden Mittelalter scheint ein eigentliches christliches Existentialbewusstsein verloren zu gehen. […] In Wirklichkeit erfolgt seit der Renaissance die christliche Antwort auf die gegnerischen Positionen immer mehr in Form von Verteidigungen, Einschränkungen, Korrekturen, Zugeständnissen und Zurücknahmen. Und zwar weder aus intellektueller Unzulänglichkeit noch aus menschlichen Mängeln; die Gründe für ihr Versagen liegen viel tiefer: darin, dass ein originäres christliches Existenzbewusstsein als Allgemeinhaltung, die der Einzelne sich wohl in Entscheidung aneignen muss, die ihm aber doch als Möglichkeit entgegengetragen, lebendig in ihm gezeugt und herangebildet wird, in der Neuzeit verloren zu gehen scheint. Nur von hieraus ist zu verstehen, daß z. B. auf die tief erregende Frage eines Heidegger eine christliche Antwort noch nicht erfolgt ist. Entweder kapituliert das christliche Denken vor ihm, oder aber es arbeitet mit summarischen Ablehnungen, die auf die Sache selbst im Grunde gar nicht eingehen. Heidegger geht von der neuzeitlichen Existenzerfahrung aus, in welcher sich die Probleme der Endlichkeit und Unendlichkeit, des Etwas und des Nichts, des Absoluten und des Faktischen in einer anderen Form anmelden, als es noch im 15. Jahrhundert geschah. Soll ihm geantwortet werden können, so muss, auf gleicher menschlicher, kultureller und geschichtlicher Ebene, eine originäre christliche Existenzerfahrung da sein, von welcher aus jene Phänomene wirklich christlich gesehen werden“[Romano Guardini, Die Religiöse Offenheit der Gegenwart, 2008, S. 90-92].
Bislang ist der konkrete „Sitz im Leben“ dieses erst 2008 veröffentlichten „Aufsatzes“, dem aber mit ziemlicher Sicherheit eine Vorlesung oder ein Vortrag vorausgegangen ist, nicht eindeutig festzulegen. Allerdings scheint mir ein Zusammenhang mit einer Erinnerung von August Berning anlässlich des 75. Geburtstages Guardinis 1960 plausibel. Demnach ließ Guardini durch Frau Dr. Schlüter-Hermkes eine Reihe von katholischen Abgeordneten und Politikern zusammenkommen und machte dabei „auf das unterirdisch grollende Erdbeben aufmerksam“ [August Heinrich Berning, Romano Guardini 75 Jahre, in: Schwäbische Zeitung, 1960, 17. Februar, Feuilleton (1 S.); ders., Romano Guardini zum 75. Geburtstag, in: Kirchenzeitung für das Bistum Aachen, 15, 1960, 13. März, S. 5 f.]. Dieses „unterirdisch grollende Erdbeben“ käme in diesem Text Guardinis eindrucksvoll zum Ausdruck. Diese späte „Verortung“ würde auch erklären können, warum der von Guardini wohl zum Druck vorgesehene Vortragstext bzw. „Aufsatz“ dann 1933 nicht mehr in den Schildgenossen oder auch anderen Zeitschriften des politischen bzw. religiösen Katholizismus erschienen ist, weil die darin enthaltene offene Kritik am Nationalsozialismus für die in Frage kommenden Zeitschriften doch zu riskant war.
Heideggers Philosophie in „Welt und Person“ (1939)
Auch wenn der Abschnitt „Welt und Person“ aus dem Anthropologie-Kolleg erst 1939 als eigenständige Schrift erschienen ist, gehört der folgende Passus zeitlich von der Entstehung her gesehen noch in den Kontext von Guardinis Auseinandersetzung mit der Endlichkeit, dem Nichts und der Angst bei Heidegger. So lesen wir in Guardinis Phänomenologie der „Grenze“:
„Diese Grenze wird von der Macht gesetzt, welche ‚höher’ ist als die Welt, weil sie die Welt geschaffen hat ... Ebenso undeutlich ist die andere Grenze, welche innen liegt. Und zwar deshalb, weil dieses Innere einfachhin als Mitte empfunden wird. Erst allmählich dringt das Bewußtsein durch, daß es auch nach innen hinein immer weitergeht ebenso wie nach Oben immer weiter hinauf -, die praktische Unmöglichkeit aber, nach Innen an ein Ende zu kommen, ebensowenig reale Unendlichkeit bedeutet wie nach Oben, und daher auch nach Innen hin Grenze ist. Diese Grenze hat, sobald sie entdeckt wird, sogar eine besondere Eindringlichkeit, weil sie mit der [82] inneren Grenze des Daseinsganzen zusammenfällt. ‚Innen’ ist also auch ‚Mitte’, aber keine absolute, in sich selbst ruhende, sondern endliche, bedingte. Sie ist sozusagen durchlöchert; sie hat eine Transzendenz nach Innen, und da steht, angrenzend, die Macht, die alles trägt, Gott ... ‚Zwischen’ Gott und der Welt aber, oben sowohl wie innen, ist das Nichts. Die Welt ist vom Nichts eingefaßt, übergriffen und durchmittet. Wir gelangen nur dadurch zu einer Vorstellung von der Welt, daß uns das Nichts über ihr und in ihr zu Bewußtsein kommt. Indem die Grenze zur Macht wird, wird das von ihr Umfaßte durchfühlt. Wir bekommen die Mächtigkeit des Daseins ins Bewußtsein, indem wir dessen Krise erfahren. Heidegger hat das am Erlebnis der Angst gezeigt. Im Unterschied zur Furcht, welche immer Furcht vor diesem oder jenem, das heißt also ein Unterscheidungsgefühl innerhalb der Welt bedeutet, bezieht sich die Angst nicht auf etwas Bestimmtes, sondern auf das Sein überhaupt. In ihr enthüllt sich das Nichts als Macht, die Endlichkeit als Bedrohung. Darin kommt aber zugleich das Ganze zum Vorschein, und – wäre der Gedanke fortzuführen – erwacht das Gegengefühl: der Mächtigkeit und Wirklichkeit der Welt. Das echte ‚Nicht’ und ‚Nichts’ kommt von der Wirklichkeit Gottes. Er ‚weist die Welt in ihre Grenzen’, indem er deutlich macht, daß sie nicht er; daß er über ihr und innert ihrer; daß er der aus sich selbst und eigentlich Seiende, ‚der Herr’ im ontologischen Sinne, sie aber das Geschaffene und nur ‚vor ihm’ seiend, ontologisch im Gehorsam Bestehende ist. Ebendarin ist die Welt aber sie selbst und als Welt wirklich ... Gott ist der wirklich Ganz-Andere, der fähig ist, zu schaffen und ebendamit die wirkliche Grenze zwischen sich und dem Geschaffenen zu setzen. Das eigentliche ‚Nicht’ und ‚Nichts’ ist jenes, welches der Satz meint, die Welt sei ‚aus Nichts geschaffen’; und ebenso der andere, die Welt bestehe immer als geschaffene, das heißt, sie sei ‚nicht [83] Gott’. Erst von Gott her kann wirklich Welt erfahren werden“[Romano Guardini, Welt und Person (1939), Mainz (6)1988, S. 81-83].
Der Zusammenhang von existentieller „Umdrohtheit, „Grenze“ und „Tod“ beschäftigt Guardini bereits in seiner Gegensatzlehre von 1925, wenn er über die von der Gegensatzlehre her geformte Haltung schreibt:
„Sie weiß um die von endlichem Leben untrennbare Grenze: um den Tod. Vom Leben weiß nur, wer vom Tode weiß - wenigstens gilt das von jenem besonderen Wissen, das Verantwortung tragen kann -; wer das Leben sieht und spürt, wesenhaft umdroht vom Tode. Denn das ist es, umfaßt durch ihn »von beiden Seiten«, von den Todesbereichen her, vom Übermaß, von der spannungsbrechenden Selbstbehauptung. Und bedroht durch ihn von innen her; von dort, wo das Leben sich ausgleichen und in sich selbst ruhen möchte, vom lähmenden Gleichgewicht“[Romano Guardini, Der Gegensatz, (4)1998, a.a.O., S. 181].
Und den im Jahr darauf erschienenen Aufsatz über „Die Gefährdung der lebendigen Persönlichkeit“, der auf Vorträgen von Februar 1925 in Düsseldorf basiert, leitet Guardini ein mit den Worten:
„Es ist, ich weiß nicht, von wem, das Wort von der Umdrohtheit unseres heutigen Daseins geprägt worden. Das Empfinden, irgendwie gefährdet zu sein, gehört zu unserem Menschlichen Eigenbewußtsein überhaupt. Wenn wir uns aber heute tiefer selbst besinnen; wenn wir aufsteigen lassen, was tief drinnen liegt; wenn wir jene Stimmen herangelangen lassen, die aus unserer Umgebung, aus dem Geschehen unserer Zeit hertönen, und die wir meist, unwillkürlich uns selbst schützend, fernhalten - so kommt das Bewußtsein über uns, daß wir heute in besonderem Maß gefährdet sind. Es mag oft durch die Anspannung des Augenblickes zurückgedrängt werden; aber es ist da und wartet immer nur darauf, durchzudringen“[Romano Guardini, Die Gefährdung der lebedigen Persönlichkeit, in: Die Schildgenossen, 6, 1926, S. 33-52; eingegangen in: Wurzeln eines großen Lebenswerks. Romano Guardini (1885-1968). Aufsätze und kleinere Schriften, Bd. II, 2001, hier S. 258].
Guardini sieht – insbesondere in der Jugendbewegung - einen „eigentümlichen Wirklichkeitshunger“ am Werk, ein Drängen aus dem Abstrakten ins Konkrete, eine „neue Haltung“:
„Es bildet sich ein Standort, ein Maßstab, ein Hebelpunkt, von wo aus ein Mensch an sein Werk gehen kann: in seinem gottverpflichteten Innen“[Ebd., S. 280].
Auch hier ist es mehr als wahrscheinlich, dass er auf die von Heidegger auch später immer wieder aufgeworfene Frage der „Umdrohtheit“ – nicht zuletzt in seiner Auseinandersetzung mit Rilke – antwortet, auch wenn Heidegger aufgrund seines neuen Standpunktes diese „katholische“, die Gegensätze in Spannungseinheit umfassende Antwort Guardinis zurückweisen muss. Während sich Guardini also Heidegger zuwendet, wendet sich dieser zunehmend vom Katholizismus ab, selbst in der Gestalt, wie Guardini ihn vertreten hat.
Heideggers Abkehr vom Katholizismus
Heideggers Rückzug von Beuron (1931/32)
Begonnen hat Heideggers endgültige „Abkehr“ vom Katholizismus wohl Ende 1931, verbunden mit einer „Beuroner“ Erfahrung. Denn zwischen Oktober 1930 und Herbst 1931 besuchte Heidegger – nach seiner Rückkehr aus Marburg – mehrmals Beuron und hielt dort auf Einladung des Konvents auch Vorträge. Der bis 1949 vorerst letzte Aufenthalt Martin Heideggers in Beuron fand im Oktober 1931 statt, bei dem er, wie bereits erwähnt, einen seiner Vorträge über das „Wesen der Wahrheit“ hielt. Am 11. Oktober 1931 schrieb er dazu aus Beuron an Elisabeth Blochmann:
„Seit Freitag bin ich hier in meiner alten Zelle u. schon wieder eingewöhnt in das geschlossene u. gehaltene Leben der Mönche – am liebsten hätte ich auch noch gleich das Mönchsgewand’, weil ich es jedesmal als stilwidrig empfinde, wenn ich in „Zivil“ durch die Klostergänge gehe“[Heidegger/Blochmann, Briefwechsel, a.a.O., S. 43].
Johannes Schaber OSB berichtet 2003 über eine aufschlussreiche Erinnerung von Pater Petrus Pietschmann OSB an die damaligen Vorgänge:
„Pater Petrus Pietschmann OSB (Beuron) erzählte später einmal, dass die Beuroner vom erzbischöflichen Ordinariat in Freiburg einen ‚Rüffel’ bekommen hätten, weil sie Heidegger zu Vorträgen eingeladen hätten. Heidegger hat wohl von diesem seltsamen Freiburger Verhalten gehört und entsprechend reagiert“[Schaber, Phänomenologie und Mönchtum., a.a.O.]
Von wem der „Rüffel“ ausging, ist bislang nicht bekannt. Der damalige Bischof war noch Karl Fritz (1920-1931), der am 7. Dezember 1931 starb. Konrad Gröber war dagegen am 13. Januar 1931 von Freiburg – er war dort zuletzt seit 1925 Domkapitular und im Ordinariat für das Referat für Liturgie und Kirchenmusik zuständig, weg zum Bischof von Meißen ernannt. Die Bischofsweihe spendete ihm am 1. Februar 1931 der Freiburger Erzbischof Carl Fritz. Bereits am 21. Mai 1932 erfolgte dann die Ernennung zum Erzbischof von Freiburg. Generalvikar unter Bischofs Fritz war bis 1931 Josef Sester (1877–1938), der dann auch bis zum Amtsantritt von Erzbischof Gröber Kapitularverweser war. Adressiert müsste der Rüffel, wenn es denn ein offizieller war, an Erzabt Raphael Walzer gewesen sein.
Die „Reaktion“ bestand eben darin, dass er aus Enttäuschung die Beuroner Abtei fortan nicht mehr besuchte.
Just ab diesem Oktober 1931 sind nun aber auch Heideggers sogenannten „Schwarzen Heften“ mit „Überlegungen“ erhalten. In den ersten Heften geht Heidegger dabei auch auf seine „vorige Schriftstellerei“ ein und kommt in einem mit „März 1932“ datierten Abschnitt in den „Überlegungen II“ zum Schluss:
„Heute (März 1932) bin ich in aller Klarheit dort, von wo mir die ganze vorige Schriftstellerei (Sein und Zeit; Was ist Metaphysik?; Kant-Buch und Vom Wesen des Grundes I und II) fremd geworden ist. Fremd wie ein stillgelegter Weg, der in Gras und Strauch verwächst – ein Weg, der doch das bei sich behält, daß er in das Da-sein als Zeitlichkeit führt. Ein Weg, an dessen Rand viel Zeitgenössisches, Verlogenes steht – oft so, daß diese „Markierungen“ wichtiger genommen werden als der weg selbst“[Martin Heidegger, Überlegungen II, Abschnitt 49, in: ders., Überlegungen II-VI (Schwarze Hefte 1931-1938), Gesamtausgabe, Bd. 94, Frankfurt am Main 2014, S. 19 f.]
Am 18. September 1932 schreibt Heidegger an Elisabeth Blochmann schließlich, er gehe dieses Jahr nicht nach Beuron. Ohnehin sei er in seiner Todtnauberger Hütte „viel einsamer als im Kloster“[Heidegger/Blochmann, Briefwechsel, a.a.O., S. 56].
Martin Heidegger und Engelbert Krebs 1933
Eine für diesen Kontext nicht unwichtige Erinnerung trägt auch der spätere Beuroner Pater Drutmar Helmecke OSB (1912-2000) bei. Dieser hatte 1931 zunächst evangelische Theologie in Berlin studiert. 1933 konvertierte er unter dem Einfluss Guardinis zur katholischen Kirche. 1934 trat er dann in die Erzabtei Beuron ein. Die Erinnerung bezieht sich auf seinen Studienwechsel nach Freiburg im Mai 1933, also noch vor seinem Eintritt in Beuron:
„Ich wollte auf keinen Fall im Dritten Reich weiterstudieren, ich habe in Freiburg Heidegger als Rektor erlebt, diese ganze Art war für mich so entsetzlich, wie er da geredet hat und wie die Studenten sich aufgeführt haben. Ich habe das auch in Berlin erlebt, als scharenweise evangelische Theologiestudenten in die „Leibstandarte“ Adolf Hitlers eingetreten sind. […] All das hat mich in Berlin sehr enttäuscht. Dort wollte mich Guardini an sich ziehen, in seinem Kreis halten. Ich hatte damals eine Einladung nach Rom zu den Jesuiten, und sagte zu ihm: „Ich möchte in ein katholisches Milieu, wo finde ich das noch in Deutschland? Da gab er mir den Rat und sagte: „Ja, wenn sie dort zu den Jesuiten gehen, dann werden sie jesuitisch, aber nicht katholisch.“ Guardini hat mir dann geraten: „Gehen Sie nach Freiburg, gehen Sie zu Engelbert Krebs, der wird gut für Sie sorgen, bestellen Sie eine Empfehlung von mir, das genügt.“ Ich bin am nächsten Tag, am 5. Mai ’33 nach Freiburg gefahren, vom Bahnhof sofort zur Universität und habe den Pedell gefragt: ‚Ist Prof. Krebs im Haus?’ – ‚Ja, der ist oben im Dekanat der theologischen Fakultät.’ Dann bin ich zu ihm rein – er saß an seinem Tisch -, habe ich ihm die Empfehlung von Guardini bestellt und meine Situation ganz kurz erläutert. Krebs sagte: ‚Junger Mann, ich kann ihnen nur einen Rat geben, lassen sie sich nicht in meiner Nähe sehen. Ich bin infam bei Herrn Heidegger, ich räume hier bloß meine Schubladen aus’ und hat mich mit der Bemerkung rausgeworfen ‚gehen Sie aber zum Studentenpfarrer, Herrn Schlenker, der wird für Sie sorgen’; das hat dann auch geklappt“[Jakobus Kaffanke, Strukturelle Umbrüche und interne Verwerfungen – Erinnerungen an die letzten Beuroner Jahre von Erzabt Raphael Walzer. Der Zeitzeuge Pater Drutmar Helmecke OSB (1912-2000) im Gespräch, in: Beuroner Forum Edition, 2013, S. 13-36, hier S. 15].
Bei "Herrn Schlenker" handelt es sich um Ernst Schlenker (1901-1944), Studentenseelsorger in Freiburg/Breisgau, der beim Bombenangriff auf Freiburg am 27. November 1944 ums Leben kam. Er war zu seiner Tätigkeit als Studentenseelsorger hinzu ab 1932 Repetitor für Dogmatik am Collegium Borromäum und ab 1941 Dompräbendar [Vgl. Hermann Ginter, Necrologium Friburgense 1941-1945. Verzeichnis der in den Jahren 1941 bis 1945 verstorbenen Priester der Erzdiözese Freiburg, in: Freiburger Diözesan-Archiv, 70, 1950, S. 179-258, hier S. 2380.
Engelbert Krebs erhielt aber schließlich erst ab 1936 Lehrverbot und wurde 1937 in den Ruhestand versetzt. 1943 kam noch ein Redeverbot hinzu.
Heidegger und das Konkordat
Heidegger beschäftigte sich im Sommer 1933 auch mit der Frage des Konkordats, das im Juli 1933 abgeschlossen wurde. Unmittelbar vor dem Juli 1933 notierte sich Heidegger als Abschnitt 35 der „Überlegungen III“ in seine „Schwarzen Hefte“:
„Das bevorstehende Konkordat mit der katholischen Kirche soll ein Sieg werden, weil es die Priester aus der „Politik“ vertreiben soll. Das ist eine Täuschung; die unvergleichlich gut eingespielte Organisation bleibt – die Macht der Priester ebenfalls – sie ist nur noch „geheiligter“ und wird in der Handhabung gerissener“[Heidegger, Überlegungen III, Abschnitt 35, in: ders., Überlegungen II-VI, Gesamtausgabe, Bd. 94, a.a.O., S. 117].
Und im zeitnahen Rückblick auf die Situation nach Abschluss des Konkordats ergänzte Heidegger dann im Abschnitt 184 über den „deutschen Katholizismus“:
„Der deutsche Katholizismus beginnt jetzt, sich der geistigen Welt des deutschen Idealismus – Kierkegaards und Nietzsches – zu bemächtigen, in seiner Weise und mit den klaren und festen Mitteln seiner Überlieferung sich anzuverwandeln. Er übernimmt in seiner Weise eine wesentliche und starke Überlieferung und schafft sich damit im voraus eine neue geistige ‚Position’; während man im Nationalsozialismus Gefahr läuft, vor lauter Betonung des Anderen und Neuen sich von der großen Überlieferung abzuschneiden und im Unbeholfenen und Halben sich zu verlaufen. Indem man aber dem Konkordat gemäß dem Kampf gegen die katholische Kirche absagt, sieht man nicht das Heraufkommen des Katholizismus als einer in gewisser Weise sich selbst bewußt ‚säkularisierenden’ Macht – die leicht sich mit den übrigen Mächten verbindet. Gegen die Kirche zu kämpfen ist sinnlos – wenn nicht eine Macht gleicher Art dagegen aufsteht – aber den Katholizismus zu bekämpfen – als das in das Geistige-politische sich hinüberverwandelnde Zentrum – mit dem ganzen festen inneren Gefüge seiner erstarkt kirchlichen ‚Organisation’ – ist Grunderfordernis. Doch dieser Kampf verlangt zuerst eine entsprechende Ausgangsstellung und ein klares Wissen um die Lage“[Heidegger, Überlegungen III, Abschnitt 184, in: ebd., S. 186].
Diese Heideggersche „Bemächtigungsthese“, dass der deutsche Katholizismus sich des deutschen Idealismus von Kierkegaard und Nietzsche „bemächtigt“ habe, kann nur auf dem Hintergrund der vorhin angesprochenen „katholischen“ Kierkegaard- und Nietzsche-Interpretationen Guardinis, Przywaras, Balthasars und Wusts und seiner eigenen „katholischen“ Schüler und Hörer her verstanden werden. Offensichtlich stellt für Heidegger der Kampf gegen das „Heraufkommen des Katholizismus“ ein „Grundproblem“ dar, das ihn in seinen „Überlegungen“ dann 1937/38 gerade noch einmal im Blick auf Romano Guardini beschäftigen wird. Im Konkordat sieht Heidegger dagegen eine „Absage“ dieses Kampfes, der für ihn aber 1933 ein „Grunderfordernis“ darstellt. Wenn nun aber schon konkordatsgemäß kein Kampf geführt werde, gelte es zumindest „öffentliche Siege“ des Katholizismus zu verhindern.
In diesen Verhinderungskontext passt denn auch ein Brief Heideggers vom 5. Februar 1934. Der Brief ist an den Reichsführer der Deutschen Studentenschaft (DSt) Oskar Stäbel gerichtet und spricht sich zugunsten des Studentenschaftsführers Heinrich von zur Mühlen aus, der die kath. Studentenverbindung Ripuaria (CV) suspendiert hatte. Dies hatte Stäbel aber mit Rücksicht auf den Reichstagsabgeordneten und CV-Vorsitzenden Edmund Forschbach zurückgenommen. Edmund Forschbach war am 7. Juli 1933 von Stäbel zum Führer des Cartellverbands der katholischen deutschen Studentenverbindungen (CV) ernannt worden. Heidegger hadert nun mit dieser Entscheidung des Reichsführers Stäbels:
„Dieser öffentliche Sieg des Katholizismus gerade hier darf in keinem Fall bleiben. Es ist eine Schädigung der ganzen Arbeit, wie sie zur Zeit größer nicht gedacht werden kann. […] Ich werde daher das Vorgehen des Studentenschaftsführers unbedingt decken. Man kennt katholische Taktik IMMER noch nicht. Und eines Tages wird sich das schwer rächen“[Brief von Martin Heidegger an Reichsführer Stäbel, in: Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, Gesamtausgabe, Bd. 16, a.a.O., S. 246].
Forschbach war bis zum 14. Oktober 1933 als DNVP-Abgeordneter Mitglied des Preußischen Landtags, gehörte dann ab dem 12. November dem Reichstag mit dem Status eines „Hospitanten“ der NSDAP-Fraktion an, ohne aber je Mitglied zu werden. Von August 1933 bis März 1934 gehörte er aber der SA an. Forschbach wurde schließlich am 2. März 1934 von Stäbel abgesetzt, führte aber die Geschäfte bis Juli 1934 weiter. Während des Röhm-Putsches im Sommer 1934, bei dem sein Freund Edgar J. Jung ermordet wurde, floh Forschbach zu den Jesuiten nach Valkenburg in die Niederlande und legte im Juli sein Reichstagsmandat nieder. Er kehrte im September 1934 wieder nach Deutschland zurück und fand bei Johannes und Karin Schauff ein Refugium. Er schloß sich dem um das Ehepaar entstandnen rheinischen Widerstandskreis an. Aus dieser Haltung Heideggers lässt sich erschließen, dass er sich auch gegen die von Franz von Papen ausgehenden Brückenbau-Versuche der „Arbeitsgemeinschaft katholischer Deutscher“ ausspricht, in Freiburg insbesondere vertreten durch Kuno Brombacher, und somit auch gegen die von Erzbischof Gröber gemachten Versuche, diesen Kreis mit Hilfe von Max Müller und anderen zu einem Kreis der Konfliktvermittlung zu machen (siehe unten zu Max Müller).
Vorgänge während und unmittelbar nach Heideggers Rektoratszeit
Unbekanntes Begleitschreiben zu einem Abzug an Heidegger (1933)
In einem Brief an Johannes Spörl vom 13. Mai 1933 merkt Guardini an:
Q011
Briefauszug von Romano Guardini an Johannes Spörl (13. Mai 1933) [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1240]
Guardini bedankt sich in diesem Briefauszug dafür, die Abzüge bekommen zu haben. Er kündigt an, amselben Tag noch einen Abzug an Heidegger zu schicken samt einem Begleitschreiben, das von Philipp Funk "gewünscht" worden war.
Das genannte, von Philipp Funk gewünschte Begleitschreiben ist bislang noch nicht aufgefunden worden. Im vorausgehenden Brief an Spörl vom 3. Mai 1933 spricht Guardini von „Belegexemplaren des Danteaufsatzes“, die er noch nicht in Händen habe. In einer Postkarte vom 6. Mai 1933 fragt Guardini erneut nach dem Dante-Aufsatz: „Ist er erschienen? Ich habe die Abzüge noch nicht erhalten.“ Daher handelt es sich auch hier um „das“ Exemplar eines Sonderdruckes des in Freiburg und München gehaltenen Vortrag, der unter dem Titel „Seinsordnung und Aufstiegsbewegung in Dantes Göttlicher Komödie“ noch 1933 im von Philipp Funk herausgegebenen „Historischen Jahrbuch der Görresgesellschaft“ erschienen ist [Romano Guardini, Seinsordnung und Aufstiegsbewegung in Dantes Göttlicher Komödie, in: Historisches Jahrbuch der Görresgesellschaft, Köln, 53, 1933, 1, S. 1-26]. Dafür spricht außerdem, dass auch der in der Bibliothek des Pfarrhauses Mooshausen befindliche, an Josef Weiger geschenkte Sonderdruck den Eintrag „10.5.33. Romano“ trägt.
Ob der Sonderdruck Guardinis sich noch in der Privatbibliothek Heideggers befindet, ist mir nicht bekannt.
Heidegger hat sich in seinem Werk nach bisheriger Kenntnis auch nicht auf Guardinis Dante-Deutung bezogen. Obwohl Heidegger bereits 1909 in seiner ersten Veröffentlichung „Allerseelenstimmung“ im „Heuberger Volksblatt“ aus der Inschrift „Laßt alle Hoffnung ihr, die hier eintretet!“ des Höllentors im dritten Gesang von Dantes „Göttlicher Komödie“ zitiert[Martin Heidegger, Allerseelenstimmung (1909), in: Heidegger-Jahrbuch, Band 1, a.a.O., S. 19], hat er in seinen späteren Arbeiten nicht ausführlicher auf ihn Bezug genommen. Es gibt nur zwei kursorische namentliche Erwähnungen, dann aber immerhin in einer Reihe mit Homer, Sophokles, Vergil, Shakespeare und Goethe [Martin Heidegger, Hölderlin und das Wesen der Dichtung, 1937, S. 3; ders., Das Wesen der Wahrheit, Gesamtausgabe, Bd. 34, Frankfurt am Main 1988, Teil 2, S. 64].
Unklar bleibt aber, warum Guardini diesen Sonderdruck auch an Heidegger schickt und warum Funk dafür ein Begleitschreiben wünscht, außer es handelt sich dabei um eine Art Empfehlungsschreiben für Funk persönlich oder für die Görresgesellschaft bzw. ihr „Historisches Jahrbuch“ oder Ähnliches.
Philipp Funk, der 1929 als ordentlicher Professor der mittelalterlichen und neueren Geschichte auf den Konkordatslehrstuhl an der Universität Freiburg im Breisgau berufen worden war, war vom gleichen Jahr an Herausgeber der Bände 49 bis 56 des „Historischen Jahrbuches“. Der mit Guardini zu diesem Zeitpunkt schon lange befreundete Johannes Spörl war Assistent bei Funk. Spörl war für Funk laut Max Müller „bei der Redaktion des „Historischen Jahrbuches“ unentbehrlich geworden“. Demnach war Spörl auch „der einzige Schüler Philipp Funks, den dieser zur Habilitation brachte, und zwar mit einer vortrefflichen Arbeit zur Geschichte der mittelalterlichen Geschichtsschreibung“[Müller/Vossenkuhl, Auseinandersetzung als Versöhnung, a.a.O., S. 153].
Im Zusammenhang mit dem in Freiburg wirkenden Historiker Philipp Funk ist darauf zu verweisen, dass auch dessen Nachlass im Universitätsarchiv Freiburg (C 118) sowie weitere Bestände im Archiv der Görres-Gesellschaft, im Universitätsarchiv in München und in der Bayerischen Staatsbibliothek – meiner Kenntnis nach – bislang noch nicht systematisch ausgewertet wurden.
Rücktritt als Rektor „wegen Guardini“?
Nach eigenem Bekunden und auch der gängigen Lesart der Quellen nach hatte Heidegger Ende Februar 1934 bereits mündlich in Karlsruhe seinen Rücktritt vom Rektorat zwar wohl nicht „erklärt“, aber doch angeboten, als das Karlsruher Ministerium ihn nach Karlsruhe zitiert und von ihm in Anwesenheit des Gaustudentenführers verlangt hatte, die von ihm im Oktober 1933 ernannten Dekane der juristischen Fakultät (Erik Wolf) und medizinischen Fakultät (Wilhelm von Möllendorf) abzulösen und durch die Partei annehmbare Kollegen zu ersetzen. Er habe dieses Ansinnen deutlich zurückgewiesen [So z.B. bei Istvan M. Fehér, Heideggers politisches Intermezzo. Rektor der Universität Freiburg, in: Annales Universitatis Scientiarum Budapestinensis de Rolando Eötvös Nominatae, XIX, 1985, S. 123-148, hier S. 143 f.].
Als dann der Kultusminister Otto Wacker am 12. April 1934 schriftlich erneut den Rücktritt Erik Wolfs verlangte, antwortete Heidegger am 14. April 1934 mit der erneuten Ankündigung, er wolle sein Amt als Rektor zur Verfügung stellen und sich wieder der „unmittelbaren Erziehungsarbeit“ widmen. Um Wacker Zeit für die Suche nach einem Nachfolger zu geben, ordnete Heidegger intern an, die Entscheidung vorerst auch dem Kanzler und den Dekanen gegenüber noch geheim zu halten. Diese Mitteilung erfolgte dann aber am 23. April, worauf auch der Kanzler und die Dekane der Verfassung einer „Führer-Universität“ gemäß, ebenfalls ihre Ämter zur Verfügung stellten. Das Ministerium nahm alle Rücktritte am 27. April an.
Die Freiburger Presse übernahm wohl bei der Bekanntgabe und Berichterstattung über die Amtsübernahme die Vorlage der nationalsozialistischen Blätter wie „Der Alemanne“, dass es sich bei Heideggers Nachfolger, dem nationalsozialistischen Juristen Eduard Kern (1887-1972), um den „ersten nationalsozialistischen Rektor der Universität Freiburg“ handelte. Heidegger lehnte es schließlich ab, an der Rektoratsübergabe an seinen Nachfolger teilzunehmen, zumal eine Rektoratsübergabe in der neuen Führerverfassung nicht mehr vorgesehen sei [Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, 1988, S. 238].
Gemeinhin wird also angenommen, dass Heidegger zurücktrat, weil seine Hochschulpolitik – Stichwort „Führerrektor“ und „Philosophische Dozentenakademie“ zur Erlangung der Lehrerlaubnis – weder an der Universität (Streit um Dekan Erik Wolf in der causa „Adolf Lampe“) noch bei der Partei (Gutachten von Ernst Krieck) genügend Unterstützung fand. Aus dem familiären Umfeld wird später ein „Streit mit dem Gauleiter“, ab Mai dem Reichstatthalter für Baden Robert Wagner (1895-1946) angegeben, dessen Beteiligung an den anderen benannten Konflikten noch nicht näher überprüft wurde. Daher muss offenbleiben, ob sich dieser Streit ebenfalls auf diese universitätsinternen bzw. hochschulpolitischen Konflikte bezogen hat.
Der mit Heidegger ab 1934 befreundete Medizinprofessor Immo von Hattingberg erinnerte sich etwa 1978 aber in eine völlig andere, überraschende Richtung. Dieser war zwar erst vom 1. Juli 1934 an bis 31. Juli 1940 Professor in Freiburg, hatte Heidegger aber noch vor seiner eigenen Augenerkrankung im Jahr 1934 aufgesucht, also als Heidegger noch Rektor der Freiburger Universität war, um ihn kennenzulernen und ihn zu bitten, seine Vorlesungen hören zu dürfen. Hattingbergs 2018 veröffentlichte Erinnerungen besagen nun:
„Heidegger war 1934 als Rektor kurze Zeit für Hitler. Er hat aber das Amt des Rektors aus Protest niedergelegt, als ihm die Berufung des Jesuitenpaters und Philosophen Romano Guardini abgelehnt worden war. Damals schon begann gegen ihn eine heimliche, aber allgemein bekannte Hetze von Seiten der N.S. Studentenführung. Das N.S. Theater mit entsprechendem Bonzentum und Parteiengerangel konnte an der Freiburger Universität keine Macht gewinnen“ [Monika von Hattingberg, Aus den Aufzeichnungen meines Vaters Immo von Hattingberg. Über seine Begegnung mit Martin Heidegger und seiner Philosophie und deren Bedeutung für sein Leben, in: Heidegger Studien, 34, 2018, S. 9-14, hier S. 11.]
Die irrtümliche Kennzeichung Guardinis als „Jesuitenpater“ macht das Zeugnis schwierig. Dennoch muss diese Erinnerung bei zukünftigen Recherchen mit überprüft werden und wäre, wenn es zuträfe, geradezu eine Sensation.
Dass Heidegger unter anderem auch wegen „Querelen bei Berufungen“ zurückgetreten war, wurde bislang – vor allem durch Ott – auf die Streitigkeiten um die Nachfolge Karl Diehls bzw. eine mögliche Lehrstuhlvertretung durch Adolf Lampe bezogen, die Heidegger und Dekan Wolf in jedem Falle zu verhindern suchten [Vgl. insgesamt zu möglichen Bezugspunkten vor allem Bernd Martin, Die Universität Freiburg im Breisgau im Jahre 1933. Eine Nachlese zu Heideggers Rektorat, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, 136, 1988, S. 445-477, hier unter Berufung auf Ott, S. 475]. Ob alle archivalischen Quellen im Universitätsarchiv schon soweit ausgewertet sind, dass auch mögliche Einflussnahmen Heideggers auf andere Berufungsverfahren auszuschließen wären, ist mir nicht bekannt.
Theoretisch wäre Guardini aufgrund seiner Berliner „Themen“ durchaus für die Nachfolge des vertriebenen Jonas Cohn als Professor für philosophische Pädagogik bzw. „Pädagogik und Philosophie“ in Frage gekommen. Faktisch kam es dann im Sommer 1934 mit Georg Stieler zu einer Hausberufung. Obwohl Stieler fachlich gesehen Heideggers engster Kollege in der Freiburger Philosophie gewesen wäre, ist über einen Austausch mit ihm nichts bekannt. Christa Kersting [Pädagogik im Nachkriegsdeutschland. Wissenschaftspolitik und Disziplinentwicklung 1945 bis 1955, Bad Heilbrunn 2008, S. 286ff und S. 307ff.] dokumentiert sowohl die kurzzeitige Beurlaubung Cohns vom 1. bis 28. April 1933, dann die Entlassung von Jonas Cohn durch Heidegger im Oktober 1933 als auch die Initiative und Unterstützung eines Berufungsverfahrens für die Nachfolge. Nachdem Wolfgang Schadewaldt kurz nach der Ernennung mit dem Rektor Heidegger im April 1934 demissionierte, wurde Hans Dragendorf Dekan der Philosophischen Fakultät. Heidegger hat sich – gemeinsam mit Martin Honecker – am 4. Juni 1934 für eine Umwidmung in eine Professur für „politische Pädagogik“ ausgesprochen [Reinhard Mehring, Heideggers „große Politik“. Die semantische Revolution der Gesamtausgabe, 2016, S. 119 und 195].
Schließlich schlug der Dekan am 18. Juni 1934 Georg Stieler offiziell für „Neugestaltung und Besetzung“ des außerordentlichen Lehrstuhls vor. Infolgedessen hat er - wohl noch im Juni - ohne Dreierliste, aber mit Empfehlung der Philosophischen Fakultät den Ruf erhalten. Über die Diskussionen zwischen Oktober 1933 bis zum Rücktritt Heideggers vom Rektorat ist bislang nur wenig bekannt. Stieler hat schließlich am 1. Oktober 1934 die Stelle angetreten. Auf seine Initiative hin wurde das Ordinariat dann auch in „Philosophie und Erziehungswissenschaft“ umbenannt.
Auch wenn also die Berufung und Ernennung erst nach Heideggers Rektorat vom Nachfolger Eduard Kern zu Gunsten Stielers durchgeführt wurde, geht Kersting davon aus, dass Heidegger selbst noch während seines Rektorats die Weichen für eine Berufung Stielers gestellt habe. Dies ist jedoch nicht zwingend aus den genannten Quellen ableitbar; auch nicht ob Heidegger vor seinem Rücktritt nicht doch andere Namen als Alternativen ins Spiel gebracht haben könnte. Umgekehrt bleibt aber bei der Erinnerung Hattingbergs offen, wer genau und von welcher Stelle aus eine Berufung Guardinis auf diesen oder einen anderen Lehrstuhl verhindert haben sollte. Von außerhalb der Universität kämen natürlich die erklärten Guardini-Kritiker Jaensch (siehe oben in Bezug auf Vortrag in Marburg), Krieck und Baeumler in Frage. Aber dies bleibt alles noch im Bereich der Spekulation, ebenso wie die Frage, ob Guardini ein solches Angebot überhaupt in Erwägung gezogen oder angenommen hätte. Aufschluss könnte hier vielleicht das oben erwähnte, aber eben noch nicht aufgefundene Begleitschreiben Guardinis an Heidegger im Mai 1933 geben.
Guardini im Juni 1934: Heidegger als „kaputtgehender“ Denker
Nicht völlig unabhängig von Heideggers Rektoratsübernahme und Rücktritt dürfte schließlich jenes Gespräch im Rahmen eines gemeinsamen Abendessens sein, das Guardini mit seinem Sekretär Erich Görner am 19. Juni 1934 geführt hat. Angesichts der vielfältigen Beziehungen Guardinis nach Freiburg, zu diesem frühen Zeitpunkt vor allem zu seinem Studienfreund Philipp Funk und zum Quickborner Johannes Spörl, sowie des oben genannten Briefs an Heidegger im Mai 1933 hat Guardini mit Sicherheit nicht nur die Übernahme des Rektorats, sondern auch den späteren Rücktritt „registriert“.
Guardini sagte in dem Gespräch mit Görner dabei zunächst von sich selbst, er sei kein großer Denker. Auf die Nachfrage Görners, ob denn heute ein Mensch lebe, den man wirklich einen „großen Denker“ nennen könne, habe Guardini geantwortet:
„‚Nein, einen wirklich großen Denker haben wir nicht. Solche sind z.B. Platon und Kant und in einer dritten Reihe vielleicht Denker wie Scheler. Heute ist wohl der größte Denker, der den Namen Denker verdient, Heidegger.’ Aber er (G.) würde sich selber nicht neben diese beiden letzteren stellen. – ‚Ein Denker lebt durch und mit seinen Gedanken, und wenn die ihm kaputt gehen, dann geht er auch menschlich kaputt.’ Das sagte er in Bezug auf Heidegger, der vom Dritten Reich in Beschlag genommen worden ist. Auch auf Hauer trifft das zu, dem die Rolle eines Propheten gar nicht liegt“[Romano Guardini im Gespräch mit Erich Görner 1933/34, hrsg. im Auftrag der Vereinigung der Freunde von Burg Rothenfels bzw. vom Theatinerkreis im Quickborn Rothenfels o.J. (ca. 1983), S. 22].
[Der evangelische Theologe Jacob Wilhelm Hauer (1881-1962) hatte 1920 den zunächst evangelisch-pietistischen, später freiprotestantischen Jugendbund „Bund der Köngener“, den er bis 1934 leitete. Von 1920 bis 1927 gab er für diesen Bund die Zeitschrift „Unser Weg“ heraus, von 1928 bis 1933 die Zeitschrift „Die kommende Gemeinde“. Schließlich wurde der Bund zum „Freundeskreis der kommenden Gemeinde“ erweitert. 1921 hatte er sich in Tübingen für Religionswissenschaften und Indologie habilitiert, war ab 1925 außerordentlicher Professor in Marburg, kehre aber 1927 auf den Lehrstuhl für Religionswissenschaften und Indologie nach Tübingen zurück. Diesen Lehrstuhl hatte er bis 1945 inne. In diesem Jahr wurde er Nachfolger Rudolf Ottos im von diesem gegründeten „Religiösen Menschheitsbund“. Der er davon ausging, dass die jüdisch-christliche Religion letztlich dem germanischen Volk übergestülpt wurde, versuchte er zu den „Wurzeln“ zurückzukehren, die seiner Ansicht nach in der indischen Religion noch zum Teil vorfindbar seien. Im Mai 1933 trat Hauer zunächst Alfred Rosenbergs völkisch gesinntem, antisemitischen Kampfbund für deutsche Kultur bei und arbeitete im Rassenpolitischen Amt der NSDAP und in der SS-Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe mit. Am 30. Juli 1933 führte Hauer in Eisenach eine Reihe freireligiöser und „völkisch-deutschgläubiger“ Gruppen zur Deutschen Glaubensbewegung zusammen, die er gemeinsam mit Ernst Graf zu Reventlow leitete. Im Dezember 1933 wurde er förderndes Mitglied der Hitlerjugend, im Sommer 1934 trat er der SS und SD bei. Nach 1945 wird Hauer bei Guardini um ein Gutachten für seine religionswissenschaftlichen und gegen die Anthroposophie gerichteten Werke bitten, was Guardini aber nachdrücklich ablehnte. Vgl. BSB Ana 342, B 4-Sonderkonvolut, Mappe 3: Briefe Hauers vom 3. und 23. November sowie Antwort Guardinis vom 29. November 1948.]
Diese Gesprächsaufzeichnungen Görners sind Anfang der achtziger Jahre veröffentlicht worden. Gerl-Falkovitz hat seit 2004 auf diesen nicht unwichtigen Ausschnitt hingewiesen [Gerl-Falkovitz, „Ich will nichts anderes, als die Kirche interpretieren”. Romano Guardini und Martin Heidegger – Anmerkungen zu einem latenten Gespräch, in: Die Tagespost, Würzburg, 57, 2004, 19. Juni; dies., Geheimnis des Lebendigen, a.a.O., S. 205].
Einträge in „Überlegungen V“ (1937/38)
Guardini als ernstester und geschicktester katholischer „Verführer des Geistes“
Seit 2014 sind Heideggers „Überlegungen II-VI“ oder auch „Schwarze Hefte“ genannt, in der Gesamtausgabe veröffentlicht. Der anglikanische Theologe George Pattison gibt nun in seinem Aufsatz „Why Heidegger didn’ t like Catholic Theology: The Case of Romano Guardini“ (2017), in dem er erstmals auf die auf Guardini bezogene Stelle hinweist und sie einzuordnen versucht, irrtümlich als Eintragsjahr an: „1932 entry“[George Pattison, Why Heidegger didn´t like Catholic Theology: The Case of Romano Guardini, in: Marten Björk/Jayne Svenungsson (Hrsg.), Heidegger’s Black Notebooks and the Future of Theology, 2017, S. 77-98, hier S. 78]; irrtümlich, da im Unterschied zu den vorausgehenden „Überlegungen II-IV“ die Schwarzen Hefte V und VI zwar nicht direkt datiert, die „Überlegungen V“ aber aufgrund von Zeitangaben im Text eindeutig auf das Wintersemester 1937/38 eingegrenzt werden können. In diesen „Überlegungen V“ heißt es nun im Abschnitt 58 über Guardini:
„Große Verführer des Geistes fehlen – umso zahlreicher sind die mittelmäßigen. Der ernstesten und vor allem geschicktesten Einer ist z.B. der Theologe Guardini. Er spielt alle Möglichkeiten des Geistes an großen Gestalten der Dichter und Denker durch, nie platt und nie grobschlächtig katholisch – immer im Anschein des ‚modernen’ ‚Ringens’ um die Wahrheit und mit allen Mitteln heutigen Denkens und Sagens. Aber nirgends ist eine wesentliche Frage gewagt und gar eine bislang nicht gestellte Frage errungen -; es wird immer nur der schon feste Besitz an Antworten für die, die aus allem Fragen fliehen wollen, neu zurechtgemacht. Das gibt sogar beim Durchschnitt der Denkfaulen und Müden den Anschein des ‚Schöpferischen’, und doch ist alles nur ein sehr geschicktes Nachmachen dessen, was in ihrer Art schon die Kirchenväter und Apologeten der ersten christlichen Jahrhunderte ‚praktizierten’. Das jetzige ‚Geistesleben’ ist aber so richtungs- und maßstablos, daß es in solcher Schriftstellerei nicht nur sein Genüge findet, sondern sich sogar gegenüber Früherem für überlegen hält“[Heidegger, Überlegungen V, Abschnitt 58, in ders., Überlegungen II-VI, Gesamtausgabe, Bd. 94, a.a.O., S. 345].
Guardini als „ernstester und geschicktester“, „nie platter oder grobschlächtiger“ unter all den „mittelmäßigen“, weil bloß „apologetischen“ und die Tradition „nachmachenden“ „Verführern des Geistes“ – das ist eine sehr eindrucksvolle Zusammenstellung von Wertungen für den ehemaligen Studienkollegen, dessen Gegensatzlehre er doch als „vielversprechend“ charakterisierte. Offensichtlich war Heidegger auch von Guardinis Art zu „Denken“ und „Sagen“ enttäuscht. Ob er dabei Guardinis einzigen zu diesem Zeitpunkt veröffentlichten, unmittelbaren Bezug auf ihn in den Dostojewskij-Gestaltdeutungen kannte oder ihm Guardinis Stellungnahmen in den Vorlesungen, Vorträgen oder Gesprächen im Freundeskreis oder auf Burg Rothenfels zugetragen worden sind, muss dabei offenbleiben.
Unmöglichkeit und Überflüssigkeit nationalsozialistischer Philosophie
Dass Heideggers Einschätzung gegenüber der „Unmöglichkeit“ und „Überflüssigkeit“ konfessioneller oder ideologischer Philosophien sich keineswegs nur auf die katholischen Versuche erstreckte, sondern genereller Natur waren, zeigt dagegen die im zeitlich nahen Zusammenhang (Abschnitt 61) stehende Feststellung:
„Sobald eine Philosophie die Frage nach der Wesung des Seyns erreicht hat – und erst dann ist sie künftig rechtmäßige Trägerin dieses Namens – muß sie notwendig gegen ihr Zeitalter denken. Und wenn Philosophie etwas nicht ist und niemals sein kann, dann dieses: der ‚Ausdruck’ ihrer Zeit in Gedanken gefaßt. Aber jene notwendige Gegnerschaft gegen ihre Zeit kann auch niemals zur Zuflucht für jene werden, die zu ihrer Zeit nur am Vorherigen und Bisherigen haften und den Willen zur Gestaltung der Zukunft verwirren und lähmen, indem sie ihm die Last einer unschöpferisch gewordenen Überlieferung als Maßstab anhängen. Jene Gegnerschaft der Philosophie gegen ihre Zeit entspringt nicht irgendwelchen Mängeln und Mißständen des Zeitalters, sondern kommt aus dem Wesen der Philosophie und dies umso genötigter, je mehr gerade und je echter das Wollen ins Künftige Gestalt und Richtung in der Zeit gewinnt. Denn immer noch ist auch dann und zwar wesenhaft das Erdenken der Wahrheit des Seyns aller Einrichtung, Rettung und Wiederbringung des Seienden – allem unmittelbaren Schaffen und Werken – vorausgesprungen. Deshalb kann auch die Philosophie – gesetzt, daß sie solche ist – nie ‚politisch’ abgeschätzt werden, weder in einem bejahenden noch in einem verneinenden Sinne. Eine nationalsozialistische Philosophie’ ist weder eine ‚Philosophie’ noch dient sie dem ‚Nationalsozialismus’ – sondern läuft lediglich als lästige Besserwisserei | hinter ihm her – aus welcher Haltung schon zur Genüge das Unvermögen zur Philosophie erwiesen ist. Sagen, eine Philosophie sei ‚nationalsozialistisch’ bzw. sei dies nicht, bedeutet ebensoviel wie die Aussage: ein Dreieck ist mutig bzw. ist es nicht – also feig“[Heidegger, Überlegungen V, Abschnitt 61, in ders., Überlegungen II-VI, Gesamtausgabe, Bd. 94, a.a.O., S. 348].
Geradezu als Ergänzung steht hierzu in den „Überlegungen VI“ über die Unmöglichkeit nationalsozialistischer und katholischer Philosophie:
„Wer heute die Überflüssigkeit und Unmöglichkeit der Philosophie verkündet, hat den Vorzug der Ehrlichkeit vor allen jenen, die eine ‚nationalsozialistische Philosophie’ betreiben. Dergleichen ist noch unmöglicher und zugleich weit überflüssiger als eine ‚katholische Philosophie’“[Heidegger, Überlegungen VI, Abschnitt 154, in ders., Überlegungen II-VI, Gesamtausgabe, Bd. 94, a.a.O., S. 509].
Bemerkenswert ist dabei, dass bei Heidegger dieser „Affekt“ gegen die „katholische Philosophie“ so tief sitzt, dass er auch noch nach 1945, wie aus seinen jüngst veröffentlichten „Anmerkungen II“ (1946) hervorgeht, schreibt:
„“Katholische Philosophie“, dieses Gebilde, und eher noch sein Aushängeschild, wagt sich jetzt aufdringlicher hervor. Daß sich schon im bloßen Titel die bare Unmöglichkeit kundtut, scheinen die noch nicht zu merken, die meinen, es sei nötig, mit dieser Form von Spiegelfechterei sich einzulassen. „Katholische Philosophie“ – das ist nicht viel anders als „nationalsozialistische Wissenschaft“ – ein viereckiger Kreis, ein hölzernes Eisen, das, wenn es ins Feuer kommt, zur Asche zerfällt, statt gehärtet zu werden. Aber es geht nicht einmal ins Feuer. Es erhebt nur ein großes Geschwätz nach dem Vorbild des modernen Journalismus – auch vor der „Aneignung“ dieser Erscheinung schreckt man nicht zurück. „Katholische Philosophie“ – dieser Titel erklärt schon, falls man ihn denkt, die unbedingte Bereitschaft zum – Verzicht auf das Denken, aber hinter der Fassade und mit dem Aufwand der Terminologie des jeweils gerade gängigen „Philosophierens“, das auch nicht immer schon Denken ist.“
Es folgen Gedankenspiele zur „antifaschistischen Zusammenarbeit“ als „reizvolles“ Experiment, das aber „ein elendes Gezappel“ und eine „unter christlichen Phrasen verdeckte Irreführung“ und „geschichtliche Falschmünzerei“ sei, „die nur noch raffinierter wiederholt, was soeben war.“
„Ob nun gar bei diesem Geschwätz, das sich „katholische Philosophie“ nennt, auch jemals nur eine Spur von einem Kern einer wirklichen Einsicht, ja auch nur einer echten Frage ans Licht kommt oder nicht, darnach fragt niemand, weil niemand so zu fragen vermag; für das Blühen dieses Unvermögens wird gesorgt – und das ist allerdings eine eigenständige Aufgabe und bewußte Absicht dieser Art „Philosophie“. Doch es ist nur ein klägliches Zeichen mehr, daß alles zu Ende gegangen“[Heidegger, Anmerkungen II, in: ders., Anmerkungen I-V, Gesamtausgabe, Bd. 97, Frankfurt am Main 2015, S. 158].
Wer mit dem „Aushängeschild“ der „Katholischen Philosophie“ gemeint ist, erschließt sich nicht, Guardini dürfte an dieser Stelle aber wohl kaum gemeint sein. Eine Grammatik des griechischen Begriffs „katholisch“, wie wir ihn bei Guardini finden, der sehr differenziert von „katholischer Religionsphilosophie“, „katholischer Weltanschauung“ und „katholischer Demokratie“ spricht, während er gleichzeitig von vorschnellen, unbedachten Verknüpfungen wie einer „christlichen“ wie „katholischen“ „Kultur“, „Politik“ oder „Gesellschaft“, sogar einem „christlichen“ oder „katholischen“ „Mittelalter“ warnt , ist für Heidegger offenbar nicht möglich bzw. nachvollziehbar.
Gemeinsames Thema „Hölderlin“
Schließlich wird aus den „Überlegungen V“ (1937/38) in den „Schwarzen Heften“ das große gemeinsame Thema Guardinis und Heideggers für die kommenden Jahre deutlich, nämlich die „Rettung“ Hölderlins aus einer einseitig „völkischen“ Deutung. Durch die Abschnitte 51 und 59 wird der Abschnitt 58 über Guardini geradezu „gerahmt“. Im Abschnitt 51 beginnt Heidegger seine Überlegungen zu Hölderlin:
„Einsam steht da der Dichter – Hölderlin – und er wird noch mehr in seine Einsamkeit zurückgestoßen, wenn er nun gar „im Zuge“ der „Kulturpolitik“ zeitgemäß gemacht wird – ohne daß wir uns darauf besinnen: wozu Dichter jetzt sind -; sein Ahnungsreichstes in seinem Werk ist daher: die Dichtung des Dichters. Aber wer soll dies ermessen, der nicht zugleich die Not der Seinsverlassenheit aus dem Grunde erfährt? Was wird, wenn wir nicht aus diesem tiefsten Grunde zu Gründern seiner Überwindung werden? Wenn wir nicht offen und vertrauend genug werden, um Beides zu leisten: dieses Ursprünglichste und das Nächste der Bewältigung der unmittelbaren Bedrängnisse?“[Heidegger, Überlegungen V, Abschnitt 51, in ders., Überlegungen II-VI, Gesamtausgabe, Bd. 94, a.a.O., S. 340].
Im Abschnitt 59 schließlich kommt er zum weitreichenden Entschluss:
„Hölderlin – könnten wir ihn aus dem Heutigen wieder ganz herausnehmen, um das Bruchstückhafte seines wesentlichsten Werkes ganz zu ermessen und zu retten. Das Werk so als Bruchstück zu erfahren, verlangt die höchste Kraft; denn dies meint nicht, daß wir das Unfertige und Abgebrochene herausrechnen und feststellen und damit ein ‚Negatives’ – sondern Bruchstücke meinen wir als die äußersten Stöße und Anstrengungen, in einem ganz neuen – abendländisch noch gar nicht geahnten – Bereich einzubrechen und ihn nach wesentlichen Bezirken aufzubrechen und erste wesentliche Gestaltungen vorzubrechen. Das ist nichts Unfertiges – sondern das Höchste, was an Tiefstem im Schaffen der Wahrheit des Seyns erreicht werden kann. Stücke des Bruches, des Brechens der großen Erstarrung und Verlorenheit und dies im scheinbar ohnmächtigen Wort. Welches Umlernen aber ist da nötig, um das Werk des Dichters zu seiner verborgensten Wahrheit zu befreien. Welches Darangeben alles Bisherigen und vermeintlich Gesicherten. Welcher Verzicht auf die nur schwer zu beseitigenden Vergleiche und Vergleichsformen mit anderen Dichtern. Welche Kraft in dem notwendig Zeitgenössischen gerade den Aufbruch des Zukünftigen zu erahnen. Welcher Wille, aus dem scheinbar Geringen des Werkes die Quelle des höchsten Reichtums zum Springen zu bringen“[Heidegger, Überlegungen V, Abschnitt 59, in ders., Überlegungen II-VI, Gesamtausgabe, Bd. 94, a.a.O., S. 346].
Nun findet sich in der Guardini-Bibliothek – zwar ohne Datierung aber mit handschriftlich eingetragenem „Herzlichen Gruß“ – eine Erstausgabe von Heideggers Schrift „Hölderlin und das Wesen der Dichtung“ aus dem Jahr 1937, die zuerst im Dezemberheft 1936 der Zeitschrift „Das Innere Reich“ gedruckt worden war.
Q012
Widmung Heideggers an Guardini (vor 1941) [Guardini-Bibliothek gb 4053]
Die Widmung lautet: "Herzlichen Gruß Martin Heidegger"
Eine Erwähnung dieser Schrift in Guardinis 1939 erschienenen Buch „Welt und Person“ belegt zwar, dass Guardini das Buch vor 1939 kannte, aber nicht zweifelsfrei, dass die Widmung bereits kurz nach dem Erscheinen und noch vor der Herausgabe von „Welt und Person“ signiert wurde. Da durch die zeitlich nachfolgenden Widmungen von 1940/41 aber eine Kontaktaufnahme Heideggers spätestens Anfang der vierziger Jahre belegbar ist, spricht nichts dagegen diese Widmung in den Zeitrahmen von 1937 bis 1941 zu stellen.
In dem besagten Abschnitt in „Welt und Person“ bezieht sich Guardini zustimmend auf Heideggers Verständnis der Sprache:
„Die Sprache gewährt, wie Heidegger sagt, ‚überhaupt erst die Möglichkeit, inmitten der Offenheit von Seiendem zu stehen’ (‚Hölderlin und das Wesen der Dichtung’, 1937, S. 7)“[Guardini, Welt und Person (1939), Mainz (6)1988, S. 138].
Auch die nächste in der Guardini-Bibliothek entdeckte handschriftliche Eintragung Heideggers findet sich in einer Hölderlin-Schrift Heideggers, nämlich – dieses Mal mit dem Dezember 1941 datiert – in „Hölderlins Hymne ‚Wie wenn am Feiertage …’“
Q013
Widmung Heideggers an Guardini (1941) [Guardini-Bibliothek gb 4048]
Die Widmung lautet: "Romano Guardini Mit herzlichem Gruß u. Dank Dez. 41. Martin Heidegger"
Da hier Heidegger nun ausdrücklich „dankt“ ist diese Widmung eine Antwort auf einen vorausgehenden Kontakt von Seiten Guardinis, sei es durch ein eigenes Buchgeschenk Guardinis oder durch eine Korrespondenz.
Aufgrund dieser Buchwidmungen spätestens ab Anfang der 1940er Jahre ist die oft – von Hugo Ott – abgeschriebene Behauptung, dass Heidegger sich erst im August 1945 an seine Freundschaft mit Guardini „erinnerte“, nicht mehr aufrechtzuerhalten [So zum Beispiel noch Hugo Ott, Martin Heidegger: Unterwegs zu seiner Biographie, 1988, S. 20 im Blick auf den Brief vom 6. August 1945: „Auch wenn Heidegger über lange Jahre – besonders während der Phase des Dritten Reiches – zu dem Religionsphilosophen Guardini in keiner Beziehung stand, jetzt war es sehr geboten, sich in Erinnerung zu bringen.“].
In Kurzform sei an dieser Stelle die „Hölderlin“-Chronologie des „latenten“ Gesprächs zwischen Guardini und Heidegger nachgezeichnet:
- Guardini – 1935/36: „Hölderlins Bild von der Geschichte“, „Der Strom und der Raum des menschlichen Daseins in der Dichtung Hölderlins“ I und II, in: Die Schildgenossen, 15, 1935/36
- Heidegger 1936/37: „Hölderlin und das Wesen der Dichtung“, in: Das innere Reich, 1936/37; dann eigenständig „Hölderlin und das Wesen der Dichtung“, München 1937.
- Guardini 1939 (1955): „Hölderlin. Weltbild und Frömmigkeit“, Leipzig 1939, gegenüber der Schildgenossen-Fassung von 1935/36 mit drei neuen Kreisen „Die Götter und der religiöse Bezug“, „Die Natur“ und „Christus und das Christliche“
- Heidegger 1941: „Hölderlins Hymne ‚Wie wenn am Feiertage …’“, Halle 1941;
- Heidegger 1944 (1951): „Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung“, Frankfurt am Main 1944, (2., erweiterte)1951;
- Guardini 1946: „Form und Sinn der Landschaft in den Dichtungen Hölderlins“. Vortrag vom 8. Juli 1944 vor der Stuttgarter Hölderlin-Gesellschaft, 1946;
Guardini, die Hölderlin-Gedenkschrift und die Hölderlin-Gesellschaft
Aus einem Brief von Heidegger an Rudolf Stadelmann vom 30. November 1945 (siehe unten) wissen wir, dass Heidegger „bei der Vorbereitung der Hölderlin-Gedenkschrift damals Herrn Kluckhohn auch die Mitarbeit Guardinis vorgeschlagen“ hatte. Dass dies unterblieben sei, kommentierte Heidegger Stadelmann gegenüber mit der Bemerkung:
„Er war aber offensichtlich nicht tragbar“[Brief von Heidegger an Stadelmann vom 30. November 1945, in: Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, Gesamtausgabe, Bd. 16, a.a.O., S. 405 ff.].
Gemeint ist die Hölderlin-Gedenkschrift zu dessen 100. Todestag 1943. Hölderlin war am 7. Juni 1843 in Tübingen gestorben. Die Vorbereitungen zu dieser im Auftrag der Stadt und der Universität Tübingen herausgegebenen Festschrift hatten bereits Ende 1940 begonnen. Denn Max Kommerell begründet bereits in einem Brief vom 8. November 1940 an den Herausgeber Paul Kluckhohn seine Verweigerung eines Beitrags (vgl. Nils Kahlefendt, „Im vaterländischen Geiste …“ Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe und Hölderlin-Gesellschaft (1938-1946), in: ders./Werner Volke/Bruno Pieger/Dieter Burdorf, Hölderlin entdecken. Lesarten 1826-1993, Tübingen 1993, S. 115-163, hier S. 148; außerdem Christian Weber, Max Kommerell. Eine intellektuelle Biographie, 2011, S. 462]. Demnach wusste Kommerell schon vor dem 7. Oktober 1942, dass Gadamer für die Festschrift einen Beitrag übernommen hat.
[Kommerell hat im Übrigen Heidegger in einem Brief an Karl Reinhardt vom 19. Januar 1942 ausdrücklich mit Walter Friedrich Otto und Romano Guardini verglichen: „Heidegger: ich beschränke mich aufs Zusehen, da ich gar nicht tangiert bin und als Literaturhistoriker sehr viel lerne… Daß er seine philosophische Situation nicht aushält, könnte verstimmen; daß er wiederum dies Factum verschleiert durch das befremdende Ausdrucksmittel einer Dichter-Interpretation, allerdings noch mehr; und daß er den Dichter, der ihm Götter erlaubt, mit hinlänglicher Scholastik nach Heideggerscher Esoterik tönen läßt, ist am wenigsten fein. Aber mich beschäftigt die Frage: wie sieht diese Schrift aus als Übergang, wenn man das Ganze seiner Entwicklung überblicken wird – kurzum, wie Sie selbst sagten: Was geht hier vor?, – zu sehr und ich empfinde auch die ẟυναμις in allem zu deutlich um nicht in andern Augenblicken neugierig, ja fast fasciniert hinzuhören. Und es ist ihm nicht so gemütlich dabei wie Otto und Guardini, deren geistige Situation viel molliger ist – sondern er erfriert oder verbrennt sich, wie es sich gehört“(Max Kommerell, Briefe und Aufzeichnungen 1919-1944, aus dem Nachlass hrsg. von Inge Jens, 1967, S. 388).]
Daher gehört wohl auch der Vorschlag Heideggers an den Anfang der vierziger Jahre. Die Gedenkschrift enthielt schließlich Beiträge von Josef Weinheber, Paul Kluckhohn, Paul Böckmann, Hans-Georg Gadamer, Walther Rehm, Kurt Hildebrandt, Theodor Haering; W. F. Otto, Wilhelm Böhm, Friedrich Beissner und Martin Heidegger, letzterer mit seinem Text über die Hymne „Andenken“. Die Mutmaßung Heideggers, dass Guardini 1943 für die Festschrift „nicht tragbar“ gewesen sei, muss dahingehend eingeschränkt werden, dass man Guardini dann – siehe auch den eigenen Angaben in seinen „Berichten über mein Leben“ zufolge – 1944 nach Stuttgart eingeladen hat, um vor der ebenfalls anlässlich des Gedenkjahres in Tübingen gegründeten „Hölderlin-Gesellschaft“ zu sprechen:
„Ich bin nun seit eineinhalb Jahren hier, in Mooshausen, einem kleinen Dorfe im schwäbischen Allgäu. In dieser Zeit ist das Heimweh nach der akademischen Lehrtätigkeit, mit der ich abgeschlossen zu haben glaubte, wieder sehr gewachsen. Im Frühjahr 1939 wurde der Lehrstuhl aufgehoben – vor etwa einem halben Jahre habe ich in Stuttgart, eingeladen von der dortigen Hölderlin-Gesellschaft, in einem Hörsaal der technischen Hochschule einen Vortrag über ‚Die Landschaft in Hölderlins Dichtung’ gehalten. Eigentlich war es das einzige Mal, daß ich mich seitdem ganz an meinem Platz gefühlt habe. Niemand weiß, was die Zukunft bringt: wer weiß, vielleicht werde ich doch noch einmal gerufen ...“[Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, a.a.O., S. 21].
Maßgeblich beteiligt war Guardini dann auch an der Neugründung der „Friedrich-Hölderlin-Gesellschaft“ nach dem Zweiten Weltkrieg. So berichtet das Hölderlin-Jahrbuch von 1947:
„Die 1943 gegründete Hölderlin-Gesellschaft war durch den Zusammenbruch des nationalsozialistischen Staates von den Mächten befreit worden, die schon vor ihrer Gründung sich ihr aufgedrängt und die Verwirklichung ihrer Absichten außerordentlich erschwert hatten. Im Juni 1945 hatte eine innere Umbildung erfolgen können, die der ursprünglich geplant gewesenen Gestalt der Gesellschaft entsprach. Aus grundsätzlichen Erwägungen war aber die formelle Auflösung der Gesellschaft nötig, die in einer Sitzung des Beirats am 14. März 1946 erfolgte. Damit wurde der Weg für eine Neugründung frei, die von den Herren Professor Guardini, Oberbürgermeister Hartmeyer , Professor Kluckhohn, Staatsrat Professor Karl Schmid und der Rektor der Tübinger Universität Professor Steinbüchel beantragt wurde und die Zustimmung der Französischen Militärregierung fand. Am 21. Oktober 1946 hat die Gründungsversammlung der Friedrich Hölderlin Gesellschaft in der Universität Tübingen stattgefunden, […]“[Bericht über die Gründung der „Friedrich Hölderlin Gesellschaft“, in: Hölderlin-Jahrbuch, 1947, S. 240. Der SPD-Politiker Adolf Hartmeyer (1886-1953) war von 1946 bis 1948 Oberbürgermeister von Tübingen. Mit "Karl Schmid" ist Carlo Schmid gemeint].
Guardini übernahm in der Gesellschaft bis 1950 das Amt des Vizepräsidenten. Nachdem er nicht mehr die Möglichkeit sah, dieses Amt altersbedingt und aufgrund seiner vielfältigen Beanspruchungen sinngemäß auszufüllen, erklärte er seinen Rücktritt und Austritt, bekam im Gegenzug dafür aber die Ehrenmitgliedschaft angetragen, die Guardini auch dankbar angenommen hat [Vgl. weitere Geschichte in BSB Ana 342, vor allem B 2 Sachakten/Schriftwechsel, Schachtel 3, Mappe 2 bzgl. Austritt und Ehrenmitgliedschaft].
Heidegger wurde erst 1955 Mitglied der „neuen“ Friedrich-Hölderlin-Gesellschaft, hielt 1959 bei der Jahresversammlung seinen vielbeachteten Vortrag „Erde und Himmel bei Hölderlin“. Nach fortgesetzter Kritik an ihm persönlich, seiner „Sprache von Meßkirch“ und an seiner Hölderlin-Deutung, vor allem durch Adorno und Minder, die dies sowohl mit Heideggers Vergangenheit als auch mit seiner zunehmend schärfer werdenden Polemik gegenüber von seiner Deutung abweichenden Autoren begründeten, trat er aber 1968 als Mitglied aus. Er kehrte aufgrund einer Einladung 1974 wohl nur noch einmal für einen Vortrag zurück [Vgl. dazu Theodor Pfizer, Die Ausnahme, in: Günther Neske (Hrsg.), Erinnerung an Martin Heidegger, Pfullingen 1977, S. 191-196].
In den letzten Kriegsjahren
Heideggers Kritik an Guardinis Rilke-Interpretation
Im Wintersemester 1942/43 hält Heidegger Vorlesungen über „Parmenides“. Gegen Ende des Semesters kommt er im Zweiten Teil „Die vierte Weisung des Wortes aletheia [im Original griechisch geschrieben, HZ]. Das Offene und das Freie der Lichtung des Seins. Die Göttin „Wahrheit“ im Abschnitt „Das ‚Offene’ der ‚Kreatur’ in der achten Duineser Elegie Rilkes“ auf Guardinis Auslegung der achten „Duineser Elegie“ zu sprechen und wendet sich dabei explizit gegen Guardinis Interpretation dieses „Offenen“ im Blick auf Tiere und vernunftlosen Lebewesen:
„Was Rilke mit dem Offenen meint, können wir nur verstehen und überhaupt erst eigentlich fragen, wenn klar gesehen wird, daß der Dichter den Unterschied zwischen dem Tier und vernunftlosen Lebewesen überhaupt auf der einen und dem Menschen auf der anderen Seite im Blick hat. Guardini dagegen legt aus in einer Hinsicht, als werde in dieser Elegie aufgrund des Bezugs, der Kreatur – soll sagen des ens creatum überhaupt – zum ‚Offenen’ gleichsam ein Beweis für die Existenz des Schöpfergottes gedichtet. Mit der Entgegenstellung von Tier und Mensch, vernunftlosen und unvernünftigen Lebewesen, finden wir uns innerhalb einer Unterscheidung, deren anfängliche Gestalt im Griechentum zu suchen ist. […]Der Mensch, und er allein, ist das Seiende, das, weil es das Wort hat, in das Offene hineinsieht und das Offene im Sinne des alethes [griechisch] sieht. Das Tier dagegen sieht das Offene gerade nicht und nie und mit keinem einzigen aller seiner Augen. Der Beginn der achten Elegie Rilkes sagt genau das Gegenteil. Bringt Rilke somit eine Umkehrung der abendländischen metaphysischen Bestimmung von Mensch und Tier in ihrem ‚Verhältnis’ zum Offenen? Allein, zum Wesen einer Umkehrung (‚Revolution’) gehört als Grundbedingung, daß gerade das, im Hinblick worauf umgekehrt wird, das Selbe bleibt und als das Selbe festgehalten wird. Das trifft jedoch im vorliegenden Fall nicht zu. Denn das Offene, das Rilke meint, ist nicht das Offene im Sinne des Unverborgenen. Rilke weiß und ahnt nichts von der aletheia [im Original griechisch geschrieben, HZ]; er weiß und ahnt nichts davon, so wenig wie Nietzsche. Demnach verharrt Rilke ganz in den Grenzen der überlieferten metaphysischen Bestimmung des Menschen und des Tieres“[Heidegger, Parmenides, Gesamtausgabe, Bd. 54, Frankfurt am Main 1982, S. 230 f.]
Heidegger bezieht sich hier, ohne es explizit zu nennen, auf das 1941 in Berlin veröffentlichte Buch Guardinis „Zu Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins. Eine Interpretation der zweiten, achten und neunten Duineser Elegie“. Zumindest wissen wir durch diese Verweise, dass Heidegger auch Guardinis Rilke-Deutung unmittelbar zur Kenntnis genommen hat.
In dieser Deutung schrieb Guardini [Guardini, Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins, (4)1996, S. 269]:
„‚Die Kreatur’, von welcher der erste Vers spricht, ist die Schöpfung. Wie die nächsten Verse zeigen, zunächst die der Tiere – jener, die ‚Augen’ haben. Damit vollziehen sie einmal die unmittelbare Funktion dieser Organe: sie sehen die Dinge und Vorgänge ihrer Umgebung. Darüber hinaus tut aber ‚die Kreatur’ mit ihren Augen noch etwas anderes: sie sieht ins ‚Offene’ hinaus – und es ist für die Rilkesche Bestimmung des menschlichen Daseins entscheidend, daß seiner Ansicht nach darin dieser Akt fehlt. Was ist mit diesem ‚Offenen’ gemeint?“
Zur Erläuterung zitierte Guardini aus dem Brief von Rilke an Witold von Huléwicz vom 13. November 1925, in dem es heißt:
„Lebens- und Todesbejahung erweist sich als Eines in den ›Elegien‹. Das eine zuzugeben ohne das andere, sei, so wird hier erfahren und gefeiert, eine schließlich alles Unendliche ausschließende Einschränkung. Der Tod ist die uns abgekehrte, von uns unbeschienene Seite des Lebens: wir müssen versuchen, das größeste Bewußtsein unseres Daseins zu leisten, das in beiden unabgegrenzten Bereichen zu Hause ist, aus beiden unerschöpflich genährt ... Die wahre Lebensgestalt reicht durch beide Gebiete, das Blut des größesten Kreislaufs treibt durch beide: es gibt weder ein Diesseits noch ein Jenseits, sondern die große Einheit, in der die uns übertreffenden Wesen, die ›Engel‹, zu Hause sind [...] Wir, diese Hiesigen und Heutigen, sind nicht einen Augenblick in der Zeitwelt befriedigt, noch in sie gebunden; wir gehen immerfort über und über zu den Früheren, zu unserer Herkunft und zu denen, die scheinbar nach uns kommen. In jener größesten ›offenen‹ Welt sind alle, man kann nicht sagen, ›gleichzeitig‹, denn eben der Fortfall der Zeit bedingt, daß sie alle sind. Die Vergänglichkeit stürzt überall in ein tiefes Sein [...] Nicht in ein Jenseits, dessen Schatten die Erde verfinstert, sondern in ein Ganzes, in das Ganze.“
Im Anschluss daran interpretierte Guardini diese Aussagen Rilkes über das „Offene“:
„Hier erscheint der Begriff des „Offenen“ als Charakter jener „Welt“, die in den Elegien als Ergebnis des vom Menschen geforderten existentiellen Verhaltens verkündet wird.“
Diese Deutung von Rilkes Elegie war Guardini selbst so wichtig, dass er sie textgleich sowohl in „Der Engel in Dantes Göttlicher Komödie“ als auch in „Welt und Person“ aufgenommen hat.
Drei Widmungen an Guardini im Dezember 1943
Zu den beiden Hölderlin-Schriften kommen Ende 1943 noch weitere Buchgeschenke hinzu: Im Dezember 1943 schenkt Heidegger Guardini nämlich drei Bücher und versieht sie gleichlautend und gleichgestaltet mit handschriftlichen Eintragungen. Es handelt sich dabei erstens um die 1943 gedruckte Ausgabe des Vortrags „Vom Wesen der Wahrheit“ von 1930; zweitens und vorab zum im Buch eingetragenen Erscheinungsjahr 1944 [sic!] Martin Heideggers „Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung“ und drittens um die mit einem Nachwort versehene Neuausgabe der Freiburger Antrittsvorlesung „Was ist Metaphysik?“
Q014
Gleichlautende Widmungen Heideggers an Guardini (1943) [Guardini-Bibliothek gb 4041, gb 4046 und gb 4047]
Die Widmungen lauten: "Mit herzlichem Gruß und Dank Dez. 1943 M. Heidegger"
Inwieweit diese Buchgeschenke bereits mit Begleitbriefen oder Beilagen versehen waren, ist nicht mehr feststellbar, was auf Seiten Guardinis daran liegt, dass er seine empfangenen Briefe vor 1943 weitestgehend vernichtet hat und erst ab seinem Aufenthalt in Mooshausen – von Herbst 1943 an – vor allem aufgrund der nun mehrheitlichen Verwendung einer Schreibmaschine regelmäßig Durchschläge und Briefentwürfe vorliegen. Allerdings hielt Guardini auch bei privateren und persönlicheren Briefen weiterhin an der Handschriftlichkeit fest, was erklären würde, dass es von den Briefen und Karten an Heidegger keine Durchschläge bzw. Entwürfe gibt.
Johannes Spörls Vergleich der Antike-Deutung Guardinis und Heideggers im Jahr 1944
Guardini hat seinem jüngeren Quickborn-Freund Johannes Spörl seinen „Tod des Sokrates“ zugeeignet. Spörl hat das Widmungsexemplar wiederum an Karl Färber weitergeschenkt [Karl Färber, Brief, in: Speculum historiale. Geschichte im Spiegel von Geschichtsschreibung und Geschichtsdeutung. Festschrift für Johannes Spörl zum 60. Geburtstag, München 1965., S. 759-762, hier S. 761].
Spörl hatte nach seiner Lektüre des Buches eine regelrechte Eloge auf das Werk seines Lehrers und Freundes in der Form eines fünfzehnseitigen handschriftlichen Briefes verfasst. In einer Passage des Briefes zieht Spörl einen unmittelbaren Vergleich von Guardini und Heidegger. Dabei geht aus der Formulierung hervor, dass offensichtlich Guardini Heidegger als Philosoph mehr schätzte als Spörl dies tat; und dass dieser dabei wiederum auf seine eigenen Erfahrungen als Hörer des Kollegs „Der Anfang des abendländischen Denkens“ rekurrierte. Dieses Kolleg hat Heidegger im Sommersemester 1943 gehalten.
Q015
Auszug aus dem Brief von Johannes Spörl an Romano Guardini vom 28. September 1944 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1239]
Zusammenfassung wird noch erstellt
Ernst Moritz Manasse sieht in seinem Durchgang durch die „Platonliteratur“ von 1957 dagegen stärker den gemeinsamen Ausgangspunkt zwischen Guardini und Heidegger:
„Romano Guardinis: Der Tod des Sokrates läßt sich unschwer den Werken Heideggers und seiner Schüler anreihen, ohne daß doch der Verfasser als Schüler Heideggers gelten könnte. Guardinis Denken ist zunächst von Pascal geprägt worden. Von Pascal her fand er einen selbständigen Weg zur „Existenzphilosophie“, auch wenn seine deutlichsten Formulierungen durch die Auseinandersetzung mit Jaspers, Heidegger und besonders deren Ahnen Kierkegaard und Nietzsche mitbestimmt sein mögen. Von diesen Voraussetzungen her konnte es Guardini leichter als Friedlaender gelingen, den möglichen Existenzgehalt der von ihm paraphrasierten und kommentierten platonischen Dialoge (es sind die der ersten Tetralogie) als solchen zu umschreiben. Guardini erkennt wie Krüger in Sokrates-Platon den Übergang von der alten mythischen Religion zu einer persönlicheren Religiosität. Aber, indem Guardini das Dämonische mit dem Numinosen gleichsetzt, verfehlt er das Wesen des Philosophierens. Beim heutigen Sprachgebrauch erweckt es eine falsche Vorstellung, wenn versichert wird, Sokrates’ Hören auf die geheimnisvolle Stimme sei ein Zeichen seiner Kommunikation mit dem Numen Apollos. Noch bedenklicher ist es, wenn Guardini, über Jaegers theologische Interpretation der Idee des Guten hinausgehend, auch den Ideen, auf Grund ihrer Verwandtschaft mit dem Guten, den Charakter des Numinosen zuspricht. Was vielleicht einmal einen Augenblick als Möglichkeit wahr ist, wird dadurch zu einer Tatsächlichkeit verkehrt, die Platon fremd ist“[Ernst Moritz Manasse, Platonliteratur. Werke in deutscher Sprache, 1957, zu Romano Guardini siehe S. 4 und 39, hier S. 39].
Ob diese Kritik an Guardini greift, sei dahingestellt, erstaunlich ist allerdings, dass Manasse Guardini nicht nur mit Heidegger, sondern auch noch mit von Friedlaender, Krüger und Jaeger vergleicht. Damit legt er weitere Spuren für die systematische Guardini-Heidegger-Forschung.
Zur Person Johannes Spörls
Der zum „Baierngau“ gehörende Quickborner Johannes Spörl (1904-1977) führte ab 1923 einen intensiven Briefwechsel mit Guardini [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern, Nr. 1239-1252, dazu sowie weitere Briefe in BSB Ana 342, zusammen mehr als 200 Briefe und Postkarten]. Er gehört neben Felix Messerschmid zu jenen „Schülerfreunden“, die über die Jahre hinweg zu seinen engsten Vertrauten wurden. Schon 1924 hat Guardini in seiner Sammelrezension „Liturgische Bewegung und liturgisches Schrifttum“ im Literarischen Handweiser auch ein von Spörl im Auftrag des Baierngaues herausgegebenes Buch „In Gottes Namen fahren wir. Ein geistliches Weggeleit“ sehr wohlwollend besprochen [Romano Guardini, Liturgische Bewegung und liturgisches Schrifttum, in: Literarischer Handweiser, 60, 1924, 11, Sp. 579]. Spörl, der in München Geschichte studierte, war an jenem „denkwürdigen Abend“ vom 18. Januar 1928 dabei, als Guardini dort seinen Vortrag „Vom Wesen des Geistes“ hielt [Aus der unveröffentlichten Ansprache des Dekans zur Feier des 70. Geburtstages 1955, wiedergegeben durch Laetitia Böhm, Johannes Spörl (1904-1977). In mutabilitate initium conversationis. Zum Gedenken an den Herausgeber des Historischen Jahrbuchs, in: Historisches Jahrbuch, 97/98, 1977/78, S. 1*-54*, hier S. 11*].
1929 promovierte Spörl noch in München, machte dann in Bonn und Köln das Staatsexamen und die Referendarzeit. Anschließend ging er dann nach Freiburg, hat sich 1934 bei Philipp Funk habilitiert und war dort dann noch bis 1940 Privatdozent. 1934 wurde er, um seinen Status als Privatdozent abzusichern, Mitglied der SA.
1935 hatte Spörl mit einem Aufsatz über „Gregor der Große und die Antike“ zur Guardini-Festschrift beigetragen. Er wusste auch um die Studienfreundschaft Guardinis zu Philipp Funk, wie sein Nachruf auf Funk 1937 zeigt [Johannes Spörl, Philipp Funk zum Gedächtnis, in: Historisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft, Freiburg/München, 57, 1937, S. 1-15, zu Romano Guardini siehe S. 7, 10 und 15].
Von 1937 an – bis zu seinem Tod 1977 – war er in der Nachfolge seines Lehrers Philipp Funk Herausgeber des Historischen Jahrbuchs der Görres-Gesellschaft, unterbrochen nur durch den Zweiten Weltkrieg. 1941 veröffentlichte er darin Guardinis Interpretation von Rilkes zweiter Duineser Elegie [Johannes Spörl, (Anmerkungen), in: Historisches Jahrbuch der Görresgesellschaft, Köln, 61, 1941, S. 173].
Seit 1940 war Spörl außerplanmäßiger Professor in Freiburg, doch wird ihm von den Machthabern aus politischen Gründen eine Diätendozentur verweigert und dies, obwohl 1940 sein schon früher gestellter Antrag auf NSDAP-Mitgliedschaft wie bei Max Müller angenommen worden war. Ebenfalls wie Müller war auch Spörl Mitglied des von den Nationalsozialisten beargwöhnten Freiburger „Färber-Kreises“.
1947 ging Spörl schließlich von Freiburg weg und wurde Professor für mittelalterliche Geschichte in München. Ab 1949 leitete er die historische Sektion der Görresgesellschaft und war ab 1952 Vizepräsident der Görres-Gesellschaft. Ab 1950 war Spörl auch wieder als Honorarprofessor in Freiburg tätig und vermittelte zusammen mit Max Müller die Ehrenpromotion der Freiburger Philosophischen Fakultät an Romano Guardini. Zu diesem Zeitpunkt war er selbst in München Dekan der Philosophischen Fakultät. In mehreren Personen-Artikeln von 1952 bis 1969 würdigte Johannes Spörl seinen Lehrer Guardini [Johannes Spörl, (Artikel) Romano Guardini, in: Lexikon der Pädagogik, Band 2, Freiburg 1953, S. 551-552; ders., Romano Guardini, in: Katholisches Kirchenblatt, München, 1955, 10. Februar; ders., Überwindung der Zeit. Zum 1. Todestag von Romano Guardini, in: Gehört – gelesen, 16, 1969, November, S. 1201-1209; gesendet in: Bayerischer Rundfunk, Kirchenfunk, 2. Programm, 1969, 29. September, 14 Typoskriptseiten; ders., Guardinis geistiger Werdegang, in: Christ in der Gegenwart, Freiburg im Breisgau, 21, 1969, S. 333-335; wiederabgedruckt in: Helmut Zenz (Hrsg.), Deuter der christlichen Existenz. Nachrufe – Erinnerungen – Würdigungen. Romano Guardini zum 50. Todestag. Mit einer aktuellen Würdigung von Hans Maier, Mainz 2018, S. 135-146].
Bevor er von Freiburg nach München wechselte, hatte Spörl als Guardini-Freund die Rolle des vermittelnden Verbindungsmannes übertragen bekommen, als man Guardini ab Weihnachten 1945 nach Freiburg holen wollte, unabhängig von Heideggers eigenem Versuch, Guardini im Sommer 1945 diesen Schritt nahezulegen, zu einem so frühen Zeitpunkt also, als auch Guardini noch keinerlei Entscheidung zugunsten Tübingens getroffen hatte und Heidegger auch nicht wissen, sondern höchstens ahnen konnte, dass Guardini von vielen Universitäten Anfragen erhalten würde. Auch diese Chronologie der Ereignisse hätte daher in der Guardini- und Heidegger-Forschung die Frage aufwerfen müssen, ob Heidegger nicht schon vor dem Sommer 1945 wieder mit Guardini Kontakt aufgenommen haben hätte können. Außerdem wurde bislang – zumindest was die Guardini-Forschung angeht – nicht ausreichend wahrgenommen, dass Guardini im Herbst 1945 auch in Versuche involviert war, Heidegger von Freiburg nach Tübingen zu holen.
Berufungsfragen in Tübingen und Freiburg in der Nachkriegszeit 1945/46
Möglicher Wechsel Heideggers nach Tübingen mit Unterstützung Guardinis
Bereits unmittelbar nach Kriegsende gab es Überlegungen innerhalb der Universität Tübingen, Heidegger nach Tübingen zu berufen. 1997 hat Kurt Oesterle für die Zeitschrift „Allemende“ den Vorgang unter dem Titel „Der Ruf kam aus Hölderlins Turm“ – journalistisch, in der (Be-)Wertung auch einseitig – die historischen Fakten in aller Regel wohl zutreffend aufbereitet [Kurt Oesterle, Der Ruf kam aus Hölderlins Turm. Wie Heidegger 1945 fast einen Tübinger Lehrstuhl erklommen hätte, in: Allemende, 52/53, 1997, S. 172-180. Ein Irrtum ist zum Beispiel, dass Oesterle Stadelmann vor seinem Wechsel nach Tübingen 1938 in Göttingen statt in Gießen lokalisiert.]. Er stützt sich dabei vielfach auf die Angaben bei Victor Farías[Victor Farías, Heidegger et le nazisme, 1987, S. 285-288] und Hugo Ott[Ott, Martin Heidegger, Unterwegs zu seiner Biographie, 1988, S. 19-25]. Beginnend mit dem Verweis auf die „Tübinger Chronik“ vom 1. Dezember 1933, die geradezu begeistert im Freiburger Rektor Heidegger den „stärksten nationalsozialistischen Vorkämpfer unter den deutschen Gelehrten“ sah, wird von Oesterle die Verhinderung des Wechsels als erfolgreiche Opposition von „resoluter Nazi-Gegnerschaft“ und „demokratischem Verantwortungsbewusstsein“ angesehen:
„Alte Heidegger-Knappen hatten gleich nach Kriegsende versucht, ihren Meister aus Freiburg aus der Schußlinie zu bringen, indem sie andernorts seine Berufung betrieben, wie in Tübingen so auch in Göttingen. Heideggers Tübinger Kontrahenten behielten schließlich recht: Es glückte dem Philosophen 1945 nur kurzzeitig, die Gunst der Stunde Null zu nützen, schon bald geriet er in Freiburg in die Mühlen der Entnazifizierung – an eine glorreiche Fortsetzung der Karriere war vorläufig nicht mehr zu denken“[Oesterle, a.a.O., S. 172].
Als „Hauptknappe“ wird von Oesterle dabei Rudolf Stadelmann identifiziert, der als „kommissarischer Dekan“ der Philosophischen Fakultät, zwei Monate nach dem Ende des Dritten Reiches, also im Frühsommer 1945 Heidegger anfragte, ob er sich vorstellen könne in Tübingen zu lehren, da dort zwei philosophische Lehrstühle wieder zu besetzen seien, vor allem aber der Lehrstuhl für Systematische Philosophie, den während des Dritten Reiches der Nationalsozialist Theodor Haering innehatte. Nach der sofortigen Amtsenthebung wurde er 1948 als „Mitläufer“ eingestuft, verlor für weitere drei Jahre die Bürgerrechte der Universität und somit seine Professur, wurde 1951 allerdings nach dem am 1. April 1951 in Kraft getretenen „Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen“ wiedereingestellt und emeritiert.
Zur Person Rudolf Stadelmanns
Der anfragende Historiker Rudolf Stadelmann (1902-1949) hatte 1924 an der Universität Tübingen als Schüler von Gerhard Ritter promoviert, anschließend die Lehrerausbildung absolviert und bis 1928 auch als Lehrer gearbeitet. Nach Auslandsaufenthalten habilitierte er sich 1929 an der Universität Freiburg über den „Geist des ausgehenden Mittelalters“ und wirkte danach ebendort als Privatdozent. Unter dem Einfluss Martin Heideggers engagierte er sich nach der Rektoratsübernahme 1933 in der nationalsozialistischen Studentenbewegung. Stadelmann hat von Heidegger für das Wintersemester 1933/34 die Aufgabe erhalten, die programmatische Ringvorlesung „Aufgaben des geistigen Lebens im nationalsozialistischen Staat" am 9. November 1933 mit dem Titel „Das geschichtliche Selbstbewußtsein der Nation“ zu eröffnen. Außerdem hat Heidegger ihn wohl zum Pressesprecher seines Rektorenamtes gemacht. 1936 war Stadelmann noch der Reiterstandarte der SA beigetreten, doch dann kühlte sich sein Verhältnis zur NSDAP so weit ab, dass bereits 1936 sein Ruf als ordentlicher Professor nach Gießen [Peter Stadler, Historiker und Geschichtswissenschaft in Gießen, in: Dieter Hein/Klaus Hildebrand/Andreas Schulz (Hrsg.), Historie und Leben. Der Historiker als Wissenschaftler und Zeitgenosse. Festschrift für Lothar Gall zum 70. Geburtstag, München 2006, S. 103–114, hier S. 108; Jörg-Peter Jatho/Gerd Simon, Giessener Historiker im Dritten Reich, 2008, S. 218]; und mehr noch 1938 der Ruf als Professor für Neuere Geschichte nach Tübingen, „manche Kämpfe mit den Parteistellen“ kosteten. Dabei lagen die Differenzen sowohl im politischen wie im persönlichen Bereich [Wolfram Fischer, Exodus von Wissenschaften aus Berlin, Berlin 1994, S. 182]. Heideggers „weltanschaulich lupenreinen Zeugnis“ hat angeblich den Ausschlag für den Ruf nach Gießen gegeben. Stadelmann musste nicht zur Wehrmacht einrücken, sondern leistete „kriegswichtige Forschungsarbeiten“, beispielsweise im Rahmen der „Aktenkommission“ bei der Auswertung und Überführung der „Beuteakten“ des Quai d’Orsay [Uwe Dietrich Adam, Hochschule und Nationalsozialismus, Stuttgart 1977, S. 189]. Dort tat er Dienst in der „Aktenkommission“ die in den Archiven Urkunden zur deutschen Geschichte zusammenstellte und teilweise nach Deutschland „überführte“ [Frank-Rutger Hausmann, „Auch im Krieg schweigen die Musen nicht.“ Die Deutschen Wissenschaftlichen Institute im Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2002, S. 116].
Dennoch blieb er „mit unbeschädigtem Ruf“ auch nach dem Krieg Ordinarius in Tübingen, über seine eigene Entnazifizierung ist bislang nicht viel bekannt. Er konnte sich aber offensichtlich der Militärregierung als „moderater Konservativer“ und als Mann des Neuanfangs empfehlen und war zunächst kommissarischer, dann ab dem Wintersemester 1945/46 gewählter Dekan der Philosophischen Fakultät und bestimmte als solcher maßgeblich die Richtung der Universität, gerade auch in Berufungsfragen.
Für Guardini hatte Rudolf Stadelmann noch eine weitere Bedeutung; und zwar über die von Stadelmann und Spranger wieder aufgenommene Idee einer „Mittwochs-Gesellschaft“[Hans Speidel, Aus unserer Zeit. Erinnerungen, Berlin/Frankfurt am Main/Wien 1977, S. 260] bzw. „Mittwochs-Tisch-Gesellschaft“[Hans Wenke, Eduard Spranger. Bildnis eines geistigen Menschen unserer Zeit, Heidelberg 1957, S. 376] – in der Tradition des zuletzt von Spranger geleiteten Berliner Vorbilds. Zu ihr gehörten neben Spranger, Stadelmann und Guardini – laut eigener Angaben – Hans Wenke und Hans Speidel sowie – laut einer Auflistung Speidels – Adolf Butenandt, Hermann Stock, Helmut Thielicke und Theodor Eschenburg. Im Rahmen der Treffen berichtete jeweils einer der Runde aus seinem Fachgebiet. Diese Referate „brachten eine Fülle geistiger Anregungen“:
„Mittelpunkt blieb Eduard Spranger, von dem eine starke geistige Kraft ausging. In der beherrscht-disziplinierten Art seiner Erscheinung, in der sich preußische Schlichtheit und Gemessenheit ausdrückten, wie in der Exaktheit und Klarheit seines Geistes war er ein Inbegriff des deutschen Gelehrten alter Schule“[Hans Speidel, Aus unserer Zeit, a.a.O., S. 260].
Während bei Wenke also Stadelmann, bei Speidel eher Spranger Initiator und Mittelpunkt dieses Kreises war, erscheint es in der Butenandt-Forschung so, wie wenn Eschenburg gemeinsam mit Thielicke, der in Tübingen als evangelisches „Pendant“ zu Guardini fungierte, die Initiatoren der neuen Mittwochgesellschaft gewesen seien [Vgl. Peter Karlson, Adolf Butenandt. Biochemiker, Hormonforscher, Wissenschaftspolitiker, Stuttgart 1990, S. 170].
Eduard Spranger sah 1949 bei der Trauerfeier für den plötzlich verstorbenen Stadelmann in ihm „einen unserer geistvollsten Historiker"[Eduard Spranger, Gedenkrede, in: Rudolf Stadelmann zum Gedächtnis. Akademische Trauerfeier am 21. Januar 1950 im Festsaal der Universität Tübingen, Tübingen 1950, S. 14-35]. Anlässlich dieser Trauerfeier kam auch zum Vorschein, dass Stadelmann als Gesprächspartner Guardinis für seine Arbeit an seinen 1950 aus den Tübinger Pascal-Vorlesungen hervorgegangenen Buch „Das Ende der Neuzeit“ in Frage kam, da Stadelmann in seinen letzten Texten ebenfalls von „endender Neuzeit“ und „Nachneuzeit“ sprach; und dies offensichtlich so stark, dass Eduard Spranger es in seiner Gedenkrede thematisierte:
„Seit 1914 ist eine neue Weltepoche angebrochen – Stadelmann nennt sie die Nachneuzeit -, und jeder Sehende muß erkennen, dass für Europa mit der Explosion von 1945 das Problem der Nationalstaatsbildung seine vorherrschende Bedeutung verloren hat. Jetzt gilt es wieder, das gemeinsame antik-christliche Kulturerbe zu retten als ein wiedererstehendes übergreifendes Corpus humanum et Christianum“[Ebd., S. 32 f. 1948 hatte er in seinem im Laupheimer Kreis gehaltenen Vortrag über „Hegemonie und Gleichgewicht“ davon gesprochen, dass wir uns am Eingang einer Nachneuzeit befinden (vgl. Theodor Pfizer, Rudolf Stadelmann, in: Robert Uhland (Hrsg.), Lebensbilder aus Schwaben und Franken, Bd. 15, 1983, S. 432-451, hier S. 443)].
Heideggers erste Antwort
Den Brief Stadelmanns beantwortete Heidegger am 20. Juli 1945. Dabei reagierte er auf Stadelmanns Ansinnen durchweg positiv:
Zusammenfassung des bei Ott schon abgedruckten Briefes erfolgt noch.
Es folgt eine Warnung vor Eduard Baumgarten.
[Eduard Baumgarten (1898-1982), Neffe von Max Weber, war 1929 nach einem mehrjährigen Aufenthalt in den Vereinigten Staaten 1929 nach Deutschland zurückgekehrt, um sich in Freiburg bei Martin Heidegger zu habilitieren. Nach einem Kantreferat Baumgartens im Oberseminar war es aber zu einem Zerwürfnis gekommen, da Heidegger Baumgartens Pragmatismus anprangerte und ihm deshalb die in Aussicht gestellte Assistentenstelle verweigerte. Nachdem 1931 Werner Gottfried Brock die Stelle bekommen hatte, wechselte Baumgarten nach Göttingen. Heidegger versuchte 1933 zu Baumgartens Mitgliedschaft in der SA und seine Anstellung als Dozent in Göttingen von Freiburg aus zu verhindern, dadurch dass er ihn am 16. Dezember 1933 gegenüber Hermann Vogel als wenig überzeugten Nationalsozialisten bezeichnete, der „verwandtschaftlich und seiner geistigen Haltung nach aus dem liberal-demokratischen Heidelberger Intellektuellenkreis um M. Weber“ komme und in Freiburg mit dem „nunmehr hier entlassenen Juden Fränkel“ verkehrt habe. „Auf dem Gebiet der Philosophie halte ich ihn für einen Blender“. Vogel habe allerdings das Schreiben als „hassgeladen“ und daher unbrauchbar ignoriert. Baumgarten war im April 1934 auch dem Nationalsozialistischen Lehrerbund beigetreten. 1936 habilitierte sich Baumgarten in Göttingen und wurde ebendort 1937 zum Dozenten ernannt. Im gleichen Jahr wurde er Mitglied im Nationalsozialistischen Deutschen Dozentenbund und in der NSDAP sowie Blockwart. 1940 wurde er ordentlicher Professor in Königsberg. Durch Entlastungsschreiben von Karl Jaspers, Marianne Weber, Leopold von Wiese und Arnold Bergsträsser blieb Baumgarten trotz seiner nationalsozialistischen Vergangenheit im Universitätsdienst und war nach 1945 zunächst wieder Gastprofessor an der Universität Göttingen. Baumgarten selbst hatte wohl um 1934/35 eine Kopie von Heideggers Brief an Vogel erhalten. Auch Marianne Weber erhielt Kenntnis davon und hatte ebenfalls um 1934/35 Karl Jaspers eine Abschrift dieses „Gutachtens“ vermittelt, so dass Jaspers den Fall „Baumgarten“ in sein von Heidegger selbst gewünschtes Gutachten gegenüber der Bereinigungskommission in Freiburg einbrachte und infolgedessen Heideggers Verhalten als antidemokratisch und antisemitisch und somit „belastet“ ansah. Auch durch die Anhörungen zur Entnazifizierung Baumgartens im Jahre 1946 wurde die Denunziation durch Heidegger bekannt. 1948 wechselte Baumgarten dann ausgerechnet nach Freiburg, bevor er 1953 Honorarprofessor an der Technischen Hochschule Stuttgart wurde und von 1957 bis 1963 schließlich Lehrstuhlinhaber für Soziologie an der Wirtschaftshochschule Mannheim war.]
Schließlich gab Heidegger noch eine Empfehlung für Robert Heiß, der Schüler von Jaspers, Hartmann und Heidegger und kein Parteigenosse gewesen sei, ab.
[Die Quellen bezüglich einer NSDAP-Mitgliedschaft von Robert Heiß widersprechen sich. Zwar gibt es eine Karteikarte im Bundesarchiv, die eine Mitgliedschaft ab 1. Oktober 1940 verzeichnet, allerdings fehlen sowohl der Aufnahmeantrag, der Hinweis auf Aushändigung des Ausweises sowie Belege für Beitragszahlungen. Heiß selber hatte am 9. Januar 1943 in einem dienstlich verlangten Personalfragebogen die Mitgliedschaft in einer Partei verneint. Heiß selbst wusste laut seiner Erklärung vom 17. Juni 1946 darum, dass man ihn im Oktober 1943 fälschlich als Parteimitglied bezeichnet habe (Universitätsarchiv Freiburg, UAF B24/1249–50, B254/36). Es könnte sich um eine Verwechslung mit dem ebenfalls in München geborenen Medizinprofessor Robert Heiß handeln. Vgl. zu ihm: Jochen Fahrenberg, Robert Heiß, in: Baden-Württembergische Biographien, Band 5, 154-157.]
Zum Abschluss des Briefes folgt der mittlerweile viel zitierte Satz:
„Alles denkt jetzt den Untergang. Wir Deutschen können deshalb nicht untergehen, weil wir noch gar nicht aufgegangen sind und erst durch die Nacht hindurchmüssen. Ich schreibe Ihnen, sobald meine Entscheidung gefallen ist“[Brief von Martin Heidegger an Rudolf Stadelmann vom 20. Juli 1945, in: Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, Gesamtausgabe, Bd. 16, a.a.O., S. 370. Der Brief liegt im Nachlass Rudolf Stadelmann, Bundesarchiv Koblenz].
Am 28. Juli 1945 schrieb Stadelmann einen weiteren, nicht mehr erhaltenen Brief, in dem er Heidegger wohl um Berufungs-Empfehlungen gebeten hatte. Diesen Brief hat Heidegger erst am 30. August erhalten und am 1. September 1945 beantwortet. In der Zwischenzeit hatte er am 23. Juli 1945 das erste Mal vor der Freiburger „Bereinigungskommission“ gestanden.
Briefe Heideggers an Guardini von Mitte Juli und vom 6. August 1945
Zwischen der ersten und der zweiten Antwort an Stadelmann liegt nun aber auch der erste erhaltene Brief Heideggers an Guardini, geschrieben am 6. August 1945, bezüglich der Übernahme eines Lehrstuhls in Freiburg durch Guardini. Vorausgegangen war „wenige Wochen“ vorher ein nicht mehr erhaltener Brief, der durch den Bruder übermittelt werden sollte, und auf den Guardini nicht geantwortet hatte. Daher folgt nun am 6. August ein zweiter, nachfragender und das Anliegen wiederholender Brief Heideggers. Wenn man also davon ausgehen kann, dass der erste Brief bereits Mitte Juli mit ähnlichem Inhalt geschrieben wurde, wäre er noch nicht von der Kommissionsbefragung am 23. Juli 1945 beeinflusst gewesen. Auch der Inhalt des Briefes vom 6. August ist noch nicht wirklich davon geprägt. Anders als im Juli-Brief an Stadelmann schreibt er Guardini auch nichts davon, dass ihn in Freiburg im Grunde nichts und niemand mehr „halte“, außer sein Freund Kurt Bauch. Lediglich seine Selbst-Karikatur als „Luxuspferd“ der Freiburger Philosophischen Fakultät deutet an, dass er mit seinem Status in Freiburg nicht zufrieden ist.
Q016
Brief von Martin Heidegger an Romano Guardini vom 6. August 1945 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 875]
Zusammenfassung wird noch erstellt.
Guardini wird auf diesen Brief erst im Januar 1946 reagieren (siehe unten). Zu betonen ist, dass es sich bei dem Brief nicht um eine Ermunterung handelt, „den Lehrstuhl für Philosophie II, den sogenannten Konkordatslehrstuhl“ zu übernehmen, wie 1988 Hugo Ott noch vermutet hat, da dieser zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht zur Disposition stand. Auch hat Heidegger Guardini weder in diesem Brief noch zu einem späteren Zeitpunkt persönlich um Unterstützung bei seiner Entnazifierung, Bereinigung, Emeritierung oder Reintegration gebeten, schon gar nicht hat er sich um ein „Unterstützungsschreiben“ bei Guardini bemüht [So zu lesen bei Reinhard Mehring/Dieter Thomä, Leben und Werk Martin Heideggers im Kontext, in: Dieter Thomä (Hrsg.), Heidegger-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart/Weimar 2003, S. 515-539, hier S. 532]
Zwei Briefe von Martin Heidegger an Rudolf Stadelmann (September und November 1945)
Am 1. September 1945 beantwortete Heidegger, den erst am Vortag, also am 30. August angekommenen Brief Stadelmanns vom 28. Juli 1945. Darin gab er vor allem die wohl erbetenen Empfehlungen, namentlich für Gadamer, Krüger und Löwith, ab. Bezüglich Wilhelm Weischedel bestätigt Heidegger offensichtlich eine zuvor gegebene Einschätzung Stadelmanns.
Zusammenfassung des bereits veröffentlichten Briefes erfolgt noch.
Im September 1945 hatte dann die Bereinigungskommission in Freiburg empfohlen, Heidegger zu emeritieren und ihm „beschränkte Lehrtätigkeit" zu erlauben. Gleichzeitig bescheinigte ihm die Militärregierung „disponibilité", also eine geringe Belastung, so dass er zu diesem Zeitpunkt seine „Rehabilitierung“ erwarten durfte. Gegen dieses Ergebnis setzten sich im Oktober 1945 einige Freiburger Professoren zur Wehr, namentlich vor allem Adolf Lampe. Man hielt ihm insbesondere vor, er habe junge Gelehrte „intellektuell verführt“ und sei am „politischen Verrat deutscher Universitäten“ maßgeblich beteiligt gewesen.
Über den weiteren Verlauf der „Tübinger Sache“ geben bislang nur Hugo Ott[Hugo Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, 1988, S. 23], Victor Farías und Kurt Oesterle Auskunft. Deren Angaben wurden hier nicht selbst überprüft und vertieft ausgewertet, allerdings mit anderen Informationen und Vorgängen abgeglichen. Demnach ergibt sich folgendes Bild:
Am 8. November 1945 notierte der Tübinger Ministerialrat Hans Rupp, rechte Hand von Kulturdirektor Carlo Schmid, in einen Aktenvermerk der Württembergischen Kultusverwaltung über eine zwei Tage zuvor stattgefundene Besprechung mit dem französischen Kontrolloffizier in Tübingen, Capitaine René Cheval:
„Besprechung mit Capitaine Cheval am 6. November 1945 – I. Capitaine Cheval teilte mit, daß die französische Militärregierung es begrüßen würde, wenn Professor Heidegger auf einen philosophischen Lehrstuhl in Tübingen berufen würde. Auf meine Gegenfrage, ob dies ein Befehl oder lediglich als eine Anregung aufzufassen sei, erklärte er, es sei nur eine Anregung. Selbstverständlich sei die Fakultät in ihren Berufungswünschen vollkommen frei. Die französische Militärregierung wolle nur zum Ausdruck bringen, daß, falls die Fakultät Professor Heidegger in Vorschlag bringen würde, die Militärregierung seiner Ernennung keinerlei Schwierigkeiten bereiten wolle“[Wohl erstmals zitiert durch Volker Schäfer, in: Jürgen Fischer unter Mitarbeit von Peter Hanske (Bearb.), Hochschuloffiziere und Wiederaufbau des Hochschulwesens in Westdeutschland 1945-1952: Die französische Zone, 1991, S. 57 f. Das Symposium „Französische Hochschulpolitik in Deutschland 1945-1952“ wurde mit französischen Zeitzeugen an der Universität Tübingen vom 16.-18.9.1985 von Jacques Bariéty und Manfred Heinemann durchgeführt].
Daraufhin hat – wann genau ist nicht bekannt – Stadelmann einen weiteren Brief an Heidegger geschrieben, den dieser auch am 30. November 1945 beantwortet. Da er wohl zu dieser Zeit noch nicht wissen konnte, dass in Tübingen die Berufungsliste der Fakultät vom 23. November am 24. November 1945 im Senat abgelehnt werden sollte (siehe nachfolgende Dokumentation), ist der Antwortbrief an dieser Stelle einzufügen. Heidegger hatte inzwischen sowohl von Guardinis Berufung nach Tübingen als auch von dessen damit wohl nur noch geringen Neigung, nach Freiburg zu wechseln, erfahren. Im bereits im Jahr 2000 publizierten Brief Heideggers vom 30. November 1945 an den Tübinger Professor Rudolf Stadelmann heißt es:
Zusammenfassung des bereits veröffentlichten Briefes erfolgt noch
Es folgen einige Äußerungen zu Personen, die wohl den Tübinger Pädagogik-Lehrstuhl im Gespräch waren, und zu denen Stadelmann sich offensichtlich Empfehlungen eingefordert hatte. Der Brief schließt vor den Grüßen mit:
„Zu der geplanten Reise nach Meßkirch bin ich bisher nicht gekommen. Ich bitte, die Herren Kluckhohn und Guardini gelegentlich zu grüßen“[Martin Heidegger, Von der französischen Militärregierung für disponibel erklärt (28. September 1945), in: ders., Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, Gesamtausgabe, Bd. 16, a.a.O., S. 405 ff. Der Brief liegt im Nachlass Stadelmann, Bundesarchiv Koblenz].
Mit der Aussage, „daß Guardini eine große Bereitschaft mitbringt, weiß ich längst“, ist hier ziemlich eindeutig die Bereitschaft Guardinis gemeint, sich für eine Berufung Heideggers nach Tübingen einzusetzen. Auf die angesprochene Hölderlin-Gedenkschrift und der Hölderlin-Gesellschaft wurde bereits hingewiesen. Heideggers Rede von den „Hetzereien von seiten der Widerstandsbewegung in der Stadt wegen meines Rektorats“ ist wohl vor allem auf die Mitglieder des „Freiburger Konzils“, insbesondere Adolf Lampe gemünzt (siehe oben). In diesem Zusammenhang von „Hetzereien“ zu sprechen, zeigt, dass Heidegger zu diesem Zeitpunkt noch kaum Einsicht in die Folgen seines Verhaltens während seines Rektorats zeigte, das die „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten innerhalb der Universität stabilisieren half und die „Hetzereien“ der Nationalsozialisten gegen jüdische sowie politisch liberale, sozialistische oder pazifistische, aber auch bekennend-kirchliche Akademiker zumindest duldete. Auch konnte Heidegger offensichtlich nicht sehen, dass sein Fehlverhalten auch nicht durch seinen Rücktritt und die folgende „Marginalisierung“ im Freiburger Universitätsbetrieb aufgerechnet werden kann.
Das Berufungsverfahren in Tübingen und das Bereinigungsverfahren in Freiburg im November und Dezember 1945
Die erste Berufungsliste wurde am 23. November 1945 in der Philosophischen Fakultät diskutiert und beschlossen mit dem Ergebnis: 1. Martin Heidegger – 2. Gerhard Krüger „mit Abstand“. Es gab nur eine Gegenstimme von Heinrich Dannenbauer, der während seiner Tätigkeit in Tübingen seit Juni 1933 gegen die völkisch-mythisierende Geschichtsbetrachtung der Nationalsozialisten und gegen die Nazifizierung der Universität auftrat, dann aber selbst von 1946 bis 1949 wegen seiner bereits 1932 vollzogenen NSDAP-Mitgliedschaft suspendiert wurde.
Im Senat stellten sich nun am Tag darauf einige Professoren sehr vehement gegen Heideggers Berufung, allen voran der Mathematikprofessor Erich Kamke (1890-1961), der seit 1926 an der Universität Tübingen lehrte, bis er 1937 aus „politischen Gründen“ in den Ruhestand versetzt oder – wie Oesterle wissen will – ohne Bezüge „entpflichtet“ wurde. Er konnte zwar weiterforschen, allerdings brachte ihn seine antinationalsozialistische Haltung immer wieder in die Gefahr, in Arbeits- oder Konzentrationslager zu kommen, zuletzt im Herbst 1944 [Stanford Segal, Mathematicians under the Nazis, Princeton 2003, S. 106]. Kamke wurde unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs im Juni 1945 rehabilitiert und dann zum Ordinarius ernannt. Auch Dannenbauer wiederholte im Senat seine Bedenken. Der Senat lehnte infolgedessen diese erste Liste ab – laut Oesterle – mit einer Mehrheit von 23 zu 13 ab.
Daraufhin revidierte die Fakultät die Liste und legte sie bereits eine Woche später wieder dem Senat vor: Nun standen Nicolai Hartmann an erster, Martin Heidegger an zweiter, Heinrich Scholz an dritter und Gerhard Krüger an vierter Stelle. Die Wiederaufnahme Heideggers in die neue Liste begründete Stadelmann damit, dass die Fakultät zwar wisse, dass Heidegger ein „notwendig einseitiger“ Denker sei, der deshalb vielfach missverstanden werde und auch in Tübingen Feinde habe, aber sei überzeugt, dass Heidegger sich „als eine aufrüttelnde Kraft gerade unter der geistig träge gewordenen Jugend der Nachkriegszeit bewähren“ werde [Zitate nach Oesterle, a.a.O.].
Diese Begründung aber musste bei den Heidegger-Gegnern erst recht auf Unverständnis stoßen, warf man Heidegger ja gerade für 1933/34 vor, die damals „geistig träge gewordenen Jugend“ für das „Dritte Reich“ aufgerüttelt zu haben. Wieso sollte Heidegger daher jetzt in der Lage sein, sich mit seiner Philosophie unter der „Jugend der Nachkriegszeit“ zu „bewähren“? Nachdem nun in der Senatssitzung vom 1. Dezember 1945 die geänderte Liste vom Senatsberichterstatter Theodor Steinbüchel – der selbst gegen die Berufung Heideggers votierte – vorgestellt und ihre Annahme beantragt worden war, wunderte sich Kamke laut dem bei Oesterle wiedergegebenem Protokoll, „daß Heidegger wieder auf der Liste ist" und Dannenbauer bemerkte, dass die neue Liste ungefähr die alte sei, da die nun benannten Philosophen Hartmann und Scholz zu bejahrt seien und daher wieder nur Heidegger und Krüger übrigbleiben würden. Laut Oesterle sprachen sich nun neben Stadelmann „Guardini, Littmann und später auch Kluckhohn“ für Heidegger aus[Bei Victor Farías, Heidegger et le nazisme, 1987, S. 285 werden die Unterstützer Stadelmann und Kluckhohn als „Nationalsozialisten“ bezeichnet. Für die Ambivalenz Stadelmanns siehe oben. Für Kluckhohn ist aber eine NSDAP-Mitgliedschaft oder ausgesprochen nationalsozialistische Publikation nicht nachgewiesen. Er gilt als „national“ und „konservativ-revolutionär“. Vgl. auch Paul Kluckhohn, Die konservative Revolution in der Dichtung der Gegenwart, in: Zeitschrift für Deutsche Bildung, 9, 1933, S. 177 ff.], da dieser stets „gegen das Negative“ eingestellt gewesen sei und sich längst von der Nazi-Partei abgewandt habe [Oesterle, a.a.O., S. 177].
[Der Orientalist Enno Littmann (1875-1958) hat 1898 sowohl sein Examen als „Oberlehrer“ für Religion und Hebräisch als auch seine Promotion in orientalischer Philologie gemacht. Nach vertieften Studien und Reisen wurde er 1906 zum ordentlichen Professor für Orientalistik nach Straßburg berufen, wechselte 1914 nach Göttingen, 1917 nach Bonn und schließlich 1921 nach Tübingen, wo er bis zu seiner Emeritierung 1951 blieb[Vgl. Axel Knauf, Enno Littmann, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 5, Herzberg 1993, Sp. 134-136)].]
Kamke stellte schließlich den Antrag, Heidegger von der Liste zu streichen, über den aber nicht abgestimmt wurde. Stattdessen votierte der Senat dieses Mal mit 31 zu 8 Stimmen für den Vorschlag der Fakultät, woraufhin Kamke noch in der Sitzung einen Sonderbericht an den Rektor sowie an den Kulturdirektor Carlo Schmid ankündigte. Dieser Bericht wurde am 3. Dezember 1945 fertiggestellt und begründet detailliert das „Sondervotum“ von sieben Professoren, die „mit Nachdruck bitten, von Heideggers Berufung nach Tübingen abzusehen". Kamke charakterisiert in diesem Bericht Heidegger als „Prophet der Zeitkrisis“, dessen Sprache ein Symptom der „Pathologie unserer Zeit“ seien. Als Belegzitat gab Kamke laut Oesterle an: „Die Nichtung läßt sich nicht in Vernichtung und Verneinung aufrechnen. Das Nichts selbst nichtet"[Das Originalzitat stammt aber bereits aus der Freiburger Antrittsvorlesung „Was ist Metaphysik?“ von 1929 und lautet ohne Auslassung: „Erforscht werden soll das Seiende und sonst – nichts; das Seiende al-lein und weiter – nichts; das Seiende einzig und darüber hinaus – nichts. Wie steht es um dieses Nichts? – Gibt es das Nichts nur, weil es das Nicht, d. h. die Verneinung gibt? Oder liegt es umgekehrt? Gibt es die Verneinung und das Nicht nur, weil es das Nichts gibt? – Wir behaupten: das Nichts ist ursprünglicher als das Nicht und die Verneinung. – Wo suchen wir das Nichts? Wie finden wir das Nichts? – Wir kennen das Nichts. – Die Angst offenbart uns das Nichts. – Wovor und worum wir uns ängsteten, war „eigentlich“ – nichts. In der Tat: das Nichts selbst – als solches – war da. – Wie steht es um das Nichts? – Das Nichts selbst nichtet.“ (Martin Heidegger, Was ist Metaphysik?, in: Wegmarken, Gesamtausgabe, Bd. 9, Frankfurt am Main 1976, S. 105 f.).]
Eine solche Sprache stelle eine Gefahr für die gegenwärtige Generation dar. Während des Rektorats von 1933/34, so Kamke weiter, habe Heidegger sich als „höchst aktiver Nationalsozialist" ins Zeug gelegt, die Universitätsverfassung zerschlagen und das Führerprinzip durchgesetzt. Heidegger habe einen „nicht unwesentlichen Teil von Schuld für die jetzigen Leiden unseres Volkes zu tragen". Außerdem sah er – wie auch der Senatsberichterstatter Steinbüchel – in der Berufung eines so belasteten Mannes eine „Kränkung" und „Ungerechtigkeit“ gegenüber allen kurz zuvor aus politischen Gründen suspendierten Kollegen, in Tübingen 1945/46 immerhin 29 Professoren, darunter auch der unmittelbare Lehrstuhl-Vorgänger Theodor Haering.
In Freiburg übernahm unterdessen, nachdem Heidegger im Oktober einen Antrag auf Emeritierung und im November einen weiteren auf Reintegration gestellt hatte, Anfang Dezember die Philosophische Fakultät das Anliegen und stellte ihrerseits einen Antrag auf Reintegration und Emeritierung Heideggers. Anfang Dezember hatte aber auch Dietze der Bereinigungskommission sein aufgrund von Kritik überarbeitetes Gutachten vorgelegt, infolgedessen es am 11. und 13. Dezember zu weiteren Befragungen Heideggers vor der Kommission kam. Diese Befragungen brachten aber wohl noch keine neuen Erkenntnisse brachte, sogar im Blick auf Anschuldigungen, Heidegger habe sich antisemitisch geäußert oder antijüdisch verhalten, zumindest eine Relativierung, in manchen Punkten sogar eine Revision [Bernd Martin, Martin Heidegger und das „Dritte Reich“. Ein Kompendium, 1989, S. 43]. Allerdings einigte man sich – auf Vorschlag Heideggers -, über das Kommissionsmitglied Friedrich Oehlkers um ein weiteres Gutachten bei Karl Jaspers anzufragen.
[Der Pastorensohn, Biologe, Zoologe, Botaniker und Chemiker Friedrich Oehlkers (1890-1971) hatte 1917 im Bereich der Botanik promoviert. Im November 1922 hatte er sich dann an der Universität Tübingen habilitiert, wo er bis 1925 als Privatdozent arbeitete. Von 1928 bis 1932 war er Ordinarius an der Technischen Hochschule Darmstadt und war dann im April 1932 nach Freiburg auf den Lehrstuhl der Botanik gewechselt. Aufgrund der jüdischen Herkunft seiner Frau Frances Ida Schwarzschild, war er ab 1933 ständigen Schikanen ausgesetzt, ging aber seiner Forschungsarbeit weiter nach. Oehlkers gehörte zusammen mit Constantin von Dietze, Gerhard Ritter, Adolf Lampe und der katholische Theologe Arthur Allgeier – Allgeier war ab 20. Dezember 1945 Rektor der Universität – zum „Bereinigungsausschuss“. Für den Heidegger-Gegner Adolf Lampe war es – angesichts der ständigen Bedrohung von Oehlkers Frau, ins Konzentrationslager zu kommen, und der Verfolgung von Oehlkers Sohn, der infolgedessen während des Krieges den Freitod wählte, völlig unverständlich, setzte er sich in diesem Ausschuss auch für „belastete“ Hochschulangehörige ein, auch für Martin Heidegger.]
Mit diesen „doppelt“ offenen Situationen in Tübingen und Freiburg ging man ins neue Jahr, war aber offensichtlich davon ausgegangen, dass man den Fall mit einer Emeritierung regeln kann, so dass Heidegger nicht mehr auf den Lehrstuhl zurückkehren werde, unabhängig davon, ob er als Emeritierter in den Lehrbetrieb reintegriert werden könnte.
Maurice de Gandillacs Bericht von einem Besuch bei Heidegger (Dezember 1945)
Im Januar 1946 erscheint in der Zeitschrift „Les temps modernes“ der Bericht über den Aufenthalt des französischen Philosophen Maurice de Gandillacs (1906-2006), damals als Repräsentant der Besatzungsmacht Frankreich, bei Martin Heidegger in Zähringen. Interessant ist dabei, dass Heidegger dabei auch seine Freundschaft mit Guardini zum Thema macht:
„Son cabinet de travail est d'une nudité presque monacale. (Heidegger nous rappelle avec un sourire ambigu qu'il fut d'abord „théologien“ et qu'il est resté dans les meilleurs termes avec Romano Guardini.)“[Maurice de Gandillac: Entretien avec Martin Heidegger, in: Les temps modernes, 1, 1945/46, 4 (Januar 1946), S. 713-716, hier S. 714. Meine Übersetzung: „Sein Arbeitszimmer wirkt in seiner Nacktheit fast klösterlich. (Heidegger erinnert uns mit einem zweideutigen Lächeln daran, dass er zunächst „Theologe“ war und mit Romano Guardini weiterhin gute Beziehungen pflegte.)“]
Gemäß einer späteren Datierung des Besuchs mit „1945“ ist der Besuch wohl auf Ende Dezember 1945 zu legen [Vgl. dazu sein Interview „Je n´envisage pas la possibilité d'un socialisme réussi“ mit der Zeitschrift „Le Figaro Magazine“: „Juste après la guerre, vous avez rencontré Heidegger… M. G. – C´était en 1945, à Fribourg-en-Brisgau. J´ai vu Martin Heidegger provisoirement suspendu d´enseignement. Sans nouvelles de ses deux fils prisonniers des Russes, dans son bureau à la nudité monacale, il donnait l'impression d'un homme accablé.“ (Le Figaro Magazine, 945-948???, 1998, S. 45)].
Die erste Vermittlungstätigkeit durch Johannes Spörl (Dezember 1945)
Johannes Spörl hatte – seinem Brief von Ende März/Anfang April 1946 zufolge (siehe unten) – Guardini wohl noch kurz nach Weihnachten diesen neuen Stand mitgeteilt, dass es nämlich „um Weihnachten“ so aussah, als dass Heidegger „nicht mehr zurückkehren“ könne und man daher Guardini „als seinen Nachfolger“ wolle. Tatsächlich gibt es eine briefliche Antwort Guardinis vom 6. Januar 1946 auf diese nicht mehr erhaltene Mitteilung:
Q017
Auszug aus Brief von Romano Guardini an Johannes Spörl vom 6. Januar 1946 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1239]
Zusammenfassung wird noch erfolgen.
Die Entscheidung in Tübingen für Gerhard Krüger (Januar 1946)
Schließlich entschieden sich die Gremien in Tübingen Anfang Januar für Gerhard Krüger. Am 11. Januar 1946 informierte Fakultät und Senat gemeinsam Carlo Schmids Behörde, dass Krüger den Lehrstuhl erhalten solle. Heidegger hatte Gerhard Krüger in seinem Brief an Stadelmann vom 1. September 1945 selbst an zweiter Stelle nach Gadamer und vor Karl Löwith für Tübingen empfohlen:
„Krüger ist, wie mir Tellenbach sagt, nach Münster zurückgekehrt. Gründlich, auf dem Gebiet der Geschichte der neueren Philosophie sehr gut, hat er von Bultmann und Marburg her Neigungen zur Theologie, vielleicht etwas doktrinär und mir etwas zu berlinisch. […] Mit jedem der drei würde die Fakultät unbedingt gut wählen“[Brief von Martin Heidegger an Rudolf Stadelmann vom 1. September 1945, in: Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, Gesamtausgabe, Bd. 16, a.a.O., S. 395].
Da Heidegger vermutlich im Januar selbst nicht mehr mit der Möglichkeit eines Rufs aus Tübingen an sich selbst gerechnet hatte, dürfte er mit der „Wahl“ seines Schülers Gerhard Krüger auch jetzt noch durchaus einverstanden gewesen sein.
Die „verspätete“ Antwort Guardinis an Heidegger im Januar 1946
Aufgrund dieser Diskussionen in Tübingen verwundert es nun aber auch nicht mehr so stark, warum Guardini den Brief Heideggers vom August 1945 erst fünf Monate später und genau drei Tage nach der Tübinger Entscheidung für Gerhard Krüger beantwortet hat, auch wenn er die lange Verschiebung der Antwort im Brief gegenüber Heidegger selbst natürlich anders begründete. Wenn Heidegger nach Tübingen berufen worden wäre, wäre Heidegger ein Wechsel von Guardini nach Freiburg „an seiner Statt“ vermutlich „absurd“ erschienen, war doch das eigentliche Ziel der Anfrage Heideggers vom August 1945, den als Freund angesehenen Kollegen in Freiburg „neben sich“ zu haben.
Q018
Briefdurchschlag von Romano Guardini an Martin Heidegger vom 14. Januar 1946 [BSB Ana 342, B 12/007, auszugsweise bereits publiziert in: Hugo Ott, 1985]
Die Zusammenfassung wird noch erfolgen.
Heideggers Lage in Freiburg (Januar 1946)
Anfang 1946 hatte sich aber auch Heideggers Lage in Freiburg verschlechtert. Aufgrund der veränderten Situation in der Bereinigungskommission sowie des gemeinsam von Heidegger und dem Ausschuss angeforderten Gutachtens von Karl Jaspers, das Heidegger nicht entlastete, sondern die anklagenden Punkte bekräftigte, fällte der Freiburger Senat am 19. Januar 1945 sein Urteil: Emeritierung unter Entzug der Lehrbefugnis; außerdem wurde Heidegger Zurückhaltung in der Öffentlichkeit auferlegt. So schrieb Heidegger es dann auch vier Tage später, am 23. Januar 1946, selbst an Rudolf Stadelmann nach Tübingen:
Zusammenfassung des bereits veröffentlichten Briefes wird noch erfolgen.
Ein erster „Wink nach Tübingen“
Das Ende eines Werbens um Heidegger von Seiten einiger Tübinger Persönlichkeiten ging aber nicht einher mit einem ebensolchen Ende des Werbens um Guardini von Seiten einiger Freiburger Persönlichkeiten und Institutionen. So schrieb Martin Heidegger am 6. März 1946 an seinen Freund Kurt Bauch:
„Lieber Freund! Der Wink nach Tübingen ist sogleich besorgt worden. G. [Guardini] soll München bereits abgelehnt haben und keine besondere Neigung für die Atmosphäre des Freiburger Ordinariats verspüren“[Martin Heidegger – Kurt Bauch. Briefwechsel 1932-1975, hrsg. und kommentiert von Almuth Heidegger, Freiburg i. Br./München 2010, S. 103].
Noch nicht zu Ende geklärt werden konnte, die Frage, worauf sich der in Martin Heideggers von Badenweiler aus an Kurt Bauch geschickte Brief vom 6. März erwähnte „Wink“ genau bezogen hat. Er dürfte aber bereits mit diesem Wunsch zu tun gehabt haben, Guardini doch noch nach Freiburg zu holen.
[Kurt Bauch (1897-1975), seit 1932 freundschaftlich mit Heidegger verbunden, war zum Sommersemester 1933 auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Universität Freiburg berufen worden. Er wurde 1939 zur Wehrmacht eingezogen und war bei der Marine, zuletzt als Korvettenkapitän, bis er 1944 nach Freiburg zurückkehrte. Obwohl seit 1. Mai 1933 NSDAP-Mitglied und als Referent für Wissenschaft im NS-Dozentenbund tätig, wurde Bauch selbst am 15. Dezember 1948 als „Mitläufer“ und im Revisionsverfahren 1950 als „Entlasteter“ eingestuft und konnte ungehindert bis 1962 weiterlehren.]
Die zweite Vermittlung durch Johannes Spörl (Ende März/Anfang April 1946)
Nach dem Tod Honeckers war der Lehrstuhl 1943 konkordatswidrig mit dem auf Psychologie spezialisierten Robert Heiß (1903-1974) besetzt worden, der aber von einigen NS-Dozentenführern als „politisch nicht zuverlässig” eingestuft worden war. Einen Lehrauftrag für Philosophie an der katholischen Fakultät der Universität Freiburg erhielt daraufhin der Philosoph Vinzenz Rüfner (1899-1976), NSDAP-Mitglied seit 1940. Heiß wurde im November 1945 von der französischen Militärregierung im Amt bestätigt und als „politisch Unbelasteter” 1946 Dekan der Philosophischen Fakultät. Nachdem die Kritik an der Besetzung des Konkordatslehrstuhls mit Heiß zunahm, wurde innerhalb der Fakultät eine Umordnung vorgenommen. So konnte im Frühjahr der Konkordatslehrstuhl wieder zur Neubesetzung frei gegeben werden. Heiß gehörte als Dekan zum Kreis derer, die nun sowohl für die Berufung Guardinis nach Freiburg als auch für die endgültige Klärung der „Causa Heidegger” zuständig waren. Diese Kreise hatten wohl zunächst Johannes Spörl beauftragt, bei Guardini in der Sache Konkordatslehrstuhl „vorzufühlen“. Mit dem 27. März 1946 datiert ist im Nachlass von Johannes Spörl ein noch stark handschriftlich bearbeiteter Briefentwurf an Romano Guardini zu finden, in dem dieser ihm die Freiburger Wünsche übermittelte. Der Originalbrief ist bislang nicht aufgefunden worden. Das ursprüngliche Typoskript besagte:
Q019
Briefentwurf von Johannes Spörl an Romano Guardini vom 27. März 1946 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1240]
Zusammenfassung wird noch erstellt werden.
Q020
Auszug aus einem Brief von Romano Guardini an Johannes Spörl vom 4. April 1946 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1241]
Zusammenfassung wird noch erstellt werden.
Das hier angesprochene Festschriftheft liegt in den Ansätzen ebenfalls im Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern [Nr. 1201]. Darin befinden sich die bereits abgegebenen, zum Teil nicht weiter veröffentlichten Beiträge von Otto Karrer („Die geistige Krise des Abendlandes in der Prognose Kardinal Newmans“), von Dieter Sattler („Zum Wiederaufbau der Stadt München. Ein Vortrag“), von Heinrich Scholz („Theologische Fragmente eines Nicht-Theologen“), von Alexander Scharff („Vom altägyptischen Weltengott“), von Walter Dirks („Spiel der Pilger. Überlegungen zum Charakter der Musik“), und andere. Dazu Listen von eingeladenen, noch einzuladenden, zusagenden und absagenden Autoren. Auf einer steht „noch einzuladen? Heidegger Martin …“ Ob Spörl Heidegger angefragt hat, bevor das Projekt aufgegeben wurde und ein Teil der für die Festschrift geplanten Beiträge nach und nach im von Spörl herausgegebenen „Historischen Jahrbuch der Görres-Gesellschaft“ erschienen sind, ist aus dieser Quelle nicht klärbar. Eine Berufung auf einen philosophischen Lehrstuhl hatte Guardini gegenüber Heidegger abgelehnt mit dem Argument, er sei für dieses Fach „nach 16 Jahren Arbeit in der Selbstständigkeit Berlins verdorben.“ Ähnlich argumentierte er nun wieder gegenüber Johannes Spörl: Er sei „kein systematischer Philosoph, sondern ein philosophischer Interpret.“ Daher gehöre er „nicht auf diesen Lehrstuhl.“
Q021
Briefdurchschlag von Romano Guardini an Johannes Spörl vom 4. April 1946 [BSB, B 1-3-069, auszugsweise zitiert bei Gerl, 1985, S. 331; Originalbrief]
Zusammenfassung wird noch erstellt werden.
Briefwechsel zwischen Franz Büchner und Romano Guardini (Mai 1946)
Anfang Mai 1946 meldete sich erstmalig der Freiburger Mediziner und Pathologieprofessor Franz Büchner (1895-1991) bei Guardini. Er weist in diesem, seinem „ersten“ Brief an Guardini nicht nur auf seine Werkkenntnis, sondern auch auf seine freundschaftlichen Beziehungen zu Spörl, von Gebsattel und Oehlkers hin.
Nachdem der als „streng katholisch“ geltende Franz Büchner 1921 an der Universität Gießen seine Studien mit Staatsexamen und Dissertation zum Dr. med. abgeschlossen hatte, wirkte er ab Oktober 1922 am Pathologischen Institut der Universität Freiburg, wo er sich zum Facharzt weiterbildete und 1927 für Pathologie habilitierte. Anschließend wirkte er als Privatdozent und Oberarzt, 1931 wurde er zum außerordentlichen Professor ernannt. 1933 wurde er zunächst zum Direktor es Pathologischen Instituts am Berliner Krankenhaus im Friedrichshain, dann 1934 zum außerordentlichen Professor an der Berliner Universität. Zu diesem Zeitpunkt wurde er auch zum Mitglied der berufsspezifischen nationalsozialistischen Organisationen, nicht aber der NSDAP. 1936 wechselte er an die Universität Freiburg zurück, wo er bis zu seiner Emeritierung 1963 den Lehrstuhl für Pathologie und das Direktorat des Pathologischen Instituts innehatte. 1938 wurde er zum Beratenden Pathologen in der Sanitätsinspektion der Luftwaffe ernannt und leitete ab Anfang Januar 1940 das seinem Institut in Freiburg angeschlossene „Institut für Luftfahrtmedizinische Pathologie des Reichsluftfahrtministerium“, das sich der Luftwaffenforschung widmete.
Trotz seiner Stellung als „oberster Arzt für pathologische Zweckforschung“ übte er in seinem Vortrag „Der Eid des Hippokrates“ am 18. November 1941 im Volksbildungswerk Freiburg deutliche Kritik an der nationalsozialistischen Euthanasiepraxis. Diesen Vortrag legte Büchner seinem Brief an Guardini bei. Der Vortrag gilt als einzig bekannter öffentlicher Protest eines prominenten Mediziners gegen diese Verbrechen. Trotz seiner Kritik konnte er seine Stellung behalten, legte sie seinerseits aber auch nicht nieder. Und dies obwohl Büchner wohl doch mehr Kenntnisse über die nationalsozialistischen „Versuche am Menschen“ in den Konzentrationslagern hatte, als er nach 1945 einräumte [Bernd Martin, Die Freiburger Pathologie in Kriegs- und Nachkriegszeiten (1906-1963), 2018].
Bereits ab dem 11. Mai 1945 sprach Büchner sich für den überkonfessionellen Aufbau neuer demokratischer Parteien auf und gründete am 17. Juli 1945 gemeinsam mit Constantin von Dietze die „Christliche Arbeitsgemeinschaft“, eine der beiden Vorläuferorganisation der am 22. Oktober 1945 gegründeten „Badischen Christlich-Sozialen Volkspartei“ (BCSV) und somit der CDU. Ob Guardini zu diesem Zeitpunkt Büchner aus der Erinnerung an dessen Teilnahme bei Guardinis Vorträgen in Freiburg 1931 und Salzburg 1932 oder namentlich über Spörl oder Gebsattel schon „kannte“, ist wohl nicht mehr zu klären. Büchners Formulierungen über Heideggers Wertschätzung gegenüber Guardini und über dessen Sehnsucht nach christlicher Geborgenheit legen einen persönlichen Austausch der beiden Freiburger Professoren nahe.
Q022
Brief von Franz Büchner an Romano Guardini vom 3. Mai 1946 [BSB Ana 342, C 1-12-6]
Zusammenfassung wird noch erfolgen.
Während die Anfrage Spörls, wie gesehen, noch vorliegt, ist von einer schriftlichen Anfrage Gebsattels bislang nichts bekannt geworden. Diese kann aber natürlich auch im Rahmen einer persönlichen Begegnung geschehen sein, wie zum Beispiel auf der besagten Tagung in Salem im April 1946.
Ob ein Treffen zwischen Büchner und Guardini am 24. Mai 1946 in Tübingen stattfand, konnte nicht geklärt werden. Außerdem bleibt völlig unklar, warum Büchner, der natürlich als Prorektor der Hochschule mit diesen Fragen auch offiziell zu tun hatte, sich völlig ohne Verweis auf den Rektor, den katholischen Theologen Arthur Allgeier (1882-1952), an Guardini wendet, obwohl es sich doch um den Ruf auf einen Konkordatslehrstuhl für Philosophie handelte, der gerade eben auch die Theologiestudenten zu unterrichten hatte. Ob die Lösung mit dem planmäßigen Extraordinariat für Philosophie für Max Müller mit dem Rektor und mit der Katholisch-Theologischen Fakultät zu diesem Zeitpunkt abgesprochen war, erschließt sich mir bislang auch nicht aus der Sekundärliteratur. Die geplante Entlastung hatte sich allerdings mit der Absage Guardinis am 20. Mai 1946 ohnehin erübrigt.
[Der Alttestamentler Arthur Allgeier wurde 1910 an der Universität Freiburg zum Dr. theol. und 1914 an der Universität Berlin zum Dr. phil. 1915 habilitierte er sich an der Universität Freiburg und wurde 1919 Lehrstuhlinhaber in Freiburg. Allgeier war von 1929 bis 1941 Generalsekretär der Görres-Gesellschaft und ab 1941 Konsultor der Päpstlichen Bibelkommission. Er war vor allem auf dem Gebiet der lateinischen Psalmenüberlieferung tätig. Daher dürfte ihm kaum der Übersetzungsauftrag der Deutschen Bischofskonferenz an Romano Guardini entgangen sein. Außer seiner Rezension für die „Theologische Literaturzeitung“ im Jahr 1951 ist allerdings bislang keinerlei Bezug zwischen Guardini und Allgeier herstellbar.]
Q023
Brief von Romano Guardini an Franz Büchner vom 20. Mai 1946 [Entwurf BSB, C 112-6 sowie Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1197; Abschrift an Dekan Robert Heiß in Universitätsarchiv Freiburg B 3 77]
Zusammenfassung wird noch erfolgen.
Q024
Auszug aus einem Briefdurchschlag von Romano Guardini an Johannes Spörl vom 20. Mai 1946 [BSB Ana 342, B 1-3-069, auszugsweise schon zitiert bei Gerl, 1985, S. 331]
Zusammenfassung wird noch erfolgen.
Nach der Absage Guardinis standen Alois Dempf, Jakob Barion und Max Müller auf der Dreierliste der Fakultät. Den Ruf angenommen hat schließlich Max Müller, der den Lehrstuhl dann noch im ausgehenden Sommersemester 1946 übernahm.
Heideggers Kuraufenthalt in Hausbaden von Februar bis Mai 1946 und die Rolle Viktor E. von Gebsattels bei den Berufungsanfragen an Guardini
Nach einem körperlichen Zusammenbruch Heideggers, war Heidegger von Ludwig Binswanger ein Aufenthalt in Badenweiler in der von Viktor E. Gebsattel geleiteten psychosomatischen Klinik des Deutschen Caritasverbandes angeraten worden. Diesen Rat befolgte Heidegger und hielt sich von Februar bis Ende Mai 1946 über drei Monate im Sanatorium Schloss Haus Baden (auch „Hausbaden“) auf.
Bis heute ist nicht völlig geklärt, wie es zu Heideggers abweichender Darstellung gegenüber Petzet gekommen ist, dass er nach seiner erneuten Befragung Mitte Dezember 1945 einen Zusammenbruch hatte, auf den ein dreiwöchiger Aufenthalt in Badenweiler folgte [Hugo Ott, Martin Heidegger – Mentalität der Zerrissenheit, in: Freiburger Diözesan-Archiv, 110, 1990, S. 427-448, hier S. 429; ähnlich ders., Biographische Gründe für Heideggers „Mentalität der Zerrissenheit“, in: Peter Kemper (Hrsg.), Martin Heidegger – Faszination und Erschrecken. Die politische Dimension einer Philosophie, Frankfurt am Main/New York 1990, S. 13-29]. So heißt es bei Petzet – ausgewiesen als Zitat Heideggers:
„Als ich damals – im Dezember 1945 – völlig unvorbereitet vor der Fakultät in das Inquisitionsverhör der dreiundzwanzig Fragen genommen wurde und darauf zusammenbrach, kam der Dekan der Medizinischen Fakultät, Beringer (der den ganzen Schwindel und die Absichten der Ankläger durchschaut hatte) zu mir und fuhr mich einfach weg nach Badenweiler zu Gebsattel. Und was tat der? Er stieg erst mal mit mir durch den verschneiten Winterwald auf den Blauen. Sonst tat er nichts. Aber er half mir als Mensch. Und nach drei Wochen kehrte ich gesund zurück“[Petzet/Heidegger, Auf einen Stern zugehen, a.a.O., 1983, S. 52].
Dies dürfte aber wohl an einer falsch erinnerten Darstellung der Aussage von Seiten Petzets liegen, der sich des Öfteren in der Zuordnung von Namen und Zeiten irrt, so dass die Dezember-Befragung als pars pro toto für die Befragungen im Dezember und Januar stehen würden, die dann im Januar zu Heideggers Zusammenbruch geführt haben; und dass in der Erinnerung aus „drei Monaten“ irgendwie „drei Wochen“ wurden.
Die Wanderung auf den Blauen ist auch verbürgt durch einen Geburtstagsbrief Heideggers vom 25. Januar 1973 an Gebsattel. Im Brief heißt es:
Q025
Auszug aus einem Brief von Martin Heidegger an Viktor E. von Gebsattel vom 25. Januar 1973 [DLA Marbach]
Zusammenfassung wird noch erfolgen
Daher ist die aus der Erinnerung Heideggers bei Petzet oft geschlossene Annahme, dass die Aussage „Sonst tat er nichts. Aber er half mir als Mensch“ auch den Verzicht auf persönliche Gespräche einschloss, nicht richtig ist. Dass Heidegger diese Gespräche mit Gebsattel nicht als therapeutisch im engeren Sinne empfand, kann man dabei auf sich beruhen lassen.
Q026
Widmung Heideggers an Gebsattel in „Hölderlins Hymne: `Wie wenn am Feiertage …´ vom Mai 1946 (DLA Marbach)
Im Deutschen Literaturarchiv Marbach befindet sich dazu eine handschriftliche Buchwidmung Heideggers an Gebsattel in seiner Schrift „Hölderlins Hymne `Wie wenn am Feiertage …´“ aus dem Mai 1946 ((HH. Kps (Hölderlin, Fr.))
Die Widmung trägt "Frbg." für Freiburg und den "16. Mai 46" als Ort und Datum und denkt ausdrücklich "an das Frühjahr 1946".
Außerdem gibt es mehrere Briefe Heideggers an seine Frau Elfride von Badenweiler nach Freiburg vom 17. Februar 1946 bis zum 8. Mai 1946 [Heidegger, „Mein liebes Seelchen!“, a.a.O., S. 240-250]. So schrieb Heidegger im März 1946 an seine Frau im Zusammenhang mit seinem Kuraufenthalt in Hausbaden auch über eine bevorstehende Tagung in Salem, an der laut seinem Arzt Viktor E. von Gebsattel auch Viktor von Weizsäcker, Guardini und F. G. Jünger teilnehmen sollten:
„G.[Gebsattel, HZ] meint, ich solle ja nicht vorzeitig abbrechen. Er fährt erst am 8. April über Freiburg nach Überlingen zu seiner Tochter u. zu einer Tagung in Salem mit Weizsäcker (Heidelb.), Guardini u. F. G. Jünger“[Martin Heidegger, „Mein liebes Seelchen!“ Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride 1915-1970, hrsg., ausgewählt und kommentiert von Gertrud Heidegger, München 2005, S. 246].
Eine solche Tagung beim Markgrafen von Baden in Salem ist – allerdings ohne einer Teilnahme Guardinis – zwar für Oktober 1945 bekannt [G.B., Die Erziehung der deutschen Jugend. Eine pädagogische Tagung auf Schloß Salem, in: Südkurier (Konstanz), 26. Oktober 1945; vgl. dazu auch: Daniel Morat, Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger, 1920-1960, Göttingen 2007, S. 333]; die hier konkret angesprochene im April oder Mai 1946 hingegen konnte bislang noch nicht identifiziert werden. Wohl aber könnte es in diesem Zusammenhang zu einem Austausch zwischen Guardini und Gebsattel über die Freiburger Berufungswünsche gekommen sein.
Heidegger war schließlich noch einmal im Frühjahr 1948 auf Einladung des Ehepaars Krohn für einige Zeit in Hausbaden, wie aus Briefen an seine Frau Elfride vom 2. März 1948 [Heidegger, „Mein liebes Seelchen!“, a.a.O., S. 253 f.] und an Elisabeth Blochmann vom 21. März 1948 [Heidegger/Blochmann, Briefwechsel 1918-1969, 1989, S. 95] hervorgeht. Auch Anfang April ist Heidegger wieder in Badenweiler. Von dort aus suchte er jeweils auch das Gespräch mit Gebsattel, soweit dieser in der Klinik anwesend war.
Heidegger blieb Gebsattel noch lange über diese Aufenthalte hinaus verbunden, wie sein Beitrag „Grundsätze des Denkens“ zum Festschrift-Band des „Jahrbuchs für Psychologie und Physiotherapie“ [Martin Heidegger, Grundsätze des Denkens, in: Jahrbuch für Psychologie und Physiotherapie, 6, 1958, S. 33-31] zeigt und wie es zahlreiche Briefe auch noch Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre dokumentieren [Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlass Martin Heidegger. Der Nachlass enthält nach Ausweis des Kalliope-Verbunds wechselseitige Briefe von 1965 bis 1973].
Guardini kennt Viktor Emil von Gebsattel (1883-1976) schon aus seinen ersten Berliner Jahren. Ob allerdings auch die Stelle im Brief an seinen Freund Josef Weiger vom 19. November 1924 auf diesen Gebsattel oder einen Verwandten gemünzt ist, kann noch nicht endgültig geklärt werden. Im Brief heißt es:
„Gestern war ich bei der Baronin v. Gebsattel. Sie ist protestantisch; ihr Mann katholisch (eine ganz feine Persönlichkeit; voll lebendigen philosophischen Interesses, wirkt im Auswärtigen Amt, glaube ich.) Sie hatte um jemand gebeten, der sie in katholischen Dingen unterrichte, damit sie bei der Erziehung ihrer katholischen Kinder Bescheid wisse in deren Glauben. (Wie einem die Unnatur dieses so häufigen Verhältnisses an einem solchen Fall klar wird, nicht?) Ich habe niemand gewußt, und mich dann selbst entschlossen. Alle 14 Tage, nach dem Kolleg, das sie übrigens auch besucht. Ich bereue es nicht, zugesagt zu haben. Es ist eine Luft von so schlichter Vornehmheit, daß sie einem im Herzen wohltut. Sie weiß auch bereits viel, und als ich fragte, ob ihr die Lesung von Bartmanns Grundriß (nicht Lehrbuch) der Dogmatik zusagen würde, wobei ich kein Hehl aus seiner Trockenheit machte, meinte sie, im Gegenteil, Ordnung und Verständlichkeit gefielen ihr gerade, und für Dogmatik habe sie immer viel Interesse gehabt. So ist die Sache leichter“[Guardini, Briefe an Josef Weiger, a.a.O., S 258 f.].
Tatsächlich war Karoline von Falkenheyn, die Frau Viktor von Gebsattels, zunächst evangelisch. Die Angaben bezüglich ihrer Konversion sind sehr unterschiedlich. Es ist nicht ganz eindeutig, ob sie kurz vor der Heirat katholisch wurde oder erst in späteren Jahren. Allerdings passt dazu im Brief nicht Guardinis Vermutung, dass der Baron von Gebsattel im Auswärtigen Amt wirke. Dies würde eher auf den Onkel Viktors, den Generalkonsul Fritz Freiherr von Gebsattel (1868-1939) zutreffen, der seit 1909 kaiserlicher Generalkonsul in Prag war, von dort aus aber 1919 ausgewiesen wurde und nach Berlin ins Außenministerium versetzt wurde. Allerdings war er zu diesem Zeitpunkt schon 56 Jahre alt und von seiner Frau und seinen Kindern ist mir nichts bekannt. Aber auch ein Cousin von Viktor von Gebsattel war zeitweise im Auswärtigen Amt tätig: Franz Freiherr von Gebsattel, der allerdings ab 1919 den Familiensitz im bayerischen Gebsattel führte. Dieser hatte zwar 1919 Theresia Gräfin von Ueberacker, Freiin zu Sighartstein, geheiratet und das Paar hat ebenfalls 1920 einen Sohn und 1922 eine Tochter bekommen. Allerdings ist das Salzburger Adelsgeschlecht derer von Ueberacker und zu Sighartsein von Haus aus katholisch.
Von daher ist davon auszugehen, dass Guardinis Vermutung („ich glaube“) falsch ist. Dann dürfte er aber Gebsattel zu diesem Zeitpunkt noch nicht besser kennengelernt haben. Dies würde dann auch die theoretische Möglichkeit ausschließen, dass Gebsattel und Guardini sich sogar schon in Guardinis beiden Münchner Studiensemestern kennengelernt haben könnten, da der Kunsthistoriker, Philosoph und Psychologe Gebsattel in München sein Studium beendete und 1906 bei Theodor Lipps mit einer psychologischen Arbeit über Gefühlsirradiation promovierte. Da Gebsattel auf väterlichen Wunsch hin die Diplomatenlaufbahn einschlagen sollte, hatte er anfänglich Jura studiert, ging aber bereits nach einem Jahr nach Paris, wo er beim Philosophen Bergson gehört und Rainer Maria Rilke kennengelernt hatte, dann nach Berlin zu Dilthey und schließlich eben nach München zu Lipps wechselte. Es folgte eine lange Zeit der freien Schriftstellerei, verbunden mit vielen Reisen und Begegnungen mit den Künsten und Künstlern. Schließlich verlagerte sich sein Interesse auf die Psychotherapie. Er machte eine psychoanalytische Ausbildung bei Leonhard Seif (1866-1950), gründete mit ihm und anderen im Mai 1911 die Münchner Ortsgruppe der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. Als sich Seif und C. G. Jung von Freud trennten und von der Vereinigung ausgeschlossen wurden, grenzte Gebsattel sich zwar auch von Freud ab, schloss sich aber keiner Schule an [Berthold Gerner, Romano Guardini in München. Beiträge zu einer Sozialbiographie, Band 1: Lehrer an der Universität, München 1998, S. 556 f.].
1913 begann er mit dem Medizinstudium, das er ebenfalls mit einer Promotion über Tuberkulose abschloss. Schließlich heiratete er 1920 die hat die Kinderärztin Karoline von Falkenhayn, bekam mit ihr 1920 und 1922 zwei Töchter . 1922 ging er mit seiner Familie nach Berlin, arbeitete in den Kuranstalten Westend und übernahm 1924 deren Leitung. Dort wurde Werner Leibbrand (1896-1974) sein Mitarbeiter. Von Nicolaus Sombart wissen wir, dass die Freiin von Gebsattel, geb. von Falkenheyn und ihr Mann – wie auch Guardini – im Hause Sombarts verkehrten [Die Töchter Marie Elisabeth Viola, später verheiratete Baronin von Gagern (1920-2013) und Christine Elisabeth Mathilde, später verheiratete Gräfin von Kalckreuth (* 1922)].
Spätestens für 1925 berichtet Leibbrand davon, Gebsattel habe ihm, als sie gemeinsam in der Heilanstalt im Westend arbeiteten, Näheres über Guardini erzählt [Werner Leibbrand, Encuentro con Romano Guardini en las catacumbas de Berlin, in: Folia humanistica, Barcelona, T. III, 1965, Nr. 34 (Octubre), S. 857-864 (zitiert nach Gerner, Romano Guardini in München, Band 1, a.a.O., S. 558 f.)]. In Gebsattels Schrift “Ehe und Liebe” von 1925 findet sich bereits ein ausdrücklicher Hinweis auf Guardinis Buch “Vom Sinn der Kirche” [Viktor Emil von Gebsattel, Ehe und Liebe, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Soziologie, I, 1925, S. 247-264, S. 261 (Anm. 2)]. 1926 publiziert er in Guardinis “Schildgenossen” einen richtungsweisenden Aufsatz “Über den personalen Faktor des Heilungsprozesses”[in: Die Schildgenossen 6, 1926, S. 495-506].
1925 hatte Gebsattel sein Privatsanatorium Schloss Fürstenberg in Mecklenburg eröffnet, das er bis zur Schließung und vorübergehenden Beschlagnahme durch die Reichswehr im Jahr 1939 leitete. Bis zur Schließung versteckte er dort auch Juden und sympathisierte anschließend offen für den „Kreisauer Kreis“ [Vgl. dazu Gerhard Danzer, Wer sind wir? Anthropologie im 20. Jahrhundert. Ideen und Theorien für die Formel des Menschen, Berlin/Heidelberg 2011, S. 272 ff., hier S. 273].
Von Maria von Gagern, der Tochter Gebsattels, und von Sophie von Puttkamer wissen wir, dass Guardini 1937 selbst zur Kur in Fürstenberg war [BSB Ana 342, B 3, Mappe 4: Annemarie und Sophie Puttkamer erinnern sich in ihren Briefen zum 80. Geburtstag von Romano Guardini am 14. Bzw. 17. Februar 1965 an Begegnungen mit Guardini und Gebsattel. Maria von Gagern, geb. Gebsattel bestätigt dies in einem Brief zu Guardinis 70. Geburtstag vom 16. Februar 1955 (BSB Ana 342, B 4-Sonderkonvolut, Mappe 3), in dem sie von einer ersten Begegnung in Fürstenberg vor fast 20 Jahren schreibt und zehn Jahre später am 16. Februar 1965 (BSB Ana 342, B 4-Sonderkonvolut, Mappe 3) das Jahr 1937 angibt].
Gebsattel wechselte 1939 in eine Privatpraxis in Berlin und lehrte bis 1944 am Berliner Zentralinstitut für Psychotherapie. Er kaufte dafür zum 1. Oktober 1939 das wohl immer noch Guardini gehörende Kempner-Haus in der Sophienstraße 4-5 in Berlin-Charlottenburg. Leibbrand berichtet nun, wie ihn Gebsattel kurz nach Kriegsbeginn 1939 bat, „mit Guardini einen “Rilke-Kreis” zu gründen, zusammen mit einigen wenigen treuen Mitarbeitern [Die Geschichte von Guardinis Berliner Rilke-Kreisen [sic!] ist mittlerweile bekannt, muss aber im Einzelnen an anderer Stelle ausgeführt werden]. Guardini versuchte, in den Diskussionen die `Duineser Elegien´ und `Die Sonette an Orpheus´ zu interpretieren. So füllten sich die Katakomben wieder”[Werner Leibbrand, Encuentro con Romano Guardini en las catacumbas de Berlin, in: Folia humanistica, Barcelona, T. III, 1965, Nr. 34 (Octobre), S. 857-864 (zitiert nach Gerner, Romano Guardini in München, Band a.a.O., S. 558 f.)]. In einem späteren Rückblick erinnert sich Leibbrand: „Es war ergreifend, in dieser Zeit einen Mann zuversichtlich darüber reden zu hören, dass es eine unübertragbare Person gebe“[Aus einer unveröffentlichten Autobiographie zitiert von Fridolf Kudlien, Werner Leibbrand als Zeitzeuge. Ein ärztlicher Gegner des Nationalsozialismus im Dritten Reich, in: Medizinhistorisches Journal, 21, 1986, S. 332-352, hier S. 341]. So kann man für den Einfluss Guardinis auf Gebsattel festhalten:
„Wenn er sich in der Folge auch als Psychotherapeut voll und ganz als `Katholik´ empfand und verstand, war dies vor allem dem Gespräch mit Guardini zu danken, das die `Auseinandersetzung´ in einzelnen Problemkreisen keineswegs ausschloß. Drei Aufsätze dokumentieren dieses Gespräch: `In seelischer Not. Briefe eines Arztes´ (1940), `Von der christlichen Gelassenheit´ (1940) und `Religion und Psychologie´ (1941). In allen drei Fällen sorgte Romano Guardini für den Druck“ [Gerhard Schmolze, Arzt und Mittler. Zum 100. Geburtstag von Viktor Emil Freiherr von Gebsattel, in: Unser Bayern. Heimatbeilage der Bayerischen Staatszeitung, 32/2, 1983, S. 13ff., hier S. 14f. Viktor Emil von Gebsattel, In seelischer Not. Brief eines Arztes, 1940, Nr. 35; ders., Von der christlichen Gelassenheit, 1940 (in: Christliche Besinnung); ders., Religion und Psychologie, in: Die Schildgenossen, 20/1941, S. 45-63].
Guardini sollte 1943 auch der kirchlichen Trauung von Gebsattels älterer Tochter assistieren, nachdem der Bräutigam kurzfristig Fronturlaub bekam. Aber Guardini schaffte es nicht, rechtzeitig in Berlin einzutreffen [Stefan Scheible, Viktor Emil von Gebsattel (1883-1976). Leben und Werk, Diss. Tübingen 2008, S. 109, unter Berufung auf Maria Freifrau von Gagern, Tochter Gebsattels]. Obwohl Gebsattel im November 1943 durch einen Bombenangriff das Haus in Berlin verlor und infolgedessen 1944 zunächst nach Wien zur Gründung einer “Zweigstelle” gegangen war, scheint der Kontakt nicht abgerissen zu sein. Dem dortigen Wiener Arbeitskreis für Tiefenpsychologie gehört auch Pater Augustinus von Wucherer-Huldenfeld an, der wiederum später Autor einer bekannten Studie über Guardinis Gegensatzlehre wird. Über seine Freiburg-Kolmarer Verbindungen veröffentlichte Gebsattel 1944 noch seine Schrift „Not und Hilfe. Prolegomena zu einer Wesenslehre der geistig-seelischen Hilfe (Kolmar 1944, erneut Freiburg 1947).
Nach Kriegsende betrieb Gebsattel zunächst in Überlingen am Bodensee eine Privatpraxis, 1946 übernahm er die ärztliche Leitung der Caritas-Klinik “Schloß Haus Baden” in Badenweiler. Er hatte ab 1947 außerdem einen Lehrauftrag für Psychotherapie an der Universität Freiburg [Aus der Freiburger-Badenweiler Zeit stammen folgende Veröffentlichungen: Viktor Emil von Gebsattel, Christentum und Humanismus. Wege des menschlichen Selbstverständnisses, Stuttgart 1947; ders., Der Ethos des Arztes. Ein Gespräch, in: Wort und Wahrheit, 3, 1948, S. 652ff.; ders., Das christliche Berufsethos des Arztes, in: J. Ammer/Karl Borgmann (Hgg.), Anruf und Zeugnis der Liebe. Beiträge zur Situation der Caritasarbeit, Regensburg 1948, S. 118ff.].
1949 wird Gebsattel dann Honorarprofessor für Medizinische Psychologie und Psychotherapie in Würzburg und übernahm kommissarisch die Leitung des Anthropologischen Instituts, welches 1958 in “Institut für Psychotherapie und medizinische Psychologie” umbenannt wurde. Daraufhin übergab Gebsattel die Aufgabe als Chefarzt 1950 an Herrmann Ell (1912-1977), der infolgedessen auch für die beiden Aufenthalte von Guardini 1952 und im Herbst 1953 medizinisch verantwortlich zeichnete.
Gebsattel blieb der Vorstand dieses Würzburger Instituts bis 1969. Zahlreiche Veröffentlichungen aus den Würzburger Jahren zeigen weiterhin seine enge Verbindung zu Guardini [Vgl. vor allem: Viktor Emil von Gebsattel, Prolegomena einer medizinischen Anthropologie, 1954]. Auch aus dieser Zeit belegen weitere Briefe und Telegramme aus Bamberg den freundschaftlichen Kontakt [BSB Ana 342: B3-1-058, B3-3-089, B4-3-043 bis -045]. Guardini schlägt ihn darüber hinaus 1956 für einen der Eröffnungsvorträge für die Katholische Akademie in Bayern vor [Gerner, Romano Guardini in München, Band 1: Lehrer an der Universität, a.a.O., S. 390].
Aufgrund der biographischen Zusammenhänge wäre auch aus dem Nachlass von Viktor Emil von Gebsattel und seiner Familie noch das ein oder andere Neue und Aufschlussreiche zu erwarten.
Die weiteren Anfragen Franz Büchners für die Nachfolge Martin Heideggers (ab August 1946)
Als es dann im Herbst 1946 wieder um den Nachfolger für den Rickert-Husserl-Heidegger-Lehrstuhl ging, gab es abermals Anfragen an Guardini durch Franz Büchner und Clemens Bauer.
[Auf Clemens Bauer wird hier nicht weiter eingegangen. Siehe zu ihm aber Hugo Ott, Clemens Bauer + (16.12.1899-1.1.1984), in: Historisches Jahrbuch, 107/I, 1987, S. 223: „Es gab erhebliche Anstrengungen, der Freiburger Universität ein christliches, ja katholisches Profil zu schaffen. Clemens Bauer wurde in den inneren Kreis, in ein informelles Leitungsgremium, einbezogen, versagte sich jedoch bald dieser strengen Ausrichtung. Immerhin: er versuchte gemeinsam mit Johannes Spörl und dem Pathologen Franz Büchner seit dem Frühjahr 1946 den in Tübingen lehrenden Romano Guardini für die restituierte Weltanschauungsprofessur für Philosophie zu gewinnen bzw. im Herbst 1946 nach Heideggers endgültiger Entlassung.“]
Büchner war, wie gesehen, bereits in seiner Antwort auf die Absage Guardinis bezüglich des Honecker-Lehrstuhls auf die Besetzung des Heideggerschen Lehrstuhls zu sprechen gekommen, da er selbst einen Ruf nach Göttingen erhalten habe und seinen Weggang von Guardinis Haltung bezüglich des Heidegger-Lehrstuhls mit abhängig machen wollte. Nun konkretisierte er sein Anliegen:
Q027
Brief von Franz Büchner an Romano Guardini vom 3. August 1946 [BSB Ana 342, C 1-12-6]
Zusammenfassung wird noch erfolgen.
Guardini hatte auf diese Anfrage einen abschlägigen Bescheid angedeutet, erneut mit der Begründung, er sei kein Philosoph, sondern ein Interpret.
Q028
Brief von Romano Guardini an Franz Büchner vom 4. September 1946 [Entwurf BSB C 1/12-6; Original in Universitätsarchiv Freiburg i. Br., E 23-176]
Zusammenfassung wird noch erfolgen.
Nun versuchte Büchner mit einer „doppelten“ Anfrage, einer persönlichen und einer offiziellen, dem Freiburger Anliegen ein größeres Gewicht zu verleihen.
Q029
Brief von Franz Büchner an Romano Guardini vom 21. September 1946 [Original BSB C 1/12-6; Entwurf im Universitätsarchiv Freiburg i. Br., E 23-176]
Zusammenfassung wird noch erfolgen.
Zeitgleich schickte Büchner an diesem 21. September 1946 auch die im persönlichen Brief angekündigte offizielle Anfrage als Prorektor der Universität Freiburg:
Q030
Offizielle Anfrage von Franz Büchner an Romano Guardini vom 21. September 1946 [BSB Ana 342, C 112-6 in doppelter Ausführung]
Am 27. September 1946 schickt Guardini an Büchner eine briefliche Eingangsbestätigung mit Bitte um Bedenkzeit.
Q031
Brief von Romano Guardini an Franz Büchner vom 27. September 1946 [BSB Ana 342, C 112-6]
Die endgültige Absage Romano Guardinis (19. Oktober 1946)
Mit dem 9. Oktober 1946 sind die Briefe an Büchner und Steinbüchel datiert, in denen Guardini seine endgültige Absage begründet. Einem Brief an Johannes Spörl zufolge hat er diese aber wohl erst 10 Tage später abgeschickt, was auch die handschriftliche Eintragung „Abges. 19.10.46“ auf den Briefdurchschlägen in der Bayerischen Staatsbibliothek erklärt. Insofern sind die diesbezüglichen Angaben bei Hugo Ott chronologisch dahingehend zu korrigieren [Vgl. Ott, Martin Heidegger und die Universität Freiburg nach 1945, in: Historisches Jahrbuch, 105, 1985, S. 119]. Freiburg bekam also frühestens am 20. Oktober folgenden Absagebrief Guardinis.
Q032
Briefdurchschlag von Romano Guardini an Franz Büchner vom 9. bzw. 19. Oktober 1946 [BSB Ana 342, C 112-6]
Zusammenfassung wird noch erfolgen
Q033
Briefdurchschlag von Romano Guardini an Theodor Steinbüchel vom 9. bzw. 19. Oktober 1946 [BSB Ana 342, C 1-7-13]
Zusammenfassung wird noch erfolgen
Steinbüchel hat das Scheiben an den zuständigen Ministerialrat in der Landesdirektion für Kultus, Erziehung und Kunst, Rupp, weitergegeben, der bezüglich der Ernennungsurkunde und des Ernennungsdatums mit Guardini im Briefverkehr stand. Am 1. November 1946 beantwortete er die Anfrage Guardinis in allen Fragen positiv, auch dass er „ad personam und ohne Fach berufen und daher in der Wahl Ihrer Lehrgegenstände vollkommen frei” sei. Dennoch bedürfe es der „Umreißung” der Lehrgebiete. Schon in einem früheren Schreiben bat Rupp Guardini um einen Formulierungsvorschlag gebeten. Auf Wunsch von Guardini in der Antwort vom 17. Dezember 1946 einigte man sich schließlich auf „Religionsphilosophie und christliche Weltanschauung”.
Der abschließende Briefwechsel mit Johannes Spörl
Am 19. Oktober 1946 teilt Guardini seinem Freund Johannes Spörl seine Entscheidung kurz mit, worauf dieser sowohl mit Bedauern als auch mit Kritik an der Begründung, er sei kein „Fachphilosoph“:
Q034
Brief von Romano Guardini an Johannes Spörl vom 19. Oktober 1946 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern, Nr. 1197]
Zusammenfassung wird noch erstellt.
Q035
Brief von Johannes Spörl an Romano Guardini vom 24. Oktober 1946 [BSB Ana 342, B 4-Sonderkonvolut, Mappe 3]
Zusammenfassung wird noch erstellt.
Eine Nachbetrachtung: Vicente Marreros Besuche bei Guardini und Heidegger
Vicente Marrero Suárez (1922-2000) war im Rahmen des „Deutsches Studienwerk für Ausländer/Alexander-von-Humboldt-Stiftung“ von 1943 bis 1949 Lektor für Spanisch an der Freiburger Universität mit der gleichzeitigen Möglichkeit des Weiterstudiums. Er hörte dabei vor allem Martin Heidegger, Walter Eucken und Hugo Friedrich. 1951 kehrte er nach Spanien zurück und veröffentlichte dort 1952 seine Berichte über die „Besuche“ bei Heidegger und – von Freiburg aus – bei Guardini in Tübingen. Interessanterweise wusste er damals schon von der Anfrage und auch vom richtigen Grund der Ablehnung Guardinis, nach Freiburg zu wechseln und scheint daher mit einem Mitglied des „Professorenkomitees“ darüber gesprochen zu haben:
„Er ist kein Philosoph. Trotzdem wurde er kurz nach dem Ende des letzten Krieges aufgefordert, einen Lehrstuhl zu besetzen: den, der gerade eben von seinem alten Studienkameraden Martin Heidegger geräumt wurde – den Stuhl von Husserl, den der Phänomenologie, den des „Existentialismus", den philosophisch gesehen Wertvollsten in diesem Jahrhundert. An das Professorenkomitee der Universität Freiburg i. Br., das ihn mit allen Ehren besuchte, auch mit der Zustimmung von Heidegger selbst, antwortete: „Er sei kein Philosoph." Er kannte seine eigenen Grenzen und war seiner Meinung nach nicht vorbereitet, Seminare und Unterrichtsstunden zu Hegel, Fichte, Schelling ... mit der Entschlossenheit und Ausdauer zu entwickeln, die ein deutsches Hochschulsemester erfordert. Er lehnte das Angebot ab, erhielt aber von der offiziellen Philosophie diese Ehre, die viele Fachleute der Philosophie so weit entfernt sehen“ [Vicente Marrero Suárez, Figura de Romano Guardini, in: Ateneo, 1952, 4 (15. März), S. 12-13; aufgenommen in: ders., Guardini, Picasso, Heidegger. Tres visitas, Madrid 1959 (Ensayos 8), hier S. 9-20; wohl nachgedruckt unter dem Titel „Visita a Guardini“, in: Indice de artes y letras, Madrid, 12, 1961, Nr. 144 (Januar 1961), S. 7, hier die Einleitung zum Bericht über Guardini, übersetzt durch Helmut Zenz. Siehe dazu auch Franz Niedermayer, Die Unterscheidung des Christlichen. Vicente Marrero, Guardinis spanischer Besucher in Tübingen, in: Deutsche Tagespost, Würzburg, 38, 1985, 21 (15./16. Februar), S. 14].
Auch Guardini selbst hat dies so gesehen, wie seine Antwort auf seine Ehrenpromotion an Dekan Max Müller im Jahr 1954 noch zeigen wird.
Da der durch diese Briefe dokumentierte Vorgang weitestgehend auch schon von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz und Hugo Ott kommentiert worden ist, genügt eine Einordnung in die Universitätsgeschichte Freiburgs an dieser Stelle der Verweis auf ihn [Gerl, Romano Guardini, 1985, a.a.O., S. 330 f.; dies., Geheimnis des Lebendigen, a.a.O., S. 206 f.; Ott, Martin Heidegger und die Universität Freiburg nach 1945, in: Historisches Jahrbuch, 105, 1985, S. 95-128; ders., Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, Frankfurt am Main/New York 1988, Abschnitt „Um die Nachfolge Heideggers“, S. 328-333; ders., Um die Nachfolge Martin Heideggers nach 1945, in: Annemarie Gethmann-Siefert (Hrsg.), Philosophie und Poesie. Otto Pöggeler zum 60. Geburtstag, 1988, S. 37 ff., besonders S. 45-48].
Allein der persönlichere Duktus im Briefwechsel mit Johannes Spörl und die durch den gesamten Text noch eindrücklichere Hartnäckigkeit Franz Büchners mit Berufung auf Clemens Bauer und Oehlkers eröffnen noch einige neue Akzente. Gleichzeitig wird die Intensität des Nebenargumentes – Hauptargument war, dass er Tübingen nach so kurzer Zeit den Kollegen und den Studierenden wegen nicht schon wieder verlassen könne -, dass er kein Fachphilosoph, sondern ein weltanschaulicher Interpret sei, noch weitere Male unterstrichen.
Aus der gesamten Entwicklung bis zu diesem Zeitpunkt wird deutlich, dass Guardini, wenn ihn wohl schon ähnlich früh aus Freiburg ein ähnliches, an Berlin anknüpfendes Angebot erreicht hätte, wie kurz nach Kriegsende über Carlo Schmid aus Tübingen, sich nur sehr schwer zwischen Tübingen und Freiburg entscheiden hätte können. Letztlich hätte er aber aufgrund der größeren Freundeszahl voraussichtlich wohl eher zu Freiburg tendiert. So hatte er sich aber, als ihn im August der Brief Heideggers und dann von Weihnachten an die Anfragen aus der Freiburger Philosophischen Fakultät erreichten, schon früh auf Tübingen festgelegt und stattdessen schon insgeheim auf einen Ruf aus München gewartet.
Dennoch ist es Guardini nicht zu verdenken, dass er allerdings den Abwerbeversuch aus Freiburg auch dazu nutzte, seine wirtschaftliche und wissenschaftliche Situation in Tübingen zu verbessern und sei es nur in der Form einer Schreibmaschine.
Internationale „Württembergische Universitätswochen“ August/September 1947
Bislang unbekannt war die zumindest geplante Beteiligung Guardinis an den von der französischen Militärregierung in Zusammenarbeit mit der Universität Tübingen veranstalteten „Internationalen Universitätswochen“ im Spätsommer 1947. Die Ankündigung weist folgendes aus:
„Die französische Militärregierung veranstaltet in der Zeit vom 6. August bis 9. September unter Mitwirkung der Universität internationale Universitätswochen, zu de 150 französische Studenten, 150 deutsche Studenten und 100 ausländische Studenten eingeladen werden. … Liste der geplanten Vorlesungen … IV. Die moderne Philosophie, besonders der französische und der deutsche Existentialismus, Sartre, Heidegger, Jaspers: Prof. Guardini V. Ethische Grundfragen: Prof. Guardini … X. Interpretation Hölderlin’scher Dichtung in Beziehung zu religionswissenschaftlichen Grundphänomenen, z.B. Erfahrung, Mythos: Prof. Guardini …“[Tübingen: Internationale Universitätswoche, in: Universitas, Stuttgart, 2/II, 1947, S. 748].
Als weitere Mitwirkende wurden angekündigt: Spranger, Schrey, Krüger, Schneider, Weise/Herding, Butenandt.
Diese „Württembergischen Universitätswochen“ haben auch nachweislich stattgefunden. Ob dabei Guardini aber auch diese drei Vorlesungen gehalten hat, ist bislang nicht gesichert. Im Guardini-Archiv sind dazu keine einschlägigen Typoskripte bekannt, die im Falle der Ethik und Hölderlins über das schon Publizierte oder die Vorlesungen hinausgeht. Von seiner Auseinandersetzung mit dem französischen und deutschen Existentialismus – namentlich Sartre, Heidegger, Jaspers – existiert in dieser Konstellation wohl auch kein Entwurf mehr, so dass überhaupt fraglich ist, ob er diese Vorlesung so gehalten hat. Dennoch ist allein schon der Umstand interessant, dass er mit diesem Thema angekündigt wurde. Die Universitätsarchive könnten dazu sicher noch weiteren Aufschluss geben.
Bis hier vollständig übertragen
Der Briefwechsel bezüglich der Heidegger-Festschrift (1949)
Die Anfrage (Mai 1949)
Der „Moderator“ der Festschrift: Hans-Georg Gadamer
Ein wichtiger Gesprächspartner Guardinis: Gerhard Krüger
Der briefliche Austausch zwischen Krüger, Gadamer und Guardini (Mai/Juni 1949)
Die Abgabe des Beitrags (Dezember 1949)
Die Titelfrage (Januar/Februar 1950)
Das Ergebnis und die zwei weiteren Festschriften
Am Ende umfasste die von Gadamer moderierte Festschrift insgesamt zehn Beiträge: Von Kollegen und Freunden:
- Walter F. Otto (* 1874): Die Zeit und das Sein. Unphilosophische Betrachtungen, S. 7-28;
- Romano Guardini (* 1885): Leib und Leiblichkeit in Dantes „Göttlicher Komödie“, S. 154-177;
- Ernst Jünger (* 1895): Über die Linie, S. 245-284;
- Friedrich Georg Jünger (* 1898): Die Wildnis, S. 235-244;
- Erik Wolf (* 1902): ΑΝΗΡΔΙΚΑΙΟΣ, S. 80-105;
Von Schülern und Schüler-Schülern:
- Karl Löwith (* 1897), Habilitation bei Martin Heidegger 1928 in Marburg: Weltgeschich-te und Heilsgeschehen, S. 106-153;
- Hans-Georg Gadamer (* 1900), Habilitation bei Martin Heidegger 1929 in Marburg: Zur Vorgeschichte der Metaphysik, S. 51-79;
- Walter Bröcker (* 1902), Heidegger-Assistent (1933-1940): Der Mythos vom Baum der Erkenntnis, S. 29-50;
- Gerhard Krüger (* 1902), Schüler Heideggers: Über Kants Lehre von der Zeit, S. 154-177;
- Karl Heinz Volkmann-Schluck (* 1914), Schüler Gadamers: Zur Gottesfrage bei Nietzsche, S. 212-234;
Neu gegenüber der Liste vom Juni 1949 war Friedrich Georg Jünger. Zurückgezogen hatten hingegen: Fritz Schalk (* 1902) und Wilhelm Szilasi. Letzterer wollte sich ursprünglich an beiden Festschriften beteiligen, dieses Vorhaben dann aber wohl aufgegeben. Das parallele Unternehmen erschien rechtzeitig zum Geburtstag unter dem Titel „Martin Heideggers Einfluß auf die Wissenschaften. Aus Anlaß seines 60. Geburtstages verfaßt“ (Bern 1949).
Beim Herausgeber der zweiten Festschrift handelt es sich um Wilhelm Szilasi (1889-1966), der zunächst 1918/19 Professor in Budapest war, dann zu Edmund Husserl nach Freiburg wechselte und dort auch bei Heidegger hörte [Zoltán Szalai, Im Schatten Heideggers. Einführung zu Leben und Werk von Wilhelm Szilasi, Freiburg i. Br./München 2016] . Nach einem – aufgrund seiner jüdischen Abstammung notwendigen – Aufenthalt in der Schweiz während des Dritten Reiches, kam er nach 1945 wieder nach Freiburg zurück und übernahm 1947 die Vertretung des suspendierten Martin Heidegger.
Im Jahr nach der Übergabe der Festschrift 1949 kam es im Frühjahr zu einem so starken Zerwürfnis zwischen Szilasi und Heidegger, dass sogar universitäre Vermittlung notwendig wurde [Ott, 1985, a.a.O., S. 121].
Dies mag zum einen noch mit dem von Max Müller beschriebenen Bericht Eugen Finks vor dem Senat über Szilasis Verhalten auf dem ersten Internationalen Philosophenkongress im argentinischen Mendoza vom 30. März bis 9. April 1949 zu tun haben, wo sich Szilasi selbst bereits zu einem Zeitpunkt als Nachfolger Heideggers präsentiert hatte, als er noch temporärer Vertreter ohne Recht, die Bezeichnung „Professor“ führen zu dürfen, gewesen sei [Müller/Vossenkuhl, Auseinandersetzung als Versöhnung, a.a.O., S. 258].
Heidegger und seine Frau hatten aus Sicht Szilasis „bei Kollegen und außerhalb Bemerkungen über das Verhalten und die Bedeutung von Herrn Szilasi in seiner „Heideggers Sache““ verbreitet, „die den Tatsachen widersprächen“[Ott, 1985, a.a.O., S. 121.. Dabei ging es wesentlich auch um die Gerüchte in der Professorenschaft, Szilasi strebe Heideggers Nachfolge an. Man fand im Frühjahr eine Art Kompromiß, Heidegger begegnete Szilasi aber weiterhin ablehnend, was bereits im Juli 1950 zum neuerlichen Eklat führte. Der damalige Leiter des „Studium Generale“, Guy van Kerckhoven, berichtete dazu: „Am 3. Juli 1950 veranstaltete das Studium Generale, das damals unter meiner Leitung stand, erstmals ein Colloquium mit Heidegger in Todtnauberg. Dies war überhaupt die erste, offizielle wissenschaftliche mit Heidegger geführte Universitätsveranstaltung. […] Die drei Oberseminare von Eugen Fink, Max Müller und Bernhard Welte veranstalteten sie. Da auf ausdrücklichen Wunsch Heideggers Prof. Wilhelm Szilasi und sein Seminar nicht dazu gebeten worden war, wollte die Universität dieses 1. Treffen offizieller Art verbieten.“ Daraufhin hatte sich der Leiter des Studium Generale mit Heidegger geeinigt, das Ansinnen des Rektors und Dekans zurückzuweisen, da eine andere Stelle der Universität dem Leiter des Studium Generale nicht weisungsbefugt sei [Guy van Kerckhoven, Nachwort des Herausgebers, in: Martin Heidegger, Colloquium über Dialektik, in: Hegel-Studien, 25, 90, S. 34-40, hier S. 37 f.].
Die Beiträger der zweiten Festschrift waren:
- Ludwig Binswanger (* 1881): Die Bedeutung der Daseinsanalytik Martin Heideggers für das Selbstverständnis der Psychiatrie, S. 58-72;
- Wilhelm Szilasi (* 1889), Lehrstuhlvertreter Heideggers: Interpretation und Geschichte der Philosophie, S. 73-87;
- Carlos Astrada (* 1894), argentinischer Heidegger-Schüler: Über die Möglichkeit einer existenzial – geschichtlichen Praxis, S. 165-171;
- Kurt Bauch (* 1897): Die Kunstgeschichte und die heutige Philosophie, S. 88-93;
- Wolfgang Schadewaldt (* 1900): Odysseus – Abenteuer. Aus einer gesprächsweisen homerischen Improvisation über Irrfahrer – Angelegenheiten, S. 94-121;
- Robert Heiß (* 1903), Freiburg: Psychologismus, Psychologie und Hermeneutik, S. 22-36;
- Hans Kunz (* 1904): Die Bedeutung der Daseinsanalytik Martin Heideggers für die Psychologie und die philosophische Anthropologie, S. 37-57;
- Erich Ruprecht (*1906): Heideggers Bedeutung für die Literaturwissenschaft, S. 122-144;
- Emil Staiger (* 1908), Zürich: Zu Klopstock „Der Zürchersee“, S. 145-164;
- Heinz-Horst Schrey (* 1911), Professor für Systematische Theologie in Tübingen: Die Bedeutung der Philosophie Martin Heideggers für die Theologie, S. 9-21;
- Carl Friedrich von Weizsäcker (* 1912): Beziehungen der theoretischen Physik zum Denken Heideggers, 172-174.
Wenn man beide Festschriften zusammenschaut, fällt auf, dass die „katholischen“ Heidegger-Schüler und Freunden fehlen: Heinrich Ochsner (* 1891), Heinrich Auer (* 1894), Johannes Baptist Lotz SJ (* 1903), Eugen Seiterich (* 1903), Gustav Siewerth (* 1903), Karl Rahner SJ (* 1904), Eugen Fink (* 1905), Wilhelm Weischedel (* 1905), Max Müller (* 1906), Bernard Welte (* 1906), von den anderen Schülern und Kollegen neben den bekannten Absagen von Werner Gottfried Brock (* 1901), Heidegger-Assistent (1931-1933), Karl Jaspers (* 1883) und Kurt Riezler (* 1882) noch Rudolf Bultmann (* 1884), Rudolf Stadelmann (* 1902) und Ernesto Grassi (* 1902). Für die katholischen Freunde und Schüler muss allerdings berücksichtigt werden, dass Max Müller den ersten Band „Symposion. Jahrbuch für Philosophie“ von 1948 ausdrücklich Martin Heidegger zum 60. Geburtstag widmete. Max Müller selbst war „Leiter“ dieser Ausgabe, die 1949 erschien und nahm im Vorwort „die Widmung dieses Jahrbuches zu Martin Heideggers 60. Geburtstag“ vor und inhaltlich Bezug auf Heideggers Wort „Anwesung“ [Max Müller, Vorwort, in: Symposion. Jahrbuch für Philosophie, Bd. 1, 1948 (erschienen 1949), S. 3 und S. 8]. Das Herausgebergremium bestand aus Hedwig Conrad-Martius, Eugen Fink, Viktor E. von Gebsattel, Johannes Baptist Lotz, Simon Moser, Max Müller, Heinrich Ochsner, Gustav Siewerth, Theodor Steinbüchel +, Bernhard Welte und Erik Wolf. Darin erschienen folgende Beiträge:
- Gustav Siewerth: Die Apriorität der menschlichen Erkenntnis nach Thomas von Aquin“;
- Erik Wolf: Der Ursprung des abendländischen Rechtsgedankens bei Anaximander und Heraklit;
- Willi Stadler: Was ist Friede?;
- Robert Heiß: Hegel und Marx;
- Wolfgang Struve: Die neuzeitliche Metaphysik der Subjektivität. Interpretationen zu Kierkegaard und Nietzsche;
- Walter Rehm: Rilke und die Duse.
Rudolf Bultmann war hingegen von Gadamer angefragt worden, hatte aber in einem Brief vom 18. Juni 1948 mit folgender Begründung abgesagt:
„Ich fühle mich soweit solidarisch mit meinen jüdischen Freunden, daß ich mich kaum entschließen kann, an einer öffentlichen Ehrung für H. teilzunehmen, bevor er in irgend einer Form zum Ausdruck gebracht hat, daß er sich von seinem früheren Verhalten distanziert, gerade sofern es die Juden angeht“[Brief in DLA Marbach, zitiert nach: Konrad Hammann, Rudolf Bultmann und seine Zeit. Biographische und theologische Konstellationen, 2016, S. 56, Fußnote 84].
Bultmann hatte bereits 1933 nach der Rektoratsrede brieflich bei Heidegger protestiert, ihm allerdings die Freundschaft nicht aufgekündigt [Vgl. Brief vom 27. Januar 1935: „Lieber Freund!“, in: Bultmann/Heidegger, Briefwechsel. 1925-1975, a.a.O., S. 197].
Briefwechsel bezüglich Heideggers Emeritierung (1949)
Romano Guardini, die Bayerische Akademie der Schönen Künste und Heideggers Vortrag „Das Ding“ in München
Guardinis Aufnahme in die Bayerische Akademie der Schönen Künste (1948) und seine ersten Kontakte zu Graf Podewils
Exkurs: Clemens und Sophie Dorothee von Podewils
Weitere Widmung (1949): Meister Eckhart und die Dinge
Das Vorfeld des Münchner Vortrags über „Das Ding“
Wann aus diesen ersten, informellen Akademie-Treffen heraus die Idee geboren wurde, Martin Heidegger in der Akademie über „Das Ding“ einen Vortrag halten zu lassen, ist noch nicht ganz rekonstruiert, lediglich dass Podewils Heidegger spätestens Mitte April 1950 für einen Vortrag Anfang Juni gewonnen hatte, wissen wir durch Petzet:
„[…], in der zweiten Aprilhälfte, erreichte mich in Icking ein Anruf des Grafen Clemens Podewils, des Generalsekretärs der nach dem Kriege in München gegründeten Bayerischen Akademie der Schönen Künste, deren Präsident Emil Preetorius war. Podewils teilte mir mit, daß man Heidegger für einen Vortrag vor der Akademie Anfang Juni gewonnen habe; nun würde er gern wegen der Einzelheiten sich mit mir besprechen, da ich – wie er erfahren habe – Heidegger so gut kenne“[Petzet/Heidegger, Auf einen Stern zugehen, a.a.O., S. 74. Zu diesem Zeitpunkt war aber noch Wilhelm Hausenstein Präsident].
Den Vortrag selbst hatte Heidegger bereits als Teil eines Vortragszyklus in Bremen (Dezember 1949) und auf der Bühlerhöhe (März 1950) gehalten.
Nachdem kurz vor der Tagung von Seiten ein Telegramm des Direktoriums der Akademie an Heidegger ging, in dem es um einen Vortragsstil – im Nachhinein stellte sich heraus, dass es sich hier um einen Übertragungsfehler handelte und es „Vortragstitel“ heißen sollte – und einen zur Akademie passenden, also auf die „Schönen Künste“ Bezug nehmenden Untertitel ging. Der aufgrund zeitgleicher Schwierigkeiten hochsensibilisierte Heidegger hörte aus dem missverständlichen Telegramm sofort Maßregelungen heraus, die ihn zusätzlich zu der sich ankündigenden, politischen und publizistischen Aufregung – angefangen vom Kultusminister Alois Hundhammer, der Heidegger innerhalb einer Landtagsdebatte als „als einstigen Steigbügelhalter des Naziregimes“ betitelte und seinerseits die Akademie maßregelte, Heidegger sprechen zu lassen, bis hin zu einschlägigen Presseartikeln. So schrieb Heidegger am 24. Mai 1950 an Petzet:
„Das Maß wird nun langsam voll. Am 24. V. bekam ich nach Meßkirch ein Telegramm, das Direktorium der Akademie wünsche einen Vortragsstil und außerdem einen Untertitel zum Thema, der der Akademie entspreche. Ich habe jetzt den Vortrag unwiderruflich abgesagt. Ich glaube nicht, daß Graf P. mit der Sache zu tun hat. Aber ich habe vor einem Vierteljahr unter Verzicht auf Honorar den Vortrag genau formuliert „Über das Ding“ zugesagt. Jetzt wünscht man vierzehn Tage vor dem Vortrag noch Besonderes. Man traut mir, von allem Übrigen dieses Gebarens abgesehen, es nicht einmal zu, etwas für diese Akademie vielleicht sehr Wesentliches vorzutragen. So etwas ist mir während der ganzen Hitler-Zeit nicht vorgekommen. Ich bedauere das Ganze tief; all dieses, was zum übrigen hier kommt, schmerzt sehr“[Petzet/Heidegger, Auf einen Stern zugehen, a.a.O., S. 77. Mit Direktorium dürfte der damalige Direktor der literarischen Abteilung Wilhelm Dieß gemeint sein. Der Präsident war damals Wilhelm Hausenstein und nicht, wie Petzet sich abermals vertut, Preetorius].
Allerdings konnten ihn die eigentlichen Freunde – und in diesem Fall vor allem die Gräfin von Podewils – umstimmen:
„Es war vor allem der Freundeskreis des Hauses Podewils, wo er ein lebendiges Echo fand. Da war der Graf selbst, mit dem Heidegger bald Freundschaft schloss, waren die Mitglieder der Akademie, Dichter, Künstler, Schriftsteller, Musiker und Sprachforscher, darunter Carl Orff, Ernst Jünger, Friedrich Georg Jünger, Richard Harder, Ilse Aichinger, Günther Eich, Preetorius, Guardini, Georgiades, von Weizsäcker und Heisenberg. Der Fernsehdirektor Clemens Münster verschaffte Heidegger nähere Einsicht in die Bereiche von Rundfunk und Fernsehen, die ihn im Zusammenhang mit der Erhellung der Technik interessierten“[Ebd., S. 79].
Heideggers eigener Bericht an Hannah Arendt (1950)
Der Vortrag selbst verlief dann den Berichten zufolge erstaunlich ruhig ab. Heidegger schrieb am 27. Juni 1950 an Hannah Arendt von seinem Münchner Vortrag über das Ding sowie über die folgenden Gespräche und erwähnt dabei auch Guardini:
„Freiburg i.B., 27. Juni 50. Hannah, Dein lieber Brief blieb lange ohne Antwort, wenigstens die geschriebene. Der Vortrag über das Ding war am 6. Juni in München; ich bin da etwas in die Höhle des bayerischen Löwen geraten, der im Unterschied zu den sonstigen Löwen ein schwarzes und außerdem ein sehr dickes Fell hat. Mit den überzähligen Sinnen spür-te ich so-gleich das Uneinheitliche und Beleidigte der Atmosphäre; zum Glück war auf meine besondere Bitte die Jugend mit da. Am Abend war im kleinsten Kreis ein gutes Gespräch; ich saß zwischen Guardini und Orff, gegenüber Max Pulver, der sich noch lebhaft an ein Gespräch in Zürich 1935 erinnerte. Man verursacht einige Wir-bel, weckt diesen und jenen. Aber das Bedrückendste ist, daß nur wenige davon etwas ahnen, daß das Denken ein sehr strenges Handwerk ist, auch dann, wenn man die Werkstatthände und was dazu gehört nicht mit vorzeigt“[Hannah Arendt/Martin Heidegger, Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse, hrsg. von Ursula Ludz, 1998, S. 111].
Exkurs: Hannah Arendt (1906-1975) als frühe und späte „Hörerin“ von Guardini und Heidegger
Hannah Arendt war nach einem Schulverweis, vermittelt durch ihre Mutter, nach Berlin gekommen und noch im Wintersemester 1923/24 als Gasthörerin an die dortige Universität gelangt. Dabei geriet sie in die Vorlesungen Guardinis und ist dadurch nach eigenem Bekunden mit den Gedanken des dänischen Philosophen und Theologen Kierkegaard bekannt geworden. Dabei handelt es sich aber wohl um beiläufige Erwähnungen, da Guardini erst im Sommer 1925 explizit zu Kierkegaard, und zwar über „Christentum und Kultur im Anschluss an die Problemstellung Sören Kierkegaards“ gelesen hat. Die Themen der Vorlesungen im Wintersemester 1923/24 lauteten „Gott und die Welt“ und „Das Problem des Konkreten und die Lehre vom Reiche Gottes“. Vom ersten Thema liegt mittlerweile eine studentische, wohl stark zusammenfassende Mitschrift von Ursula Kolberg vor [Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz (Hrsg.), Lauterkeit des Blicks. Unbekannte Materialien zu Guardini, Heiligenkreuz 2013, S. S. 134-163]. Laut dieser Mitschrift hat Guardini dabei zumindest auf Kierkegaards Erörterungen über das Prophetentum verwiesen [Ebd., S. 140]. Auch bei der zweiten Thematik gäbe es Möglichkeiten dies im Blick auf seine Gegensatzlehre und auf seine beginnende Auseinandersetzung mit Sokrates zum Beispiel mit Kierkegaards Schrift „Über den Begriff der Ironie. Mit ständiger Rücksicht auf Sokrates“ in Verbindung zu bringen [Sören Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie. Mit ständiger Rücksicht auf Sokrates, 1961]. Die Arendt-Biographin Elisabeth Young-Bruehl resümiert dazu:
„In Guardinis Vorlesung war sie mit dem dänischen Philosophen und Theologen Kierkegaard bekannt geworden und von dessen Werk so fasziniert, daß sie beschlossen hatte, im Hauptfach Theologie zu belegen. Sie blieb jedoch kritisch gegenüber jeder Form dogmatischer Theologie – und zwar nicht, weil sie keine Christin war, sondern weil der Dogmatismus Kierkegaard nicht entsprach“[Elisabeth Young-Bruehl, Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit. Erweiterte Ausgabe mit neuem Vorwort, 2016].
Zuvor hatte schon Friedrich Georg Friedmann 1985 in seiner Arendt-Biographie dazu geschrieben:
„Darauf ging sie nach Berlin, wo sie als Gasthörerin an der Universität Vorlesungen in klassischer Philologie und Theologie belegte und für kurze Zeit unter den Einfluß von Romano Guardini kam. Guardini machte sie mit den Schriften Søren Kierkegaards bekannt, der ihrer jugendlichen Rebellion eine existenzphilosophische Grundlage gab“[Friedrich Georg Friedmann, Hannah Arendt: eine deutsche Jüdin im Zeitalter des Totalitarismus, 1985, S. 16].
Nach dem Ablegen eines externen Abiturs ging Arendt zum Wintersemester 1924/25 nach Marburg, um bei Heidegger Philosophie zu studieren [Im Januar 1925 begann ein fünfzig Jahre lang andauernder Briefwechsel zwischen Arendt und Heidegger, der mittlerweile publiziert ist: Hannah Arendt/Martin Heidegger, Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse, hrsg. von Ursula Ludz, 1998]. Nachdem Heidegger sich in die Studentin Arendt verliebt hatte, dauerte die daraus erwachsene „Affäre“ über ein Jahr lang. Nach ihrer Trennung ging sie, anders als Heidegger ihr empfohlen hatte, nicht gleich zu Edmund Husserl nach Freiburg, sondern wechselte zum Sommersemester 1926 zunächst zu Karl Jaspers nach Heidelberg. Erst im Wintersemester 1926/27 wechselte sie für ein Semester zu Husserl nach Freiburg, kehrte anschließend aber wieder nach Heidelberg zurück [Für die Studienabfolge siehe zuverlässig erst Arendt/Heidegger, Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse, a.a.O., S. 278. Vorher weichen die Bezüge von Jahr und Studienort sehr stark voneinander ab]. Bei Jaspers wurde Hannah Arendt schließlich im November 1928 mit einer Arbeit über den Liebesbegriff von Augustinus promoviert, die Arbeit erschien erstmals gedruckt 1929. Ob – wie mitunter vermutet wird [So zum Beispiel Eugen Biser in seiner Rezension zur Friedmann-Biographie, in: Stimmen der Zeit, 204, 1986, S. 859] – auch diese Arbeit noch unter dem Eindruck von Guardinis Berliner Vorlesungen konzipiert wurde, geht aus den bisherigen autobiographischen oder biographischen Forschungen nicht zweifelsfrei hervor. Guardini hatte bis zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht einschlägig über Augustinus publiziert, so dass er in der Arbeit selbst auch nicht herangezogen wurde. Die Frage würde sich klären, wenn man mit Sicherheit sagen könnte, ab und bis wann genau und was Hannah Arendt bei Guardini in Berlin gehört hat. Immerhin hatte Guardini laut Vorlesungsverzeichnis im Sommersemester 1924 und im Wintersemester 1924/25 über „Augustins religiöses Weltbild und dessen Bedeutung für die Gegenwart“ gelesen. So könnte sie im Sommersemester noch die erste Augustinus-Vorlesung gehört haben.
Hannah Arendt hat sich auch noch in den fünfziger Jahren mit Guardini verbunden gefühlt und von einigen seiner Arbeiten Kenntnis genommen. Im Rahmen einer Reise im Jahr 1952 war ihr erster Zwischenstopp München. Dort besuchte sie die Ethik-Vorlesung Guardinis und kommt dabei allerdings in einem Brief an Heinrich Blücher zu einem gemischten Urteil:
„War bei Guardini im Kolleg, ebenfalls mindestens 1200 Menschen, stehend, liegend, sich drängend. Er liest irgendwie über Ethik; Moralphilosophie auf dem höchsten Niveau und ganz unzulänglich“[Hannah Arendt/Heinrich Blücher, Briefe 1936-1968, hrsg. von Lotte Köhler, 1996, S. 270].
Außerdem verweist Sie in der Publikation eines Vortrags „Religion and Politics“ einer Summer School Conference an der Harvard University im Juli 1953 in einer Fußnote ausdrücklich auf Guardini:
„Ich stimme durchaus mit Romano Guardini überein, der jüngst festgestellt hat, die Säkularität der Welt, die Tatsache, daß unsere tägliche öffentliche Existenz „ohne Bewußtsein von einer göttlichen Macht“ ist, impliziere nicht, daß die einzelnen Menschen zunehmend „unreligiös“ werden, sondern daß „das öffentliche Bewußtsein sich von religiösen Kategorien immer weiter entfernt“, auch wenn ich seine Schlußfolgerung, daß Religion, wo immer sie existiert, „sich in die >innere Welt< zurückzieht“, nicht teile. Ich zitiere aus Commonweal 58, Heft 13, 3. Juli 1953, S. 323 f., wo ausführliche Exzerpte eines gerade in The Dublin Review, London, Nr. 459 (First Quarten 1953), über „The Jewish Problem Reflexions an Responsibility“ erschienenen Artikels nachgedruckt wurden“' [Hannah Arendt, Religion and Politics, in: Confluence, 2, 1953, Heft 3 (September), S. 105-126 (Vortrag einer Summer School Conference an der Harvard University vom 20. bis 22. Juli 1953); deutsch: Religion und Politik, auch in: dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft, München/Zürich, (3)2000, S. 305-324, zu Romano Guardini siehe S. 309, Fußnote 13. Laut einer Anmerkung zur deutschen Übersetzung handelt sich dabei um eine Übersetzung von Romano Guardini, „Verantwortung – Gedanken zur jüdischen Frage: Eine Universitätsrede“, in: Hochland 44, 1951-1952, S. 481-493, verbunden mit dem Hinweis, dass die englische und deutsche Fassung dieser Rede Guardinis an der von Arendt zitierten Stelle in der Aussage voneinander abweichen]
Eine zentrale Auseinandersetzung mit der Existenzphilosophie von Heidegger und Jaspers findet sich in ihrem zuerst 1946 in Englisch, dann 1948 in Deutsch erschienenen Aufsatz „Was ist Existenz-Philosophie?“ [Hannah Arendt, What ist Existenz Philosophy?, in: Partisan Review, 18, Winter 1946, S. 35-56; dann in: dies., Sechs Essays, 1948]. Im Februar und März 1950 hatte Arendt Heidegger in Freiburg nach über zwanzig Jahren wiedergesehen. Dies hier noch näher zu entfalten, ist nicht notwendig, da diese inhaltlichen Auseinandersetzungen und biographischen Begegnungen Arendts mit Heidegger in keinem unmittelbaren Bezug zu Guardini stehen. Erwähnenswert ist dagegen, dass jüngst in der Arendt-Forschung darauf hingewiesen wird, dass Arendt die englische Übersetzung von „Das Ende der Neuzeit“ (The end oft he modern age) gelesen und dieses Theorem übernommen habe. In „After Utopia“ (1957) nennt sie dieses Buch, reiht es allerdings unter die Literatur des „christlichen Fatalismus“ in der Tradition De Maistres ein. In ihrem philosophischen Hauptwerk dagegen, 1958 im Englischen unter dem Titel „The Human Condition“, 1960 im Deutschen – von ihr selbst übersetzt – unter dem Titel „Vita activa oder Vom tätigen Leben“ heißt es in der Einleitung:
„Die Neuzeit hat im siebzehnten Jahrhundert damit begonnen, theoretisch die Arbeit zu verherrlichen, und sie hat zu Beginn unseres Jahrhunderts damit geendet, die Gesellschaft im Ganzen in eine Arbeitsgesellschaft zu verwandeln. […] So reicht der historische Horizont des Buches nicht weiter als bis zum Ende der Neuzeit. Die Neuzeit und die moderne Welt sind nicht dasselbe“[Hannah Arendt: Vita activa – oder – Vom tätigen Leben, München 2002, S. 12 und S. 14].
1960 verweist sie in einer Antwort auf Michael Polanyi darauf, dass die Stimmung und die Theorie in seinem Essay „Jenseits des Nihilismus“ wohl erstmals von Ernst Jünger in „Jenseits des Nullpunkts“ und von Romano Guardini in „Ende der Neuzeit“ beschrieben worden sei [Hannah Arendt: Challenges to Traditional Ethics. A Response to Michael Polanyi, in: Hannah Arendt Papers, Manuscript Division, Library of Congress, Washington, D. C.. Arendt hat diese Antwort 1960 auf der wissenschaftlichen Konferenz „Philosophy and Religion in Their Relation to the Democratic Way of Life in 1960“ gegeben].
Weitere Erinnerungen an Heideggers Vortrag über „Das Ding“
Der Jesuit Johannes B. Lotz erinnerte sich 1977 mehr an das nachfolgende Gespräch im Hause Mangoldts als an den Vortrag selbst:
„In München bin ich Heidegger begegnet, als er 1950 seinen Vortrag über ‚Das Ding’ hielt; der Saal des Prinz-Carl-Palais konnte die aufmerksamen Zuhörer kaum fassen. Damals lernte ich den Grafen Clemens Podewils kennen, der mir seitdem freundschaftlich verbunden blieb. Nach dem Vortrag fand sich ein kleiner Kreis von etwa ein Dutzend Personen bei Frau Ulla von Mangoldt in der Kaulbachstraße zu einem Gespräch mit Heidegger zusammen, das sich meiner Erinnerung nach hauptsächlich um „das Geviert“* drehte und bei dem Romano Guardini eine hervorragende Rolle spielte“ [*also über die Gestaltung der logischen Struktur nach Heidegger][Johannes B. Lotz, Im Gespräch, in: Günter Neske (Hrsg.), Erinnerung an Heidegger, 1977, S. 159].
Und von Georg Britting wissen wir aus einem Brief an seinen Freund Georg Jung vom 13. Juni 1950, dass er sowohl beim Vortrag Heideggers über „Das Ding“ als auch beim nachfolgenden Treffen dabei war:
„hier ist unsrer akademie wegen ein sturm im wasserglas, oder, besser, ein pechkessel läuft über. wir liessen martin heidegger lesen. ich war in der vorlesung. gar nicht so schwer und schwierig wie ich dachte. er sprach „über das ding“, er geht vom wort aus, vom wörterbuch sagen seine gegner, deren er viele hat, besonders unter den „soliden“ philosophieprofessoren. es war eine erregende stunde. hernach trafen sich ein paar leute mit ihm, guardini, ein jesuit, orff, der komponist, ich sollte dringend dabei sein, ging aber nicht, weil ich den abend schon wetzlar versprochen hatte. bei heidegger mischen sich, in seiner vorlesung wenigstens, der dichter und der philosoph, wie bei den alten. der schluss seines vortrags war fast eine ode. die herren der universität schäumten, und heissen ihn einen scharlatan. die lesung war überfüllt, bis von wien kamen leute. aber nun gehts los, in der presse, er sei ein alter nazi (ist er), heut noch verboten (ist er), jugendverführer, der die studenten zu nazis machte, und in der tonart. im stadtrat interpellierte ein stadtvater zornig, wieso so ein mann konnte ans pult gerufen werden. gleichzeitig hier in der „neuen zeitung“ ein scharfer angriff auf friedrich georg jünger, der ein nazi sei; und ausgerechnet der habe einen preis der akademie bekommen! der sturm wird noch stärker werden, nehme ich an. wir akademiker treffen uns morgen, was zu tun. vielleicht fängt auch das kultusministerium zu toben an. wiederkehr der nazis, lautet die formel der entrüstung. es ist ein affentheater. in seinen wirkungen aber vielleicht nicht zu unterschätzen“[Briefe von Georg Britting an Georg Jung 1943 bis 1963, 2005, S. 143, Brief Nr. 115 vom 13. Juni 1950].
Der „Wortcharakter der Dinge“ bei Guardini
Von Guardini selbst kennen wir bislang keine direkte Bezugnahme auf diesen Vortrag, allerdings sind Guardinis Briefe aus diesem Jahr noch nicht vollständig ausgewertet. Höchstens der nachfolgende Briefwechsel von 1950/51 zwischen Guardini und Heidegger selbst kann als indirekte Bezugnahme gesehen werden. Allerdings beschäftigt sich Guardini selbst schon länger mit dem „Wortcharakter der Dinge“. Diesen Titel trägt bereits 1939 im „Person“-Teil des Buches „Welt und Person“ der vierte Abschnitt des Kapitels „Der personale Bezug“.
Aber auch in seinen 1998 posthum veröffentlichten Vorlesungen zu „Dantes Göttlicher Komödie“ schreibt Guardini:
„Der Mensch, der in dieser Welt steht, hat ein Auge für diesen Charakter der Welt. ER vermag Symbol zu sehen und Epiphanie zu erfahren. Er hat ein Ohr für den Wortcharakter der Dinge. Die Kontemplation aber, deren Bedeutung als Element des mittelalterlichen Daseins gar nicht hoch genug veranschlagt werden kann, enthält als wichtiges Moment die Realisation der objektiven Hinführung, welche von der Welt zu Gott geht. […] Das ist Mittelalter: Ergriffenwerden des lebendigen Menschen – nicht nur des Verstandes – durch die religiöse Sinnfülle und Bewegungsmacht der Welt“[Romano Guardini, Dantes Göttliche Komödie, Mainz 1998, S. 382].
Briefwechsel zwischen Guardini und Heidegger nach dem Erscheinen der Heidegger-Festschrift (1950)
Guardini schrieb am 10. September 1950 einen Brief, kurz vor seiner Abreise nach Verona und Isola Vicentina. Darin berichtet er Heidegger vom Erscheinen der Psalmenübersetzung und von den geplanten Arbeiten an den Ethik-Vorlesungen:
...
Ende oder Vollendung der Neuzeit?
Heidegger liest Guardinis „Ende der Neuzeit“ (1951/52)
Aus einer Erinnerung von Ernst Vogt für das Wintersemester 1951/52 geht hervor, dass Heidegger Guardinis „Das Ende der Neuzeit“ selbst gelesen hat:
„So beschlossen einige Freunde und ich, ihn [Heidegger] zu einem Vortrag nach Tübingen einzuladen. Wir fuhren also nach Freiburg … und begaben uns zum Zähringer Rötebuckweg 47 … An der Haustüre wurde uns bedeutet, Heidegger sei an einer Bronchitis erkrankt und könne uns nicht empfangen. Aber die gütige, mütterlich wirkende Elfride Heidegger hatte Mitleid mit den aus Tübingen unerwartet hereingeschneiten Besuchern, die ihre Mission so dringlich machten, und ließ uns zu ihrem Manne vor. Heidegger empfing uns, mit roter Zipfelmütze zu Bette liegend (Assoziationen an den kranken Hölderlin und an Mörikes ‚Feuerreiter’ stellten sich ein), auf dem Nachttisch Romano Guardinis kürzlich erschienene Schrift ‚Das Ende der Neuzeit’, mit größter Freundlichkeit, stellte jedoch, als wir unser Anliegen vorgetragen hatten, die mehr als berechtigte Frage, ob unser Plan denn mit Schadewaldt abgesprochen sei. Wir sahen uns betreten an und mußten gestehen, daß wir daran überhaupt nicht gedacht hatten. Das holten wir jedoch sogleich nach unserer Rückkehr nach, und ein oder zwei Semester später … hat Heidegger tatsächlich auf Einladung von Schadewaldt in Tübingen gesprochen“[Ernst Vogt, Studium in Tübingen 1951/52, in: Erich Lamberz (Hrsg.), Literatur der Antike und Philologie der Neuzeit, 2013, S. 572. Ernst Vogt (1930-2017) hat von 1950 bis 1956 Klassische Philologie, Philosophie, Archäologie, Alte Geschichte, Papyrologie und Sprachwissenschaft an den Universitäten Bonn, Tübingen und Athen studiert, in diesem Wintersemester aber in Tübingen. Ab 1967 wirkte er als Professor für klassische Philologie in Mannheim und ab 1975 bis 1999 in München.].
In dem Teil der Heidegger-Bibliothek, der m Deutschen Literaturarchiv in Marburg, befindet sich dieses Studienexemplar mit zahlreichen Anstreichungen und Eintragungen.
„Vollendung der Neuzeit“ versus „Ende der Neuzeit“
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Heidegger just in diesem Wintersemester 1951/52 das Thema „Ende der Neuzeit“ in seinen Vorlesungen „Was heißt denken?“ mehrfach aufgreift und dabei Guardinis Rede vom „Ende der Neuzeit“ explizit ablehnt:
„Nietzsches Denken enthält doch nicht nur die übertriebenen Ansichten eines Ausnahmemenschen. In diesem Denken kommt das zu seiner Sprache, was ist, genauer das, was erst noch sein wird. Denn die „Neuzeit“ ist noch keineswegs zu Ende. Sie tritt vielmehr gerade erst in den Beginn ihrer vermutlich langwierigen Vollendung. Und Nietzsches Denken? Es gehört zum Bedenklichen, daß es noch nicht gefunden ist. Es gehört zum Bedenklichsten, daß wir nicht im geringsten vorbereitet sind, das Gefundene wahrhaft zu verlieren, statt es nur zu übergehen und zu umgehen. Dieses Umgehen vollzieht sich oft in einer harmlosen Form, nämlich dadurch, daß man eine Gesamtdarstellung der Philosophie Nietzsches vorlegt. Als ob es eine Darstellung gäbe, die nicht notwendig bis in den hintersten Winkel schon Auslegung sein müßte. Als ob es eine Auslegung geben könnte, die daran vorbeikäme, eine Stellungnahme zu sein oder gar durch den Ansatz bereits eine unausgesprochene Ablehnung und Widerlegung. Aber ein Denker läßt sich niemals dadurch überwinden, daß man ihn widerlegt und eine Widerlegungsliteratur um ihn aufstapelt“[Martin Heidegger, Was heißt denken?, 1971, S. 23].
Weiter philosophiert Heidegger:
„Es ist jenes Vor-Stellen, das den metaphysischen Grund des Weltalters ausmacht, das man die Neuzeit nennt, die jetzt nicht zu Ende geht, sondern gerade erst beginnt, in insofern das in ihr waltende Sein erst jetzt in das vorgesehene Ganze des Seienden sich entfaltet“[Ebd., S. 31].
Dass es sich in dieser Frage für Heidegger nicht nur um einen „äußerlichen“ Bezeichnungsunterschied, sondern um eine wesentliche Differenz zu Guardinis „Ende der Neuzeit“ als Kennzeichnung des jetzigen Zeitalters:
„Das Denken ist das Vorläufigste alles vorläufigen Tuns des Menschen in der Epoche, da die europäische Neuzeit allererst beginnt, sich auf dem Erdball zu entfallen und zu vollenden. Im übrigen ist es keine bloß äußerliche Frage der Bezeichnung, ob man das jetzige Zeitalter als das Ende der Neuzeit ansieht oder ob man erkennt, daß heute der vielleicht langwierige Prozeß der Vollendung der Neuzeit erst einsetzt“ [Ebd., S. 161].
Auch in seinem Buch „Der Satz vom Grund“ (1957) schreibt Heidegger klar und deutlich: „Die Neuzeit ist nicht zu Ende“:
„Daß in einem solchen Zeitalter die Kunst zur gegenstandslosen wird, bezeugt ihre geschichtliche Rechtmäßigkeit und dies vor allem dann, wenn die gegenstandslose Kunst selber begreift, daß ihre Hervorbringungen keine Werke mehr sein können, sondern etwas, wofür noch das gemäße Wort fehlt. Daß es die Kunstausstellungen modernen Stils gibt, hat mehr mit dem großmächtigen Satz vom Grund, vom zuzustellenden Grund zu tun, als wir zunächst meinen. Die Neuzeit ist nicht zu Ende. Sie beginnt erst ihre Vollendung, insofern sie sich auf die vollständige Zustellbarkeit vor allem, was ist und sein kann, einrichtet“[Martin Heidegger, Der Satz vom Grund, 1957, S. 41; Ausgabe 1971, S. 66.].
Und in den als „Anhang“ 1990 publizierten handschriftlichen Überlegungen Heideggers zu den Nietzsche-Vorlesungen, steht in der überarbeiteten „zweiten Fassung der Wiederholung“ des Abschnitts „Nietzsche. Zum Verhältnis von Denken und Dichten“ aus der Vorlesung „Denken und Dichten“ im Rahmen seiner „Einleitung in die Philosophie“. Diese Vorlesung hatte Heidegger für das Wintersemester 1944/45 angekündigt und begonnen, musste aber aufgrund einer Weisung der NSDAP Mitte November 1944 nach der zweiten Stunde abgebrochen werden. Wann Heidegger die Überarbeitung vorgenommen hat, konnte von mir noch nicht ermittelt werden. Ich gehe aber davon aus, dass sie erst Anfang/Mitte der fünfziger Jahre erfolgte:
„Das 20. Jahrhundert, in dem sich vermutlich das Zeitalter der Neuzeit vollendet, nicht etwa endet, kann nur, ja muß sogar deshalb das Zeitalter der Technik sein, weil diese das anfängliche und daher lang verhüllte Geschick der Neuzeit überhaupt ist“[Martin Heidegger, Nietzsches Metaphysik. Einleitung in die Philosophie. Denken und Dichten, Gesamtausgabe Band 50, 1990, Teil 2, S. 149].
Zur Genese von Guardinis Theorem vom „Ende der Neuzeit“ (1911-1948)
Guardini spricht schon lange vor 1950 von „nach-neuzeitlichen“ Phänomenen, die er schließlich in seinen Büchern „Das Ende der Neuzeit“ (1950) und „Die Macht“ (1951) lediglich umfassender beschreibt. Erstmals 1911 zieht er in seinem anonym erschienenen Rezensionsaufsatz „Das Interesse der deutschen Bildung an der Kultur der Renaissance“ zum Beispiel den Vergleich zwischen dem bevorstehenden „neuen“ Mittelalter zu den Übergangsepochen der „Renaissance“ und des „Hellenismus und des römischen Kaisertums oder der Renaissance“:
„Es gibt aber eine andere Zeit, die uns wirklich verwandt ist, die des Hellenismus und des römischen Kaisertums. Auch sie hatte ein Freiwerden aller individuellen Kräfte und Momente, eine Einstellung der Aufmerksamkeit auf das Ich erlebt. Auch sie war zersplittert, skeptisch und gefangen in dies Ich. Auf sie aber folgte nach langem Ringen eine Periode, die in ihrer Art das hatte, was wir heute suchen, das Mittelalter, jene Jahrhunderte gewaltiger Leistungen, gewaltiger Einheiten. Das Mittelalter ist die modernste Zeit, mehr, es ist unsere Zukunft. Wie aus der zersetzten hellenistisch-römischen Kultur, durch den Eintritt des Christentums und Germanentums das Mittelalter wurde, das Schauspiel, scheint mir, könnte uns Weisheit lehren, denn unsere Aufgabe ist, ein neues ‚Mittelalter’ zu schaffen. Das braucht niemanden zu erschrecken; nicht zurück zum vergangenen, sondern vorwärts zu ‚unserem Mittelalter’ Solls gehen. Vom Entstehen des ersten aber können wir lernen, die Welt wieder nicht mit den kleinen, verschleierten Augen unserer Subjektivität, sondern mit dem Blick der Dinge selbst, Gottes, zu sehen. Könnten uns wieder nach der Enge und Ängstlichkeit der ‚kritischen’ Zeit die große, so tiefschauende Naivität des objektiven Auges, die Kraft der großen ungebrochenen Bejahung erringen, sie für viele verlorenen Ideale der Heiligkeit, der Wahrheit, der Herrlichkeit des Reiches Gottes wiederfinden“[Romano Guardini, Das Interesse der deutschen Bildung an der Kultur der Renaissance, in: ders., Wurzeln eines großen Lebenswerks, Band 1, 2000, S. 18].
In seinem Brief an Heinrich Kahlefeld, den Herausgeber der Sammlung „Unterscheidung des Christlichen“ von 1935, schreibt Guardini mehr als deutlich von der „endenden Neuzeit“:
„Auf jeden Fall hoffe ich, daß der Titel, den das Buch trägt, zu Recht besteht. Es handelt sich hier wirklich um die „Unterscheidung des Christlichen". Um einen Beitrag also zu jener Arbeit, die uns die endende Neuzeit hinterlassen hat und die Gegenwart mit immer größerer Gewalt aufzwingt: die christlichen Begriffe von all den An-Ähnlichungen, Abschwächungen und Überdeckungen, Fehlleitungen und Verzerrungen zu befreien, die sie seit dem Beginn der Neuzeit erfahren haben. Jene christliche Kultur, die im Mittelalter grundgelegt wurde, löst sich erst heute endgültig auf. Der Wille zu nicht-christlichem Dasein und Werk, der im Lauf der letzten Jahrhunderte immer wieder durchgedrungen ist, wird erst jetzt zu einer offenen Macht im europäischen Gesamtdasein. Geistige Entscheidungen, die schon im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert dem Anspruch der Offenbarung gegenüber gefallen sind, kommen nun voll zu Wort und Tat. So beginnt im christlichen Bewußtsein eine doppelte Bewegung: Es sucht die Wurzeln, um sich des Eigentlichen und Echten zu vergewissern; andererseits beginnt es die umgehenden Worte und Gestalten zu prüfen, und all den Zerstörungen entgegenzutreten, die aus der Säkularisation des abendländischen Daseins entspringen“[Romano Guardini, Vorwort (1935), in: ders., Unterscheidung des Christlichen, Band 1: Aus dem Bereich der Philosophie, Mainz (3)1994, S. 13 f.].
Insofern verwundert es auch nicht mehr, wenn er in seinem anthropologischen Buch „Welt und Person“ – erarbeitet Anfang der dreißiger Jahre, veröffentlicht 1939 – dies noch deutlicher ausführt:
„In den Begriffen der Natur, des Subjekts und der Kultur drückt sich jene Verpflichtung aus, welche die Neuzeit entdeckt und auf sich genommen hat: zur Redlichkeit und Sachgerechtigkeit. Sie entschloß sich, die Welt als Wirklichkeit zu nehmen und sie nicht durch den unmittelbaren Übergang ins Absolute zu verdünnen. Sie wurde inne, daß diese Welt dem Menschen in einer zugleich großen und erschreckenden Weise in die Hand gegeben ist, und machte sich bereit, den Sinn dieser Verantwortung nicht durch den Rückgriff auf das Religiöse abzuschwächen, sondern sie selbst als religiöse Aufgabe zu verstehen. Die neuzeitliche Wissenschaft mit ihrer Unerbittlichkeit; die Technik mit ihrer Genauigkeit und Kühnheit; der spezifisch neuzeitliche Geist der Welteroberung, Planung und Gestaltung sind echte Fortschritte. Nicht in dem oberflächlichen Sinn, daß die durch sie charakterisierte Geschichtsepoche ohne weiteres besser wäre als die voraufgehende. Hier von ‚Besser’ oder ‚Schlechter’ zu reden, ist ein zweifelhaftes Ding – ganz abgesehen davon, daß jeder Gewinn an einer Stelle mit Verlust an einer anderen bezahlt wird und wir heute, da die Neuzeit zu Ende geht, immer schärfer sehen, wieviel der Übergang zu ihr gekostet hat. Was eine Epoche der Geschichte gegenüber der anderen rechtfertigt, ist nicht, daß sie besser, sondern daß sie an der Zeit ist. Insofern ist sie auch gut und ein Fortschritt. Die in Rede stehenden Begriffe drücken dieses an der Zeit gewesene Neue aus. Vielleicht muß man sogar sagen, auch noch das Falsche an ihnen hänge irgendwie mit der neuzeitlichen Lebens- und Werkleistung zusammen. Wenn ein solches Werk der Erkenntnis, Beherrschung und Gestaltung vollbracht werden sollte, wie es tatsächlich vollbracht worden ist, mußte vielleicht wirklich in irgend einer Weise eine derart leidenschaftliche Hinwendung zur Welt vollzogen werden“[Guardini, Welt und Person, a.a.O., S. 26].
In seiner berühmten Pariser Rede „Auf der Suche nach dem Frieden“ ist sich Guardini 1948 schließlich voll bewusst, welche Rolle die Entstehung der „Masse“ in der Nach-Neuzeit haben wird:
„Ganz deutlich treten die Phänomene erst in dem Maße hervor, wie die Masse entsteht. Aus dem gegliederten Volke wird nun eine Vielzahl von Menschenatomen; aus dem Staat eine Apparatur, in welcher diese Masse von Atomen zur Aktion gelangt. Nun können die dargelegten Tendenzen ihre ganze Wirkung tun: es entsteht der nach-neuzeitliche totale Staat und mit ihm der nach-neuzeitliche Krieg – jener, mit dem wir Heutigen es zu tun haben“[Romano Guardini, Auf der Suche nach dem Frieden, zuerst in: Hochland, 41, 1948; in: ders., Sorge um den Menschen, Band 2, Mainz (2)1989, S. 7-28, hier S. 12].
Im Zusammenhang mit derartigen „nach-neuzeitlichen“ Fragen um Krieg und Frieden kommt Guardini nun direkt auf die Angst des nach-neuzeitlichen Menschen zu sprechen und steht damit mitten in den „Gedanken der Existentialphilosophie“:
„Es würde tief in das Wesen der geschichtlichen Epochen einführen, wenn man fragte, worin die Angst des primitiven Menschen bestand, von ihr unterschieden die des antiken, des mittelalterlichen, des neuzeitlichen. Die des nach-neuzeitlichen Menschen entspringt daraus, daß die ungeheuerliche Macht, welche er in Händen hält, sich aus der Ordnung gelöst hat; daß sie, im Letzten und Ganzen, weder verantwortet noch gelenkt ist. Der moderne Krieg aber bildet die heftigste Vergegenwärtigung der drohenden Gefahr. Diese Tatsache empfindet nicht bloß der Philosoph, sondern er sieht nur klarer und spricht deutlicher aus, was die Zeit überhaupt fühlt. Darum reagieren so viele Menschen auf die Gedanken der Existentialphilosophie, auch solche, die gar nicht in der Lage sind, sie intellektuell zu verstehen: ihr Daseinsgefühl antwortet auf die Erfahrung, die ihr zugrunde liegt“[Ebd., S. 22].
Heideggers eigene Rede vom „Ende der Neuzeit“ (1938-1940)
Nun ist aber Guardini keineswegs der Einzige, der vor 1950 die Rede vom „Ende der Neuzeit“ führt. Denn ausgerechnet Heidegger selbst spricht ab Mitte der dreißiger Jahre immer wieder von einem „Ende der Neuzeit“. In den sogenannten „Schwarzen Heften“, genauer in den „Überlegungen IV“, die mit 1934/35 datiert sind, heißt es im 23. Abschnitt:
„Diese zerstörende Verwandlung („Destruktion“) muß aller anderen Auseinandersetzung mit dem Christlichen und Neuzeitlichen und mit dem ersten „Ende“, aber auch mit dem großen Zwischenspiel (Kierkegaard – Nietzsche) voraufgehen – weil hier alles verwurzelt ist“[Martin Heidegger, Überlegungen IV, in: ders., Überlegungen II-VI, Gesamtausgabe, Bd. 94, a.a.O., S. 213].
In seinem zwischen 1938 und 1940 entstandenen Skript „Geschichte des Seyns“, das 1998 in zwei Teilen „1. Die Geschichte des Seyns (1938/40)“ und „2. Koinon aus der Geschichte des Seyns (1939/40)“ herausgebracht wurde[Martin Heidegger, Die Geschichte des Seyns 1. Die Geschichte des Seyns (1938/40) 2. Koinon aus der Geschichte des Seyns (1939/40), Gesamtausgabe, Bd. 69, hrsg. von Peter Trawny, Frankfurt am Main 1998], steht im ersten Teil der 36. Abschnitt direkt unter dem Titel „Das Ende der Neuzeit in der Geschichte des Seyns“:
„36. Das Ende der Neuzeit in der Geschichte des Seyns Das metaphysische Ereignis der Vollendung der Neuzeit ist die Ermächtigung des ‚Kommunismus’ zur geschichtlichen Verfassung des Zeitalters der vollendeten Sinnlosigkeit. Nach dem in ‚Sein und Zeit’ gedachten Begriff des Sinnes meint dieses Wort den Entwurfsbereich der Entwerfung des Seins auf seine Wahrheit. Und ‚Wahrheit’ bedeutet die entbergende Freigabe des Seins in das Gelichtete seiner Wesung. Sinn-losigkeit meint daher die Wahrheitslosigkeit: das Ausbleiben der Lichtung des Seins. Sobald dies sich ereignet und das ‚Sein’ gleichwohl wie sonst genannt wird, übernimmt es die Rolle des fraglosen allgemeinsten Wortes für das Allgemeinste und Leerste, das an die unanschauliche äußerste Grenze des Verstellbaren hinausgeschoben ist. Das Sein des Seienden, in jeglichem Verhalten, Sagen und Schweigen des Menschen zwar ständig gemeint, hat auf eine Lichtung und Bestimmung seiner selbst verzichtet“[Ebd., S. 37].
Auch in den „Beilagen zu: Koinon“ – aus den Aufzeichnungen „Die Geschichte des Seyns“ kommt dieses Theorem vor, wobei Heidegger es hier allerdings äußerst problematisch mit der „Rassenpflege“ als „notwendiger Maßnahme“ verknüpft:
„Die Rassenpflege ist eine notwendige Maßnahme, zu der das Ende der Neuzeit drängt. Ihr entspricht die schon im Wesen der ‚Kultur‘ vorgezeichnete Einspannung dieser in eine ‚Kulturpolitik‘, die selbst nur Mittel der Machtermächtigung bleibt“[Ebd., S. 223].
In den „Überlegungen VI“, die in das Jahr 1938 datiert werden, stellt er sich im 93. Abschnitt erstmals die Frage, wie ein „neuzeitliches Mittelalter“ aussehen müsste:
„Wie müsste ein neuzeitliches Mittelalter aussehen? Welche Form hätte seine „Scholastik“? In welcher Weise vollzögen sich die konziliarischen-dogmatischen Verdammungen der Sätze | von Denkern, falls es diese gäbe? Welche Gestalt hätten die neuzeitlichen Prälaten und Abbés dieses Mittelalters?“[Martin Heidegger, Überlegungen VI, in: ders., Überlegungen II-VI, Gesamtausgabe, Bd. 94, a.a.O., S. 477].
Irgendwann zwischen 1938 und 1939 geht Heidegger dann von den Formeln „Ende der Neuzeit“ und „neuzeitliches Mittelalter“ ab und verwendet stattdessen die Rede von der „Vollendung der Neuzeit“. Dabei versucht Heidegger Antworten zu finden, was diese „Vollendung der Neuzeit“ kennzeichnet. Dabei kommt er im 115. Abschnitt auf das „Riesige“ als das Hauptkennzeichen dieser Vollendung zu sprechen:
„Das Riesige als das Kennzeichen der „Vollendung“ der Neuzeit. Das Riesige aber ist nichts „Quantitatives“, sondern die Qualität, die das Quantitative als solches, d. h. in seiner End- und Maßlosigkeit schlechthin zum „Quale“ „qualifiziert“. Erst jetzt erreicht alles Zahlenhafte seine Unheimlichkeit, nämlich die des Leeren und Entscheidungslosen. Das Riesige ist der echte Widergott des Großen (vgl. S. 99). Deshalb ist auch das Riesige eine einzigartige Form der geschichtlichen „Größe““[Ebd., S. 487 f.]
Schon am 9. Juni 1938 hatte Heidegger in Freiburg bei seinem Vortrag „Die Zeit des Weltbildes“ von dieser „Vollendung der Neuzeit“ gesprochen. Diesen Vortrag nahm Heidegger dann 1950 mit in die „Holzwege“ auf.
„(11) Denn jetzt vollzieht sich die Einschmelzung des sich vollendenden neuzeitlichen Wesens in das Selbstverständliche. Erst wenn dieses weltanschaulich gesichert ist, wächst der mögliche Nährboden für eine ursprüngliche Fragwürdigkeit des Seins, die den Spielraum der Entscheidung darüber öffnet, ob das Sein noch einmal eines Gottes fähig wird, ob das Wesen der Wahrheit des Seins das Wesen des Menschen anfänglicher in den Anspruch nimmt. Dort, wo die Vollendung der Neuzeit die Rücksichtslosigkeit der ihre eigenen Grösse erlangt, wird allein die zukünftige Geschichte vorbereitet“[Martin Heidegger, Holzwege, Tübingen 1950, hier nach 1977, S. 112: „Die Zeit des Weltbildes“ hier zitiert nach (4)1963 (ursprünglich als Vortrag gehalten in Freiburg am 9. Juni 1938 mit dem Titel „Die Begründung des neuzeitlichen Weltbildes durch die Metaphysik“)]
Ebenfalls aus der Zeit von 1938/39 stammt das posthum veröffentlichte Manuskript „Besinnung“, das im Anschluss an die „Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) entstanden und seit 1997 über die Gesamtausgabe zugänglich ist [Martin Heidegger, Besinnung, Gesamtausgabe, Bd. 66, Teil 3, 1997]. Auch darin finden sich Abschnittsbezeichnungen wie „10. Die Vollendung der Neuzeit“ und „11. Die Kunst im Zeitalter der Vollendung der Neuzeit“. In diesem 10. Abschnitt heißt es:
„Die Vollendung der Neuzeit ist zugleich die Vollendung der metaphysischen – von der unausgesprochenen und ausgesprochenen Metaphysik getragenen – Geschichte des Abendlandes. Genauer: Die Vollendung der Metaphysik bestimmt und trägt den Beginn der Vollendung der Neuzeit. Vollendung besagt hier die uneingeschränkte und daher unverwickelte einfache Ermächtigung des Wesens des Zeitalters. Die Vollendung ist daher nicht die bloße Anstückelung eines noch [26] fehlenden Abschnittes und deshalb auch nicht der Auslauf des im Grunde schon Bekannten. Die Vollendung bringt vielmehr das letzte und höchste BEFREMDLICHE innerhalb des Zeitalters, das mit ihr nicht aufhört, sondern die Wesensherrschaft BEGINNT“[Ebd., S. 25].
Im darauffolgenden Kapitel (11. Abschnitt) führt Heidegger dies im Blick auf die Kunst näher aus:
„Die Kunst vollendet in diesem Zeitalter ihr bisheriges metaphysisches Wesen. Das Zeichen dafür ist das Verschwinden des KunstWERKES, wenngleich nicht der Kunst … Das Geschaffene stellt sich, anders als bisher, ganz in das „Seiende“ – die „Natur“ und die öffentliche „Welt“ – zurück; und dies nicht als Bestandstück, sondern als eine wesentliche Erwirkungsform seiner Machenschaft“[Ebd., S. 30].
In den „Überlegungen XI“ (1938/39), die ordnet Heidegger erneut die „Rassenpflege“ in die Rede von der „Vollendung der Neuzeit“ ein. Im Abschnitt 47 heißt es:
„Warum sollte nicht die Reinigung und Sicherung der Rasse dazu bestimmt sein, einmal eine große Mischung zur Folge zu haben: die mit dem Slaventum (dem Russischen – dem ja der Bolschewismus nur aufgedrängt und nichts Wurzelhaftes ist)? Müßte da nicht der deutsche Geist in seiner höchsten Kühle und Strenge ein echtes Dunkel meistern und zugleich als seinen Wurzelgrund anerkennen? Vermöchte so erst ein Menschentum geschichtlich werden, das einer Gründung der Wahrheit des Seins gewachsen wäre und zu einer Gottfähigkeit berufen? Wie, wenn die politische Vollendung der Neuzeit diese Einigung vorbereiten müßte, zunächst auf vielen Umwegen und in scheinbar äußersten Gegensätzen. Und wie sollte diese Zukunft des Abendlandes – die Allein dem Asiatischen noch einmal gewachsen wäre – nicht am Rande ihrer größten Gefahr entlangschreiten – daß jene Einigung zwischen Germanentum und Russentum nur noch zu einer alleräußersten Steigerung der Vollendung der Neuzeit hinreichte – daß die Unerschöpflichkeit der russischen Erde in die Unwiderstehlichkeit des deutschen Planens und Ordnens aufgenommen und beide einander durch ihre Unübertreffbarkeit in der Schwebe halten müßten und solche Schwebe zum Selbstzweck einer Vollendung des Riesenhaften in der Machenschaft würde. Fälschlicherweise und nur aus dem zurückgebliebenen Standort der Demokratien nennt man die Vollstrecker der Vollendung der Neuzeit zu ihrem höchsten Wesen „Diktatoren“ -; ihre Größe aber besteht darin, daß sie „diktativ“ zu sein vermögen – daß sie die verborgene Notwendigkeit der Machenschaft des Seins erspüren und durch keine Verführung sich aus der Bahn drängen lassen. (Vgl. S. 109)“[Martin Heidegger, Überlegungen VII-XI (Schwarze Hefte 1938/39), Gesamtausgabe, Bd. 95, hrsg. von Peter Trawny, Frankfurt am Main 2014, S. 402-404].
In den „Überlegungen XII“ von 1939 heißt es schließlich im Abschnitt 26:
„Das Äußerste an Verwüstung ist dann vorbereitet, wenn auch dem Nihilismus im wesentlichen Sinne als der dunkelhaften Ahnung des Geheimnisses des Seyns aus der weitesten Entfernung zu ihm, die Möglichkeit eines Durchgangs versagt wird und er nicht in seinem metaphysischen Wesen zum Austrag kommt. Die gleiche Wesensform trennt den Bolschewismus vom russisch-slavischen Volkstum. Dieselbe Wurzel liegt im neuzeitlichen Geschichtswesen der losgelassenen Machenschaft. Die unbedingten Ansprüche dieser erzwingen sich jedesmal die entsprechende Gegnerschaft und steigern die Verkennung der ursprünglichen Zugehörigkeit der Volkstümer. Alles Rassedenken ist neuzeitlich, bewegt sich in der Bahn der Auffassung des Menschen als Subjektum. Im Rassedenken wird der Subjektivismus der Neuzeit durch Einbeziehung der Leiblichkeit in das Subjektum und die vollständige Fassung des Subjektums als Menschentum der Menschenmasse vollendet. Gleichzeitig mit dieser Vollendung, und sie in ihren Dienst zwingend, vollzieht sich die Ermächtigung der Machenschaft in die Unbedingtheit. „Volkstümer“ sind nur Vorbehalte und Machtmittel und Machtzwecke – aber nicht mehr und überhaupt noch nicht Ursprung und Anfang – will sagen: wesend aus der Zugewiesenheit in eine Gründung der Wahrheit des Seyns. Das unerschlossene Geheimnis des Russentums (nicht des Bolschewismus) kann nur als ein solches gewährt und gegründet werden durch ein entsprechend ursprüngliches – alle Metaphysik und Alles christliche Kulturgetriebe hinter sich bringendes – denkerisches Ersagen des Abgrunds des Seyns (Hölderlin, der Vorstifter der Entscheidungen)“[Martin Heidegger, Überlegungen XII-XV (Schwarze Hefte 1939-1941), Gesamtausgabe, Bd. 96, hrsg. von Peter Trawny, Frankfurt am Main 2014, S. 47f, hier S. 48].
Bemerkenswerterweise vollzieht sich nun in diesen Jahren der Wechsel in der Benennung im Gefolge Nietzsches als „letzten Metaphysikers des Abendlandes“[Martin Heidegger, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht als Erkenntnis – Vorlesung SS 1939, Gesamtausgabe, Bd. 47, Frankfurt am Main 1989, S. 8] auch für die (abendländische) Metaphysik und den Nihilismus, wo Heidegger zunächst eher vom „Ende“, dann gleichermaßen von „Ende“ und „Vollendung“ und schließlich fast nur noch von der „Vollendung der Metaphysik“ und von der „Vollendung des Nihilismus“ spricht.
Soweit ich sehe, lehnt Heidegger die Rede vom „Ende“ allerdings erst nach dem Erscheinen von Guardinis Buch „Das Ende der Neuzeit“ ausdrücklich ab. 1939 sah Heidegger dagegen in Nietzsche denjenigen, der das Denken durch die konsequente Vollendung der Metaphysik „in die härteste Schärfe der Entscheidung“[Ebd., S. 5] zwinge, „ob diese Endzeit der Abschluss der abendländischen Geschichte sei oder das Gegenspiel zu einem anderen Anfang“[Ebd., S. 8], obwohl Nietzsche diesen anderen Anfang selbst aber noch nicht eröffnet habe. Zu dieser Deutung von Nietzsches „metaphysischer Grundstellung“ am „Ende“ bzw. in der „Vollendung der Neuzeit“ sind dann im Jahr darauf die Vorlesungen über „Nietzsches Metaphysik“[Vgl. Martin Heidegger, Vorlesung über „Nietzsches Metaphysik“, in: ders., Nietzsches Metaphysik. Einleitung in die Philosophie, Denken und Dichten, Gesamtausgabe, Bd. 50, Frankfurt am Main 1990, S. 3-87] und „Nietzsche. Der europäische Nihilismus“[Martin Heidegger, Nietzsche. Der europäische Nihilismus (Vorlesung II. Trimester 1940), Gesamtausgabe, Bd. 48, Frankfurt am Main 1986] maßgeblich. 1943 folgt schließlich noch sein Text „Nietzsches Wort ‚Gott ist tot’“, die er dann wiederum 1950 in die „Holzwege“ mit aufnimmt und die für Guardini zum Auslöser werden, auch selbst noch einmal intensiver über Existenzialismus und Nihilismus nachzudenken [Heidegger, Nietzsches Wort „Gott ist tot“, 1943, in: ders., Holzwege, Frankfurt 1950; (4)1963, S. 193-246].
Nach 1945 greift Heidegger sein Theorem von der „Vollendung der Neuzeit“ wieder auf und zwar zunächst in einer Weise, die in Bezug auf seine historische Einsichtsfähigkeit sehr nachdenklich macht. So heißt es in den jüngst veröffentlichten „Anmerkungen III“ (1946/47):
„Die Zerstörung Europas ist, wie immer sie verlaufen mag, ob ohne oder mit Rußland, das Werk der Amerikaner. „Hitler“ ist nur der Vorwand. Doch die Amerikaner sind ins ganze gesehen Europäer. Europa zerstört sich selbst. Das entspricht der Subjektivität, in der die Vollendung der Neuzeit metaphysisch existiert“[Martin Heidegger, Anmerkungen III, in: ders., Anmerkungen I-V (Schwarze Hefte 1942-1948), Gesamtausgabe, Bd. 97, Frankfurt am Main 2015, S. 230].
Und wenig später im Text ergänzt er:
„Der viel beredete Gegensatz zwischen Osten und Westen ist nur so lange ein solcher, als beide auf derselben Ebene verharren. Das tun sie nicht nur, sie streben ihr sogar zu. Ihr Streit mag ausgehen wie immer, er bringt keine Entscheidung, weil er aus keiner Entscheidung kommt. Alles bleibt noch im Vollzug der Vollendung der Neu-Zeit“[Ebd., S. 237].
Frühgeschichte der Rede vom „Ende der Neuzeit“
Nun ist die Rede vom „Ende der Neuzeit“ oder von der „Nachneuzeit“ selbst schon keine „Erfindung“ Guardinis oder Heideggers. Sie findet sich nachweislich bereits bei Max Stirner (1806-1856), dem wohl wichtigsten Vor-Denker Nietzsches in Deutschland. Dieser setzte sich 1845 in der Schrift „Der Einzige und sein Eigentum“ mit Bruno Bauer und Feuerbach sowie mit der „bürgerlichen Sittlichkeit“ „in diesem Ende der Neuzeit“ auseinander. Er spricht also am Beginn der Verwendungsgeschichte des Terminus „Neuzeit“, auch schon wieder von einem „Ende“:
„Dem Menschen ist erst ‚wahrhaft wohl’, wenn er auch ‚geistig frei’ ist! Denn der Mensch ist Geist, darum müssen alle Mächte, die ihm, dem Geiste, fremd sind, alle übermenschlichen, himmlischen, unmenschlichen Mächte müssen gestürzt werden, und der Name ‚Mensch’ muss über alle Namen sein. So kehrt in diesem Ende der Neuzeit (Zeit der Neuen) als Hauptsache wieder, was im Anfange derselben Hauptsache gewesen war: die „geistige Freiheit""[Max Stirner, Der Einzige und sein Eigenthum, 1845, S. 171; entspricht: Der Einzige und sein Eigentum, hrsg. von Ahlrich Meyer, Stuttgart 1972, S. 142. In der Guardini-Bibliothek in München (gb 3942) steht davon ein Exemplar mit der handschriftlichen Datumsangabe „Berlin 27.II“, allerdings ohne Jahreszahl].
Im Gefolge Nietzsches findet man zu Beginn der dreißiger Jahre schließlich das Theorem zum einen wieder bei Friedrich Würzbach (1886-1961)[Friedrich Würzbach, Zwei unveröffentlichte Manuskripte aus dem Nachlass. I. Das Bild des Menschen. II. Vom Ende der Neuzeit bis zu den Brücken der Zukunft dargestellt an Hölderlin – Nietzsche – Rilke, Essen 1984, S. 69-119], der 1919 in München Mitbegründer und erster Leiter der Nietzsche-Gesellschaft sowie und ab 1925 Mitherausgeber des „Jahrbuchs der Nietzsche-Gesellschaft“ war. Nach dem zweiten Weltkrieg setzte sich Würzbach sowohl mit Martin Heideggers „Einführung in die Metaphysik“[Friedrich Würzbach, Rezension zu: Heidegger, Einführung in die Metaphysik, in: Welt und Wort, 9, 1954, S. 282] als auch mit Guardini „Die Macht“[Friedrich Würzbach, Rezension zu: Guardini, Die Macht, in: Welt und Wort, Tübingen, 7, 1952, S. 329] auseinander.
Zum anderen wird die Formulierung auch durch den Soziologen Ernst Wilhelm Eschmann (1904-1987)[Vgl. M. Frederik Plöger, Soziologie in totalitären Zeiten. Zu Leben und Werk von Ernst Wilhelm Eschmann (1904-1987), Berlin-Hamburg-Münster 2007] verwendet, der ab 1929 einer der Redakteur der Zeitschrift „Die Tat“ war und darin vor allem unter dem Pseudonym „Leopold Dingräve“ publizierte. 1933 erschien darin ein Artikel mit dem expliziten Titel „Das Ende der Neuzeit“[Leopold Dingräve, Das Ende der Neuzeit, in: Die Tat, 24, 1933, 11, S. 960-967], in dem er den großen Umbruch mit „dem Verlust der Denksicherheit“ durch die Auflösung des Rationalismus, das er als „das letzte große Glaubenssystem Europas“ bezeichnete. Von 1933 an gab Eschmann zusammen mit Wirsing eine Zeitschrift mit dem Titel „Das XX. Jahrhundert“ heraus und war bis 1943 zudem zunächst Dozent, dann Professor für Soziologie an der Universität Berlin.
Kurz vor Herausgabe des Buches hat neben dem schon erwähnten Rudolf Stadelmann auch Herbert Cysarz vom „Ende der Neuzeit“ gesprochen [Herbert Cysarz, Am Ende der Neuzeit, in: ders., Welträtsel im Wort. Studien zur europäischen Dichtung und Philosophie, 1948, S. 311-321]. In seinem Buch „Der Untergang der Neuzeit – und der Aufgang wessen?“ (1953) schreibt er dazu:
„Ich darf noch vorausschicken, daß die Ausdrücke „Ende der Neuzeit“ und „Aufgang des Vierten Äons“ meines Wissens erstmals von mir als Titel gebraucht worden sind, seit Anfang 1948; in den letzten Jahren tauchen sie immer öfter auf, natürlich ohne daß sich allemal von einem Zusammenhang reden läßt, um so öfter von Konvergenz der Beobachtungen und Auslegungen“[Herbert Cysarz, Der Untergang der Neuzeit – und der Aufgang wessen?, 1953, S. 4].
Und 1965 meint Cysarz betonen zu müssen:
„Geschichte ist und tut immer auch das Gegenteil dessen, was nötig wäre. Das steht nicht erst bei Guardini zu lesen („Das Ende der Neuzeit“, 1950), sondern beispielshalber schon bei mir selbst („Am Ende der Neuzeit“, Schlußstück der „Welträtsel im Wort“, 1948) – und zuvor oder später bei Vielen mehr, die diesen Befund weder erstmals entdeckt noch abgeschrieben haben. Der Untergang der Neuzeit wurde manifest mit dem Kriegsbeginn 1914“[Herbert Cysarz, Deutsches Geistesleben der Gegenwart. Sumpf und Festland, 1965, S. 19].
Wie gesehen, irrt Cysarz bereits in der Frage des Titels „Ende der Neuzeit“ im Blick auf Dingräves Aufsatz aus dem Jahr 1933, der Gebrauch des Theorems selbst, ist bereits, wie er richtig anmerkt, viel älter. Allerdings weicht sein Verständnis des „Endes“ als „Untergang der Neuzeit“ diametral sowohl von Guardinis Vorstellung eines folgenden „neuen Mittelalters“ als auch von Heideggers Vorstellung einer „Vollendung der Neuzeit“ ab. Genau hier müsste aber sowohl im Blick auf Untergangsszenarien und Postmoderne-Diskurse genauer hingeschaut werden. Vermutlich gäbe es für eine Verwendung dieses Theorems „vor“ Guardini und Heidegger auch noch zahlreiche weitere Belege. Insgesamt wäre es gerade für die Guardini- und die Heidegger-Forschung eine lohnende Aufgabe, diese Abhängigkeiten, Zusammenhänge, Unterschiede und Widersprüche genauer herauszuarbeiten.
Gemeinsames Thema: Mörike
Q063
Widmung Heideggers an Guardini an Guardini (1951) [Guardini-Bibliothek gb 4049]
In der Guardini-Bibliothek befindet sich als nächstes gewidmetes Buch der 1951 erschienene Dialog zwischen Staiger und Heidegger um Mörikes Gedicht “Auf eine Lampe”[Zu einem Vers von Mörike. Ein Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Emil Staiger, Zürich 1951. Vgl. dazu unter anderem Michael Thomas Taylor, „Überhaupt noch einmal lesen zu lernen“. Emil Staiger und Martin Heidegger, in: Barbara Hahn (Hrsg.), Im Nachvollzug des Geschriebenseins. Theorie der Literatur nach 1945, Würzburg 2007, S. 121-134].
Die Widmung lautet: "Romano Guardini im herzlichen Gedenken Weihnachten 1951 Martin Heidegger"
Guardini verweist in seinem eigenen Vortrag über dieses Gedicht „Auf eine Lampe“ im Jahr 1956 auf Burg Rothenfels just auf dieses Dialog-Buch:
„Im letzten Vers steht aber ein Wort, das die tröstliche Sicherheit fraglich macht. Da heißt es nämlich, was schön ist, „scheine" selig in ihm selbst. An diesem Wort hat sich ein aufschlußreicher Dialog zwischen E. Staiger und M. Heidegger, dem Literaturhistoriker und dem Philosophen entzündet. Nach der Ansicht des ersten meint es, das schöne Ding erwecke den „Anschein", als ruhe es im eigenen Licht. Der zweite hingegen versteht es im Sinn des Leuchtens, so wie man sagt, die Sonne „scheine", und deutet dieses Leuchten auf jenes Offenbar-Werden des Wesens, das im Schön-Sein geschieht. Vielleicht dringt aber durch beide Deutungen noch etwas anderes, Drittes hindurch, das nicht mit Worten ausgesprochen wird, sich aber dem Aufmerksamen, glaube ich, doch zu Gefühl bringt“[Romano Guardini, „Auf eine Lampe“ (Vortrag 1956 auf Burg Rothenfels), in: ders., Sprache – Dichtung – Deutung/Gegenwart und Geheimnis, S. 166-173, hier S. 171].
Guardini nimmt mit seiner eigenen Interpretation daher eine dritte, eine „mittlere“ und vertiefende Position ein.
Es gibt wohl bis heute keine ansprechendere Zusammenschau von Guardini und Heidegger im Blick auf das Kunstwerk „Gedicht“ und das auch noch besonders im Hinblick auf das von Guardini und Heidegger interpretierte Lampengedicht Mörikes als die Arbeiten von Rudolf Nikolaus Maier, wobei darin der Dritte im Bunde, Emil Staiger, leider zu kurz kommt. Maier nimmt aber sowohl auf Heideggers als auch auf Guardinis Mörike-Interpretation Bezug, offenbart ihre denkerische Ähnlichkeit und schließt sich selbst dieser „gemeinsamen“ Linie an:
„Dichtung will nicht den Sinn des Daseins offenbaren oder gar das Rätsel des Lebens lösen, sie will nur Verborgenes sichtbar machen. Heidegger: „Zur Aufgabe steht, das Rätsel zu sehen.“ Indem wir aber das heilig-öffentliche Geheimnis schauen, werden wir unserer höheren Berufung bewußt. Was uns durch das Formantlitz hindurch anblickt, sei es Welt oder Seele, möchte uns in reinere Bezirke geleiten. In jedem bedeutenden Gedicht ist Dante verborgen, der uns bei der Hand nehmen und zur Schau der Rose führen möchte. Jedes echte Gedicht, das aus Weltzuversicht und nicht aus Verzweiflung geboren ist, trägt weihnachtlichen Glanz in sich, der durch die Nächte schimmert. In solchem Sinne spricht Guardini von Verheißung und Heidegger von Epiphanie“[Rudolf Nikolaus Maier, Das Gedicht; über die Natur des Dichterischen und der dichterischen Formen. Betrachtungen für Lehrende und Lernende, 1956, S. 34; vgl. dazu auch ders., Das Symbolische des Gedichts und die Erziehung des symbolischen Sinns, in: Wirkendes Wort, 6, 1956, S. 41-53, hier S. 51; wieder in: Wirkendes Wort. Sammelband 4, 1962, S. 373-385, hier S. 383].
Wenn Mörike nun in dem zwischen Heidegger und Staiger diskutierten Schluss-Vers seines Gedichts aus dem Jahr 1846 sagt: „Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst“[Eduard Mörike, Auf eine Lampe, in: ders., Gesammelte Schriften, Band 1, S. 115], gibt es guten Grund, darin sowohl Heideggers Diktum „Also ist die Kunst: die schaffende Bewahrung der Wahrheit im Werk. Dann ist die Kunst ein Werden und Geschehen der Wahrheit“[Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, in: ders, Holzwege, 1977, a.a.O., S. 59] ausgesprochen zu sehen, als auch Guardinis Auffassung, dass „das Eigentliche hinter der empirischen Wirklichkeit, im Raum der Vorstellung“ liegt:
„Und dorthin muß, von den Zeichen des Sichtbaren gewiesen, der Betrachter vordringen. Er muß jenes Eigentliche aufrufen, es in der inneren Anschauung aufsteigen, durch Geist und Herz lebendig werden lassen“[Guardini, Über das Wesen des Kunstwerks, in: ders, Wurzeln eines großen Lebenswerks, 2002, Bd. 3, S. 255].
Es bleibt fraglich, warum Guardini und Heidegger nach jetzigem Kenntnisstand nicht selbst auf diese gemeinsame Linie in der Deutung des Ursprungs und des Wesens des Kunstwerkes eingegangen sind, obwohl Guardini Heideggers Aufsatz über den Ursprung des Kunstwerkes in den Holzwegen gelesen haben und auch Heidegger das Bändchen Guardinis über das Wesen des Kunstwerks kaum verborgen geblieben sein dürfte; zumal auf diese Gemeinsamkeiten nicht nur gemeinsame Schüler und Freunde wie Wilhelm Weischedel Bezug genommen haben [Wilhelm Weischedel, Die Tiefe im Antlitz der Welt. Entwurf einer Metaphysik der Kunst, 1952], sondern auch Literaturschaffende wie Gottfried Benn, der sich in seiner Rede „Altern als Problem für Künstler“ aus dem Jahr 1954 vom Unbestimmten dieser Rede von der Verheißung bzw. vom „Sich-ins-Werk-setzen der Wahrheit“ kritisch abgrenzt:
„Aber wenn nun Guardini sagt: “Hinter jedem Kunstwerk öffnet es sich gleichsam“ – was öffnet sich denn nun gleichsam, da wir unsererseits doch eher alles zupinseln und verdecken sollen -, oder wenn ein großer Philosoph schreibt, Kunst sei „das Sich-ins-Werk-setzen der Wahrheit“ – welche Wahrheit ist denn das nun wieder – eine Wahrheit aus Skizzen und Entwürfen, aus Manufaktur, oder wird die Wahrheit vielleicht nur erwähnt, um die Initialen der Philosophie zu präsentieren, denn in der Kunst geht es ja nicht um Wahrheit, sondern um Expression. Aber, als letzte Frage, wie verhält es sich mit dieser Expression, die sich vor die Tiefe drängt – ist Ausdruck Schuld? Er könnte es sein“[Gottfried Benn, Altern als Problem für Künstler, 1954, S. 41; dann in: ders., Gesammelte Werke: Essays, Reden, Vorträge, (4)1977, S. 578].
Die Bayerische Akademie der Schönen Künste über „Die Künste im technischen Zeitalter“ (1951-1954)
Die ersten Vorbereitungen (1951/52)
Exkurs: Über „Sorge“, „Seel-Sorge“ und „Sorge um den Menschen“
Weitere Vorbereitungen (1952-1953)
Die Nachwirkungen
Guardini als Leser von Heideggers „Holzwege“: Stellungnahmen zu Platon und Nietzsche
Max Müller zwischen Guardini und Heidegger – eine Positionierung im Umfeld von Guardinis Freiburger Ehrenpromotion (1954)
Die Ehrenpromotion
Max Müllers „Primat“ für Romano Guardini
Anschließende Würdigungen und gemeinsamer Fußballbesuch
Zur Person Max Müllers
Weitere Widmungen und Briefe (1954-1957)
Die Akademie-Tagung über „Die Sprache“ (1958/59)
Vorbereitungen
Tagungen über „Die Sprache“ in München und Berlin im Januar 1959
Weitere Widmungen Heideggers an Guardini (1959/60)
Zwei späte Bezugnahmen Guardinis auf Heidegger (1958 bis 1961)
In der 1976 posthum veröffentlichten Fassung der Vorlesungen über „Die Existenz des Christen“ aus den Jahren 1958 bis 1961 nennt Guardini Heidegger – neben Jaspers, Sartre und Camus – als jene, die „die Frage nach der (christlichen) Existenz“ nach dem „Verstummen“ in der Zeit des Positivismus – in der Nachfolge Sören Kierkegaards – wieder geweckt hätten.
„Sie wissen, daß die Frage nach der Existenz überhaupt erst vor rund hundert Jahren durch Sören Kierkegaard zum ersten Mal gegen die Spekulationen Hegels gestellt wurde – bezeichnenderweise eingehüllt in die Frage nach der christlichen Existenz. In der darauf folgenden Zeit des Positivismus mit seiner triumphierenden Eroberung der Wirklichkeit ist die Frage wieder verstummt; es hat der schweren Erschütterung aller überkommenen Sicherheit durch die großen Kriege und die mit ihnen zusammenhängenden soziologischen und kulturellen Umwälzungen bedurft, um sie wieder zu wecken – denken wir an die Namen wie Heidegger, Jaspers, Sartre, Camus. Es ist eine Frage, die allen besonderen Fragen nach dem Inhalt von Leben und Welt vorausliegt und für gewöhnlich durch das Interesse an den Dingen, Vorgängen, Tätigkeiten des Lebens überdeckt wird; die Frage nämlich, in welcher Weise der Mensch überhaupt „da sei“. Es bedarf einer Besinnung, um sie zu empfinden – zu welcher Besinnung sich der Mensch in der Regel erst gedrängt fühlt, wenn die Selbstverständlichkeit des täglichen Tuns und Geschehens gestört wird. Es sind das die Krisenzeiten des persönlichen Lebens. Nach der positiven Seite hin die Stunden hohen Lebens: Schicksal wirkender Begegnungen, gelingenden Schaffens, innerer Gipfelung. Nach der negativen Seite hin Stunden des Tiefstands, der Schwäche, der Gefährdung, des Überdrusses, der Sinnentleerung ... Darin wird deutlich, daß da zu sein, zu existieren, nicht jenes Einfach-Eindeutige ist, als das es im Alltag erscheint: die Tatsache also, daß man eben da ist, statt nicht zu sein, in den Registern der Verwaltungen steht, seine Stelle im Zusammenhang der Berufsarbeit hat usw., sondern jenes, das diesem allen zugrunde liegt, und, wenn empfunden, einer genaueren Besinnung durchaus wert ist. Ich muß Sie also um Ihr Mitgehen bitten. Diese Fragen werden erst deutlich, wenn man sich in sie hineingibt. Geschieht das nicht, dann erscheinen sie überflüssig, sinnlos, ja lächerlich. Wenn der alte Satz wahr ist, daß der Schritt zum Lächerlichen um so kürzer ist, je größer der Gegenstand, um den es sich handelt, dann gilt er ganz besonders von diesen Grundfragen“[Romano Guardini, Die Existenz des Christen, (2)1977, S. 426].
1961 bringt Guardini in seinem Text „Das Phänomen der religiösen Erfahrung“ insbesondere „das Ergriffenwerden durch die Tatsache, daß überhaupt etwas ist, anstatt daß nichts wäre“, noch einmal namentlich mit Heidegger – neben Jaspers, Sarte, Camus und dieses Mal auch noch Marcel – in Verbindung:
„Dem durchschnittlichen, in den Konventionen der Gesellschaft lebenden Menschen ist die Tatsache seines Existierens das einfachhin Gegebene, das ihn nur dann stärker berührt, wenn es empirisch in Frage gestellt wird. Der tiefer Empfindende erfährt es anders. Denken wir etwa an die Problematik, die einen großen Teil der heutigen Philosophie bestimmt. Zwischen Heidegger, Jaspers, Sartre, Camus, Gabriel Marcel bestehen tiefe Unterschiede; eines aber ist ihnen gemeinsam: das Ergriffenwerden durch die Tatsache, daß überhaupt etwas ist, anstatt daß nichts wäre. Die Tatsache, daß er selbst ist, obwohl er auch nicht sein, daß er so ist, obwohl er auch anders sein könnte. Sein Seinserlebnis enthält Elemente, die ebensowenig abgewiesen wie wirklich verstanden werden können: Ortlosigkeit, Ungewißheit, Bedrohtheit, Angst, Ekel usf. Sie bringen ihm die nicht auszudenkende Paradoxie der Tatsache zu Bewußtsein, daß das für ihn Grundlegende, sein Dasein, durch und durch unselbstverständlich ist. Von dorther bekommt das Philosophieren unserer Zeit jenen erregenden Charakter, der es von der früheren ruhigen Betrachtung der Dinge unterscheidet“[Romano Guardini, Das Phänomen der religiösen Erfahrung (1961), in: Wurzeln eines großen Lebenswerkes, Band 4, 2003, S. 375].
Wahlvorschlag Guardinis für Akademie der Schönen Künste – Februar 1961
Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz hat bereits 1985 erstmals auf einen Vorgang aufmerksam gemacht, der zu einer Spannung, ja zu einem „gewissen Zerwürfnis” zwischen Guardini und einigen anderen Mitgliedern der Literarischen Abteilung der Bayerischen Akademie der Schönen Künste geführt hat[Gerl, Romano Guardini, 1985, a.a.O., S. 359]. Nachdem sie bereits damals und auch wieder 2019 aus einzelnen Briefen und Typoskripten zu diesem Vorgang zitiert hat, werden die betreffenden Dokumente hier nun vollständig wiedergegeben.
Daraus wird zunächst deutlich, dass, wenn nicht gar die Initiative, zumindest aber die vorbereitende Aktivität dem Austausch Guardinis mit Graf Podewils entspringt. Hintergrund ist dabei wohl, dass die Berliner Akademie der Schönen Künste Heidegger bereits 1957 als Mitglied aufgenommen hatte, was Podewils und Guardini nach der Berliner „Ausgabe“ der Tagung über „Die Sprache“ vom 26. bis 30. Januar 1959 im Ernst-Reuter-Haus in Berlin bewusst geworden ist, insbesondere auch im Blick auf das Engagement Heideggers seit 1950 für die Münchener Akademie.
Zu spät veröffentlichte Erklärungen und Eingeständnisse
Guardini wäre die Argumentation in der Sache sicherlich viel einfacher gefallen, wenn zu diesem Zeitpunkt bereits die entsprechenden Dokumente veröffentlicht gewesen wären, die Heidegger selbst zum Beispiel 1945 für die Bereinigungskommission verfasste, ganz unabhängig von der Frage, ob Heidegger sich darin in einigen Dingen widerspricht, die ein oder andere Begebenheit „verklärt“ oder in manchen Punkten noch kein ausreichendes Verantwortungsbewusstsein für seine damaligen Haltungen, Äußerungen und Aktivitäten entwickelt hatte.
In seinem Antrag auf die Wiedereinstellung in die Lehrtätigkeit (Reintegrierung) vom 4. November 1945 an den Rektor gibt Heidegger sehr weitgehende Antworten auf sein Verhalten während der Rektoratszeit. Zunächst betonte Heidegger darin, dass er sich im April 1933 auf Drängen aus Kreisen der Kollegenschaft, insbesondere auch auf die dringende Bitte seines Amtsvorgängers von Möllendorf zur Wahl gestellt hat und vom Plenum der Universität einstimmig zum Rektor (bei aus Heideggers Sicht zwei Enthaltungen) gewählt wurde – tatsächlich erhielt er 52 von 56 Stimmen bei 3 Enthaltungen und einer Stimme für von Möllendorf.
„Vorher hatte ich ein akademisches Amt weder angestrebt noch bekleidet. Ich gehörte auch nie einer politischen Partei an und hatte vor allem keinerlei Beziehungen, weder persönliche noch sachliche, zu der NSDAP und zu Regierungsstellen. Ich habe das Rektoramt einzig im Interesse der Universität übernommen. Aber ich war damals allerdings auch der Überzeugung, daß durch die selbständige Mitarbeit der Geistigen viele wesentlichen Ansätze der „Nationalsozialistischen Bewegung“ vertieft und gewandelt werden könnten, um die Bewegung so in den Stand zu setzen, in ihrer Weise mitzuhelfen, die verwirrte Lage Europas und die Krisis des abendländischen Geistes zu überwinden. […] Weil auch der in freier Wahl bekundete Wille der überragenden Mehrheit des deutschen Volkes damals eine Aufbauarbeit im Sinne der nationalsozialistischen Bewegung bejahte, hielt ich es für nötig und für möglich, auch im Bereich der Universität daran mitzuarbeiten, der allgemeinen Wirrnis und der Bedrohung des Abendlandes in einer geschlossenen und wirksamen Weise zu begegnen“ [Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, Gesamtausgabe, Bd. 16, a.a.O., S. 397 f.]
Hier wäre ein erster und ernster Kritikpunkt am Demokratieverständnis Heideggers anzusetzen, denn in den Reichstagswahlen von 1932 und sogar noch im März 1933 hatten die Nationalsozialisten keine „überragende Mehrheit“, sondern gingen daraus lediglich als relativ stärkste Partei mit 37,3 % (31. Juli 1932), 33,1 % (6. November 1932) und 43,9 % (5. März 1933) hervor. Die Wahl vom März 1933 nach der Machtergreifung auch nach dem Ende des Dritten Reiches noch als „freie Wahl“ zu bezeichnen, war bereits 1945 nicht mehr nachvollziehbar, und wäre es auch für Guardini, der vor 1933 selbst Zentrumsmitglied war [Angabe Guardinis in: Fragebogen der Militärbesetzung über Guardinis Tätigkeiten zur NS-Zeit (Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1195/2)], nicht gewesen.
Heideggers Eintritt in die Partei sei auf Wunsch des Ministers nach „längerer Überlegung“ erfolgt, unter der ausdrücklichen und von der Kreisleitung akzeptierten Bedingung, daß Heidegger weder während noch nach der Amtszeit als Rektor ein Parteiamt übernehmen müsste [Ebd., S. 401]. Nach seinem Rücktritt habe er seine „Stellung zur Partei … auch in Äußerlichkeiten sichtbar werden lassen“, insofern er „weder die Parteiversammlungen besuchte, noch das Parteiabzeichen trug“ und auch seine Vorlesungen und Vorträge nicht „mit dem sogenannten deutschen Gruß begann“ [Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, Gesamtausgabe, Bd. 16, a.a.O., S. 404].
Bezüglich der von Fritz Heidegger genannten Nietzsche-Vorlesungen schrieb Heidegger selbst bereits 1945:
„Seit dem Jahre 1936 ging ich durch die Reihe der bis 1943 fortgesetzten Nietzsche-Vorlesungen und Nietzsche-Vorträge noch deutlicher in die Auseinandersetzung und in den geistigen Widerstand. Zwar darf Nietzsche niemals mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt werden, das verbietet – vom Grundsätzlichen abgesehen – schon Nietzsches Stellung gegen den Antisemitismus und sein positives Verhältnis zu Rußland. Aber auf einem höheren Niveau ist die Auseinandersetzung mit Nietzsches Metaphysik die Auseinandersetzung mit dem Nihilismus, als dessen eine politische Erscheinungsform sich der Faschismus immer deutlicher herausstellte“[Ebd., S. 402].
Daß Heidegger in diesen Nietzsche-Vorlesungen, wie oben bereits herausgestellt, nicht nur auf Distanz zum faschistischen bzw. nationalsozialistischen Nihilismus, Technizismus und Rassismus ging, sondern weiterhin auch die „liberale“ Demokratie des westlichen Europas abgelehnt hatte, wird hier von Heidegger selbst im Nachhinein ausgeblendet. Die Überwindung der Weimarer Republik als bloß formaler Mehrheits- und Massendemokratie war 1932 und 1933 allerdings ein tatsächlich mehrheitlicher „Volkswille“, da im Juli die gegen die Weimarer Verfassung stehenden Parteien NSDAP und KPD zusammen 51,6 % (31. Juli 1932), 50 % (6. November 1932) und auch in nicht mehr freier Wahl am 5. März 1933, bei der aber die KPD immerhin noch 12,3 % erhielt. Zusammen hatten also 56,2 % der Wählgänger die Weimarer Republik „abgewählt“. Sehr eindrücklich heißt es dann in Heideggers „Erläuterungen und Grundsätzliches“ gegenüber dem Vorsitzenden des politischen Bereinigungsausschusses der Universität vom 15. Dezember 1945:
„Ich stand schon 1933/34 in derselben Opposition gegen die nationalsozialistische Weltanschauungslehre, war damals aber des Glaubens, daß die Bewegung geistig in andere Bahnen gelenkt werden könne und hielt diesen Versuch vereinbar mit den sozialen und allgemein politischen Tendenzen der Bewegung. Ich glaubte, Hitler werde, nachdem er 1933 in der Verantwortung für das ganze Volk stand, über die Partei und ihre Doktrin hinauswachsen und alles würde sich auf den Boden einer Erneuerung und Sammlung zu einer abendländischen Verantwortung zusammenfinden. Dieser Glaube war ein Irrtum, den ich aus den Vorgängen des 30. Juni 1934 erkannte. Er hatte mich aber 1933/34 in die Zwischenstellung gebracht, daß ich das Soziale und Nationale (nicht nationalistische) bejahte und die geistige und metaphysische Grundlegung durch den Biologismus der Parteidoktrin verneinte, weil das Soziale und Nationale, wie ich es sah, nicht wesensmäßig an die biologisch-rassische Weltanschauungslehre geknüpft war“[Martin Heidegger, Erläuterungen und Grundsätzliches (15. Dezember 1945), erstmals auszugsweise (mit zwei Fehlern) bei Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, a.a.O., S. 312; erstmals vollständig als Abdruck einer Abschrift (mit 17 Fehlern) bei Bernd Martin, Martin Heidegger und das ‚Dritte Reich’, 1989, S. 207-211 (UAF B 34/51), schließlich in: Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges (1910-1976), Gesamtausgabe, Bd. 16, a.a.O., S. 409-415, hier S. 414].
Noch ausführlicher und grundsätzlicher hat Heidegger die Zeit des Rektorates und des Dritten Reiches in seinem Text „Tatsachen und Gedanken“ von 1945 dargestellt. Darin erklärt er vor allem den „Sinn“ seiner Rektoratsrede mit dem „Gott ist tot“-Zitat Nietzsches, die seine Wirkung bei den anwesenden führenden Nationalsozialisten auch nicht verfehlte. So habe Kultusminister Wacker die Ausführungen als „eine Art ‚Privatnationalsozialsmus’, der die Perspektiven des Parteiprogramms umgehe“ bezeichnet, der zudem „nicht auf dem Rassegedanken aufgebaut“ sei und die nationalsozialistische Idee einer „politischen Wissenschaft“ zurückweise [Martin Heidegger, Tatsachen und Gedanken (1945), in: ders., Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges (1910-1976), Gesamtausgabe, Bd. 16, a.a.O., S. 382]. Außerdem habe man Heidegger im Ministerium kurz nach der Rektoratsfeier bedeutet:
„1. daß künftig die Anwesenheit des Erzbischofs bei solchen Feiern nicht erwünscht sei; 2. daß meine nach der Rektoratsfeier gehaltene Tischrede insofern eine Entgleisung darstelle, als ich überflüssigerweise den Kollegen Sauer aus der theologischen Fakultät eigens hervorgehoben und betont habe, was ich ihm für meine wissenschaftliche akademische Ausbildung verdanke“[Ebd.]
In diesem Text findet sich dann eben auch jener Abschnitt über das „Kesseltreiben, das sich auch auf meine Vorlesungen erstreckte“, und durch den auf Heidegger angesetzten SD-Spitzel Dr. Hancke offengelegt worden sei, als dieser sich Heidegger gegenüber offenbarte. Dabei habe man von Seiten der Gestapo insbesondere auch die Zusammenarbeit mit den Jesuiten kritisch beobachtet habe.
Erst 1966 hat sich Heidegger - nach einem Spiegel-Aufsatz „Heidegger – Mitternacht einer Weltnacht“[In: Der Spiegel, Nr. 7, 1966, S. 111 ff.] - dazu entschieden, zum ersten Mal öffentlich in einem Leserbrief vom 22. Februar 1966 eine Richtigstellung zu verlangen:
„1. Es ist unwahr, daß ich während meines Rektorats (Ende April 1933 bis Februar 1934) meinem Lehrer Husserl in irgendeiner Form das Betreten der Universität verboten habe. 2. Es ist unwahr, daß 1933 von meiner Seite die Beziehungen zu Husserl und Jaspers abgebrochen wurden. 3. Es ist unwahr, daß Prof. Ritter als einziges Mitglied des Lehrkörpers der Universität am Begräbnis Husserls teilnahm, und es ist ebenso unwahr, daß sich Prof. Ritter im Jahre 1952 gegen meine Emeritierung stellte. 4. Die im Bild S. 113 vermerkte Kundgebung fand nicht 1934, sondern Herbst 1933 statt. 5. Ich verzichte auf eine Stellungnahme zu belangloseren unrichtigen Angaben“[In: Der Spiegel, Nr. 11, 1966 vom 7. März 1966].
Diese Äußerung veranlasste die Spiegel-Redaktion, Heidegger um ein Interviewgespräch zu bitten. Tatsächlich kam es zur Aufzeichnung des Gesprächs am 23. September 1966, das zwischen Martin Heidegger mit Rudolf Augstein, Georg Wolff, Heinrich Wiegand Petzet geführt wurde. Anwesend war außerdem der Protokollführer Steinbrecher sowie ein Techniker und eine Fotografin. Der Text wurde von Heidegger einer langen Nachbearbeitung unterzogen. Gedruckt wurde es erstmals am 31. Mai 1976 (Spiegel, 30, 1976, Nr. 2). Dabei weicht die von Heidegger genehmigte authentische Fassung von der Spiegel-Druckfassung in einigen Punkten ab. Die genehmigte Fassung erschien erstmals 1988 in „Antwort – Martin Heidegger im Gespräch“[Günther Neske/Emil Kettering (Hrsg.), Antwort – Martin Heidegger im Gespräch, a.a.O., S. 81-111].
Gegenüber den Spiegel-Redakteuren musste Heidegger 1966 auch zu dem von Kästner inkriminierten Satz Stellung nehmen:
„Diese Sätze stehen nicht in der Rektoratsrede, sondern nur in der lokalen Freiburger Studentenzeitung, zu Beginn des Wintersemesters 1933/34. Als ich das Rektorat übernahm, war ich mir darüber klar, daß ich ohne Kompromisse nicht durchkäme. Die angeführten Sätze würde ich heute nicht mehr schreiben. Dergleichen habe ich schon 1934 nicht mehr gesagt. Aber ich würde heute noch und heute entschiedener denn je die Rede von der „Selbstbehauptung der deutschen Universität“ wiederholen, freilich ohne Bezugnahme auf den Nationalismus. An die Stelle des „Volkes“ ist die Gesellschaft getreten. Indes wäre die Rede heute ebenso in den Wind gesprochen wie damals.“
Offensichtlich hat er, anders als von Kästner und anderen vermutet, nicht in einer seiner Novemberreden gebraucht, sondern „nur“ in besagtem „Universitätsführer“ verwendet. Ob sie im Sinne eines „Kompromisses“ notwendig waren, ist äußerst fraglich, muss aber an dieser Stelle nicht abschließend beurteilt werden. Die von Heidegger eingebrachte Nuancierung ist aber angesichts zahlreicher in Umlauf gebrachter Un- und Halbwahrheiten über Heidegger verständlich. Auch hier muss aber wieder hinterfragt werden, warum sich Heidegger dazu nicht früher öffentlich positioniert hatte.
Festschrift für Romano Guardini zum 80. Geburtstag
Es ist verwunderlich, warum Martin Heidegger nicht zu den Beiträgern für die nach 1935 zweite in Deutschland erschienene Festschrift für Romano Guardini zu seinem 80. Geburtstag 1965 gehörte. Allerdings war Heidegger von Karl Forster durchaus angefragt worden, hat aber mit Verweis auf eine Grundsatzentscheidung abgesagt.
Vorschlag für die Zuwahl Heideggers zum Orden „Pour le mérite“ (Frühjahr 1964)
Ab hier vollständig übertragen
All die oben genannten Informationen über Heidegger standen Guardini 1961 also noch nicht zur Verfügung. Davon, dass Guardini die 1961 gemachten Aussagen aber nicht nur als „Gefälligkeit“ Podewils oder Heidegger gegenüber ansah, sondern von ihnen persönlich überzeugt war und es wohl bis zu seinem Tod auch blieb, zeugt der Umstand, dass Guardini drei Jahre später abermals für eine öffentliche Würdigung Heideggers eintrat und erneut mit der Begründung, dass für eine Beurteilung von Heidegger nicht allein „die so lange zurückliegenden und seitdem ja doch von ihm selbst desavouierten Dinge“ maßgebend sein dürften.
Nach dem Tod Eduard Sprangers – er war am 17. September 1963 gestorben – wurde Guardini von Ordenskanzler Percy Ernst Schramm in einem Brief vom 4. Februar 1964 um Rat bezüglich eines Vorschlags Erich Kaufmanns für die Zuwahl zum Orden gebeten. Der Jurist Erich Kaufmann (1880-1972) – selbst jüdischer Herkunft, nach der Reichspogromnacht 1938 geflohen und 1946 nach Deutschland zurückgekehrt – hatte gegen den Vorschlag, Karl Jaspers zuzuwählen, Bedenken erhoben, „daß Jaspers sich irgendwie gegen Deutschland ausgesprochen haben soll“.
[Kaufmann zielt hier mit seiner Kritik an Jaspers wohl noch auf den 1961 erschienenen Sammelband „Freiheit und Wiedervereinigung“. Dieses Buch, für das Willy Brandt ein Vorwort schrieb, war erschienen, nachdem er in einem Fernsehinterview mit Thilo Koch mit seiner These „Freiheit geht vor Wiedervereinigung“ vertreten hatte und im Anschluss daran von einigen sogar als „Vaterlandsverräter“ und „Handlanger des Kommunismus“ beschimpft worden war. Jaspers trat dafür ein, einen eigenen Staat in der DDR zu akzeptieren, wenn dadurch auch für diesen Teil Deutschlands die Freiheit hergestellt werden könnte. Erich Kaufmann vertrat als Rechtsberater der Adenauer-Regierung gerade in der Frage der Wiedervereinigung bzw. der Anerkennungsfrage eine klar konträre Position dazu, die in der These gipfelt, daß jegliche Initiative zur friedlichen Wiedervereinigung Deutschlands auf dem Verhandlungswege mit der Sowjetunion mit der Konsequenz einer „de-facto-Anerkennung“ der DDR oder aber eines „militärisch neutralisierten Staates“ ein Verstoß gegen das Grundgesetz sei, und daher einen eigenen „Konföderationsplan“ für die Bundesregierung ausgearbeitet hatte. Vgl. Erich Kaufmann, Die These von den zwei deutschen „Teilstaaten“ oder „Teilvölkern“, Bulletin 1955, 17; ders./Fritz Münch/Ekkehart Stein, Gibt es zwei deutsche Staaten?“ – Drei Beiträge zur Rechtslage Deutschlands, hrsg. vom Auswärtigen Amt, Bonn 1963.]
Kaufmann selbst habe dann Heidegger vorgeschlagen, womit der Orden aus Sicht Schramms aber „in Teufelsküche“ käme. Guardini antwortete – vermutlich für Schramm überraschend -, indem er sich den Vorschlag Kaufmanns zu eigen machte:
Q096
Brief von Romano Guardini an Percy Ernst Schramm vom 27.02.1964 [BSB Ana 342, B 23/06-3]
Schramm gab in seiner Antwort vom 3. März 1964 zu bedenken, dass eine Wahl Heideggers „nach außen hin eine Absage an Jaspers“ bedeuten würde, was im In- und Ausland gegen den Orden „ausgespielt“ werden würde. Natürlich habe Heidegger angesichts der drei vergangenen Jahrzehnte ein „Anrecht“ darauf, „auch nach dem beurteilt zu werden, was er seit 1945 schrieb und sprach.“ Ihm sei klar, der Orden werde „auf die Dauer nicht um ihn herumkommen, weil er eine so starke philosophische Potenz ist.“ Dennoch empfiehlt er „zunächst doch Jaspers hinzuzuwählen“, auch wenn dessen Gesundheitszustand wohl eine Aktivität verhindern würde. Später könne man dann Heidegger hinzuwählen und „dann kann niemand etwas sagen.“ Trotz dieser Einschätzung fragt Schramm Guardini abschließend um seine Meinung zu diesen Überlegungen, die Guardini auch in dem nachfolgenden Brief äußert, indem er seinen Vorschlag, Heidegger zuzuwählen, erneuert.
Q097
Brief von Romano Guardini an Percy Ernst Schramm vom 14.03.1964 [BSB Ana 342, B 23/06-3]
In der Tagesordnung wurden für die „Ersatzwahl Spranger“ Karl Jaspers oder Martin Heidegger oder Hugo Friedrich als Kandidaten aufgeführt. [Der bereits früher schon einmal zurückgestellte Vorschlag, den Romanisten Hugo Friedrich (1904-1978) zuzuwählen, sollte bei der Tagung allerdings nur für den Fall wieder aufgenommen werden, dass sowohl der Vorschlag Jaspers als auch der Vorschlag Heidegger keine Mehrheit gefunden hätten.]
Guardini sagte die Teilnahme an der Bonner Tagung am 19. Mai 1964 ab, hatte aber brieflich gewählt. In den Vorschlägen für die vorzunehmenden Wahlen heißt es, dass bei den Zustimmungen bzw. Ablehnungen im Vorfeld „sowohl philosophische als auch politische Argumente zur Sprache“ kamen. Daher bat Schramm die Mitglieder darum, „sich bereits vor der Reise nach Bonn über den von ihm zu fassenden Entschluß klarzuwerden.“ Bei der Sitzung sollte dann zunächst über die Zuwahl von Karl Jaspers abgestimmt werden. Sollte dieser die erforderliche Stimmenzahl erreichen, erübrige sich eine Abstimmung über Martin Heidegger, so dass diese „bis zum Freiwerden eines weiteren Platzes in der geistesgeschichtlichen Sektion“ zurückgestellt werde. Wenn der Vorschlag Jaspers hingegen nicht die erforderliche Stimmenzahl erreiche, wollte Schramm den Vorschlag Heidegger zur Abstimmung bringen.
Auf der Tagung zugewählt wurde dann aber nach längerer Diskussion mit großer Mehrheit Karl Jaspers und dieser daher auch am 9. Juli 1964 aufgenommen. In einem weiteren Brief an Guardini schrieb dazu der Ordenskanzler Schramm, dass man „lange hin und her geredet“ habe, wobei er auch Guardinis Briefe, „soweit zur Sache gerichtet, verlesen“ habe. In der Diskussion seien gegen Heidegger „so schwere persönliche Bedenken“ aufgetaucht, daß man den Vorschlag „zunächst einmal“ zurückstellte und zuerst über Jaspers abstimmte, der „fast mit allen anwesenden Stimmen gewählt wurde“. Schramm betonte abschließend die „sehr, sehr gute Beratung: alles mit Würde und mit Sachlichkeit” [BSB Ana 342, B 23/06-3].
Als Nachfolger auf den nach Guardinis Tod freigewordenen Platz wurde im Übrigen Rudolf Bultmann gewählt und im Juni 1969 in den Orden aufgenommen [Vgl. Telegramm an Rudolf Bultmann von Percy Ernst Schramm vom 4. Juni 1969. Die Übergabe des Ordenszeichens erfolgte am 26. Juni 1969 (Nachlass Bultmann Nr. 3076, laut: Harry Wassmann/Jakob Matthias Osthof/Anna-Elisabeth Bruckhaus, Rudolf Bultmann (1884-1976). Nachlassverzeichnis, 2001, S. 278)].
Über das Verhältnis des „Vorlaufens zum Tod“ zur „blanken Diesseitigkeit“
Abraham a Santa Claras Anstoß für Heideggers „Vorlaufen zum Tod“
Q098
Widmung Heideggers an Guardini wohl Weihnachten 1963 [Guardini-Bibliothek Nr. 4061]
In der Guardini-Bibliothek steht auch Martin Heideggers Schrift „Kants These über das Sein“, versehen mit handschriftlichen Weihnachtsgrüßen: "Für Romano Guardini mit herzlichen Weihnachtsgrüßen Martin Heidegger"
Diese ist 1963 erschienen. Daher ist anzunehmen, dass die Grüße zu Weihnachten 1963 geschrieben wurden.
Denn für das Folgejahr steht als Weihnachtsgeschenk wohl Heideggers Vortrag „Über Abraham a Santa Clara“ in der Guardini-Bibliothek. Diesen Vortrag hielt Heidegger am 2. Mai 1964 beim Meßkirchner Schultreffen. Er wurde noch im selben Jahr ebenfalls in Meßkirch ohne Jahresangabe herausgegeben. Es handelt sich bei der Widmung daher mit hoher Wahrscheinlichkeit um einen Weihnachtsgruß von 1964.
Q099
Widmung Heideggers an Guardini (Weihnachten 1964) [Guardini-Bibliothek gb 4042]
Aufgrund der Formulierung ist zu schließen, dass Guardini auch Heidegger Weihnachtswünsche übermittelt hatte, vermutlich mit dem für dieses Jahr vorgesehenen Privatdruck. In Heideggers Geschenkt steht jedenfalls: „die Weihnachtswünsche erwidernd und herzlich dankend Martin Heidegger“.
In gewisser Weise schloss sich mit dieser Rede über Abraham a Santa Clara ein weiterer Kreis, der bis in die Freiburger Studentenzeit zurückreicht. Denn schon als zwanzigjähriger Theologiestudent hatte Martin Heidegger der Feier zum zweihundertsten Todestag von Abraham a Santa Clara präsidiert und bei der Enthüllung des Denkmals in Kreenheinstetten im August 1910 eine Ansprache gehalten [„Mein liebes Seelchen!“. Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride 1915-1970, a.a.O., 2005, S. 351]. Der Augustinerpater Abraham a Santa Clara, bürgerlich Johann Ulrich Megerle bzw. Megerlin (1644-1709) war am 2. Juli 1644 in Kreenrheinstetten bei Meßkirch geboren worden und gilt als einer der bedeutendsten deutschen katholischen Prediger und Poeten der Barockzeit.
Helmuth Vetter hat in einem Aufsatz über „Heideggers Denken im Lichte mystischer Überlieferung“ von 1991 darauf aufmerksam gemacht, „welchen ‚entscheidenden Gedanken’“ Heidegger bei seinem Landsmann gefunden hat.
„Gleichzeitig fällt so etwas wie ein Licht aus mystischem Erbe auf das Vorlaufen zum Tod. Dieses ist, wie nunmehr gezeigt, nicht die trotzige Versteifung auf die Individualität des autonomen Subjekts, sondern vielmehr ein Abstandnehmen von dieser. Die Phänomene unter dem Gesichtspunkt ihrer Brauchbarkeit zu nehmen heißt, sie den Eigeninteressen zu unterstellen. Sich von diesem Eigenen – das gerade nicht die Eigentlichkeit ist – abzukehren, gehört zum Umkehrcharakter der mystischen Existenz. Das Freiwerden von den Eigeninteressen und somit Eigentlichwerden versteht nun die Mystik als „Absterben". Meister Eckhart hat dies als „zunichte werden" um willen des Lebens gefaßt. Abraham spricht schlicht von einem Sterben Der doppelten Bedeutung von verlassen als „Abschied nehmen“ und „sich auf etwas verlassen“ entspricht sein Wort: „ ... ich verlasse gern dasjenige, auf das sich niemand verlassen kann.“ (Zitiert in MH 54) In seiner Rede über Abraham a Santa Clara fügt Heidegger diesem Zitat jenes andere an, von dem er sagt, Abraham habe hier „einen entscheidenden Gedanken“ hingestellt: „Wer stirbt, ehe er stirbt, der stirbt nicht, wenn er stirbt.“ Heidegger erläutert dies mit dem Satz: „Wer sich von Dingen löst, bevor der Tod kommt, der hört nicht auf, zu sein, wenn es zu Ende geht.“ (MH 54 f.)“ [Helmuth Vetter, Heideggers Denken im Lichte mystischer Überlieferung – Hermeneutische Beobachtungen, in: Elenor Jain/Reinhard Margreiter (Hrsg.), Probleme philosophischer Mystik. Festschrift für Karl Albert zum siebzigsten Geburtstag, 1991, S. 307-322, hier S. 320].
In einer gewissen Weise geht hier also Heidegger zurück zu seinen frühen Deutungen des Todes und des Daseins zum Tode, so wie er es in seiner im Sommer 1925 in Marburg gehaltenen Vorlesung über die „Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs“ im Abschnitt „Die Freilegung der Zeit selbst“ getan hat [Martin Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (Marburger Vorlesung Sommersemester 1925), in: ders., Vorlesungen 1923-1944, Gesamtausgabe, Bd. 20, Frankfurt am Main 1979, S. 424-442, zum „Vorlaufen zum Tod“ S. 440 f.].
Auch mit diesem Geschenk lässt Heidegger also Guardini an seiner Rück-Wendung zu den Anfängen seines Denkens während der gemeinsamen Zeit der Denk- und Weggemeinschaft in Freiburg teilhaben.
Der Weg in die „blanke Diesseitigkeit“
In einer von Guardini gewollten Mitschrift eines Telefongesprächs vom 23. Juli 1964 mit Werner Dettloff heißt es unter dem Abschnitt „Glaube an Gott und Trinität“, dass die monotheistische Vorstellung der „Gottesentwicklung“, so wie auch Heidegger sie im Anschluss an Hegel vertrete, in die atheistische Vorstellung einer „blanken Diesseitigkeit“ münde. Diese sehr Heidegger-kritische Äußerung in dieser späten Zeit mag manchen angesichts seines persönlichen Einsatzes für seine Rehabilitierung als philosophische Potenz verwundern, passt aber zur grundsätzlichen Einschätzung über die Verbindungen zwischen Hegels Gottesvorstellung und der atheistischen Vorstellungen im modernen Existenzialismus.
Q100
Gesprächsnotiz von Werner Dettloff (Juli 1964) [Privat-Nachlass]
Zusammenfassung wird noch erstellt.
Hier kehrt Guardini also zu seinem Ausgangspunkt in der Auseinandersetzung mit Nietzsche und Heidegger in seinem Dostojewskij-Buch von 1932 zurück, wo er im Kapitel „Die Endlichkeit und das Nichts“ im Anschluss an die „Parallele“, „die zwischen der Gestalt Kirilloffs und dem Vorstellungskreis von Nietzsches Zarathustra“ bestehe, geschrieben hat:
„Sie ist so tief und vollständig, geht so bis in letzte Intentionen, daß Dostojewskijs Schöpfung einen förmlichen Kommentar, eine gestaltmäßige Verdeutlichung der Philosophie, besser Heilsbotschaft des Zarathustra bildet. Der Grundgedanke, daß es nicht etwa ‚Gott’ nicht gebe, sondern daß er zum Erlöschen gebracht werden müsse, damit der Mensch leben könne; die Selbstbefreiung von Angst und Ressentiment durch den Willen zur bloßen Endlichkeit und Diesseitigkeit; der Kampf gegen den inneren Willen zur Qual; das Bewußtsein von der Potentialität des Menschen, und von der in ihm wartenden Möglichkeit zu einem neuen Wesen; die Definition dieses Wesens als eines physisch höheren, ontisch verwandelten, wobei der Mensch die Prärogativen Gottes an sich nehmen werde; der Gedanke, der Schritt müsse durch Grauen und Untergang gehen, und in eine Existenz von einer für uns Jetzige furchtbaren Freiheit und Freude führen ... das alles, hervorgehend aus dem Grundgefühl, die Stunde des Endlichen sei da, in einem ungeheuren, religiösen, zugleich aber durchaus innerweltlich-realen Sinne – diese Überzeugung ist beiden gemeinsam. Und beidemal handelt es sich nicht etwa um zufällige Stimmungen und unkontrollierte Gefühle, sondern um eine klar anzugebende Existenzsituation, die sich in einer eindeutigen Haltung auswirkt, und in einem bestimmten Begriffsgefüge ausgedrückt werden kann“ [Romano Guardini, Religiöse Gestalten in Dostojewskijs Werk, (7)1989, S. 210 f.].
Heideggers Glückwünsche zum 80. Geburtstag
Es kommt nahezu einer „Offenbarung“ gleich, wenn Heidegger seinem „lieben Guardini“ zu dessen 80. Geburtstag erinnernd ins gemeinsame Stammbuch schreibt, dass „heute selbstverständlich geworden“ sei, was von beiden zwischen 1912 und 1930 noch „in strenger Bemühung gewagt“ werden musste, und dass gerade durch dieses Selbstverständlich-Nehmen „der Sinn für das Geheimnisvolle der Überlieferung“ verkümmere:
Q101
Brief von Martin Heidegger an Romano Guardini vom 13. Februar 1965 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 881]
Zusammenfassung wird noch erstellt.
Diesem Festgruß lag Heideggers Deutung von Adalbert Stifters "Eisgeschichte" bei [Martin Heidegger, Adalbert Stifters Eisgeschichte, in: Wirkendes Wort, 1964, S. 23-38. Vgl. dazu: Isolde Schiffermüller, Buchstäblichkeit und Bildlichkeit bei Adalbert Stifter. Dekonstruktive Lektüren, 1996, 2. Kapitel: Eisgeschichte. Stifter mit Heidegger, S. 51 ff.].
Auch in der zum Schluss des Briefes vollzogenen „Verehrung und Würdigung des dichterischen Geistes“ im gedachten und gesprochenen Werk Guardinis ist doch weit mehr ausgedrückt als nur ein floskelhafter Geburtstagsgruß. Heidegger hatte seine Interpretation von Stifters „Eisgeschichte“ im Januar 1964 als Beitrag zur Reihe „Wirkendes Wort“ bei Radio Zürich geschrieben und gesprochen. Darin heißt es an zentraler Stelle:
„Die Kräfte und Gesetze, auf die der Dichter zeigt, sind selber noch ein Zeichen. Denn sie zeigen in jenes ganz Unsichtbare, jedoch allem zuvor alles Bestimmende, dem der Mensch aus dem Grunde seines Daseins entsprechen muß, wenn er auf dieser Erde soll wohnen können. Das dichtende Wort zeigt in die Tiefe dieses Grundes. Stifter nennt es das Große. […] Das Zeigen des wahrhaft Großen im Kleinen, das Zeigen in das Unsichtbare, und zwar durch das Augenfällige und durch das Tägliche der Menschenwelt hindurch, das Hörenlassen des Ungesprochenen im Gesprochenen – dieses Sagen ist das Wirkende im Wort des Dichters Adalbert Stifter“[Martin Heidegger, Adalbert Stifters „Eisgeschichte“, in: ders., Aus der Erfahrung des Denkens. 1910-1976, Gesamtausgabe, Bd. 13, Teil 1, Frankfurt am Main 2002, S. 197].
Bei Heidegger bildet diese Verbindung von „Geheimnis der Überlieferung“ und „Heimat“ eine Klammer zwischen dem Denken des Theologiestudenten und des späten Heidegger. So kann man mit Recht darauf verweisen [Axel Beelmann, Heimat als Daseinsmetapher. Weltanschauliche Elemente im Denken des Theologiestudenten Martin Heidegger, 1994, S. 34], dass Heidegger von Anfang an die Gefährdung der Heimat und den drohenden „Heimatverlust“ durch das verrechnende Wesen der Technik als „Movens“ seines Denkens verspürte. So verwundert es auch nicht, dass er im zeitlichen Zusammenhang geführten Interview mit der Spiegel-Redaktion von 1966 davon spricht:
„Nach unserer menschlichen Erfahrung und Geschichte, soweit ich jedenfalls orientiert bin, weiß ich, daß alles Große nur daraus entstanden ist, daß der Mensch eine Heimat hatte und in einer Überlieferung verwurzelt war. Die heutige Literatur zum Beispiel ist weitgehend destruktiv“[Martin Heidegger, Spiegel-Gespräch mit Martin Heidegger (23. September 1966), in: ders., Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges (1910-1976), Gesamtausgabe, Bd. 16, hrsg. von Hermann Heidegger, Frankfurt am Main 2000, S. 652 ff., hier S. 670]
Nach einer Weile des Nachfragens über das Verhältnis von Destruktivismus und Nihilismus und von Technik und Heimat und die Möglichkeiten des Philosophierens gibt Heidegger seinen Interviewern schließlich eine zutiefst religiöse Antwort:
„Wenn ich kurz und vielleicht etwa massiv, aber aus langer Besinnung antworten darf: Die Philosophie wird keine unmittelbare Veränderung des jetzigen Weltzustandes bewirken können. Dies gilt nicht nur von der Philosophie, sondern von allem bloß menschlichen Sinnen und Trachten. Nur noch Gott kann uns retten. Die einzige Möglichkeit einer Rettung sehe ich darin, im Denken und Dichten eine Bereitschaft vorzubereiten für die Erscheinung des Gottes oder für die Abwesenheit Gottes im Untergang; daß wir nicht, grob gesagt, „verrecken“, sondern wenn wir untergehen, im Angesicht des abwesenden Gottes untergehen“[Ebd., S. 671].
Guardini jedenfalls dürfte dieses Geschenk und sein „Inhalt“ erst recht gefreut haben, ist doch Adalbert Stifter für ihn neben Mörike wohl der Dichter des „mündigen“, des mündig gewordenen Menschen so wie Reuter und Raabe die Dichter des Heranwachsens in der Jugend und Hölderlin, Rilke und Dostojewskij die Dichter seines ringenden Schaffens mit den und dem „Großen“ gewesen sind. Seine eigene Wertschätzung für Stifter drückt Guardini in seinen Ethik-Vorlesungen der 50er Jahre mit den Worten aus:
„Es gibt einen Dichter, der zwar nicht zu den größten gehört, aber einen besonderen Rang der Wahrheit und Lauterkeit hat: Adalbert Stifter. Sein Werk ist im wesentlichen diesen Werten des Charakters, der Treue zu sich selbst und zum Werk, der Dauer in Gründung, Fortführung, Reifung gewidmet“[Abschnitt „Der mündige Mensch“ in „Die Lebensalter“, sowohl in: Romano Guardini, Ethik, Mainz 1993, S. 634; als auch in ders., Gläubiges Dasein/Die Annahme seiner selbst, Mainz 1993, S. 146, Anmerkung 5].
Die letzte Kontakte zwischen 1966 bis 1968
Die beiden letzten, bislang bekannten Kontakte zwischen Heidegger und Guardini lassen sich an zwei Postkarten Heideggers an Guardini festmachen, die vom 22. Dezember 1966 und vom 1. Januar 1968 stammen. In der letzteren bedankt sich Heidegger ausdrücklich für die vorausgegangenen Weihnachtsgrüße von Guardini. Auffallend ist, dass Heidegger 1966 kurzzeitig trotz der Anrede „Lieber Freund“ ins „Siezen“ zurückfällt, 1968 aber wieder mit „Dein Martin Heidegger“ unterschreibt. Die letzte, nicht gelaufene und wohl in ein Buchgeschenk eingelegte Postkarte erinnert ausdrücklich, wenn auch nur sehr allgemein an das „alte Freiburg“.
Q102
Postkarte Martin Heideggers an Romano Guardini vom 22. Dezember 1966 [BSB Ana 342, B 4-Sonderkonvolut, Mappe 1]
Zusammenfassung wird noch erstellt.
Q103
Postkarte von Martin Heidegger an Romano Guardini vom 1. Januar 1968 [BSB Ana 342, B 4-Sonderkonvolut, Mappe 1]
Zusammenfassung wird noch erstellt.
Heidegger über Guardini im Seminar in Zähringen 1973
Heidegger hat nach Guardinis Tod – nach jetzigem Kenntnisstand – nur noch ein einziges Mal ausdrücklich auf ihn Bezug genommen: in einem Seminar in Zähringen im Jahr 1973. Aus einer Mitschrift von Heideggers Gedanken geht hervor, dass er dabei Guardinis Sichtweise kritisiert hat, das griechische Denken sei gegenüber dem neuzeitlichen Denken „objektiver“:
„So sprach Romano Guardini, wie Heidegger berichtet, wo er die Besonderheit des griechischen Denkens zu sagen versucht, von einem ‚objektiveren’ Denken als es das neuzeitliche Denken ist. Der Begriff der ‚Objektivität’ kann aber das griechische Denken in keiner Weise kennzeichnen. Zunächst gibt es im Griechischen tatsächlich kein Wort, um Gegenstand – ‚Objekt’ – zu sagen. Für das griechische Denken gibt es den Gegenstand nicht, sondern: das von sich her Anwesende. Auf die Frage, ob man nicht trotz allem Gegenstand in dem letztgenannten Sinn verstehen könnte, antwortet Heidegger, daß das nicht möglich ist, denn der Gegenstand wird durch die Vorstellung konstituiert. Die Vorstellung nämlich, die in bezug auf den Gegenstand das Frühere ist, setzt den Gegenstand sich gegenüber, so daß der Gegenstand nie zuerst von sich aus anwesen kann. Demnach ist es durchaus notwendig, den Bereich des Bewußtseins und der ihm zugehörigen Vorstellung zu verlassen, will man nachdenken können, was die Griechen gedacht haben“[Martin Heidegger, Vier Seminare. Le Thor 1966, 1968, 1969, Zähringen 1973, S. 124].
Allerdings konnte eine zu dieser Aussage passende Stelle im Werk Guardinis, wo er diesen Vergleich an „Objektivität“ zwischen griechischem und neuzeitlichem Denken ausdrücklich zieht, bislang nicht identifiziert werden. Am ehesten könnte hier an Formulierungen Guardinis gedacht werden, wie er sie in „Welt und Person“ über die Sicht der Welt als objektiv Geordnetes bei den Griechen und Römern im Vergleich zur Sicht der Welt als objektiv Gestaltloses macht; allerdings nur wenn man dabei davon ausgeht, dass Guardini die Objektivität der Ordnung als „Fertig-Gegebenes“ wirklich höher einschätzt als die der Gestaltlosigkeit als „Ständig-Werdendes“ und wenn man gleichzeitig Guardinis eigene Position dabei als polare Spannungseinheit von „Immer Aufleuchten“ und „Werden“ versteht:
„Das Erlebnis der Welt-Mächtigkeit bricht in der Renaissance durch [24: Shakespeare ist der Dichter, dessen Werk die Mächtigkeit der Welt überwältigend offenbart. Bei keinem sonst ist sie so groß, so süß und so furchtbar.] und steigert sich dann immer mehr […]. Freilich darf nicht vergessen werden, daß ihm in der gleichen Neuzeit auch sein Gegenspiel erwächst: die Skepsis, die Entwirklichung, die Unfähigkeit, Unbedingtes zu erleben; alles das, was nach Nietzsche auf den Nihilismus zugeht. Die Welthaftigkeit des Seienden kann nach verschiedenem Schema gesehen werden. Die Griechen haben sie als objektiven Kosmos aufgefaßt, worin alles in sich selbst gestaltet ist: durch die Wesensformen des Seins und Wirkens, Entelechie und Telos; durch die Idee und die auf sie zustrebende Geistesbewegung, den Eros; durch die im Sein selbst waltende Vernunft und die Ordnung des Weltverlaufs, Nous und Heimarmene. Das Bewußtsein siegreicher Gestaltungskraft, das die Griechen durch Weisheit und Kunst auszudrücken suchten, haben die Römer durch Staat und Recht bezeugt. Auch für sie war die Welt ein objektiv Geordnetes, in das der Mensch sich mit seinem besonderen Wesen einfügen sollte... Die Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts hat sie gern als etwas objektiv Gestaltloses gesehen, in das erst der Mensch Ordnung bringt: der Geist, indem er es denkend formt, wie im Idealismus Kants; der Wille, indem er es, soweit seine Macht reicht, zur Welt gestaltet, wie in der Machtphilosophie Nietzsches... Die Welt kann aber auch so erfahren werden, daß ihr Eigentliches erst in der Begegnung mit den Dingen und Menschen herauskommt. Dann ist zwar schon in den Dingen wie auch im Innern des Menschen Ordnung. Diese reicht aber nicht hin, um die Welt im eigentlichen Sinne zu begründen; die entsteht erst im Raum der Begegnung. »Welt« ist also hier kein Fertig-Gegebenes, sondern etwas, was immerfort aufleuchtet, wird. Diese Auffassung scheint uns die richtige“[Guardini, Welt und Person, a.a.O., S. 77 f.].
Heideggers Rückgriff auf die „Heimat“ als Vorgriff auf den „letzten Gott“
So erstaunt es abschließend doch etwas, dass Heidegger nach diesem lebenslangen und auch keineswegs nur „latenten“ Gespräch bis 1968 seinen „lieben Freund“ und dessen Werk in seinen eigenen letzten, fast noch acht Lebensjahren geradezu zu „vergessen“ scheint. Umso verwunderlicher ist dies, weil er in einem seiner letzten Texte unter dem Titel „Der Fehl heiliger Namen“ (1974) am Beispiel des gemeinsam so geschätzten und gedeuteten Hölderlin die grundsätzlichen Fragen nach der Dichtung in der Zeit des „Fehlens“ noch einmal aufgreift und dabei das „Erblicken des Wegcharakters des Denkens“ an den Schluss setzt:
„Gewiß – das Erblicken des Wegcharakters des Denkens fällt der heute herrschenden Gewohnheit des Vorstellens schwer. Denn der Wegcharakter des Denkens ist allzu einfach und darum unzugangbar für das herrschende, in eine Unzahl von Methoden verstrickte „Denken“. Schon allein die Herrschaft der Dialektik jeglicher Art verstellt den Weg zum Wesen des Weges. Doch solange uns der Wegblick dafür versagt ist, daß und wie auch im Entzug und im Vorenthalt eine eigene Weise des Anwesens waltet, solange bleiben wir blind und unbetroffen vom bedrängenden Anwesen, das dem Fehl eignet, der den Namen des Heiligen und mit ihm dieses selbst in sich birgt, und jedoch verbirgt. Nur ein Aufenthalt in der offenen Gegend, aus der her der Fehl anwest, gewährt die Möglichkeit eines Einblickens in das, was heute ist, indem es fehlt“ (Martin Heidegger, Der Fehl heiliger Namen, in: ders., Aus der Erfahrung des Denkens, Gesamtausgabe, Bd. 13, S. 231-235).
Hatte er nicht 1952 genau dies auch Guardini gegenüber ausgedrückt, als er in einem Brief nach einem fruchtbaren Abendgespräch von der neuerlichen „Wanderschaft eines gemeinsamen Weges der Seel-Sorge“ gesprochen hat?
Angesichts der auch in den letzten Briefen und Postkarten Heideggers an Guardini durchscheinende „Sehnsucht“ nach „Geborgenheit im Letzten“, nach dem „Ankommen“ nach langem Weg, erhält Bernhard Weltes Erinnerung an ein letztes Gespräch am 14. Januar 1976, kurz vor seinem Tod, eine neue Bestätigung und Geltung:
„Das Thema der Heimat und der heimatlichen Menschen erhob sich für ihn mit erneuter Eindringlichkeit, als der Tod neu in den Horizont seines Denkens trat. Das „Vorlaufen zum Tod“ hatte er ja schon lange geübt und auch schon lange vom Tod als dem „Gebirg des Seins“ gesprochen. Aber ungefähr um die Zeit jenes Besuches ist der Tod neu und vielleicht wieder anders in den Horizont seines Denkens getreten. Es gibt von diesem Vorgang eine Reihe unscheinbarer Zeichen. Heidegger bereitete bedächtig und planmäßig seine Beisetzung vor, als noch niemand wußte, wann sie sein werde. Diese neue Erfahrung des Todes brachte eine neue Nähe zur Heimat. Darum wollte er dort und nirgends anders begraben sein. Und in diesen Zusammenhang gehört auch, daß er mich, seinen heimatlichen Landsmann, bat, an seinem Grabe zu sprechen. Jenes Gespräch im Wink der winkenden Heimat und im Schatten des auf neue Weise sich nahenden Todes kam auch bald und wie von selbst auf die religiöse Dimension. Nicht nur, weil ich in meiner Abhandlung, die den Anlaß jenes Gespräches bildete, die religiöse Dimension im Denken Heideggers deutlich zu machen versucht habe. Auch nicht nur, weil er von mir ohnehin ein religiöses Wort an seinem Grabe erwarten konnte. Das alles kam zusammen, aber auch diese merkwürdige Stunde selber und was sie umfaßte schien das Thema nahe zu legen. Wir sprachen auch über die Vorlesung, die ich damals hielt, es war eine Vorlesung über Meister Eckart, und so wieder ein religiöser Kontext. Mit Meister Eckhart war Heidegger auch seit langem vertraut. So fragte er im Laufe jenes Gespräches mit einer bedächtigen und ihres Weges sicheren Frage nach der Abgeschiedenheit im Sinne des Meisters Eckhart. Das Thema hatte eine verborgene Aktualität in dieser merkwürdigen Stunde. Es schwebte auch der eckhartische Gedanke im Raum, daß Gott dem Nichts gleich sei. Diese eckhartischen Gedanken waren nun in den Zusammenhang des Heimatlichen der Heimat und auch in den Zusammenhang der Nähe des Todes gerückt, so bildete die Stunde den Bereich, in dem auf eine besondere Art Himmel und Erde zusammengehörten, Sterbliche und Unsterbliche. Das Gesammelte des Gevierts lebte in der abendlichen Stunde und war versammelt um den, dem der Tod schon winkte" [Bernhard Welte, Erinnerung an ein spätes Gespräch. Suchen und Finden, in: Günther Neske (Hrsg.), Erinnerung an Martin Heidegger, 1977, S. 249 ff., hier S. 251; auch aufgenommen in: Martin Heidegger/Bernhard Welte, Briefe und Begegnungen, hrsg. von Alfred Denker, 2003, S. 149; und in: Bernhard Welte, Denken in Begegnung mit den Denkern, 2007, S. 210. Ähnlich erinnert sich Bernhard Welte in seiner Vorbemerkung, in: ders., Meister Eckhart. Gedanken zu seinen Gedanken, Freiburg i. Br. 1979: „Am 14. Januar 1976 hatte ich ein längeres Gespräch mit Martin Heidegger. Es war wenige Monate vor seinem Tod am 26. Mai 1976. Der nahe Tod winkte spürbar in das Gespräch herein. Wir sprachen dabei vor allem und eindringlich über die Sache des Meister Eckhart.“].
Diese Erinnerung Weltes führte Max Müller im Jahr 1994 zu einer Deutung der Gestalt des späten Heideggers, die so prägnant ist, dass auch sie hier noch angeführt sein soll [Max Müller/Wilhelm Vossenkuhl, Auseinandersetzung als Versöhnung, 1994, S. 109 f.]:
„Martin Heidegger hat jäh und schroff bei dem, was wir „Glauben“ nannten, diesen Dialog abgebrochen. Das Warum dieses Abbruchs mag biographisch erhellbar sein, ich würde es unter den Schutz der personalen Intimität und der unantastbaren Würde stellen, die auch der Historiker achten sollte, der Journalist allerdings aber vielleicht NICHT in gleicher Weise achten muß. Der Denker erfährt im Denken auch das Göttliche und bedenkt es auch. So ist wirkliches Denken religiös und auch fromm. Dies konzediert auch Heidegger und spricht ja ausdrücklich von der Frömmigkeit des Denkens“. Aber mit“ Glauben“ hat dies für ihn direkt nichts zu tun. Dies zeigt, wie er hier das Glaubensverständnis gewollt auf der doxologischen Ebene festbindet, auf der er in Hinsicht des Glaubens verharrt, wobei dies Verharren nicht der Grund seiner Ungläubigkeit ist, sondern die Folge seiner Stellung gegen die den Glauben verkündende Kirche, die den Glauben als „ihren“ Glauben und für Heidegger auch als „ihren“ Besitz verkündet.“
Nun macht Müller den „Unterschied des frommen oder religiösen Denkens vom Glauben, wie ihn Heidegger versteht“, an Heideggers Wunsch nach einem kirchlich-katholischen Begräbnis fest, dessen Möglichkeit und Wirklichkeit er aber angesichts des „nahen Todes“ mit Bernhard Welte besprechen wollte:
„Heidegger, der „fromm“ war, aber den Glauben der Kirche nicht mehr teilte, brauchte nun die Institution, die er in ihrer Funktion als Vermittlerin des Glaubens nicht mehr anerkennen konnte. Warum brauchte er sie? Es war sicher NICHT „Folklore“, wie ein nächster Angehöriger von ihm es meint, was ihn zum Wunsch der kirchlichen Beisetzung gebracht hat. Es war der Bezug zur „Heimat“, zu dem als integrierendem Bestandteil bisher diese Religion gehört hatte. „Heimat“ beim späten Heidegger ist aber nichts [109] Gemütsmäßiges, nicht einfach vorhandenes Milieu; sie ist die stete Aufgabe, in der radikalen Ungeborgenheit des Menschen je neu Bergung zu ermöglichen. Bergung des Menschen aber geschieht im Sein; die je neue Gestalt geschichtlicher Geborgenheit im Sein: das ist „Heimat“. Sie ist also ein anderer Name für das bergende Sein. Die neue geschichtliche Bergung aber fehlt uns heutigen, modernen Menschen völlig. Der „Fehl“ des Gottes und der „Fehl“ der Heimat sind parallel und analog. Da „Heimat“ nicht mehr „west“, da sie in ihrer uns heute notwendigen Gestalt sich „entzogen“ hat, muß in diesem „Interim“, in dem wir uns befinden, Gewesenes im Rückgriff jenes ersetzen, was wir nicht entbehren können und doch nicht mehr haben. Dieser Rückgriff muß echt an die Stelle des Vorgriffs auf den „letzten Gott“ treten, dessen „Wirken“ noch keine Gestalt annehmen will.“
Heidegger wurde mit dieser Haltung – so Max Müller – weder ein „Konvertit“, der nun angesichts des nahen Todes ein vorheriges „Renegat“-Sein um-wenden will. Da Heidegger niemals ein „Renegat“ gewesen sei, gab es jetzt auch keinen Grund für ein „Konvertit“-Sein. Vielmehr gelte bei Heidegger:
„Er blieb in seiner Frömmigkeit auf der Suche nach einer Gestalt der „heutigen“ Präsenz des Göttlichen. Dabei verwarf er (manchmal sogar in Gehässigkeit) geschichtliche Gestalten („Glaubensgestalten“) kirchlicher Form und fand doch keine andere Gestalt, die diese Frömmigkeit nicht erstickt oder pervertiert hätte. Und da ohne Gestalt die Erfahrung des Göttlichen diffus wird und verfließt, so ist im „Interim“, das für ihn ein „Advent“ war, die Krise zwischen Ehrfurcht – Zuneigung und Widerwillen – Abneigung nicht lösbar. Das Resultat war (als Resultat auch des Welte-Gespräches) jener positive „Kompromiß“ des Bleibens in dem, was nicht bleiben wird, aber vorläufig, „Bleibe“ bietet in der Zeit, wo der letzte Gott noch nicht da ist; an die Stelle des „Vor-Laufs“ ist hier also die „Vorläufigkeit“ getreten als Eingeständnis, daß wir in unserer radikalen Endlichkeit nicht uns geben können, was als reine Gabe uns bestimmt sein wird, wenn es auch heute noch erst sich uns ansagt.“
Dies war zumindest für Max Müller die Erklärung für Heideggers „letzten Willen und Entschluß“. Tatsächlich ist „Heimat“ somit einer der zentralen Begriffe des späten Heidegger, ihre Gefährdung und die notwendige Besinnung auf sie sein abschließendes Thema. Sogar seine letzte schriftliche Äußerung kurz vor seinem Tod, das Grußwort zur Meßkircher Ehrenbürgerfeier 1976 von Bernhard Welte, schließt mit diesem Gedanken. Nach dem Andenken an Erzbischof Dr. Conrad Gröber, dessen Gestalt für Heidegger und Welte „je verschiedener Zeit und auf je verschiedene Weise bestimmend“ geworden und gewesen sei, lud Heidegger die Teilnehmenden zu einem einmütigen „besinnlichen Geist“ ein:
„Denn es bedarf der Besinnung, ob und wie im Zeitalter der technisierten gleichförmigen Weltzivilisation noch Heimat sein kann“[Martin Heidegger, Grußwort (1976), in: ders., Aus der Erfahrung des Denkens. 1910-1976, Gesamtausgabe, Bd. 13, Teil 1, hrsg. von Hermann Heidegger, Frankfurt am Main 2002, S. 243].
Am 28. Mai 1976 wurde dieses Grußwort bei der nach der Beerdigung Heideggers am gleichen Tag stattfindenden Verleihung der Ehrenbürgerschaft an Bernhard Welte verlesen. Wenige Stunden zuvor hatte Welte auf Wunsch Heideggers die Grabrede bei seiner Beerdigung gehalten und dabei die Frage nach dem Verhältnis des Christentums zum Denkweg Heideggers ausdrücklich thematisiert:
„Ist es der Sache angemessen, Martin Heidegger christlich zu beerdigen? Ist es der Botschaft des Christentums angemessen, ist es dem Denkweg Heideggers angemessen? Er jedenfalls hat es gewünscht. Er hat auch sonst seine Verbindung zur Gemeinschaft der Glaubenden nie unterbrochen. Er ist freilich seinen eigenen Weg gegangen, und er hat ihn wohl gehen müssen, seinem Geheiß folgend, und man wird diesen Weg nicht ohne weiteres einen christlichen im üblichen Sinn des Wortes nennen können. Aber es war der Weg des vielleicht größten Suchenden dieses Jahrhunderts. Er suchte wartend und auf die Botschaft horchend den göttlichen Gott und seinen Glanz. Er suchte ihn auch in der Predigt Jesu. So darf man wohl über dem Grab dieses großen Suchers die Worte des Trostes des Evangeliums sprechen und die Gebete des Psalms ‚De profundis’, und das größte der Gebete, jenes, das Jesus uns gelehrt hat“[Hier zitiert nach: Alfred Denker/Elsbeth Büchin (Hrsg.), Martin Heidegger und seine Heimat, 2005, S. 20].
So bleibt am Ende nur Guardinis – gerade auch im Sterben und in der Trauer oft herangezogene – Zitat aus „Die letzten Dinge“ aus dem Jahr 1940:
„So ist der Tod das letzte Wagnis, an Christi Hand, in die große Verheißung hinüber. In all der Bedrängnis und Zerstörung, in all der Hilflosigkeit und Qual, die das Sterben bedeuten kann, ist das Sterben Christi enthalten – das aber ist die uns zugewendete Seite jenes Ganzen, dessen andere Seite Auferstehung heißt“[Romano Guardini, Die letzten Dinge (1940), Mainz 1989, S. 32].
Fazit
Somit kommen wir zum Ende dieser Gegenüber-Stellung. Es war letztlich nicht Aufgabe dieses Beitrags, dabei selber Stellung zu beziehen, ob und wie weit bestimmte Einschätzungen gegenüber Guardini und Heidegger bzw. ihrem gemeinsamen Weg abschließend zutreffen. Es ging lediglich darum aus vorwiegend historischer, biographischer und werkbiographischer Sicht die wichtigsten Schnittpunkte im Leben und im Werk der beiden Denker aufzuzeigen, um von dort ausgehend auch an die Punkte zu gelangen, von der aus die „Nachwelt“ sich den beiden Denkern annähern kann, ohne sie nur als „zeitlose“ „Steinbrüche“ oder „Stichwortgeber“ für die eigenen Positionen zu nehmen oder aber sie nur als „historische“, „überholte“, mehr oder weniger „erfüllte“ letztlich aber verstorbene Denker zu „behandeln“. Gleich, ob wir nun mit Guardini immer noch in der „Nach-Neuzeit“ unser „neues Mittelalter“ auf dem Weg zur „neuen Neuzeit“ suchen oder mit Heidegger über die fortdauernden Konsequenzen einer „Vollendung der Neuzeit“ nachdenken, gilt es, das verheißungsvolle „Faszinosum“, das ihrem Denken auch heute noch innewohnt, neu bewusst zu machen. Dass dabei immerhin über hundert archivalische Quellen neu oder wieder herangezogen und mit zahlreichen bereits publizierten Funden abgeglichen werden konnten, zeigt dass es sich in ihrer freundschaftlichen Beziehung keineswegs nur um ein „latentes“ Gespräch handelte, sondern die beiden Denker stärker und lebenslang aufeinander bezogen waren, als man dies bisher und gemeinhin angenommen hat.