Charakterlehre: Unterschied zwischen den Versionen

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Die '''Charakterlehre''' oder '''Charakterologie''' ist ein Werk Romano Guardinis, dessen Manuskript bzw. Typoskript wohl gegen Ende des Ersten Weltkriegs verschollen ist.
== Das Verhältnis von Gegensatzlehre und Charakterlehre ==
Die Charakterlehre spielt bereits in einem ersten überlieferten Brief an Josef Weiger vom 15. Mai 1908 eine Rolle (1. Brief vom 15.05.1908, Schmitten im Taunus, in: a.a.O., S. 38):
* '''„Unsere Charakterologie hat seit der Zeit beträchtliche Fortschritte gemacht. Hier einige kurze Angaben. – Liegt eine längere Zeit dazwischen. Weißt du, was eine höchst komische und erbauliche Erscheinung ist? Ein nassgeregneter Gockel, der sich aufrichtet und imponieren will. Hab' ich heute gesehen. In Parenthesi. – Wir haben dieses Beobachtungsschema des psychol. Lebens aufgestellt:
** I. Theor. Erkennen ? u. seine Aussprache: [Wort*22], Stil, Darstellungsweise ...
** II. Phantasie ? Aussprache in Wort, Bild; wenn künstlerische Phantasie, d. h. Gestaltungskraft dabei ist, Ausspr. im Kunstwerk.
** III. Praktisches Beurteilungsvermögen, d.h. schnelle, blitzhafte, mit der bestimmten, praktischen Veranlagung verbundene [Fähigkeit*23], Beurteilung der Lage und Anwendung bekannter Regeln. Diagnose und Einordnung des »Falles«. Betätigung in d. ärztlichen, Richterlichen, kaufmännischen Technik. ? was liegt vor, was hat zu geschehen?
** IV. Schöpferisches Beurteilungsvermögen, d.h. der »Blick«, der sieht, was aus Gegebenem gemacht, wie es gestaltet werden könnte; aber keine reine Kunst, weil der Zweckgedanke wesentlich dabei ist; Betätigung: Schöpferische Technik: Pädagogik, Didaktik, Staatenbildung ... was liegt vor, was kann man daraus machen?
** V. Wille.
** VI. Gefühl
** VII. u. ff. äußere Haltung, Verkehr mit Menschen, ... (noch nicht festgestellt)"''
Anschließend berichtet er von den Typen A, B, Ca und Cb:
* ''"Den Typ A und B kennst Du: der abstrakt und der anschaulich Denkende. Nun scheint der Typ C, der Willensmensch, so gebaut zu sein, dass in A oder B das Willensleben sehr stark und alles betonend auftritt; und so entstehen dann Ca, der kalte, abstrakt denkende Willensmensch (Beispiel: Hobbes, denke ich.) und Cb, der warm-leidenschaftliche, anschaulich denkende, phantasievolle (etwa Luther und, wohl Joseph Weiger. Übrigens scheint mir Paul [nicht ermittelt] hieher zu gehören; nur tritt in ihm das theoretische Interesse ? das bei C ja genau so da sein kann wie für A od. B, nur dass es sich auf bestimmte Probleme richtet ? gegenüber dem praktischen stark zurück.) Hiedurch ist die Schwierigkeit ge[legt?], die uns so beschäftigte: C hat keine besondere Denk-Technik neben der von A und B, kein »wertendes Denken«, sondern er denkt wie A oder B; nur richtet sich sein Interesse ganz auf die Wert- und Zweckprobleme. Je nachdem nun das betreffende Indiv. mehr theoret. oder prakt. oder künstlerisch veranlagt ist, tritt I oder II oder III, IV mehr hervor.“ Außerdem verweist er darauf, dass Frau Schleußner eine Typologie aufgestellt habe, in der sie drei weibliche und drei männliche Typen aufgestellt habe, die einander "ganz gleichgeordnet" seien und "sich mit ihnen zu Freundschaft oder Ehe ergänzen."
In seinem Brief vom 17./18. März 1912, also knapp vier Jahre später schrieb er von seinem Plan ''„vor Ostern... die Charakterlehre”'' zu formulieren, die aber ''„nun freilich von recht schwierigen und noch ungelösten Fragen”'' wimmle (11. Brief vom 17./ 18. März 1912, Worms, in: Briefe an Josef Weiger, a.a.O., S. 65. Vgl. dazu: Gerl-Falkovitz, Hanna-Barbara: Ein erster Blick auf Briefe Guardinis an Weiger, in: Brief aus Mooshausen, Februar 1997, 1, S. 6). Und am 25. Juni desselben Jahres ergänzt Guardini: ''„Ich hatte begonnen, die Charakterlehre festzulegen, bin aber auf sehr große Schwierigkeiten gestoßen. Jetzt liegt sie wieder in actis.“'' (12. Brief vom 25.06.1912, Mainz, S. 67)
1912 lag aber schon ein verschriftlichter Entwurf der Gegensatzlehre vor (siehe Archiv Mooshausen), der dann als Grundlage für eine erste Veröffentlichung im Jahr 1914 diente. Die Charakterlehre wurde also neben der Gegensatzlehre weiter entwickelt.
Im Rückblick auf sein Leben berichtete Guardini von einer mit dem Freund Karl Neundörfer begonnenen Studie im Anschluss an die Gegensatzlehre: „Darauf hatten wir eine Theorie der psychologischen Typen, denen Grundstrukturen des kulturellen Lebens entsprechen sollten, aufgebaut.“ (Berichte über mein Leben, S. 27) Zuerst war also eine Gegensatzlehre vorgelegen und darauf ruhte eine typologische Charakterlehre auf. Daher unterliegt Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz in ihrem Kommentar bzw. den Anmerkungen zu den Briefen an Josef Weiger bezüglich der Eigenständigkeit einem Irrtum, wenn sie meint, dass die Rede von der „Charakterlehre“ „häufig begleitet von Hinweisen auf die entstehende Gegensatzlehre“ sei, und mutmaßt, dass die Gegensatzlehre „ursprünglich als Charakterlehre angelegt scheint und deren grundlegende Bedeutung für Guardinis Denken damit neu akzentuiert werden kann.“ (FN 132)
== Ein Russe und seine wissenschaftliche Grundlegung der Charakterlehre ==
Im April 1913 berichtet er in einem weiteren Brief an Weiger: ''“Heute lese ich, ich weiß selbst nicht, ob mit Missbehagen, oder Genugtuung, mehr mit ersterem, dass ein Russe ein Buch zur wissenschaftlichen Grundlegung der Charakterlehre geschrieben hat. Ich bin ja darauf gefasst, dass uns die Sache vorweggenommen wird, denn diese Gedanken liegen in der Luft; aber es ist doch nicht gerade erfreulich.”'' (23. Brief vom 10. April 1913, Freiburg, in: Briefe an Josef Weiger, a.a.O., S. 91).
Es ist nicht ganz leicht auszumachen, wer dieser Russe des Briefes vom April 1913 sein könnte, von dem ein Buch als "wissenschaftliche Grundlegung der Charakterlehre" erschienen ist, und wo Guardini davon gelesen haben könnte. Er hätte aber durchaus über Heinrich Rickert und die Zeitschrift „Logos“ in Freiburg von den wissenschaftlichen Aktivitäten eines „Russen“ erfahren können, dass einer dieser russischen "Symbolisten" zu dieser Zeit an einer „Charakterlehre“ arbeitete. Denn in Heidelberg existierte ein deutsch-russischer Freundeskreis von Philosophen, zu dem von deutscher Seite Heinrich Rickert, Wilhelm Windelband, Ernst Troeltsch, Georg Simmel und Max Weber gehörte, von russischer Seite später vor allem auch [[Nikolaj Alexandrowitsch Berdjajew]]. Bei Windelband und Rickert in Heidelberg und Freiburg haben darüber hinaus in dieser Zeit fünf Freunde studiert und promoviert, darunter zwei Russen, [[Nikolai von Bubnov]] (1880-1962) und [[Sergius Hessen]] (1887-1950), ein deutschstämmiger Russe, [[Fedor Stepun]], sowie die Deutschen Richard Kroner und Georg Mehlis. Dieser Freundeskreis gründete 1910 die Zeitschrift „Logos“  mit dem Untertitel „Internationale Zeitschrift für Philosophie und Kultur“. Dabei sollten die nationalen Redaktionen von einer internationalen Kommission geleitet werden. 1913 kam eine italienische Version hinzu. Von diesem Kreis ist in unserem Kontext vor allem Fedor Stepun näher zu betrachten. Berdjajew und Stepun haben sich darüber hinaus in der ökumenischen Bewegung und in der Russischen Christlichen Studentenbewegung aktiv engagiert und gaben gemeinsam die allerdings nur kurzlebige Zeitschrift „Utverzhdenie“ heraus. Eine etwas eigenständige Rolle hat der russisch-orthodoxe Theologe [[Nikolaus S. von Arseniew]].
Im Zuge des besagten Freundeskreises haben in Heidelberg in diesen Jahren dann  zahlreiche weitere Philosophen aus Russland studiert und promoviert, die nach ihrer Rückkehr nach Russland weiter Kontakte zu den Freiburger und Heidelberger Kollegen und begründeten dort einen Kreis von Russischen Symbolisten und Religionsphilosophen. [[Andrej Belyj]] (1880-1934) zum Beispiel gilt als Anführer der von Solowjew beeinflussten Moskauer „jüngeren Symbolisten“. Zu diesem Kreis gehörte neben den Genannten noch [[Alexander Blok]] (1880-1921), [[Simon Ludwig Frank]] und [[Viacheslav Ivanov]] (1866-1949) sowie [[Boris Pasternak]] (1890-1960). Hierbei ist vor allem Simon Ludwig Frank für Guardini interessant.
=== Alexandr Lazurskijs charakterologische Arbeiten ===
Vom Titel „Charakterlehre“ ausgehend käme im engeren Sinne eigentlich nur [[Alexandr Fedorovic Lazurskij]], auch Aleksandr Fedorovich Lazurskij oder Alexander Lazurski bzw. Lasursky (1874-1917) in Frage. Dieser lehrte an der Medizinischen Militärakademie und an der Universität in Petersburg lehrte. Er kam von der Medizin her, wandte sich aber vor allem der Psychologie zu. Er spielte tatsächlich in diesem Zeitraum eine große Rolle in der Charakterologie, vor allem wegen seiner Lehre vom und seiner „Klassifizierung der Charaktere“. Lasurski untersuchte vor allem Fragen zur Charakterologie erwachsener Personen, aber auch zu Schülern (Geistige Welt, 1954, Bd. 5, S. 71). 1909 wird in der „Zeitschrift für angewandte Psychologie und Charakterkunde“ von einem Vortrag über „Charakterlehre“ des damaligen Privatdozenten Lasurski berichtet (Zeitschrift für angewandte Psychologie und Charakterkunde, 1909, S. 302: „3. Privatdoz. A. LASURSKY, Charakterlehre.“). Und 1911 wird in der „Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung“ darüber berichtet, dass Lasurski zusammen mit anderen durch das sogenannte „Natur-Experiment“ Fortschritte in der experimentellen Pädagogik erzielt habe, insbesondere bei der „Klassifikation verschiedener Charaktere“ (Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung, 1911, S. 178 und S. 384).
Einen dieser Texte könnte Guardini also gelesen haben. Das nachfolgende Buch kommt als direkte Informationsquelle aufgrund der Formulierung Guardinis nicht in Frage. Und die zugehörigen Rezensionen des Buches dürften für den Brief an Josef Weiger zu spät publiziert zu sein, um in Frage zu kommen:
1912 erschien nämlich von Alexandr Lasurskij die von N. Gadd bewerkstelligte Übersetzung seines Werks „Über das Studium der Individualität“ als Band 14 der von Meumann herausgegebenen „Pädagogischen Monographien“ (Leipzig 1912). Es ist „dem Andenken des großen Menschenkenners Fedor Michailowitsch Dostojewskij“ gewidmet und enthält ein „Programm der Untersuchung der Persönlichkeit Beziehungen zur Umgebung von S. Franck und A. Lasurski.“ Auf S. 129 heißt es darin: ''"Endlich bilden komplizierte Kombinationen von Typen, sowohl der endo- als auch der exopsychischen, indem sie sich mehr oder weniger in derselben Form wiederholen, typische Charaktere, die wir, indem wir eine Klassifikation der Charaktere aufstellen, miteinander vergleichen. So erscheint denn der Name der "Charakterologie" oder vielleicht "Typologie" im Grunde passender, als der Terminus "Individualpsychologie", und wenn wir diesen letzten dennoch gebrauchen, so geschieht es nur, weil er eine andere, nicht weniger wichtige Seite der Sache betont, nämlich — die Notwendigkeit, individuelle Differenzen festzustellen."''
1913 wurde diese Schrift dann in der „Zeitschrift für pädagogische Psychologie und experimentelle Pädagogik“ rezensiert: "Die Schrift gibt Zeugnis von der neuerdings in der russischen Hauptstadt staatlicherseits systematisch geförderten pädagogisch-psychologischen Forschungsarbeit. Die Aufgabe, die der Verfasser sich stellt, ist auf die Bestimmung des Begriffs der menschlichen Persönlichkeit gerichtet, um zu einer möglichst erschöpfenden Charakteristik zu gelangen. Die erstere umfaßt nach ihm zwei Seiten, eine subjektive, endopsychische‚ in der psychophysischen Organisation, und daneben als ebenso wesentlich eine objektive, exopsychische, in dem Gepräge, das dem Menschen durch die Einflüsse seiner Umgebung (im weitesten Umfange) aufgedrückt wird, bestehende. Zur Lösung jener Aufgabe gesteht der Verfasser der in unsrer Zeit vorzugsweise geübten experimentellen Untersuchung nur beschränkte Bedeutung zu; an deren Stelle will er eine systematisch geführte objektive oder äußere Beobachtungsmethode angewandt wissen, wenngleich er auch jene in zweckentsprechender Weise mit heranzieht." (Zeitschrift für pädagogische Psychologie und experimentelle Pädagogik, 1913, S. 238 f.)
Auch Karl Jaspers bespricht die Arbeit 1913 für die „Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie“ (Karl Jaspers: Lasurski: Über das Studíum der Individualität. Pädagogische Monographien 14. Leipzig: Nennich, 1912, in: Kritische Referate, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. Referate und Ergebnisse. Berlin, Göttingen, Heidelberg, 6/1913, S. 1144 f.).
Und schließlich widmete die vom Vizepräsident des Koblenzer Provinzialschulkollegiums Max Siebourg und vom Berliner Gymnasialdirektor Paul Lorentz herausgegebene „Monatsschrift für höhere Schulen“ dem Buch eine Besprechung (Monatsschrift für höhere Schulen, 12, 1913, S. 577-583). Laut dem Rezensenten Fr. Heußner enthalte das Buch von Lasurski reichen Stoff für das Thema der Schülercharakteristiken, die man auch Individualitäts- oder Schülerbilder nenne (S. 577). Er führt dies im folgenden noch weiter aus.
Auch die nachfolgenden Rezensionen in der „Zeitschrift für angewandte Psychologie und Charakterkunde“ (1914, S. 335 f.), im "Pädagogisches Archiv" (56, 1914, S. 116 ff.) und in "Die Grenzboten" (73, 1914, Bd. 1, S. 575 f.) sehen das Buch trotz des Titels als Charakterologie bzw. Charakterlehre. Offensichtlich hielt Lasurskij 1914 auch ein Referat mit dem Titel "Abriß einer Wissenschaft der Charaktere", zumindest berichtet das „Archiv für die gesamte Psychologie“ davon (32, 1914, S. 163). Als Lasurskij dann 1917 mit nur 43 Jahren starb erschien in der "Zeitschrift für pädagogische Psychologie und Jugendkunde" ein Nachruf (1917, S. 416-419) berichtet davon, dass dieser „auch in den deutschen Fachkreisen“ geschätzte Professor als "erste Frucht seiner theoretischen Erwägungen über dieses Problem und der zu seiner Erforschung angestellten Versuche" 1906 e"in großes Werk unter dem Titel: „Grundriß der Charakterologie" (Ocerk nauki o charakterach)" erschienen sei, das auch noch mehrere Auflagen erlebt habe. "In diesem Buche versucht Lasurski, eine Wissenschaft von den Charakteren auf rein erfahrungsmäßiger Grundlage aufzubauen, wobei ihm als Ausgangspunkt die Klassifikation der Charaktere gilt, jedoch nicht auf Grund aprioristischer Erwägungen oder Schlußfolgerungen aus psychologischen Theorien, sondern auf Grund von Beobachtungen und Versuchen an den tatsächlich aufgefundenen Wechselbeziehungen der psychischen Fähigkeiten bei verschiedenen Personen."
Außer in den beiden erwähnten Büchern hatte Lasurskij seine Anschauungen wohl auch in einer Reihe von Aufsätzen vorgestellt, die in den einschlägigen Zeitschriften „Wjestnik Psichologie" und „Woprossy filosofii i psichologii" erschienen sind.
''wird noch weiter ergänzt''
[[Kategorie:Verschollene Werke]]
[[Kategorie:Verschollene Werke]]

Version vom 26. Oktober 2024, 23:42 Uhr

Die Charakterlehre oder Charakterologie ist ein Werk Romano Guardinis, dessen Manuskript bzw. Typoskript wohl gegen Ende des Ersten Weltkriegs verschollen ist.

Das Verhältnis von Gegensatzlehre und Charakterlehre

Die Charakterlehre spielt bereits in einem ersten überlieferten Brief an Josef Weiger vom 15. Mai 1908 eine Rolle (1. Brief vom 15.05.1908, Schmitten im Taunus, in: a.a.O., S. 38):

  • „Unsere Charakterologie hat seit der Zeit beträchtliche Fortschritte gemacht. Hier einige kurze Angaben. – Liegt eine längere Zeit dazwischen. Weißt du, was eine höchst komische und erbauliche Erscheinung ist? Ein nassgeregneter Gockel, der sich aufrichtet und imponieren will. Hab' ich heute gesehen. In Parenthesi. – Wir haben dieses Beobachtungsschema des psychol. Lebens aufgestellt:
    • I. Theor. Erkennen ? u. seine Aussprache: [Wort*22], Stil, Darstellungsweise ...
    • II. Phantasie ? Aussprache in Wort, Bild; wenn künstlerische Phantasie, d. h. Gestaltungskraft dabei ist, Ausspr. im Kunstwerk.
    • III. Praktisches Beurteilungsvermögen, d.h. schnelle, blitzhafte, mit der bestimmten, praktischen Veranlagung verbundene [Fähigkeit*23], Beurteilung der Lage und Anwendung bekannter Regeln. Diagnose und Einordnung des »Falles«. Betätigung in d. ärztlichen, Richterlichen, kaufmännischen Technik. ? was liegt vor, was hat zu geschehen?
    • IV. Schöpferisches Beurteilungsvermögen, d.h. der »Blick«, der sieht, was aus Gegebenem gemacht, wie es gestaltet werden könnte; aber keine reine Kunst, weil der Zweckgedanke wesentlich dabei ist; Betätigung: Schöpferische Technik: Pädagogik, Didaktik, Staatenbildung ... was liegt vor, was kann man daraus machen?
    • V. Wille.
    • VI. Gefühl
    • VII. u. ff. äußere Haltung, Verkehr mit Menschen, ... (noch nicht festgestellt)"

Anschließend berichtet er von den Typen A, B, Ca und Cb:

  • "Den Typ A und B kennst Du: der abstrakt und der anschaulich Denkende. Nun scheint der Typ C, der Willensmensch, so gebaut zu sein, dass in A oder B das Willensleben sehr stark und alles betonend auftritt; und so entstehen dann Ca, der kalte, abstrakt denkende Willensmensch (Beispiel: Hobbes, denke ich.) und Cb, der warm-leidenschaftliche, anschaulich denkende, phantasievolle (etwa Luther und, wohl Joseph Weiger. Übrigens scheint mir Paul [nicht ermittelt] hieher zu gehören; nur tritt in ihm das theoretische Interesse ? das bei C ja genau so da sein kann wie für A od. B, nur dass es sich auf bestimmte Probleme richtet ? gegenüber dem praktischen stark zurück.) Hiedurch ist die Schwierigkeit ge[legt?], die uns so beschäftigte: C hat keine besondere Denk-Technik neben der von A und B, kein »wertendes Denken«, sondern er denkt wie A oder B; nur richtet sich sein Interesse ganz auf die Wert- und Zweckprobleme. Je nachdem nun das betreffende Indiv. mehr theoret. oder prakt. oder künstlerisch veranlagt ist, tritt I oder II oder III, IV mehr hervor.“ Außerdem verweist er darauf, dass Frau Schleußner eine Typologie aufgestellt habe, in der sie drei weibliche und drei männliche Typen aufgestellt habe, die einander "ganz gleichgeordnet" seien und "sich mit ihnen zu Freundschaft oder Ehe ergänzen."

In seinem Brief vom 17./18. März 1912, also knapp vier Jahre später schrieb er von seinem Plan „vor Ostern... die Charakterlehre” zu formulieren, die aber „nun freilich von recht schwierigen und noch ungelösten Fragen” wimmle (11. Brief vom 17./ 18. März 1912, Worms, in: Briefe an Josef Weiger, a.a.O., S. 65. Vgl. dazu: Gerl-Falkovitz, Hanna-Barbara: Ein erster Blick auf Briefe Guardinis an Weiger, in: Brief aus Mooshausen, Februar 1997, 1, S. 6). Und am 25. Juni desselben Jahres ergänzt Guardini: „Ich hatte begonnen, die Charakterlehre festzulegen, bin aber auf sehr große Schwierigkeiten gestoßen. Jetzt liegt sie wieder in actis.“ (12. Brief vom 25.06.1912, Mainz, S. 67)

1912 lag aber schon ein verschriftlichter Entwurf der Gegensatzlehre vor (siehe Archiv Mooshausen), der dann als Grundlage für eine erste Veröffentlichung im Jahr 1914 diente. Die Charakterlehre wurde also neben der Gegensatzlehre weiter entwickelt.

Im Rückblick auf sein Leben berichtete Guardini von einer mit dem Freund Karl Neundörfer begonnenen Studie im Anschluss an die Gegensatzlehre: „Darauf hatten wir eine Theorie der psychologischen Typen, denen Grundstrukturen des kulturellen Lebens entsprechen sollten, aufgebaut.“ (Berichte über mein Leben, S. 27) Zuerst war also eine Gegensatzlehre vorgelegen und darauf ruhte eine typologische Charakterlehre auf. Daher unterliegt Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz in ihrem Kommentar bzw. den Anmerkungen zu den Briefen an Josef Weiger bezüglich der Eigenständigkeit einem Irrtum, wenn sie meint, dass die Rede von der „Charakterlehre“ „häufig begleitet von Hinweisen auf die entstehende Gegensatzlehre“ sei, und mutmaßt, dass die Gegensatzlehre „ursprünglich als Charakterlehre angelegt scheint und deren grundlegende Bedeutung für Guardinis Denken damit neu akzentuiert werden kann.“ (FN 132)

Ein Russe und seine wissenschaftliche Grundlegung der Charakterlehre

Im April 1913 berichtet er in einem weiteren Brief an Weiger: “Heute lese ich, ich weiß selbst nicht, ob mit Missbehagen, oder Genugtuung, mehr mit ersterem, dass ein Russe ein Buch zur wissenschaftlichen Grundlegung der Charakterlehre geschrieben hat. Ich bin ja darauf gefasst, dass uns die Sache vorweggenommen wird, denn diese Gedanken liegen in der Luft; aber es ist doch nicht gerade erfreulich.” (23. Brief vom 10. April 1913, Freiburg, in: Briefe an Josef Weiger, a.a.O., S. 91).

Es ist nicht ganz leicht auszumachen, wer dieser Russe des Briefes vom April 1913 sein könnte, von dem ein Buch als "wissenschaftliche Grundlegung der Charakterlehre" erschienen ist, und wo Guardini davon gelesen haben könnte. Er hätte aber durchaus über Heinrich Rickert und die Zeitschrift „Logos“ in Freiburg von den wissenschaftlichen Aktivitäten eines „Russen“ erfahren können, dass einer dieser russischen "Symbolisten" zu dieser Zeit an einer „Charakterlehre“ arbeitete. Denn in Heidelberg existierte ein deutsch-russischer Freundeskreis von Philosophen, zu dem von deutscher Seite Heinrich Rickert, Wilhelm Windelband, Ernst Troeltsch, Georg Simmel und Max Weber gehörte, von russischer Seite später vor allem auch Nikolaj Alexandrowitsch Berdjajew. Bei Windelband und Rickert in Heidelberg und Freiburg haben darüber hinaus in dieser Zeit fünf Freunde studiert und promoviert, darunter zwei Russen, Nikolai von Bubnov (1880-1962) und Sergius Hessen (1887-1950), ein deutschstämmiger Russe, Fedor Stepun, sowie die Deutschen Richard Kroner und Georg Mehlis. Dieser Freundeskreis gründete 1910 die Zeitschrift „Logos“ mit dem Untertitel „Internationale Zeitschrift für Philosophie und Kultur“. Dabei sollten die nationalen Redaktionen von einer internationalen Kommission geleitet werden. 1913 kam eine italienische Version hinzu. Von diesem Kreis ist in unserem Kontext vor allem Fedor Stepun näher zu betrachten. Berdjajew und Stepun haben sich darüber hinaus in der ökumenischen Bewegung und in der Russischen Christlichen Studentenbewegung aktiv engagiert und gaben gemeinsam die allerdings nur kurzlebige Zeitschrift „Utverzhdenie“ heraus. Eine etwas eigenständige Rolle hat der russisch-orthodoxe Theologe Nikolaus S. von Arseniew.

Im Zuge des besagten Freundeskreises haben in Heidelberg in diesen Jahren dann zahlreiche weitere Philosophen aus Russland studiert und promoviert, die nach ihrer Rückkehr nach Russland weiter Kontakte zu den Freiburger und Heidelberger Kollegen und begründeten dort einen Kreis von Russischen Symbolisten und Religionsphilosophen. Andrej Belyj (1880-1934) zum Beispiel gilt als Anführer der von Solowjew beeinflussten Moskauer „jüngeren Symbolisten“. Zu diesem Kreis gehörte neben den Genannten noch Alexander Blok (1880-1921), Simon Ludwig Frank und Viacheslav Ivanov (1866-1949) sowie Boris Pasternak (1890-1960). Hierbei ist vor allem Simon Ludwig Frank für Guardini interessant.

Alexandr Lazurskijs charakterologische Arbeiten

Vom Titel „Charakterlehre“ ausgehend käme im engeren Sinne eigentlich nur Alexandr Fedorovic Lazurskij, auch Aleksandr Fedorovich Lazurskij oder Alexander Lazurski bzw. Lasursky (1874-1917) in Frage. Dieser lehrte an der Medizinischen Militärakademie und an der Universität in Petersburg lehrte. Er kam von der Medizin her, wandte sich aber vor allem der Psychologie zu. Er spielte tatsächlich in diesem Zeitraum eine große Rolle in der Charakterologie, vor allem wegen seiner Lehre vom und seiner „Klassifizierung der Charaktere“. Lasurski untersuchte vor allem Fragen zur Charakterologie erwachsener Personen, aber auch zu Schülern (Geistige Welt, 1954, Bd. 5, S. 71). 1909 wird in der „Zeitschrift für angewandte Psychologie und Charakterkunde“ von einem Vortrag über „Charakterlehre“ des damaligen Privatdozenten Lasurski berichtet (Zeitschrift für angewandte Psychologie und Charakterkunde, 1909, S. 302: „3. Privatdoz. A. LASURSKY, Charakterlehre.“). Und 1911 wird in der „Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung“ darüber berichtet, dass Lasurski zusammen mit anderen durch das sogenannte „Natur-Experiment“ Fortschritte in der experimentellen Pädagogik erzielt habe, insbesondere bei der „Klassifikation verschiedener Charaktere“ (Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung, 1911, S. 178 und S. 384).

Einen dieser Texte könnte Guardini also gelesen haben. Das nachfolgende Buch kommt als direkte Informationsquelle aufgrund der Formulierung Guardinis nicht in Frage. Und die zugehörigen Rezensionen des Buches dürften für den Brief an Josef Weiger zu spät publiziert zu sein, um in Frage zu kommen:

1912 erschien nämlich von Alexandr Lasurskij die von N. Gadd bewerkstelligte Übersetzung seines Werks „Über das Studium der Individualität“ als Band 14 der von Meumann herausgegebenen „Pädagogischen Monographien“ (Leipzig 1912). Es ist „dem Andenken des großen Menschenkenners Fedor Michailowitsch Dostojewskij“ gewidmet und enthält ein „Programm der Untersuchung der Persönlichkeit Beziehungen zur Umgebung von S. Franck und A. Lasurski.“ Auf S. 129 heißt es darin: "Endlich bilden komplizierte Kombinationen von Typen, sowohl der endo- als auch der exopsychischen, indem sie sich mehr oder weniger in derselben Form wiederholen, typische Charaktere, die wir, indem wir eine Klassifikation der Charaktere aufstellen, miteinander vergleichen. So erscheint denn der Name der "Charakterologie" oder vielleicht "Typologie" im Grunde passender, als der Terminus "Individualpsychologie", und wenn wir diesen letzten dennoch gebrauchen, so geschieht es nur, weil er eine andere, nicht weniger wichtige Seite der Sache betont, nämlich — die Notwendigkeit, individuelle Differenzen festzustellen."

1913 wurde diese Schrift dann in der „Zeitschrift für pädagogische Psychologie und experimentelle Pädagogik“ rezensiert: "Die Schrift gibt Zeugnis von der neuerdings in der russischen Hauptstadt staatlicherseits systematisch geförderten pädagogisch-psychologischen Forschungsarbeit. Die Aufgabe, die der Verfasser sich stellt, ist auf die Bestimmung des Begriffs der menschlichen Persönlichkeit gerichtet, um zu einer möglichst erschöpfenden Charakteristik zu gelangen. Die erstere umfaßt nach ihm zwei Seiten, eine subjektive, endopsychische‚ in der psychophysischen Organisation, und daneben als ebenso wesentlich eine objektive, exopsychische, in dem Gepräge, das dem Menschen durch die Einflüsse seiner Umgebung (im weitesten Umfange) aufgedrückt wird, bestehende. Zur Lösung jener Aufgabe gesteht der Verfasser der in unsrer Zeit vorzugsweise geübten experimentellen Untersuchung nur beschränkte Bedeutung zu; an deren Stelle will er eine systematisch geführte objektive oder äußere Beobachtungsmethode angewandt wissen, wenngleich er auch jene in zweckentsprechender Weise mit heranzieht." (Zeitschrift für pädagogische Psychologie und experimentelle Pädagogik, 1913, S. 238 f.)

Auch Karl Jaspers bespricht die Arbeit 1913 für die „Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie“ (Karl Jaspers: Lasurski: Über das Studíum der Individualität. Pädagogische Monographien 14. Leipzig: Nennich, 1912, in: Kritische Referate, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. Referate und Ergebnisse. Berlin, Göttingen, Heidelberg, 6/1913, S. 1144 f.).

Und schließlich widmete die vom Vizepräsident des Koblenzer Provinzialschulkollegiums Max Siebourg und vom Berliner Gymnasialdirektor Paul Lorentz herausgegebene „Monatsschrift für höhere Schulen“ dem Buch eine Besprechung (Monatsschrift für höhere Schulen, 12, 1913, S. 577-583). Laut dem Rezensenten Fr. Heußner enthalte das Buch von Lasurski reichen Stoff für das Thema der Schülercharakteristiken, die man auch Individualitäts- oder Schülerbilder nenne (S. 577). Er führt dies im folgenden noch weiter aus.

Auch die nachfolgenden Rezensionen in der „Zeitschrift für angewandte Psychologie und Charakterkunde“ (1914, S. 335 f.), im "Pädagogisches Archiv" (56, 1914, S. 116 ff.) und in "Die Grenzboten" (73, 1914, Bd. 1, S. 575 f.) sehen das Buch trotz des Titels als Charakterologie bzw. Charakterlehre. Offensichtlich hielt Lasurskij 1914 auch ein Referat mit dem Titel "Abriß einer Wissenschaft der Charaktere", zumindest berichtet das „Archiv für die gesamte Psychologie“ davon (32, 1914, S. 163). Als Lasurskij dann 1917 mit nur 43 Jahren starb erschien in der "Zeitschrift für pädagogische Psychologie und Jugendkunde" ein Nachruf (1917, S. 416-419) berichtet davon, dass dieser „auch in den deutschen Fachkreisen“ geschätzte Professor als "erste Frucht seiner theoretischen Erwägungen über dieses Problem und der zu seiner Erforschung angestellten Versuche" 1906 e"in großes Werk unter dem Titel: „Grundriß der Charakterologie" (Ocerk nauki o charakterach)" erschienen sei, das auch noch mehrere Auflagen erlebt habe. "In diesem Buche versucht Lasurski, eine Wissenschaft von den Charakteren auf rein erfahrungsmäßiger Grundlage aufzubauen, wobei ihm als Ausgangspunkt die Klassifikation der Charaktere gilt, jedoch nicht auf Grund aprioristischer Erwägungen oder Schlußfolgerungen aus psychologischen Theorien, sondern auf Grund von Beobachtungen und Versuchen an den tatsächlich aufgefundenen Wechselbeziehungen der psychischen Fähigkeiten bei verschiedenen Personen."

Außer in den beiden erwähnten Büchern hatte Lasurskij seine Anschauungen wohl auch in einer Reihe von Aufsätzen vorgestellt, die in den einschlägigen Zeitschriften „Wjestnik Psichologie" und „Woprossy filosofii i psichologii" erschienen sind.

wird noch weiter ergänzt