Romano Guardini und Paul Ludwig Landsberg: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 11. Dezember 2024, 18:05 Uhr
1. Bonn – Freiburg – Maria Laach – Köln (1920-1922)
Das Elternhaus
Paul Ludwig Landsberg hatte 1920 in Bonn sein Abitur gemacht und stammte aus einer gut vernetzten Familie. Im Freundeskreis der Familien Landsberg sowie von Paul Silverberg (vgl. zu ihm Boris Gehlen: Paul Silverberg (1876-1959), 2007) verkehrten unter anderem Pferdmenges, Wassermann, Jacob Goldschmidt, Oscar Schlitter, Konrad Adenauer, Carl Duisberg, Hermann Hüffer (Volker Siebels: Ernst Landsberg (1860-1927). Ein jüdischer Gelehrter im Kaiserreich, 2011, S. 134).
Zwischen Sozialismus, Jugendbewegung und George-Kreis
Des jungen Landsbergs Abituraufsatz über Hamlets berühmten Ausspruch: „Die Zeit ist aus den Fugen; Schmach und Gram, daß ich zur Welt, sie einzurichten, kam.“ löste aufgrund des für sozialistisch erachteten Inhalts einen Schulskandal aus (Vgl. Stephan Moebius: Paul Ludwig Landsberg - ein vergessener Soziologe? Zu Leben, Werk, Wis-sens- und Kultursoziologie Paul Ludwig Landsbergs. in: Sociologia Internationalis, 41, 2003, 1, S. 77-112, hier S. 81). Zudem hatte er tatsächlich Kontakte zu Sozialisten, allerdings auch zur Jugendbewegung. So war er unter anderem Mitglied in der Bonner Alt-Wandervogel-Gruppe und arbeitete an der Zeitschrift „Freideutschen Jugend“ mit (z.B. Paul Landsberg: Rezension zu Meinecke, Friedrich: Die Bedeutung der geschichtlichen Welt und des Geschichtsunterrichtes für die Bildung der Einzelpersönlichkeit, in: Freideutsche Jugend, 5, 1919, S. 48; ders.: Hans Blühers politische Irrlehren, in: Freideutsche Jugend, 6, S. 287–289). Hierhin gehört auch die Freundschaft zu Paul Vogler (1899-1969), einem im Alt-Wandervogel und in der Freideutschen Jugend engagierten jungen Mann, der eine Affinität zu Gustav Wyneken aufwies (vgl. dazu Ortrud Wörner-Heil: Von der Utopie zur Sozialreform. Jugendsiedlung Frankenfeld im Hessischen Ried und Frauensiedlung Schwarze Erde in der Rhön 1915-1933. Darmstadt, Marburg 1996, S. 132 ff.). Einige Zeit später hatte Landsberg wohl auch Kontakte zum George-Kreis, dessen aristokratische Ästhetik ihn vorübergehend faszinierte. Die bislang ohne Beleg behauptete Beziehung könnte über den im Hause seines Vaters verkehrenden Friedrich Gundolf und seinem Freiburger Lehrer Ernst Kantorowicz gegeben sein. Schon Adolf Dyroff hatte ihm in Bezug auf sein Mittelalter-Buch im Habilitationsgutachten einen „Bekenntnisfanatismus, der Männern wie Scheler, Bertram, Stefan George gilt und auch im Zitieren eines Zitierens eines Japsers sich verrät“ unterstellt. (zitiert nach Stephan Moebius: Paul Ludwig Landsberg - ein vergessener Soziologe? Zu Leben, Werk, Wissens- und Kultursoziologie Paul Ludwig Landsbergs. in: Sociologia Internationalis, 41, 2003, 1, S. 77-112, hier S. 83). Kurt von Fritz behauptete bereits 1931 Landsberg habe mit seiner Platon-Arbeit endlich, „obwohl er selbst dem `Kreise´ nahe stand, mit dieser ganzen Tradition entschlossen“ gebrochen (Kurt von Fritz: Brecht, Platon und der George-Kreis (Rezension zum gleichnamigen Buch von Josef Franz Brecht), in: Gnomon, 7 1931, S. 359ff., hier S. 360, zu Brechts Schlußkapitel „Die Platondeutung P. L. Landsbergs“).
Studium bei Scheler und Kontakte nach Maria Laach
1920/21 studierte Landsberg zunächst zwei Semester Philosophie, Nationalökonomie, Soziologie und Jurisprudenz in Freiburg, wo er bei Cohn, Diehl und Kantorowicz hörte und mit Husserl, Heidegger und Kroner bekannt wurde.
Aber auch schon in dieser Zeit hatte er offensichtlich und wohl über das Elternhaus bereits Kontakt zu Max Scheler, denn noch vor Landsbergs Wechsel nach Köln zum Wintersemester, stellte Scheler in einem Brief vom 8. August 1921 an Abt Ildefons Herwegen eine Besuchsempfehlung aus: „Hochverehrter hochwürdigster Herr Abt! Der Überbringer dieses Schreibens, Herr cand. Phil. Paul Landsberg, der Sohn des Bonner Ordinarius für Jurisprudenz bittet mich, ihm die Möglichkeit zu eröffnen, in das religiöse und geistige, besonders auch liturgische Leben des Klosters Maria Laach tiefer einzudringen. Er ist einer meiner begabtesten Schüler, von tiefer Religiosität, aber evangelischer Confession. Er ist religiös noch stark in der Entwicklung begriffen, hat aber zu unserer Kirche sehr tiefe Sympathien. Darf ich Sie, hochwürdigster Herr, freundlich bitten, Herrn Landsberg wohl aufzunehmen und ihm einen oder den anderen Ihrer Herrn Patres vorzustellen, der ihm in diesem oder jenem dienlich sein könnte. [...]“ (Archiv Maria Laach: Sign. III A 112, zitiert nach: Johannes Schaber: Max Scheler in Beuron und Maria Laach, in: Erbe und Auftrag. Benediktinische Monatsschrift, 77, 2001, S. 59).
Ob Landsberg bereits beim Überbringen des Schreibens in der Abtei blieb oder zu einem späteren Zeitpunkt für einen längeren Besuch zurückkehrte, muss noch offen bleiben. In jedem Fall hat er sich aber in Maria Laach ein Bild vom benediktinischen Mönchtum gemacht. Denn als 1922 sein Buch „Die Welt des Mittelalters und wir“ erschien, ist darin zu lesen: „Es soll nicht bestritten werden, dass der mystische Weg auch heute der gegebene Weg mancher Einzelperson ist, aber dem Zeitalter als Ganzen tut Bindung und nicht Lösung not. Es torkelt, es braucht einen Halt! Es wird viel über religiöse Verinnerlichung heute geschrieben. Gewiss, eine solche braucht jede Zeit. Aber uns gerade tut in noch höherem Maße Veräußerlichung der Religion not. Wir Erben des Protestantismus haben viele tiefe Seelen, aber wenig klare Gestalten. Wir Erben des Protestantismus haben manche große Schauer ihrer selbst, aber nur einen großen Schauer der Weltordnung, Goethe. Wir Erben der Renaissance haben manchmal ein bis in das Mystische lebendiges Verhältnis mehr zu dem Kosmos als geordnetem Ganzen. Wir haben oft noch Leidenschaft, aber selten Zucht. Uns tut der scholastische und der benediktinische Geist in neuen, aus dem Leben frisch erstandenen Formen und in den alten, soweit sie eben noch lebendig da sind, bitter not.“ (S. 76) Dabei nimmt Landsberg Bezug auf seine Ausführungen über das benediktinische Mönchtum auf den vorausgehenden Seiten 53-57. Dort hatte er bereits formuliert: „In der Persönlichkeit des heiligen Benedikt von Nursia fand Abt Ildefons Herwegen in seiner im allerbesten Sinne legendären Biographie als Kern eine innige Einung von 'virtus Romana' und 'Caritas Christiana' vor.“ (S. 53) Schaber urteilt daher nicht zu unrecht, dass Landsberg "auch in seiner Sichtweise des benediktinischen Mönchtums wichtige Impulse von Max Scheler und Maria Laach“ erhalten hat (Schaber, a.a.O., S. 59 f.)
Zum Wintersemester 1921 wechselte Landsberg dann für vier Semester nach Köln, wo er zwar noch bei von Wiese und Kaiserwaldau Soziologie, vor allem aber Philosophie und Soziologie bei Scheler hörte. Er wurde dort auch Schelers letzter Assistent, unter dessen Einfluss sich seine Nähe zum Sozialismus erkennbar verringerte, obwohl sein Verhältnis zu Scheler sowohl persönlich als auch inhaltlich keineswegs spannungsfrei war. Landsberg würdigte Scheler und dessen Werk in mehreren Aufsätzen (Paul Ludwig Landsberg: Zu „Max Scheler und der homo capitalisticus“, in: Die Tat, 14, 1922/23, S. 468-469; ders.: Zum Gedächtnis Max Schelers, in: Rhein-Mainische Volkszeitung, 58, 1928, Kulturelle Beilage Nr. 12 (121???) vom 26. Mai 1928; vgl. dazu auch Heinrich Lützeler: Der Philosoph Max Scheler: eine Einführung, Bonn 1947 und Stephan Moebius: Paul Ludwig Landsberg - ein vergessener Soziologe? Zu Leben, Werk, Wissens- und Kultursoziologie Paul Ludwig Landsbergs. in: Sociologia Internationalis, 41, 2003, 1, S. 77-112).
2. „Die Welt des Mittelalters und wir“
Noch Ende 1921 legte Landsberg eine Scheler gewidmete philosophische Schrift mit dem Titel „Die Welt des Mittelalters und wir“ vor (Bonn 1922; 1923; 1925; vgl. dazu: Anton L. Mayer-Pfannholz: Paul Ludwig Landsberg und das Mittelalter, in: Hochland, 20/II, 1923, S. 319-322). Diese wurde zwar bereits 1922 veröffentlicht, sollte aber noch nicht seine Dissertation werden. Dennoch handelt es sich bei dieser Schrift ohne Zweifel um ein „Schlüsselwerk der Epoche“ (vgl. Otto G. Oexle: Das Mittelalter als Waffe. Ernst H. Kantorowicz’ "Kaiser Friedrich der Zweite" in den politischen Kontroversen der Weimarer Republik, in: ders., Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 116), Göttingen 1996, S. 163-215, hier S. 176). Mit ihm fand er insbesondere in der Jugendbewegung viel Anerkennung (vgl. dazu Seewann, Gerhard: Österreichische Jugendbewegung 1900 bis 1938: Die Entstehung der deutschen Jugendbewegung in Österreich Ungarn 1900 bis 1914 und die Fortsetzung in ihrem katholischen Zweig „Bund Neuland“ von 1918 bis 1938, 1974, S. 453).
Scheler selbst hatte die Arbeit als zwar virtuos, aber zu romantisch und rückgewandt beurteilt (so Heinrich Lützeler: Persönlichkeiten. Konrad Adenauer, Paul Clemen, Kardinal Frings, Johannes XXIII., Erich Rothacker, Max Scheler, Freiburg 1978, S. 114). Dagegen hebt Guardini dieses Werk immer wieder hervor. So schreibt er bereits in seiner "Liturgischen Bildung" (S. 76, Anm. 2; Wege, S. 45, Anm. 1): "Es ist in den letzten Jahren nicht viel erschienen, das ich dieser Schrift an die Seite setzen möchte." Dieses Urteil erfolgte keineswegs nur, weil Landsberg sich darin auch auf Guardinis These vom “Primat des Logos vor dem Ethos” beruft (Paul Ludwig Landsberg: Die Welt des Mittelalters und wir, a.a.O., S. 30 und 117f.). Gleich zu Beginn spricht Landsberg darin nämlich vom neuzeitlichen „Gepräge der Negativität“ und der „konservativen Revolution“, die mit dem „Liebeswort Mittelalter“ verbunden sein sollte (Paul Ludwig Landsberg: Die Welt des Mittelalters und wir, Bonn (3)1925, S. 7 sowie S. 112; vgl. dazu K. Albert: Landsbergs Deutung des Mittelalters und die Idee einer konservativen Revolution, in ders.: Das gemeinsame Sein. Studien zur Philosophie des Sozialen, 1981, S. 21-31; Eduard Zwierlein: Konservative Revolution und Engagement. Paul Ludwig Landsbergs Weg vom Ideal der Konservativen Revolution zur Wirklichkeit des engagierten Humanismus, in: Zeitschrift für Politik, 36, 1989, Nr. 1, S. 88ff.; Schloßberger, Matthias: La rivoluzione dell´eterno: Landsberg e la „rivoluzione conser-vatrice“, in: Nicoletti, Michele/Zucal, Silvano/Olivetti, Fabio: Da che parte dobbiamo stare. Il persona-lismo di Paul Ludwig Landsberg, Soveria Mannelli 2007, S. 91ff.).
Landsberg grenzt sich dabei allerdings klar von jeglicher Mittelalter-Nostalgie ab: „Kein `zurück zum Mittelalter´ kann uns helfen, keine Neomystik, keine Neoscholastik, - helfen kann uns die Wiederentdeckung des Ewigen in der Welt, auch in der Geschichte der Welt, auch im Mittelalter“ (Paul Ludwig Landsberg: Die Welt des Mittelalters und wir, Bonn (3)1925, S. 99).
Der Begriff der „konservativen Revolution“ wird von Landsberg aber eng verbunden mit seiner personalistischen Vorstellung eines „engagierten Humanismus“: Es ist heute Umsturz, von der Ordnung im ewigen Sinne her die Zeitlichkeit messend zu betrachten, da seit Jahrtausenden die geordnete Unordnung Zustand ist, für einige wenigstens in ehrliche, unängstliche Anarchie übergegangen. Lange genug hat das europäische Bewusstsein nur den einen Gegensatz, hier Hüter aller Geordnetheit, dort Brecher aller Geordnetheit und Ordnung, hier Bürger und dort Anarchist, Stürmer und Dränger, Romantiker, Sozialist, Menschen der Jugendbewegung gekannt. Die konservative Revolution, die Revolution des Ewigen ist das Werdende und schon Seiende der gegenwärtigen Stunde. Die in ihr Stehenden und die, mit denen mein Titel mich als ‚Wir' zusammenfassen soll. Nicht ‚Die Welt des Mittelalters und ich' konnte es hier heissen. Denn wir jungen Menschen haben die hohe und heilende Freude eines neuen ‚Wir' erfahren, nicht geschaffen, sondern geworden, nicht Feind, sondern Grundlage der Einzelperson. Wir sind von dem Glauben durchdrungen, dass in diesem »Wir« die Gewähr des Vorstoßes zur ewigen Ordnung, die Gewähr der guten Zukunft liegt“ (ebd., S. 112 f.)
Auch wenn Hugo von Hofmannsthal den Begriff nach der Lektüre der dritten Auflage von Landsbergs Mittelalter-Buch übernommen hat (so Oswalt von Nostitz: Zur Interpretation von Hofmannsthals Münchner Rede, in: Festschrift für Rudolf Hirsch, Frankfurt am Main 1975, S. 272-275), bekam er in dessen Münchner Rede eine ganz andere, mit Landsbergs Ideen nicht zu vereinbarende ideologische Dynamik. Bei Landsberg handelte es sich um “einen geschichtsphilosophischen Versuch über den Sinn eines Zeitalters” und somit eine pointiert “weltanschauliche” Deutung, aber trotz aller politischen Implikationen eben keineswegs einen ideologisch-polemischen Affekt. Das Mittelalter erscheint bei Landsberg vielmehr als “eine menschliche Grund- und Wesensmöglichkeit”, die er an der Romanik und an den antiken Wurzeln anknüpft und die in der Synthese von Antike und Christentum Bestand hat.
Anders als Guardini, der sowohl den “Geist der Gotik” (K. Scheffler: Vom Geist der Gotik, Leipzig 1917) als auch den “Geist der Romanik” aufgriff und sich gleichermaßen von der "schwächlichen, gekünstelten" Neugotik und deren neuromanisches Pendant der unmittelbaren Vergangenheit ab-grenzte (vgl. Thule, S. 69, Anm. 2-4 u. ö.); der ebenso das “klassisch-romanische” und das “germanische” in Ausgleich zu bringen versuchte, findet bei Landsberg das Germanische und das Gotische keine große Beachtung.
Doch geht es ihm wie Guardini um "Gesinnung" und "Haltung": "Die zentrale Ansicht, von der aus Denken, Weltanschauen und Philosophie des Mittelalters verständlich werden, ist die, dass die Welt ein Kosmos sei, dass sie ein sinnvoll und ziervoll geordnetes Ganzes sei, das sich ruhig bewege nach ewigen Gesetzen und Ordnungen, die, aus Gott ersten Anfanges entsprungen, auch auf Gott letzten Endes Beziehung hätten" (Landsberg, Die Welt des Mittelalters und Wir, a.a.O., S. 12). Diese mittelalterliche Gesinnung (der „Logos des Mittelalters“) und Haltung (der „Ethos des Mittelalters“) basiert für Landsberg wie für Guardini auf der Idee des “Ordo”, auf Ordnung und Ordnungsvertrauen, während die Neuzeit seit dem spätmittelalterlichen Nominalismus das Gepräge der „Negativität“ aufweise (ebd. (1922), S. 7, S. 9, S. 78). Diese Negativität der Neuzeit habe eine zentrale Wurzel vor allem auch darin, dass nach der Reformation der Katholizismus "nicht durch die katholische Renaissance, sondern durch die Gegenreformation bestimmt worden sei" (Ebd., S. 95).
Die zentralen Gestalten des Mittelalters inklusive der Renaissance sind für Landsberg vor allem Dante und Thomas von Aquin, wobei Landsberg letzteren in seinen Gottesbeweisen ausdrücklich zu widerlegen versucht, wenn auch "auf den Knien unseres Herzens" (ebd., S. 50-65, zu Thomas von Aquin besonders S. 65). Wie Auerbach und später Guardini stellte Landsberg die Nähe von Dantes Gesängen zur Scholastik insbesondere zu Thomas von Aquin heraus, inhaltlich gerade auch bezüglich des „Ordo“-Gedankens (ebd.) Vor allem Thomas von Aquin und Dante verkörpern für Landsberg das Wesen des Mittelalters (Vgl. Alfons Knoll: Glaube und Kultur bei Romano Guardini, Paderborn/München/Wien/Zürich 1994, S. 181 und S. 312 in Bezug auf unveröffentlichtes Manuskript „Geordnete Welt”). Die „Divina Commedia” ruhe auf der Ordnungslehre der Scholastik auf und führe sie in literarischer Form zu Ende. Für Guardini wird dabei aber die Erkenntnis bestimmend bleiben, dass Macht immer das ist, was Menschen daraus machen und das es notwendigerweise so etwas geben müsse wie eine „Macht über die Macht” im Sinne eines „Ethos der Macht“. Wie der von Guardini schon früh gelesene Jacob Burckhardt sah auch Guardini die Renaissance als „Anbruch der Neuzeit“ und als Ende der mittelalterlichen Synthese von „germanischem“ Organismus-Denken und „romanischem“ Christentum. Hier unterscheidet Guardini sich von Paul Ludwig Landsberg, der das Wesen des Mittelalters in der Synthese von Antike und Christentums ausmachte und die Renaissance daher positiver und - anders als auch Burckhardt (Paul Ludwig Landsberg: Die Welt des Mittelalters und Wir, a.a.O., S. 89-100) - als „Endblüte und Nachblüte des Mittelalters“ betrachtete, weil hier das Mittelalter “auf seine antiken Quellen, besonders also auf Plato” zurückgehe und dadurch “im vollen Sinne des Wortes `katholischer´” werde (ebd., S. 94).
Den von Alfons Knoll (Glaube und Kultur bei Romano Guardini, Paderborn/München/Wien/Zürich 1994, S. 181) und Zimmermann (Zimmermann, Die Nachfolge, S. 70) konstruierten starken Unter-schied zwischen Landsberg und Guardini in der Einschätzung der Renaissance halte ich insgesamt aber für nicht in Gänze nachvollziehbar. Auch Guardini setzt sich, wie gesehen, von Burckhardt ab und Landsberg sieht die Renaissance wie Guardini auch keineswegs nur positiv. Knoll und Zimmermann schätzen dabei meiner Ansicht nach Guardinis Aufsatz “Gedanken über das Verhältnis von Christentum und Kultur” (1926) einseitig ein und vernachlässigen das gleichermaßen Chamberlain- und Burckhardt-kritische Anliegen seines Rezensionsartikels von 1911 (siehe unten).
Trotz positiverem Renaissance-Bild sieht auch Landsberg, dass durch die Übersteigerung der Subjektivität sich die objektiven Ordnungen in der Renaissance aufzulösen beginnen. Nicht ohne Grund verweist Guardini in seinem eigenen Urteil, in der Renaissance sei die Subjektivität “selbstherrlich” übersteigert worden und die objektiven Ordnungen hätten sich aufgelöst, ausdrücklich auf die Studie von Landsberg (Guardini, Liturgische Bildung, 1923, S. 69, inkl. Anmerkung 1; Werkausgabe, S. 86 inkl. Anm. 62).
Landsberg beschreibt also - obwohl er sonst durchaus den “Geist” und das “Wesen” vieler Phänomene zu erfassen sucht und entgegen dem noch Jahre später weit verbreiteten Usus (M. Grabmann: Mittelalterliches Geistesleben, Bd. I, München 1926, Bd. II, München 1936; Bd. III, München 1956; E. Gilson: Der Geist der mittelalterlichen Philosophie, Wien 1950) - nicht das “Wesen” des Mittelalters bzw. der mittelalterlichen Philosophie, sondern die “Welt des Mittelalters” und das “Weltbild” bzw. “Menschenbild” dieser Epoche. Er bemüht sich – wie Guardini - um die daraus resultierenden „Gesinnungen“ und “Haltungen”, mit dem Ziel die “Negativität der Neuzeit” zu überwinden.
In letzter Konsequenz geht es Landsberg daher - wie Guardini - nicht um ein Zurück zum Mittelalter, denn nichts liege ihm ferner “als der Vorschlag einer unmöglichen und unerfreulichen `Rückkehr´ zum Mittelalter. Wir können nur da von einem anderen Zeitalter lernen, wo es mehr ist als es selbst, wo es in das Ewige ragt” (Paul Ludwig Landsberg: Die Welt des Mittelalters und Wir, a.a.O., S. 12). Guardini verweist in seiner Schrift “Liturgischer Bildung” (S. 13 (26) Anm. 2 und S. 52 Anm. 43, 67f.???) ausdrücklich auf diese Stelle bei Landsberg. Landsberg geht es also wie Guardini um ein „Neues Mittelalter“ im Zeichen der „Revolution des Ewigen“. Dabei entwickelt er eine dezidierte Vorstellung einer „Bewegungsgesalt“: „Von der Ordnung der Hochantike führt der Weg zur Gewohnheit der Spätantike und der Anarchie der Übergangszeit. Aus dieser Anarchie dann wieder zur Ordnung des Mittelalters. Von der Ordnung des Mittelalters führt er zur bürgerlichen Gewohnheit und zu jener Anarchie, die sich in den Gegenbewegungen gegen sie anmeldet, um in der heutigen Jugendbewegung, das Wort in ganz wörtlichem und doch weitem Sinne genommen, siegreich zu werden. Es ist die Zukunft, daß aus dieser Anarchie eine neue Ordnung geboren werden wird“ (ebd., S. 114).
Landsberg stellte darüber hinaus bereits in dieser frühen Schrift seine später immer wirksamere „positiv-christliche Überzeugung schlechthin" heraus, „daß der Sinn des Lebens die gottschauende Ruhe nach dem Tode sei“ (ebd., S. 30).
Im Vergleich zu dieser hier erkennbaren engen geistigen Beziehung zwischen Landsberg und Guardini wird daher Schelers direkter Einfluss auf Guardini meist überschätzt. Bereits Knoll (a.a.O., S. 237, inklusive Anm. 168) konstatierte: Max Scheler habe 1920 zwar „in seiner Schrift `Vom Ewigen im Menschen´ die Ursprünglichkeit und Unableitbarkeit des religiösen Phänomens gegenüber den erst sekundären philosophischen Gottesbeweisen“ behauptet und habe „damit an die Linie“ angeknüpft, „die im protestantischen Denken von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher ausging und im Jahre 1917 mit Rudolf Ottos Schrift `Das Heilige´ eine neue aufsehenerregende Behandlung erfahren hatte.“ Dabei müsse dahingestellt bleiben, „wie stark der direkte Einfluß Schelers auf Guardini war“. Klarer seien „die Bezüge auf Rudolf Otto, Walter F. Otto, Lucien Lévy-Bruhl und G. van der Leeuw – allerdings auch erst zu einem späteren Zeitpunkt“, nämlich 1934 in seiner Schrift „Religiöse Erfahrung“.
Allerdings darf man trotz aller Würdigungen und Zitierungen einen umgekehrten Einfluß Landsbergs auf Guardinis Mittelalter-Konzeption nicht überschätzen. Eine solche Überschätzung findet sich zum Beispiel – wohl in Unkenntnis des Textes von 1911 bei Joseph Ratzinger (Von der Liturgie zur Christologie. Romano Guardinis theologischer Grundansatz und seine Aussagekraft, in ders. (Hrsg.): Wege zur Wahrheit. Die bleibende Bedeutung von Romano Guardini Katholischen Akademie in Bayern 117), Düsseldorf 1985, S. 121-144, hier S. ???; bisher nur in Englisch: „Turning away from the modern era is combined in the young Guardini with a new, almost rapturous enthusi-asm for the medieval period, as it looked at him out of P. L. Landsberg's book Das Mittelalter und wir [The Middle Ages and us] (Bonn, 1923), which evidently had become for him a sort of key reading experience”; ähnlich einseitig zuletzt auch Lehmann, Karl: Romano Guardini und Mainz, zur debatte (8/2014) 1-4; leicht verändert ders.: Romano Guardini und Mainz (1885-1969). Skizze einer schwierigen Beziehung, in: Claus Arnold, Christoph Nebgen (Hg.), Lebensbilder aus dem Bistum Mainz. Band II: Vierzehn Portraits (= Neues Jahrbuch für das Bistum Mainz 2017), Mainz 2017, S. 227-241; auch in: Karl-Heinz Wiesemann, Peter Reifenberg (Hg), „In allem tritt Gott uns entgegen“. Zum 50. Todestag von Romano Guardini (= Romano Guardini, Quellen und Forschungen 3), Ostfildern 2018, S. 13-25).
Guardini selbst hatte nämlich bereits in seinem ersten anonym veröffentlichten Aufsatz vom Dezember 1911 in den „Historisch-politischen Blättern“ unter dem Titel „Interesse der deutschen Bildung an der Kultur der Renaissance“ (in: Historisch-politische Blätter, CXLVIII, 1911, 12, S. 881-891) vom „neuen `Mittelalter´“ gesprochen und sich dabei sowohl durch die Anführungsstriche als auch durch die Erläuterungen von restaurativen Mittelalterkonzepten abgegrenzt. Also lange vor Paul Ludwig Landsberg und Nikolaj Berdjajew hatte Guardini seine Vorstellung von einem "neuen Mittelalter" als Zeit nach der Neuzeit formuliert: “Für unsere Zeit als vorwärtsstrebendem Ganzen hat die Renaissance kein lebendig-praktisches, sondern nur noch ein literarisches, historisches Interesse. Die Renaissance war es, die die Aufmerksamkeit der Schauenden und Handelnden auf allen Gebieten vom geschlossenen Ganzen zu den Teilen, zur Vielheit des Einzelnen führte; vom Allgemeinen zum Mannigfaltig-Individuellen, vom Bleibenden zu Wechsel und Veränderung; vom Absoluten zum Relativen. Nicht nur das. Während bisher die großen objektiven religiösen und sittlichen Ideen das Denken und Handeln beherrscht hatten, richtete das Interesse sich jetzt allmählich auf das Menschliche, auf seine mannigfaltigen Bedingtheiten, auf das Subjektive, und zwar mit natürlicher Folgerichtigkeit immer schärfer auf die jeweilig eigene Menschlichkeit, das Persönlich-Subjektive” (Guardini, ebd., S. 886).
Und Guardini betonte ausdrücklich, dass wir „jener neuen Art, die Dinge zu sehen, viel” verdanken: "Aber wir haben auch ihren Fluch verkostet, so sehr, scheint mir, dass wir ihrer müde sind. Der Blick hat sich so tief in das Einzelne verloren, dass er das Ganze nicht mehr sieht" (ebd., S. 887). Und so spricht er schon in diesem ersten Aufsatz von den „Vorboten einer neuen Zeit. Auf dem sozialen Felde hat das Bewusstsein der Solidarität den liberalen Atomismus schon fast verdrängt” (ebd., S. 888). Guardini sah in den aktuellen Strömungen mehr Verwandtschaft zum Hellenismus und zum römischen Kaisertum, also zur Klassik, als in der Renaissance. Auch die Klassik „hatte ein Freiwerden aller individuellen Kräfte und Momente, eine Einstellung der Aufmerksamkeit auf das Ich erlebt. Auch sie war zersplittert, skeptisch und gefangen in dies Ich. Auf sie aber folgte nach langem Ringen eine Periode, die in ihrer Art das hatte, was wir heute suchen, das Mittelalter, jene Jahrhunderte gewaltiger Leistungen, gewaltiger Einheiten. Das Mittelalter ist die modernste Zeit, mehr, es ist unsere Zukunft.... Unsere Aufgabe ist, ein neues `Mittelalter´ zu schaffen. Das braucht niemanden zu erschrecken; nicht zurück zum vergangenen, sondern vorwärts zu `unserem Mittelalter´ solls gehen” (ebd., S. 889 f.) Vom Entstehen des ersten Mittelalters aus dem Germanentum und Christentum „könnten wir lernen, die Welt wieder nicht mit den kleinen, verschleierten Augen unserer Subjektivität, sondern mit dem Blick der Dinge selbst, Gottes, zu sehen.” Er wendet sich gegen die „Enge und Ängstlichkeit der `kritischen´ Zeit” und plädiert für eine Rückkehr zu einer „Klassik..., die in der Linie UNSERER Mittel und Zwecke liegt”. Er betont ausdrücklich, Rückkehr meine nicht kopieren, sondern „dem Geist nachspüren”, um den „neuen Stil zu finden, der die Herbigkeit all der Arbeit unserer Tage hat, die Kraft der sozialen Spannungen, die ernste, selbstlose Sachlichkeit der Maschine, die jubelnde, leichte Grazie der eisernen Brücke” (ebd., S. 891).
Ohne die Renaissance selbst – wie der von Guardini im Zusammenhang mit seiner „religiösen Krise“ während seiner Münchener Studienzeit gelesene Houston Stewart Chamberlain dies getan hatte - abzuwerten, spricht Guardini sich also gegen eine Wiederbelebung der Renaissance aus, wie umgekehrt die Reformtheologen um Josef Müller dies mit ihrer Zeitschrift „Renaissance” anstrebten. Statt eine „Kopie von der Kopie” zu machen, müssten zunächst dem Geist der griechisch-römischen Klassik selbst und schließlich dem Geist des christlich-germanischen Mittelalters nachgespürt werden, um den „neuen Stil” für eine „neue Zeit” zu finden. Die Idee vom „Ende der Neuzeit” klingt hier schon deutlich an und zwar ohne grundsätzliche Vorbehalte gegenüber den sozialen Spannungen und den Errungenschaften der Technik, sondern als Versuch, diese positiv zu integrieren. Dabei verteidigte Guardini wie auch schon sein Freund Neundörfer bei allen persönlichen Vorbehalten sogar das Grundanliegen der Antimodernismusenzyklika von 1907: “Der Wechsel und die Veränderung hat das heutige Denken fasziniert... Es begreift nicht einmal, dass ... eine Enzyklika gegen das PANTA RHEI (=ALLES FLIESST) in der Theologie mehr sein könnte als Gedankenknechtung, und, in der Geschichte des menschlichen Denkens, sich dem weiteren Blick als das Gegengewicht gegen die `Kritik der reinen Vernunft´ offenbaren könnte" (ebd., S. 887).
Papst Pius X. contra Kant, aber nicht als Widerspruch, sondern als polare Gegengewichte. Die Wahrheit liegt daher auch hier schon im konkret-lebendigen Ausgleich der Spannung zwischen Tradition und Fortschritt. Dies wiegt umso mehr, als Guardini und Neundörfer wie gesehen selbst an der mit dem Kulturkampf und Antimodernismus verbundenen innerkirchlichen Gesinnungsschnüffelei zu leiden hatten und natürlich im Rahmen ihrer wiederum gemeinsam durch den Mainzer Bischof Georg Heinrich Kirstein empfangenen Priesterweihe am 28. Mai 1910 auch selbst den „Modernisteneid” abzulegen hatten. Guardini soll vor allem unter „dem den Geistlichen abverlangten Antimodernisteneid zeitlebens gelitten haben, so dass er auch nie ein von Spannungen freies Verhältnis zur Gestalt Papst Pius X. entwickeln konnte” (Frühwald, in: Christliche Weltanschauung, S. 57, FN 32.). In der Zeit von Papst Pius X., von 1903 bis 1914, kulminierte der Anti-Modernismuskampf der römisch-katholischen Kirche, was sich 1907 in der Herausgabe der Enzyklika „Pascendi” und des Dekretes "Lamentabili" ausdrückte. Papst Pius X. sah im Modernismus als „Sammelbecken aller Häresien” und führte daher ab 1910 den sogenannten „Antimodernisteneid” für alle Kleriker ein - Guardini und Neundörfer gehörten also mit zu den ersten, die ihn ablegen mussten. 1966/67, also erst kurz vor Guardinis Tod, wurde er wieder abgeschafft.
Es ist erstaunlich, dass ausgerechnet Carl Muth diesen anonymen Guardini-Aufsatz in den Mittelpunkt seiner Betrachtung „`Reaktion´ und Reaktion“ (Carl Muth (Kürzel –th): `Reaktion´ und Reaktion, in: Hochland, 9, 1912, 2. Bd., H. 12 (September 1912), S. 748-751) stellt: "Es ist nicht uninteressant, zu beobachten, wie in unsern Tagen da und dort kritische Besonnenheit Platz greift, ohne deshalb reaktionäre Formen anzunehmen. Betrachtungen dieser Art liegen auch einem Artikel der `Historisch-Politischen Blätter´ (Dezember 1911) zugrunde, der noch nachträglich einige Beachtung verdient, umso mehr, als man dort Gedanken so fein abwägender Art nicht allzu häufig begegnet. Der ungenannte Verfasser setzt sich mit dem Diederichschen Unternehmen kritisch auseinander, das Zeitalter der Renaissance unserer Zeit durch die Herausgabe ausgewählter Quellenschriften näher zu bringen, und kommt dabei zu sehr richtigen Beobachtungen und Feststellungen.... Der Verfasser ist gegen die Vorzüge und Errungenschaften der Renaissance keineswegs blind; indem er sie ins Licht stellt, zollt er ihnen sogar hohe Bewunderung. Aber mit Recht fährt er fort: `Wir danken jener neuen Art, die Dinge zu sehen, viel. Aber wir haben auch ihren Fluch verkostet, so sehr, scheint mir, dass wir ihrer müde sind´" (ebd., S. 749). Dann lässt Muth den anonymen Verfasser über eine ganze Seite hinweg selbst zu Wort kommen und schließt mit der Bewertung: „Wer in solcher Betrachtung den Ausdruck reaktionärer Gesinnung sehen will, der wird gut tun, auch die weiteren Ausführungen des genannten Artikels zu lesen. Es beweist nichts so sehr geistige Unreife als jeden Anlauf zur Mäßigung sofort als Reaktion zu verschreien“ (ebd., S. 750). Schließlich sei eine Reaktion gegen eine alleinige „Befriedigung individueller Wünsche und Leidenschaften... nicht `Reaktion´ - sondern FORTSCHRITT“ (ebd., S. 751).
Gerd Althoff schreibt in seiner Studie „Die Deutschen und ihr Mittelalter“ (1992) infolgedessen – von Guardinis „Das Ende der Neuzeit“ und Blumenbergs „Die Legitimität der Neuzeit“ ausgehend – durchaus treffend von dem „von Guardini und Blumenberg repräsentierten Schemata des `entzweiten Mittelalters´“: „Guardini diagnostizierte demnach und forderte deshalb zugleich (wie vor ihm schon P.L. Landsberg) die „Auflösung des neuzeitlichen Weltbildes“, er diagnostizierte und forderte (und das ist denn auch der Titel seines Buches): `Das Ende der Neuzeit´. Die dem diametral entgegengesetzte Position hat in diesem Fall anderthalb Jahrzehnte später Hans Blumenberg vertreten, in einem Buch mit dem wiederum programmatischen Titel: `Die Legitimität der Neuzeit´. Hier geht es darum, dass die Neuzeit zum Mittelalter (als einer „Jahrhunderte überspannenden Sinnstruktur"), daß sie dem „theologischen Absolutismus" des Mittelalters mit „humaner Selbstbehauptung" und im Zeichen der „theoretischen Neugierde“, mit der „immanenten Selbstbehauptung der Vernunft durch Beherrschung und Veränderung der Wirklichkeit“ entgegentritt“ (Gerd Althoff: Die Deutschen und ihr Mittelalter, 1992, S. 20).
Guardini versteht infolgedessen Antike, Mittelalter und Neuzeit als menschliche Grund- und Wesensmöglichkeiten mit Vorzügen und Nachteilen, positiven und negativen Prägungen. Gerade an der Tugend der Ordnung und Ordnungsvertrauen, für die das Mittelalter bei Landsberg steht, zeigt Guardini auf, dass auch der mittelalterliche Habitus durchaus ambivalent sein kann. Tugenden sind Gestalten sittlichen Lebens, die von ihrer Wirkung her zu beurteilen sind. Nur jene, die zu vernunftgemäßem, gutem Handeln qualifizieren, sind auch wirklich Tugenden und nicht nur unkritisch übernommene und überkommene Traditionen. Gerade hier zeigt sich wieder Guardinis Nähe auch zu Aristoteles und Thomas von Aquin. So wie bei Aristoteles sich die sittliche Tugend als “Habitus der guten Handlungswahl” definiert und als “Mitte” die Handlungswahl habituell vervollkommnet, es dazu aber auch eine gleichermaßen durch Autorität und Freiheit geprägte „Erziehung zur Tugend“ braucht (Martin Rhonheimer: Die Perspektive der Moral. Philosophische Grundlagen der Tugendethik, Berlin 190 f.), sieht auch Guardini die Tugenden als dynamischen Habiti. Gerade hier führte Guardini aber vielfach auf den eigentlichen Schauplatz der Auseinandersetzung zurück: auf den politisch-theologischen, denn: „Nur wer Gott kennt, kennt den Menschen“ und mit dem Menschen auch die Welt und ihre „Politik“. Guardini ist Zeit seines Lebens davon überzeugt, dass der trinitarische „Gott ein Politikum“ ist (Guardini, Ethik, a.a.O., S. 881). Es handele sich in der Hauptsache um eine Frage des Gottesbildes und des daraus abgeleiteten Welt- und Menschenbildes und in der keineswegs unwichtigen Nebensache um ein daraus resultierendes methodisches Problem, wie die Gegensätze des Daseins philosophisch zu erfassen sind. Guardini hatte die politisch-theologischen Wurzeln der geistesgeschichtlichen Entwicklung zum Totalitarismus am Beispiel des “Heilbringers” ganz konkret herausgestellt und sie auf antike und neuzeitliche Vorgänge zurückgeführt, ohne dabei - dies sei noch einmal entgegen den gängigen Vorurteilen gegenüber Person und Werk Guardinis betont - das Mittelalter als Idealzustand vorzustellen, sondern um es gemeinsam mit Landsberg lediglich als typisierte Gesinnung und Haltung zum Ausgangspunkt für eine nach-neuzeitliche Neugestaltung zu machen. Wie Guardini eben schon in einem seiner ersten Aufsätze betonte, soll es „nicht zurück zum vergangenen, sondern vorwärts zu `unserem Mittelalter´” gehen. Damit wird aber zwangsläufig die Nach-Neuzeit des Totalitarismus zur Antike dieses neuen Mittelalters und das neue Mittelalter wird ebenfalls nur ein Durchgangsstadium zu einer abermaligen Neuzeit werden. Und auch diese wird wieder zu Ende gehen. Dies stellte für Guardini einen notwendigen Geschichtsprozess dar. Nicht notwendig war für ihn dagegen, dass dieser Geschichtsprozess sich dialektisch in extremen Pendelschlägen vollziehen müsse; gerade dann nicht, wenn man sich auf die polare Grundstruktur des Daseins besinnt und auf ihrer Grundlage ein „Ethos der Macht“ entwickelt, das weder auf Egalitarismus noch auf Titanismus beruhe und so in der Polarität zum „Ethos der Liebe“, jenes konkret-lebendige „Ethos der Verantwortung“ als Spannungseinheit hervorbringe, wie dies auch von Max Weber und von Hans Jonas formuliert wurde. Die akosmistische Liebesethik und die kosmistische Machtethik müssen sich also in einer situations- und umweltbezogenen Verantwortungsethik polar miteinander verbinden.
Sowohl bei Landsberg und noch mehr bei Guardini handelt es sich bei ihrer Mittelalter-Theorie also vorrangig um eine ethische und pädagogische Deutung nicht um eine historisierende oder historistische oder gar im Hegelschen Sinne eine geschichtsphilosophisch orientierte Beschreibung.
Sachlich wie polemisch werden in der Folgezeit Landsberg und Guardini im Blick auf ihr Mittelalter-Verhältnis aufgrund der beschriebenen großen Ähnlichkeiten folgerichtig zusammengespannt.
Am unsachlichsten und polemischsten ist dabei Robert Kosmas Lewin 1928 in seinen sogenannten „Apostaten-Briefe“ (Wiesbaden 1928), in denen auch Guardini heftig angegriffen wurde, insbesondere sein Kolleg über „das Konkrete und das Reich Gottes“, „worin einerseits die reale Welt mit allen ihren Ordnungen in thomistischer Konzeption auftauchte, er aber andererseits 'der blassen Abstraktion einer Staatsidee, die des Menschen Seele auszufüllen habe', huldige“ (ebd., S. 82 f.). Dabei werde wohl die christliche Idee vom Staate untergeschoben, so wie auch die katholische Presse nicht müde werde, in Erziehung zum Staatsbürgertum diese christliche Idee als das in der modernen Welt realisierbare Ideal hinzustellen. Aber die Civitas Dei, auf die Erde projeziert, wäre Verwirklichung des Dritten Reiches in diesem Jammertale. Lewin hält dies aber für utopistisch, und hätte es auch noch nie gegeben: "Das war nie erfüllt, auch nicht in dem von Landsberg und Guardini verklärten Mittelalter. Guardini träumt von einem Wesenhaftwerden der Staatsidee in der Persönlichkeit, in der Seele, von einem Körperhaftwerden der Liebe zu Staat und Volksgemeinschaft in liturgischer Haltung. Bei einem so selten feinen Denkerkopf kann es wehtun, daß er alle Beziehung zum Konkret-Lebendigen und zur Härte historischen Geschehens verliert. Es entgeht ihm, daß der Weltkrieg eine Cäsur ganz anderen Gewichts im Schicksalsgange der Menschen bedeutet" (ebd., S. 84). Im 17. Brief heißt es dann: "So die Landsberg, die Guardini - offenbar höchst fein besaitete Geister. Haben wohl aber kaum etwas vom Leben erfahren, leben darum und agieren wie in Trance. In jenen Kreisen hegt man den kindlichen Glauben, das Leben sei liturgisch zu formen. Man lernt, das `Leben erfahre sich an Gegensätzen´, man registriere und schematisiere nur all die Gegensätze, und schon begriffe man das Leben, schon habe man es in der Hand. Das wäre dann die neo-katholisch-romantische Pragmasie. Im Grunde sind alle diese Vertreter eines aktivitätlichen, jugendbündlichen, neo-katholischen Intellektualismus im Grunde sind sie alle Esoteriker. .. Wäre nur Romano Guardini zu den Quellen gegangen, er hätte seine Gegensatz-Philosophie nicht betrieben. Obzwar er von den Quellen weiß! Gewiß weiß dieser vortreffliche Magister der Philosophie auch, daß die Griechen schon ihr Spiel mit den Gegensätzen hatten. Doch Guardini vermeint, einen neuen Weg zu gehen, den katholischen Weg zur Erfassung des Konkret-Lebendigen. Ein schöner, aber anaemischer Gedanke! Die germanische Erbschaft im romanischen Guardini trieb den armen Philosophen in das kimmerische Dunkel monströser Philosopheme. Er wird sich vergeblich dagegen sträuben, aber faktisch ist er in den Fängen der Hegel-Fichte-Kant-Abstrusitäten. Schon, weil er aus Erbaffinität das Idiom jener Geister adoptiert. Denn auf Lateinisch oder Italienisch hätte Guardini sein Buch nicht schreiben können. Nur ist Guardini, eben wegen der Quote von Latinität in seiner Geistigkeit, nicht so verschwommen wie jene Köpfe. Aber Gott sei´s geklagt, er spricht den ideologischen neu-romantisch prezieusen Jargon wie nur einer. Also das Konkret-Lebendige wollte erfassen, und griff ganz und gar daneben. Warum? Er spielt mit Antinomien; die aber taugen wohl nicht, einen Hund vor den Ofen zu locken. Guardini verlegt die sterilen dialektischen Antinomien aus der ratiocinierenden Vernunft in das Lebendige selbst. Er vergißt, daß die Oppositio terminorum der Scholastik nichts als begriffliche Analysenarbeit sein will. Indem Guardini die Abstrusitäten der Ideologie in einer gezierten neo-romantischen Sprache denkt, verdirbt er zu neo-idealistischer Spielerei, was die Griechen wenigstens treffsicher hingestellt hatten. ... Alles, was Guardini sagen konnte, nur - sind wir dem Geheimnis des Lebens nicht um Haaresbreite näher gekommen. ... Der romanische Guardini hat dies übersehen. Er revidiere nur noch einmal sein enantiologisches Denken; vielleicht erblickt er erschreckt sein Antlitz in diesem Fichte-Hegel-Spiegel: `Jeder Begriff schlägt in seinen Gegensatz um, um sich mit ihm in einem höheren Begriff zu vereinigen.´ Allenfalls hat enantiologisches Denken etwa heuristischen Wert. Wie Herbart wenigstens für die Psychologie einen Gewinn zog: `Der Gegensatz zweier Vorstellungen ist ein voller, wenn eine von beiden ganz gehemmt werden muß, damit die andere ungehemmt bleibe. Vorstellungen, die einander entgegengesetzt sind und zusammentreffen, werden zu Kräften, die einander widerstehen, hemmen. Grund des Widerstehens ist die Einheit der Seele.´ Ein feinsinniges Apercu! ... Aber Guardinis sämtliche Inferenzen und typologischen Normen sind Gemeinplätze. Bleibt es Apercu, mag´s hingehen. Auch sind Gemeinplätze schöne Erholung und Entspannung. Aber man macht doch kein System aus Binsenweisheiten, keine Typologie aus den Selbstverständlichkeiten der Lebens-Gegensätze! ... Spielerei. Nein, Guardini müßte am Leben zerbrechen, es erleben auf der Konflikts-Ebene aller Agonisten um die Seele herum. ... Aus dem Schema der Lebens-Gegensätze gewinnt man eine spielerische Typologie. Aber in die Tiefe der Persönlichkeit, in das Ich dringt man so nimmer. Daher denn wurde aus Guardinis Typologie eine Normentafel für die Oekonomie des spießerlichen Lebens; eine neue Lebenskunst für die goldene Mittelmäßigkeit; so etwas wie praktische Bürgerkunde mit Eignungsprüfung. ... Guardini sieht wohl selbst, daß er sich an ein fruchtloses Spiel hingibt: `Rechtgesehen, decken sich die Begriffe des Gegensatzes und der Polarität. Ich ziehe den ersteren vor, da er noch weniger zerredet ist.´ (Guardini: Der Gegensatz, p. 16) Warum aber übersieht er, daß gewisse Geister schon an der `Polarität´ ihren armen Geist `zerredet´ haben?" (ebd., S. 392-395).