Romano Guardini und Martin Heidegger: Unterschied zwischen den Versionen

Aus Romano-Guardini-Handbuch
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Somit kommen wir zum Ende dieser Gegenüber-Stellung. Es war letztlich nicht Aufgabe dieses Beitrags, dabei selber Stellung zu beziehen, ob und wie weit bestimmte Einschätzungen gegenüber Guardini und Heidegger bzw. ihrem gemeinsamen Weg abschließend zutreffen. Es ging lediglich darum aus vorwiegend historischer, biographischer und werkbiographischer Sicht die wichtigsten Schnittpunkte im Leben und im Werk der beiden Denker aufzuzeigen, um von dort ausgehend auch an die Punkte zu gelangen, von der aus die „Nachwelt“ sich den beiden Denkern annähern kann, ohne sie nur als „zeitlose“ „Steinbrüche“ oder „Stichwortgeber“ für die eigenen Positionen zu nehmen oder aber sie nur als „historische“, „überholte“, mehr oder weniger „erfüllte“ letztlich aber verstorbene Denker zu „behandeln“. Gleich, ob wir nun mit Guardini immer noch in der „Nach-Neuzeit“ unser „neues Mittelalter“ auf dem Weg zur „neuen Neuzeit“ suchen oder mit Heidegger über die fortdauernden Konsequenzen einer „Vollendung der Neuzeit“ nachdenken, gilt es, das verheißungsvolle „Faszinosum“, das ihrem Denken auch heute noch innewohnt, neu bewusst zu machen.  
Somit kommen wir zum Ende dieser Gegenüber-Stellung. Es war letztlich nicht Aufgabe dieses Beitrags, dabei selber Stellung zu beziehen, ob und wie weit bestimmte Einschätzungen gegenüber Guardini und Heidegger bzw. ihrem gemeinsamen Weg abschließend zutreffen. Es ging lediglich darum aus vorwiegend historischer, biographischer und werkbiographischer Sicht die wichtigsten Schnittpunkte im Leben und im Werk der beiden Denker aufzuzeigen, um von dort ausgehend auch an die Punkte zu gelangen, von der aus die „Nachwelt“ sich den beiden Denkern annähern kann, ohne sie nur als „zeitlose“ „Steinbrüche“ oder „Stichwortgeber“ für die eigenen Positionen zu nehmen oder aber sie nur als „historische“, „überholte“, mehr oder weniger „erfüllte“ letztlich aber verstorbene Denker zu „behandeln“. Gleich, ob wir nun mit Guardini immer noch in der „Nach-Neuzeit“ unser „neues Mittelalter“ auf dem Weg zur „neuen Neuzeit“ suchen oder mit Heidegger über die fortdauernden Konsequenzen einer „Vollendung der Neuzeit“ nachdenken, gilt es, das verheißungsvolle „Faszinosum“, das ihrem Denken auch heute noch innewohnt, neu bewusst zu machen.  
Dass dabei immerhin über hundert archivalische Quellen neu oder wieder herangezogen und mit zahlreichen bereits publizierten Funden abgeglichen werden konnten, zeigt dass es sich in ihrer freundschaftlichen Beziehung keineswegs nur um ein „latentes“ Gespräch handelte, sondern die beiden Denker stärker und lebenslang aufeinander bezogen waren, als man dies bisher und gemeinhin angenommen hat.
Dass dabei immerhin über hundert archivalische Quellen neu oder wieder herangezogen und mit zahlreichen bereits publizierten Funden abgeglichen werden konnten, zeigt dass es sich in ihrer freundschaftlichen Beziehung keineswegs nur um ein „latentes“ Gespräch handelte, sondern die beiden Denker stärker und lebenslang aufeinander bezogen waren, als man dies bisher und gemeinhin angenommen hat.
[[Kategorie:Helmut Zenz]]
[[Kategorie:Forschung]]

Version vom 15. Februar 2025, 16:38 Uhr

Von „geistigen Potenzen“ und „kaputtgehendem Denken“.
Romano Guardini (1885-1968) und Martin Heidegger (1889-1976).
Historische Dokumentation einer langwährenden Beziehung (1912-1968)
zusammengestellt und erläutert von Helmut Zenz


Datei in Übertragung
(Stand: 292/292 Seiten 100 % abzgl. 73 Seiten für Quellen-Paraphrasierung = 25 %; Gesamtstand also: 75 %)

Vorbemerkungen

Anlass

Nachfolgende Historische Dokumentation wurde im Vorfeld eines Vortrags "Heidegger-Guardini - ein währendes Gespräch? Neue Dokumente zur Forschungslage" im Rahmen der gemeinsamen Tagung "`Sehr bedeutungsvoll scheint mir diese Gedankenwelt.´ Neues zum Gespräch zwischen Romano Guardini & Martin Heidegger" des Freundeskreises Mooshausen e.V. und der Martin-Heidegger-Gesellschaft e.V. vom 9. bis 11. Juli 2021 im Schloss zu Meßkirch erstellt und im Anschluss daran fortlaufend ergänzt. Ursprünglich war eine Buchveröffentlichung unter Abdruck des Briefwechsels und zahlreicher bislang noch unpublizierter Archivalien und weitgehend unbekannter Texte geplant, die sich aber nicht realisieren hat lassen. Um die Ergebnisse möglichst breit der nationalen und internationalen Guardini- und Heidegger-Forschung noch zeitnah zur Verfügung zu stellen, nehme ich die Dokumentation hier in das Romano-Guardini-Handbuch auf.

Liste der ausgewerteten Quelltexte

  • Q 1: Widmung Heideggers an Guardini (um 1915) [Guardini-Bibliothek gb 4039]
  • Q 2: Brief von Romano Guardini an Martin Heidegger (10. April 1916) [Deutschen Literaturarchiv Marbach Nr. 75.6840/1, erstmals in: Heidegger-Jahrbuch I, 2004]
  • Q 3: Brief von Romano Guardini an Martin Heidegger (20. April 1916) [Deutschen Literaturarchiv Marbach Nr. 75.6840/2, erstmals in: Heidegger-Jahrbuch I, 2004]
  • Q 4: Widmung Heideggers an Guardini (1930) [Guardini-Bibliothek gb 4050]
  • Q 5: Widmung Heideggers an Guardini (1930) [Archiv Burg Rothenfels]
  • Q 6: Postkarte von Romano Guardini an Fanny Kempner (27. Juni 1931) [Privat-Archiv Gerl-Falkovitz]
  • Q 7: Auszug aus dem Brief von Romano Guardini an Johannes Spörl vom 26. Januar 1933 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1240]
  • Q 8: Postkarte von Romano Guardini an Fanny Kempner vom 2. Februar 1933 [Pri-vat-Archiv Gerl-Falkovitz]
  • Q 9: Auszug aus dem Tagebuch Romano Guardinis (Eintrag vom 12. Juni 1932) [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. …???]
  • Q 10: Romano Guardini: Typoskript „Der Zustand des Gefallen-Seins“ [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 86]
  • Q 11: Briefauszug von Romano Guardini an Johannes Spörl (13. Mai 1933) [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1240]
  • Q 12: Widmung Heideggers an Guardini (vor 1941) [Guardini-Bibliothek gb 4053]
  • Q 13: Widmung Heideggers an Guardini (1941) [Guardini-Bibliothek gb 4048]
  • Q 14: Gleichlautende Widmungen Heideggers an Guardini (1943) [Guardini-Bibliothek gb 4041, gb 4046 und gb 4047]
  • Q 15: Auszug aus dem Brief von Johannes Spörl an Romano Guardini vom 28. September 1944 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1239]
  • Q 16: Brief von Martin Heidegger an Romano Guardini vom 6. August 1945 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 875]
  • Q 17: Auszug aus Brief von Romano Guardini an Johannes Spörl vom 6. Januar 1946 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1239]
  • Q 18: Briefdurchschlag von Romano Guardini an Martin Heidegger vom 14. Januar 1946 [BSB Ana 342, B 12/007, auszugsweise bereits publiziert in: Hugo Ott, 1985]
  • Q 19: Briefentwurf von Johannes Spörl an Romano Guardini vom 27. März 1946 (Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1240]
  • Q 20: Auszug aus einem Brief von Romano Guardini an Johannes Spörl vom 4. April 1946 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1241]
  • Q 21: Briefdurchschlag von Romano Guardini an Johannes Spörl vom 4. April 1946 [BSB, B 13/069, auszugsweise zitiert bei Gerl, 1985, S. 331; Originalbrief]
  • Q 22: Brief von Franz Büchner an Romano Guardini vom 3. Mai 1946 [BSB Ana 342, C 112-6]
  • Q 23: Brief von Romano Guardini an Franz Büchner vom 20. Mai 1946 [Entwurf BSB, C 112-6 sowie Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1197; Abschrift an Dekan Robert Heiß in Universitätsarchiv Freiburg B 3 77]
  • Q 24: Auszug aus einem Briefdurchschlag von Romano Guardini an Johannes Spörl vom 20. Mai 1946 [BSB Ana 342, B 13/069, auszugsweise schon zitiert bei Gerl, 1985, S. 331]
  • Q 25: Auszug aus einem Brief von Martin Heidegger an Viktor E. von Gebsattel vom 25. Januar 1973 (DLA Marbach)
  • Q 26: Widmung Heideggers an Gebsattel in „Hölderlins Hymne: `Wie wenn am Feiertage …´ vom Mai 1946 (DLA Marbach)
  • Q 27: Brief von Franz Büchner an Romano Guardini vom 3. August 1946 [BSB Ana 342, C 112-6]
  • Q 28: Brief von Romano Guardini an Franz Büchner vom 4. September 1946 [Entwurf BSB C 1/12-6; Original in Universitätsarchiv Freiburg i. Br., E 23-176]
  • Q 29: Brief von Franz Büchner an Romano Guardini vom 21. September 1946 [Original BSB C 112-6; Entwurf im Universitätsarchiv Freiburg i. Br., E 23-176]
  • Q 30: Offizielle Anfrage von Franz Büchner an Romano Guardini vom 21. September 1946 [BSB Ana 342, C 112-6 in doppelter Ausführung]
  • Q 31: Brief von Romano Guardini an Franz Büchner vom 27. September 1946 [BSB Ana 342, C 112-6]
  • Q 32: Briefdurchschlag von Romano Guardini an Franz Büchner vom 9. bzw. 19. Oktober 1946 [BSB Ana 342, C 112-6]
  • Q 33: Briefdurchschlag von Romano Guardini an Theodor Steinbüchel vom 9. bzw. 19. Oktober 1946 [BSB Ana 342, C 107-13]
  • Q 34: Brief von Romano Guardini an Johannes Spörl vom 19. Oktober 1946 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern, Nr. 1197]
  • Q 35: Brief von Johannes Spörl an Romano Guardini vom 24. Oktober 1946 [BSB Ana 342, B 4/3-171]
  • Q 36: Brief von Hans-Georg Gadamer an Romano Guardini vom 13. Mai 1949 [BSB, B 11/119]
  • Q 37: Beigelegter Brief von Kurt Riezler an Hans-Georg Gadamer (Abschrift) [BSB B 11/119, ohne Datum]
  • Q 38: Beigelegter Brief von Werner Gottfried Brock an Hans-Georg Gadamer (Abschrift) vom 28. April 1949 [BSB, B 11/119]
  • Q 39: Brief von Gerhard Krüger an Romano Guardini vom 18. Mai 1959 [BSB Ana 342, B 4-Sonderkonvolut, Mappe 3]
  • Q 40: Brief von Hans-Georg Gadamer an Romano Guardini vom 21. Mai 1949 [BSB Ana 342, B 11/119]
  • Q 41: Brief von Gerhard Krüger an Romano Guardini vom 26. Mai 1949 [BSB Ana 342, B 4 – Sonderkonvolut]
  • Q 42: Briefdurchschlag von Romano Guardini an Hans-Georg Gadamer vom 30. Mai 1949 [BSB Ana 342, B 11/119]
  • Q 43: Brief von Hans-Georg Gadamer an Romano Guardini vom Juni 1949 [BSB Ana 342, B 22/02-24]
  • Q 44: Briefdurchschlag von Romano Guardini an Hans-Georg Gadamer vom 28. Dezember 1949 [BSB Ana 342, B 22/02-24]
  • Q 45: Briefdurchschlag von Hans-Georg Gadamer an Romano Guardini vom 20. Januar 1950 [BSB Ana 342, B 22/02-24]
  • Q 46: Briefdurchschlag von Romano Guardini an Hans-Georg Gadamer vom 23. Februar 1950 [BSB Ana 342, B 22/02-24, Original in Krüger-Nachlass, Archiv der Universitätsbibliothek Tübingen]
  • Q 47: Brief von Gerhard Krüger an Romano Guardini vom 27. Februar 1950 [BSB Ana 342, B 22/02-24]
  • Q 48: Briefauszug von Romano Guardini an Gerhard Krüger vom 28. Februar 1950 [Archiv der Universitätsbibliothek Tübingen Mn 13-908]
  • Q 49: Briefdurchschlag von Romano Guardini an Hans-Georg Gadamer vom 28. Februar 1950 [BSB Ana 342, B 22/02-24]
  • Q 50: Brief von Max Müller an Romano Guardini vom 11. Juni 1949 [BSB Ana 342, B 12/138]
  • Q 51: Briefentwurf von Romano Guardini an Max Müller (nach dem 11. Juni 1949) [BSB Ana 342, B 4- Sonderkonvolut, Mappe 1]
  • Q 52: Briefentwurf von Romano Guardini an Max Müller vom 18. Juni 1949 [BSB Ana 342, B 4-Sonderkonvolut, Mappe 1]
  • Q 53: Briefdurchschlag von Romano Guardini an Max Müller vom 1. Juli 1949 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1246; auszugsweise veröffentlicht bei Hugo Ott, 1985, jetzt vollständig in: Heidegger-Jahrbuch, Band 4: Heidegger und der Nationalsozialismus I, 2009 - dort ist auch die Korrespondenz zwischen Max Müller und den entsprechenden Universitätsgremien abgedruckt - und bei Gerl-Falkovitz, 2019]
  • Q 54: Brief von Max Müller an Romano Guardini vom 4. Juli 1949 [BSB Ana 342, B 4- Sonderkonvolut, Mappe 1]
  • Q 55: Brief von Max Müller an Guardini vom 13. Juli 1949 [BSB Ana 342, B 4-Sonderkonvolut, Mappe 1; Abschrift in Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1246, veröffentlicht bei Gerl-Falkovitz, 2019]
  • Q 56: Abschrift eines Briefes von Romano Guardini an Max Müller vom 26. Juli 1949 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1246, bereits veröffentlicht in: Gerl-Falkovitz, 2019]
  • Q 57: Auszug aus einem Brief von Romano Guardini an Johannes Spörl vom 30. Juli 1949 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1246]
  • Q 58: Widmung Heideggers an Guardini (1949) [Guardini-Bibliothek gb 4043]
  • Q 59: Brief von Romano Guardini an Martin Heidegger vom 10. September 1950 [Nachlass Martin Heidegger Bitte noch genauen Fundort angeben???]
  • Q 60: Brief von Martin Heidegger an Romano Guardini vom 18. Dezember 1950 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern, Nr. 878]
  • Q 61: Karte von Romano Guardini an Martin Heidegger aus Isola Vicentina vom 30. März 1951 [Nachlass Martin Heidegger Bitte noch genauen Fundort angeben ???]
  • Q 62: Karte von Martin Heidegger an Romano Guardini vom 19. Mai 1951 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern, Nr. 882]
  • Q 63: Widmung Heideggers an Guardini (1951) [Guardini-Bibliothek gb 4049]
  • Q 64: Brief von Martin Heidegger an Romano Guardini vom 19. Januar 1952 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern, Nr. 879]
  • Q 65: Widmung Heideggers an Guardini (8. Juli 1952) [Guardini-Bibliothek gb 4052]
  • Q 66: Brief von Romano Guardini an Martin Heidegger vom 26. September 1953 [Deutsches Literaturarchiv Marbach, A: Heidegger, Martin 1/Schuber/B 75]
  • Q 67: Brief von Martin Heidegger an Romano Guardini vom 23. Oktober 1953 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern, Nr. 880]
  • Q 68: Romano Guardini: Zur Absicht der Tagungen der Akademie (1954) [BSB Ana 342, B 23/1-3]
  • Q 69: Brief von Max Müller an Romano Guardini vom 19. Januar 1954 [BSB Ana 342, C 2/08-03]
  • Q 70: Brief von Romano Guardini an Max Müller vom 27. Januar 1954 [BSB Ana 342, C 2/08-07]
  • Q 71: Briefdurchschlag von Romano Guardini an Max Müller vom 20. Februar 1954 [BSB Ana 342, C 2/08-27]
  • Q 72: Brief von Max Müller an Romano Guardini vom 28. Februar 1954 [BSB Ana 342, B 4-Sonderkonvolut, Mappe 3]
  • Q 73: Widmung Heideggers an Guardini 22. Juni 1954 [Guardini-Bibliothek gb 4044]
  • Q 74: Brief von Martin Heidegger an Romano Guardini vom 15. Februar 1955 [(Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern, Nr. 875]
  • Q 75: Widmung Heideggers an Guardini zum 70. Geburtstag (1955) [Guardini-Bibliothek gb 4056]
  • Q 76: Widmung Heideggers an Guardini (1956) [Guardini-Bibliothek gb 4054]
  • Q 77: Widmung Heideggers an Guardini (1957) [Guardini-Bibliothek gb 4059]
  • Q 78: Brief von Romano Guardini an Martin Buber vom 11. März 1958 [BSB Ana 342, B 23/01-03-17]
  • Q 79: Briefauszug von Clemens Graf Podewils an Romano Guardini vom 8. Oktober 1958 [BSB Ana 342, B 23/01-03]
  • Q 80: Postkarte von Martin Heidegger an Romano Guardini vom 23. Dezember 1958 [BSB Ana 342, B 4-Sonderkonvolut, Mappe 1]
  • Q 81: Brief von Romano Guardini an den Präsidenten der Akademie der Schönen Künste Herrn Prof. Dr. Emil Preetorius vom 24. Januar 1959 [BSB Ana 342, B 23/01-03-25]
  • Q 82: Romano Guardini: Typoskript „Über die neue Aufgabe der Akademie“ (16. März 1959) [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern, Nr. 806]
  • Q 83: Widmung Heideggers an Guardini (wohl 1959) [Guardini-Bibliothek gb 4058]
  • Q 84: Widmung Heideggers an Guardini (November 1959) [Guardini-Bibliothek gb 4057)
  • Q 85: Widmung Heideggers an Guardini (1959/60) [Guardini-Bibliothek gb 4055a]
  • Q 86: Zweitexemplar mit Widmung von Max Müller (1960) [Guardini-Bibliothek gb 4055b]
  • Q 87: Widmung Heideggers an Guardini (um 1960) [Guardini-Bibliothek gb 4060]
  • Q 88: Begleitbrief von Clemens Graf Podewils an Romano Guardini vom 6. Februar 1961 [BSB Ana 342, B 23/01-03]
  • Q 89: Kalendereintrag Guardinis vom 8. Februar 1961 [BSB C 115-1
  • Q 90: Romano Guardini: Vorschlag für die Zuwahl, datiert vom 8. Februar 1961 [BSB Ana 342, B 23/01-03; Auszug bereits veröffentlicht bei Gerl-Falkovitz, 1985 und 2019]
  • Q 91: Romano Guardini: Entwurf zur Sitzung der literarischen Abteilung (April 1961) [ BSB Ana 342, B 23/01-03-37]
  • Q 92: Zusammenfassung über Angaben von Fritz Heidegger (1961) [BSB Ana 342, B 23/01-03-36]
  • Q 93: Briefentwurf Guardinis vom 18. Mai 1961 [BSB Ana 342, B 23/01-03-40]
  • Q 94: Briefdurchschlag von Karl Forster an Martin Heidegger vom 12. Dezember 1963 [Archiv der Katholischen Akademie in Bayern – Ordner: Festschrift für Romano Guardini]
  • Q 95: Brief von Martin Heidegger an Karl Forster vom 15. Dezember 1963 [Archiv der Katholischen Akademie in Bayern – Ordner: Festschrift für Romano Guardini]
  • Q 96: Brief von Romano Guardini an Percy Ernst Schramm vom 27.02.1964 [BSB Ana 342, B 23/06-3]
  • Q 97: Brief von Romano Guardini an Percy Ernst Schramm vom 14.03.1964 [BSB Ana 342, B 23/06-3]
  • Q 98: Widmung Heideggers an Guardini wohl Weihnachten 1963 [Guardini-Bibliothek Nr. 4061]
  • Q 99: Widmung Heideggers an Guardini (Weihnachten 1964) [Guardini-Bibliothek gb 4042]
  • Q 100: Gesprächsnotiz von Werner Dettloff (Juli 1964) [Privat-Nachlass]
  • Q 101: Brief von Martin Heidegger an Romano Guardini vom 13. Februar 1965 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 881]
  • Q 102: Postkarte Martin Heideggers an Romano Guardini vom 22. Dezember 1966 [BSB Ana 342, B 4-Sonderkonvolut, Mappe 1]
  • Q 103: Postkarte von Martin Heidegger an Romano Guardini vom 1. Januar 1968 [BSB Ana 342, B 4-Sonderkonvolut, Mappe 1]

Zum Stand der Guardini- und der Heidegger-Forschung

Die Beziehung zwischen Romano Guardini und Martin Heidegger wurde insbesondere in den achtziger Jahren von beiden Forschungsseiten her erstmals intensiver unter historischen Gesichtspunkten betrachtet.

Von Seiten der Guardini-Forschung geschah dies insbesondere durch die Biographie von Hanna-Barbara Gerl (dann Gerl-Falkovitz) aus dem Jahre 1985 [Gerl, Romano Guardini 1885-1968. Leben und Werk, Mainz 1985 und öfters], später ergänzt durch weitere Funde, unter anderem aus dem Mooshausener Pfarrhaus. [Dort wohnte der langjährige Guardini-Freund Josef Weiger, von Herbst 1943 bis Herbst 1945 auch Romano Guardini, der dorthin auch seine Berliner Bibliothek evakuiert und bis 1954 dort auch seine Berliner Bibliothek aufgestellt. Vgl. „Ich fühle, daß Großes im Kommen ist.“ Romano Guardinis Briefe an Josef Weiger 1908-1962, hrsg. durch Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Ostfildern 2008 - ab jetzt: Guardini, Briefe an Josef Weiger; dazu Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz (Hrsg.), Lauterkeit des Blicks. Unbekannte Materialien zu Guardini, Heiligenkreuz 2013.]

Von Seiten der Heidegger-Forschung ist hier insbesondere zu verweisen auf:

  • Bernhard Casper [Martin Heidegger und die Theologische Fakultät Freiburg 1909-1923, in: Freiburger Diözesan-Archiv, 100, 1980, S. 534-541],
  • Hugo Ott [Hugo Ott, Martin Heidegger und die Universität Freiburg nach 1945. Ein Beispiel für die Auseinandersetzung mit der politischen Vergangenheit, in: Historisches Jahrbuch, 105, 1985, S. 95-128; ders., Martin Heidegger. Unterwegs zu einer Biographie, Frankfurt/New York 1988; ders., Um die Nachfolge Martin Heideggers nach 1945, in: Annemarie Gethmann-Siefert (Hrsg.), Philosophie und Poesie. Festschrift für Otto Pöggeler, Band 2, Stuttgart 1988, S. 37 ff.] sowie
  • Alfred Denker [verschiedene Aufsätze 2002 bis 2005].

Zu deren Studien kam 2004 die Veröffentlichung der ersten beiden Briefe Guardinis an Martin Heidegger aus dem Jahr 1916 hinzu [Briefe Romano Guardinis an Martin Heidegger (1916), in: Heidegger-Jahrbuch, Band I: Heidegger und die Anfänge seines Denkens, Freiburg/München 2004, S. 69-71].

Von beiden Seiten – aber in der Summe eher unabhängig voneinander und bei weitem auch nicht vollständig – wurden insbesondere die Konstellationen zwischen 1945 und 1961 besprochen, vor allem im Blick auf den Umgang mit Martin Heideggers nationalsozialistischer Vergangenheit und auf seine Pensionierung mit Lehrverbot, dann auf die Emeritierung, auf die unterschiedlichen Berufungsanfragen an Guardini aus Freiburg, auf die Zusammenarbeit Guardinis mit Heidegger im Rahmen der „Akademie der Schönen Künste“ in Bayern und nicht zuletzt auf den Vorschlag Guardinis, Heidegger in diese Akademie zuzuwählen [Martin Heidegger, Briefe an Max Müller und andere Dokumente, hrsg. von ‎Holger Zaborowski und Anton Bösl, Freiburg i. Br./München 2003; Heidegger-Jahrbuch, Band 4: Heidegger und der Nationalsozialismus, hrsg. von Alfred Denker und Holger Zaborowski, Freiburg/München 2009; Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: Geheimnis des Lebendigen. Versuche zu Romano Guardini, Heiligenkreuz 2019]. Weder durch die beteiligten Forschergruppen selbst noch durch weitere Kreise wurden diese Funde aber abgeglichen, systematisch überprüft oder durch zum Teil schon länger vorliegende, zum Teil aber auch neuere und neueste Memoiren, Korrespondenzen und unveröffentlichte Archivalien ergänzt.

Erschwert wurde die Forschungslage auch dadurch, dass es zwar im März 1993 eine Anfrage von Franz Henrich, Direktor der Katholischen Akademie in Bayern und Vorsitzender des von Guardini testamentarisch eingesetzten Sachverständigengremiums für seinen Nachlass*, an Curd Ochwadt (1923-2012) bezüglich eventuell vorhandener Briefe von Guardini an Heidegger im Heidegger-Nachlass gab und dass Henrich dazu auch die Kopien der im Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern liegenden sieben Heidegger-Briefe an Ochwadt weitergab; dass Ochwadt aber damals nur auf jene zwei Briefe von 1916 verweisen konnte, die ihm bis dahin bekannt waren, und diese in Kopie an Henrich weiterleitete. Am Ende stand Ochwadts ernüchternde Feststellung, dass „sich kein Briefwechsel ergibt“ [Siehe Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern, Nr. 1921. 1999 hat Henrich im Vorfeld der Herausgabe der zwei Guardini-Briefe an Heidegger aus dem Jahr 1916 gegenüber Alfred Denker auf die Existenz der sieben weiteren Briefe hingewiesen (vgl. Guardini-Archiv ebd., Nr. 1922)]. Die von Henrich wohl schon intendierte Veröffentlichung eines solchen Briefwechsels wurde somit wieder „auf Eis“ gelegt. Die sieben Briefe in der Katholischen Akademie in Bayern sind dadurch selbst für die Guardini-Forschung wieder „in Vergessenheit“ geraten.

[* Dem Sachverständigengremium für Guardinis Nachlass gehörten ursprünglich Johannes Spörl (1904-1977), Bernhardine Sugg-Bellini (gestorben 1979), Werner Dettloff (1919-2016) und Felix Messerschmid (1904-1981) an, der zugleich als Testamentsvollstrecker fungierte. Felix Messerschmid hat dann Ende der siebziger Jahre den Vorsitz des Sachverständigengremiums an den für Johannes Spörl nachgerückten Direktor der Katholischen Akademie, Franz Henrich (* 1931), abgegeben. Für ihn selbst und Frau Sugg-Bellini rückten Eugen Biser (1918-2014) und Richard Heinzmann (* 1933) nach. Beratend fungierten Giuliano Guardini und Hans Mercker (vgl. dazu Romano Guardini, Berichte über mein Leben. Autobiographische Aufzeichnungen, hrsg. durch Franz Henrich, 1985, S. 9).]

Darüber hinaus kannte Henrich damals wohl auch selbst nicht den genauen Inhalt jenes Sonderkonvoluts, das Felix Messerschmid der Bayerischen Staatsbibliothek mit einem Sperrvermerk übergeben hatte, in dem sich – neben Entwürfen Guardinis für seinen Brief an Max Müller – drei weitere Heidegger-Briefe bzw. -Postkarten an Guardini befanden. Diese Mappe hat Henrich schließlich – zusammen mit einer großen Zahl von aus dem Nachlass Felix Messerschmids hinzu gekommener „privater Briefe“ von und an Guardini – Mitte der achtziger Jahre ohne Sperrfrist versiegeln lassen.

[Zur ursprünglichen „Heidegger-Mappe“ hinzugekommen waren rund 220 Briefe in zwei Mappen, darunter eine Mappe mit Briefen von Guardini an Felix Messerschmid persönlich sowie eine zweite umfangreichere mit Briefen und Briefwechseln ganz unterschiedlicher Art. Letztere Mappe konnte Hanna-Barbara Gerl für ihre Guardini-Biographie noch kursorisch, aber zeitlich sehr eingeengt auswerten. Dies erklärt nunmehr auch, warum sie Briefe zitieren konnte, die den nachfolgenden Nutzern des Guardini-Nachlasses in der Bayerischen Staatsbibliothek nicht mehr zugänglich waren, darunter zum Beispiel der Brief Max Schelers an Romano Guardini vom 4. Juli 1919 (Gerl, Romano Guardini, 1985, a.a.O., S. 108 f.).]

Aus diesem nun durch das Sachverständigengremium für den Nachlass Guardinis wieder geöffneten Sonderkonvolut werden im Folgenden insgesamt acht Archivalien aufgenommen. Es sollte daher weitere Jahrzehnte dauern, bis diese weitestgehend noch unbekannte Korrespondenz nun gesammelt veröffentlicht wird. Auch zu den bereits bekannten und ganz oder auszugsweise veröffentlichten drei Briefen Guardinis an Heidegger kommen hier aktuell zwei weitere Funde aus dem Nachlass Heideggers hinzu [Arnulf Heidegger hat sie kürzlich aufgefunden und uns dankenswerterweise noch zur Verfügung gestellt (siehe Q 58 und Q 60)].

Schließlich gibt es eine Vielzahl handschriftlicher Buchwidmungen Heideggers für Guardini, die sich in München in der Guardini-Bibliothek im Schloss Suresnes der Katholischen Akademie in Bayern befinden und die hier erstmals aufgeführt werden [Siehe zu weiteren Beständen Helmut Zenz: Romano Guardini im Spiegel seiner Bibliothek. Eine historische Spurensuche im Rahmen eines Seligsprechungsverfahrens, in: Beiträge zur altbayerischen Kirchengeschichte, 61, 2021 (erschienen 2022), S. 211-330, dort zu Martin Heidegger S. 260 f.].

Es handelt sich in dieser Dokumentation also vor allem auch um eine Auseinandersetzung und Zusammenschau mit insgesamt 103 neu- oder wiederedierte Quelltexte, die im Folgenden daher mit Q gekennzeichnet werden. Zusammen mit noch nicht oder erst jüngst veröffentlichten wechselseitigen Äußerungen in Schriften und Briefen über den jeweils anderen oder sein Werk ergibt sich ein sehr dichtes Bild eines langjährigen freundschaftlich-kritischen, „latenten“, aber auch – mehr als bisher bekannt – „offenen“ Gesprächs.

Dieses gesammelte Material soll hier in einem ersten Zwischenstand dargeboten werden – Zwischenstand deshalb, weil es sicherlich noch zu viel unbearbeitetes Quellenmaterial in Nachlässen und Korrespondenzen von anderen „Beteiligten“ dieses Gespräches gibt; weil allein die Zusammenstellung hier mit Sicherheit weitere Überprüfungen und Ergänzungen nach sich ziehen wird; und weil die folgende Zusammenstellung natürlich noch keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann. Vielmehr werden im Laufe der folgenden Darlegungen sogar einige bereits jetzt bekannte „Lücken“ benannt werden müssen. Offenbleiben muss vorerst zum Beispiel auch, inwieweit es in den Heidegger-Bibliotheken bzw. -Archiven ebenfalls Widmungen Guardinis an Heidegger gibt bzw. ob nicht doch auch noch der ein oder andere Brief von Guardini an Heidegger oder dergleichen auftauchen könnte, was dann diese langjährige Beziehung noch transparenter und verständlicher machen würde.

Vorgeschichten

Die gemeinsame Verbindung zur Erzabtei Beuron

Grundsätzlich bekannt war seit längerem, dass sowohl Heidegger als auch Guardini eine langjährige und intensive Beziehung zur benediktinischen Erzabtei Beuron pflegten. Heidegger hatte bereits als Kind mit seiner Mutter Wallfahrten nach Beuron gemacht. Außerdem hatten die Eltern Kontakte zu Beuroner Künstlermönchen, die in Meßkirch arbeiteten. Noch während der Gymnasialzeit (1903-1909) besuchte Heidegger die Beuroner Bibliothek und lernte darüber vor allem Pater Anselm Manser kennen und schätzen. [Zu Heidegger und Beuron erstmals Hugo Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu einer Biographie, a.a.O., S. 15, S. 23 f., S. 46-49 und S. 284-286; Alfred Denker, „Ein Samenkorn für etwas Wesentliches“. Martin Heidegger und die Erzabtei Beuron, in: Erbe und Auftrag, 79, 2003, S. 91-106; Johannes Schaber, Phänomenologie und Mönchtum. Max Scheler, Martin Heidegger, Edith Stein und Beuron, in: Stefan Loos/Holger Zaborowski (Hrsg.), Leben, Tod und Entscheidung. Studien zur Geistesgeschichte der Weimarer Republik, Berlin 2003, S. 73-103; zuletzt: Beatrix Kersten, Heilig und bergend zugleich? Romano Guardini und Martin Heidegger im Kloster Beuron, in: Beate Beckmann-Zöller/René Kaufmann (Hrsg.), Heimat und Fremde. Präsenz im Entzug. Festschrift für Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Dresden 2015; (2., überarbeitete)2016, S. 387 ff.]

Bei Guardini wusste man bisher, dass er im Wintersemester 1906/07, angeregt durch Josef Weigers Erzählungen, sich intensiver mit Beuron auseinandersetzte. In Guardini-Kreisen kursierte die Anekdote, dass Guardini bereits früh durch Pater Anselm Manser in Beuron auf Max Scheler aufmerksam gemacht worden sei [aufgenommen bei Gerl, Romano Guardini, 1985, a.a.O., S. 64, unter Berufung auf eine mündliche Mittei-lung durch Hans Ruess, einer der Sekretäre Guardinis aus Berliner Zeiten], also etwa um die Zeit, als er im Mai 1907 zusammen mit Karl Neundörfer den ersten eigenen Besuch dort machte. Man nahm zur Kenntnis, dass er gemeinsam mit Karl Neundörfer am 15. März 1908 sein Aufnahmejahr als Oblate des hl. Benedikt – bei Guardini verbunden mit der Annahme des zusätzlichen Namens „Odilo“ – begann und die Oblation im Jahr darauf am 21. April 1909 wiederum zusammen mit Neundörfer ablegte. Auch war bereits bekannt, dass das Mainzer Ehepaar Wilhelm und Josephine Schleußner, zu deren Kreis die Studenten Guardini und Neundörfer gehörten, Bezug zu Beuron hatte und dort ebenfalls Oblaten geworden waren. Übersehen wurde allerdings bei der bisherigen Durchsicht des Gästebuches der Erzabtei, dass darin für das gleiche Wochenende, an dem Guardini zusammen mit Karl Neundörfer seinen ersten Besuch in Beuron machte, tatsächlich auch der Münchner Privatdozent Max F. Scheler für den 21. Mai 1907 als Gast eingetragen ist [Gästebuch im Archiv der Erzabtei Beuron]. Angesichts der „Regeln“ benediktinischer Gastfreundschaft im Speisesaal ist es daher mehr als wahrscheinlich, dass die jungen Tübinger Theologiestudenten den Privatdozenten Scheler wahrgenommen haben, vielleicht auch mit ihm bekannt gemacht wurden; eher unwahrscheinlich ist dagegen, dass sie sich mit ihm bereits ausgiebiger unterhalten haben. Aber die Erzählung Guardinis gegenüber seinem Berliner Sekretär Hans Ruess erhält dadurch eine neue Evidenz.

Aus dem Gästebuch geht darüber hinaus hervor, dass es – neben den Erzählungen Weigers aus seiner Noviziatszeit im Wintersemester 1906/07 in Tübingen – in der Familie des Freundes Karl Neundörfer eine weitere eigenständige „Quelle“ für Guardinis Begeisterung für Beuron gegeben haben wird. Denn im Gästebuch sind bereits Besuche von Karl Neundörfer von dessen eigenen Freiburger Studiensemestern an belegbar, also ab dem Wintersemester 1903/04; darüber hinaus auch Aufenthalte von seinem Vater und seinen Brüdern.

Berücksichtigt werden muss außerdem, dass jeder Oblation ein einjähriges Vorbereitungsjahr vorausgeht, so dass das Ehepaar Schleußner infolgedessen bereits im April 1907, also ebenfalls noch vor dem ersten Besuch Guardinis in Begleitung von Karl Neundörfer im Mai, ihre Vorbereitung auf die Oblation begannen. Dies dürfte Guardini aufgrund seiner engen Zugehörigkeit zum Schleußner-Kreis und seiner besonderen Nähe zu Frau Schleußner wohl kaum entgangen sein [Vgl. Romano Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, Mainz 1995, S. 66]. Kurz nachdem am 15. März 1908 das eigene Vorbereitungsjahr von Guardini und Neundörfer begonnen hatte, legten die Schleußners am 23. April 1908 ihre Oblation ab. Im Archiv der Erzabtei befinden sich auch noch alle Oblaten-Urkunden aus dieser Zeit, sowohl die der Schleußners (Nr. 350 und 351) als auch die von Guardini (Nr. 373) und Neundörfer (Nr. 374), darüber hinaus die von den Mainzer Freunden Adam Gottron (Nr. 441 – Pfingsten 1912) und Erwin Eckert (Nr. 504 – 3. Juni 1914). [Zu Erwin Eckert vgl. Guardinis Besprechung der Aufführung von dessen Weihnachtsmysterium in Mainz, die er unter dem Pseudonym A. Wächter in der „Allgemeinen Rundschau“ veröffentlicht hatte: A. Wächter, Ein deutsches Weihnachtsmysterium, in: Allgemeine Rundschau, München, 1916, 2, 15. Januar 1916, S. 33-34. An dieser Stelle sei auch vermerkt, dass sich Guardinis Bemerkung in seinem Brief an Josef Weiger vom 6. August 1916 („Eckert wollten wir angehen um eine Arbeit über die Bedeutung des religiösen Dramas, bes. des Mysterienspiels für die Volksreligiosität.“) ebenfalls auf Erwin Eckert bezieht und es sich nicht, wie noch von Gerl-Falkovitz vermutet, „vielleicht … um Alois Eckert (1890, Hochheim/Main, bis 1969, Frankfurt)“ handelt (Guardini, Briefe an Josef Weiger, 2008, S. 416).]

Persönliche Begegnungen zwischen Heidegger und Guardini in Beuron in dieser frühen Zeit hat es hingegen mit großer Wahrscheinlichkeit keine gegeben, obwohl Heidegger während seines Studiums und bis zu seiner Habilitation Beuron noch mehrfach besucht haben soll. Das gleiche gilt für Guardini, der ebenfalls nach seiner Oblation am 21. April 1909 noch mehrere Male in Beuron in wechselnder Begleitung zu Besuch oder auf Exerzitien war. So eine frühe Begegnung hätte in den wechselseitigen Erinnerungen sicher einen Niederschlag gefunden.

Dennoch wird diese gemeinsame „Vorgeschichte“ durch die neuen Funde für Guardinis Biographie transparenter und wirkungsgeschichtlich klarer fassbar. Und weitere Funde im Archiv der Erzabtei Beuron oder in den Nachlässen anderer Beuroner Mönche, Oblaten und Freunde auch in Bezug auf Guardini und Heidegger bleiben zu erwarten.

Als ein Beispiel mag noch der Beuroner Malermönch Willibrord Verkade angeführt werden, von dem es schon bei Alfred Denker heißt, dass ihn der dänische Dichter Johannes Jörgensen in Kopenhagen kennengelernt habe. Durch diese Begegnung habe Beuron in Jörgensens Bekehrungsgeschichte eine große Rolle gespielt, so dass er „1895 mit 28 Jahren zum Katholizismus konvertierte und auch als katholischer Schriftsteller beliebt war und viel gelesen wurde“[Denker, Martin Heidegger und die Erzabtei Beuron, a.a.O., S. 94]. Jan Verkade hatte sich selbst erst kurz zuvor – ursprünglich aus einer mennonitischen Familie stammend – 1892 katholisch taufen lassen, war 1894 als Novize in Beuron eingetreten und hatte den Ordensnamen „Willibrord“ angenommen. Verkade wiederum gehörte zu jenen Beuroner Künstlermönchen, die – ähnlich wie Guardini mit den „Weißen Reitern“ um Karl Gabriel Pfeill [Karl Gabriel Pfeill (Hrsg.), Der weiße Reiter. Das erste Sammelbuch, Düsseldorf 1920, darin: Romano Guardini, Die Liturgie als Spiel, S. 70-78] – nach einer katholischen Antwort auf den „Expressionismus“ der „Blauen Reiter“ um Franz Marc suchten. Außerdem war Verkade 1921 Teilnehmer der Älteren-Tagung der Quickbornjugend auf Burg Rothenfels und berichtete in der „Benediktinischen Monatsschrift“ sichtlich beeindruckt von den „Vorträgen des Meisters Guardini“ [Willibrord Verkade, Eindrücke von der Älteren-Tagung der Quickbornjugend auf Burg Rothenfels am Main, in: Benediktinische Monatsschrift, Beuron, 3, 1921, 11/12, S. 472-474, zu Romano Guardini siehe S. 478].

[Zu denken wäre aber zum Beispiel auch an P. Daniel Feuling OSB, der Heidegger 1930 auf der Todtnauer Berghütte besuchte und anschließend Edith Stein davon erzählte (vgl. Johannes Schaber, Zwischen Theologie und Seelsorge. Der Beuroner Benediktinerphilosoph Daniel Feuling (1882-1947), in: Erbe und Auf-trag, 79, 2003, S. 206-223, hier S. 215); an den in Salzburg wirkenden Philosophen P. Alois Mager OSB und an P. Placidus Pflumm, den „besten Freund von P. Anselm“, den Heidegger bei seinem Beuron-Besuch am 10. November 1954 als einzigen von den alten Patres antraf und mit ihm „ins Gespräch über die gute alte Zeit“ kam (Alfred Denker/Elsbeth Büchin, Martin Heidegger und seine Heimat, 2005, S. 33). Alle drei gingen auch im Pfarrhaus Mooshausen von Josef Weiger aus und ein und waren mit Romano Guardini befreundet.]

Heidegger wiederum hat bereits früh zwei Bücher des besagten dänischen Dichters Jörgensen rezensiert. Alfred Denker weist zu Recht auf die Bedeutung hin, wenn Heidegger in seiner Rezension über das Buch „Lebenslüge und Lebenswahrheit“ in diesem Dichter-Vorbild einen modernen Augustinus und einen großen Gottsuchenden sieht. Heidegger kannte nun aber nachweislich auch Pater Verkade schon aus seiner ersten Beuroner Zeit. Denn von seinem Besuch in Beuron im Oktober 1930 schrieb er am 19. Oktober an seine Frau: „Pater Anselm ist rührend u. besorgt; er hatte mir zum Empfang – schon allerlei philosophische Bücher auf die Zelle gestellt; dazu Mörike – der Umgang mit ihm ist mir ein großer Gewinn u. ich habe Vertrauen zu ihm gefaßt. Von den älteren Mönchen, die ich kenne, ist nur der Holländer Verkade da u. der ist sehr herzkrank“[„Mein liebes Seelchen!“. Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride 1915-1970, herausgegeben, ausgewählt und kommentiert von Gertrud Heidegger, München 2005, S. 167].

Die gemeinsame Autorenschaft in der Zeitschrift „Der Akademiker“

Die besagte Heidegger-Rezension über Jörgensens „Lebenslüge und Lebenswahrheit“ wurde in der Zeitschrift „Der Akademiker“ veröffentlicht. 1988 hat Hugo Ott erstmals auf Heideggers Aufsätze in dieser Zeitschrift hingewiesen sowie auf weitere Autoren aufmerksam gemacht, darunter: R. A. Guardini und Oswald von Nell-Breuning [Hugo Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu einer Biographie, a.a.O., S. 62 f. und 71]. In der Guardini-Forschung wurden die beiden Texte Guardinis, eine Rezension und eine Kunstbetrachtung, aber erst viel später durch Berthold Gerner und Gunda Brüske wahrgenommen [Romano Guardini, Rezension zu: P. Sebastian von Oer, Unsere Tugenden, Plaudereien, 3. Aufl. Freiburg 1908, in: Der Akademiker, 2, 1910, 5 (März 1910), S. 79-82; ders., Beuroner Madonnen, in: Der Akademiker, 2, 1910, 7 (Mai 1910), S. 104-105]. Sie waren daher weder in die Mercker-Bibliographie (1978) noch in deren Ergänzung durch Berthold Gerner (1987) eingegangen.

In keinem der beiden Forschungsbereiche war aber in der Folgezeit der Frage nachgegangen worden, um was für eine Zeitschrift genau es sich dabei handelt. Es gab also keine historische Einordnung des Engagements der beiden Studenten. Aber auch die Frage, ob sich aus der Abfolge der Artikel irgendwelche Schlussfolgerungen ziehen lassen, wurde nicht gestellt. Dabei beginnt die Geschichte dieser Zeitschrift interessanterweise mit der Bildung von akademischen Studentenvereinen bzw. Dozenten, Absolventen und Studenten übergreifenden Akademikerverbänden ab Ende des 19. Jahrhunderts. 1901 hatten sich der „Akademische Görres-Verein“ von München und die „Akademischen Leovereine“ von Innsbruck und Wien zusammengeschlossen; 1905 kam die „Akademische Vereinigung ‚Renaissance’“ in Zürich hinzu. Der Zusammenschluss hatte den Namen „Verband katholischer Studentenvereine zur Pflege der Wissenschaft“ und bestand bis 1914. Die zugehörige Verbandszeitschrift waren die „Akademischen Monatsblätter der katholischen Studentenvereine Deutschlands“, die im ersten Jahrgang bereits 1888/89 erschienen sind und 1916/17 mit dem 29. Jahrgang eingestellt wurden [Vgl. zur Entstehungsgeschichte u. a. Eintrag in: Kirchliches Handbuch für das katholische Deutschland, 1908, S. 261; Christoph Baumer, Die „Renaissance“. Verband Schweizerischer Katholischer Akademiker-Gesellschaften, 1904-1996, 1998].

Dieser bereits aus mehreren Komponenten gebildete Verband schloss sich dann 1907 mit den schon älteren Piusvereinen sowie mit den von Carl Sonnenschein ab 1903 gegründeten Sozial-caritativen Vereinigungen zum „Katholischen Akademikerverband“ zusammen – und zwar mit Sitz in München.

[Dieser „Katholische Akademikerverband“ ist zu unterscheiden von dem wenige Jahre später 1913 ins Leben gerufenen Zusammenschluss von katholischen Akademikervereinen als „Verband der Vereine zur Pflege der katholischen Weltanschauungen“ bzw. „Verband der Vereine katholischer Akademiker“, der später schließlich auch als „Katholischer Akademikerverband“ bezeichnet wurde. Die im Umfeld der zur Beuroner Kongregation gehörenden Abtei Maria Laach mit ihrem Abt Ildefons Herwegen protegierte „Katholische Akademikerbewegung“, zu der auch später mit Guardini befreundete Persönlichkeiten wie Hermann Platz, Theodor Abele, Paul Simon gehörten – veranstaltete liturgische Wochen und akademische Tagungen vor Ort, aber auch regionale und nationale Veranstaltungen. Nach dem Ersten Weltkrieg engagierte sich Guardini bis zu seinem Wechsel nach Berlin gemeinsam mit Arnold Rademacher in der Bonner Ortsgruppe dieses Katholischen Akademikerverbandes und hielt auf mehreren regionalen und nationalen Tagungen Vorträge, darunter die besonders bekannt gewordenen über den „Sinn der Kirche“ (1921 in Bonn) und über „Liturgische Bildung“ (1923 in Ulm).]

Unter der Redaktion des Münchner Assyriologen und Orientalisten Ernest Lindl erschien als dessen Organ von November 1908 bis zum 9. Jahrgang 1916/17 eben jene Zeitschrift „Der Akademiker. Monatsschrift des Katholischen Akademikerverbandes“, in der eben auch Guardini und Heidegger veröffentlichten.

Nicht unerwähnt bleiben darf, dass Guardini nach eigenem Bekunden in Tübingen geholfen hatte, Carl Sonnenscheins sozial-caritative Vereinigung aufzubauen [Romano Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, a.a.O., S. 107 f.]; und auch dass mittlerweile herausgefunden werden konnte, dass Guardini in Mainz zum Wintersemester 1908/09 Mitglied des Mainzer Piusvereins wurde und in ihm im Dezember 1908 einen Vortrag „Über das Wesen des Kunstwerks“ gehalten hat, der wohl nicht nur dem Titel nach als erste Vorarbeit für den 1947 in Tübingen gehaltenen Vortrag gelten kann. Ihm folgten noch weitere Referate.

Interessant wird die Einordnung dieses „studentischen“ Katholischen Akademikerverbandes und seiner Zeitschrift „Der Akademiker“ für die Vorgeschichte der Beziehung zwischen Guardini und Heidegger, wenn man sich die Abfolgen einiger Aufsätze in dieser Zeitschrift chronologisch vor Augen führt:

  • Im Dezember 1908 stellte Heinrich Auer die sozial-caritativen Vereinigungen katholischer Studenten Deutschlands vor.
  • Im Januar 1909 rezensierte Carl Sonnenschein F. W. Foersters „Christentum und Klassenkampf“.
  • Im November 1909 rezensierte Karl Neundörfer „Über staatsbürgerliche Bildung“. In diesem Heft ist auch Hertlings „Über alte und neue Philosophie“ abgedruckt.
  • Im Januar 1910 machte sich der Mainzer Freund Adam Gottron „Gedanken zur Wiederbelebung des deutschen Volksliedes“. Gottron, ebenfalls Mitglied des Schleußner-Kreises und Beuroner Oblate, schrieb weitere Beiträge bis Mai 1911.
  • Im März 1910 folgte nun im selben Heft einerseits Guardinis Rezension über das Buch des Beuroner Paters Sebastian von Oer: „Unsere Tugenden“ sowie andererseits Heideggers schon genannte Rezension über Jörgensens „Lebenslüge und Lebenswahrheit“. In diesem Heft wurden außerdem Passagen aus Foersters „Autorität und Freiheit“ abgedruckt.
  • Im Mai 1910 erschienen - wiederum im selben Heft - Guardinis Kunstbetrachtung „Beuroner Madonnen“ und Heideggers Rezension zu Foersters „Autorität und Freiheit“.
  • Heidegger publizierte noch weitere Rezensionen und Aufsätze bis Januar 1913.

Nun ist es nahezu ausgeschlossen, dass man nicht über den Namen des jeweils anderen Autors „stolpert“, der zweimal hintereinander jeweils im gleichen Heft über einem selbst nahestehende Themen wie Beuron, Friedrich Wilhelm Foerster oder zeitgenössische katholische Literatur schreibt.

Die gemeinsamen Freiburger Bezugspersonen

Angesichts dieser Zusammenhänge wird auch zukünftig zu prüfen sein, inwieweit nicht auch einige in diesen Kontext involvierte Professoren und Freunde in das in Freiburg beginnende Gespräch zwischen Heidegger und Guardini eingebunden sind. Dafür lohnt es sich, sich noch einmal intensiver über die Vorlesungen und Seminare, die Guardini und Heidegger in Freiburg besucht haben, zu erkundigen. Einige neue Erkenntnisse sollen hier vorgestellt werden:

Die Freiburger Lehrer Guardinis und Heideggers im Überblick

Für Guardini hat Freiburg bekanntlich eine Vorgeschichte durch sein erstes Theologiesemester im Sommer 1906 [Interessanterweise „verlegt“ Guardini selbst dieses eine Semester in einem Brief 1954 an Max Müller gerichteten Brief (siehe Q 69) irrtümlich in das Jahr 1907]. In der Bayerischen Staatsbibliothek liegt dafür das Studien- und Sittenzeugnis vom 14. November 1906 [BSB Ana 342, C. Lebensdokumente, Schachtel 1, Mappe 4.]. Auf der Rückseite des Zeugnisses sind die offiziell belegten Veranstaltungen aufgeführt: Bei Prof. Hoberg belegte er Themen „Einleitung in die Hl. Schriften d. Neuen Testaments“, „Bibel und Wissenschaft“, „Erklärung der Psalmen der Vulgata“ und „Messianische Weissagungen in Verbindung mit den Hauptregeln der Hermeneutik“, bei Prof. Pfeilschifter das Thema „Allg. Kirchengeschichte II“ und bei Prof. Sauer die Themen „Die Anfänge des Christentums u. der Kirche in Deutschland“ und „Die christliche Kunst im 19. Jahrhundert“. Hingewiesen werden muss darauf, dass keineswegs alle Vorlesungen und Seminare, die man belegt hat, von einem solchen Zeugnis erfasst werden, sondern nur diejenigen, bei denen man sich vom Lehrenden auch ein Zeugnis ausstellen hat lassen. So erwähnt Guardini in seinen eigenen Erinnerungen, dass er den Dogmatiker Carl Braig gehört habe, der aber nicht im Studien- und Sittenzeugnis auftaucht, fasst den stark belegten Alttestamentler Hoberg aber unter „andere“, wenn er in seinen Erinnerungen schreibt: „Das Studium machte mir Freude. Ich hörte den Dogmatiker Carl Braig, den Kirchenhistoriker Franz Pfeilschifter, den Archäologen August Sauer und andere“[Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, a.a.O., S. 76]. Bei Vornamen zeigt sich Guardini mehrfach in seinen Erinnerungen nicht treffsicher, denn beim Kirchengeschichtler handelt es sich natürlich um Georg Pfeilschifter und beim Archäologen um Joseph Sauer.

Nun hat auch Heidegger 1909/10 noch bei den Professoren Gottfried Hoberg, Georg Pfeilschifter und Joseph Sauer gehört [Vgl. dazu Bernhard Casper, Martin Heidegger und die Theologische Fakultät Freiburg 1909-1923, in: Freiburger Diözesan-Archiv, 100, 1980, S. 536].

Hoberg und Pfeilschifter haben aber weder bei Guardini noch bei Heidegger einen größeren autobiographischen Nachhall erfahren, daher seien sie hier nur kurz vorgestellt:

Prof. Gottfried Hoberg (1857-1924) hatte nach dem Dr. phil. und Dr. theol. zunächst ab 1886 als Privatdozent der Universität Bonn gewirkt. 1887 wurde er Professor für das Alte Testament in Paderborn. Ab 1890 hatte er an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg zunächst die Professur für das Neue Testament und ab 1893 auch für Altes Testament inne. Das Fach Neues Testament übernahm 1895 Prof. Karl Theodor Rückert, der allerdings 1907 verstarb, ihm folgte von 1907/08 bis 1916 Prof. Simon Weber, bis er 1915 zum Domkapitular berufen worden war. Diese Fach-Aufteilung wird aufgeführt, um Bernhard Caspers Darstellung von 1980 zu stützen, nachdem Hoberg in anderer Heidegger-Sekundärliteratur als Heideggers Professor für „Neues Testament“ vorgestellt wird, zum Beispiel bei Johannes Schaber (Heideggers frühes Bemühen um eine „Flüssigmachung der Scholastik“ und seine Zuwendung zu Johannes Duns Scotus, in: Norbert Fischer/Friedrich W. von Herrmann, Heidegger und die christliche Tradition, 2007, S. 91-128, hier S. 102): „Im zweiten Semester konzentrierte sich seine theologische Arbeit auf die neutestamentliche Exegese und Patristik bei Professor Hoberg“[vgl. dagegen richtig ders., Martin Heideggers „Herkunft“ im Spiegel der Theologie- und Kirchengeschichte des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, in: Heidegger-Jahrbuch, Band 1, a.a.O., 2004, S. 159-184, hier S. 174 und die ebenfalls im Jahrbuch abgedruckte Vorlesungs- und Seminartabelle auf S. 13 f.].

Prof. Georg Pfeilschifter (1870-1936) war nach seiner Habilitation zunächst im Jahr 1900 Privatdozent für Kirchengeschichte in München, erhielt aber im gleichen Jahr die außerordentliche Professur für Kirchengeschichte und Patrologie an der Philosophisch-theologischen Hochschule in Freising. 1903 wechselte er dann auf die Professur für Kirchengeschichte an die Universität Freiburg.

Im Folgenden können wir uns daher auf Joseph Sauer konzentrieren.

Aber auch das „Studien- und Sittenzeugnis” der Universität Freiburg vom 15. Juni 1914 für das Promotionsstudium Guardinis liegt noch vor [BSB Ana 342, C. Lebensdokumente, Schachtel 1, Mappe 4.]. Besonders aufschlussreich ist der Passus über die Fachabfolge: zunächst Theologie, im Sommersemester 1913 und Wintersemester 1913/14 Philologie und seit Ostern 1914 wiederum Theologie. Dieser Studienfachwechsel von der Theologie in die Philologie und wieder zurück, wurde bislang in der Guardini-Forschung nicht wahrgenommen. Aus dem rückseitigen Belegverzeichnis geht hervor, dass Guardini im Wintersemester 1912/13 erneut Kirchengeschichte bei Prof. Pfeilschifter sowie Kirchenrecht bei Prof. Göller hörte, im Sommersemester 1914 schließlich die „Erklärung der Genesis“ bei Prof. Hoberg. Außerdem belegte er im Wintersemester 1912/13 bei Dr. Krebs die Themen „Bonaventura u. seine Schule“ und „Thomas von Aquin, de vita e passione Christi“ und im Sommersemester 1914 das „Dogmatische Seminar“ bei Prof. Braig. Die beiden philologischen Semester weisen jeweils nur eine Veranstaltung aus. Während er im Sommersemester 1913 tatsächlich „Hebräische Laut- und Formenlehre“ bei Prof. Reckendorf belegte, steht für das Wintersemester 1913/14 allein das Thema „Die deutsche Philosophie von Kant bis Nietzsche“ bei Prof. Rickert zu Buche, so dass der Eindruck entsteht, dass diese philosophische Veranstaltung quasi als „philologische“ Belegung gewertet wurde. Diese vierstündige Rickert-Vorlesung hatte auch Heidegger besucht [Siehe Heidegger-Jahrbuch, Band 1, 2004, S. 16]. Es handelt sich um jene Vorlesung, die in einem der beiden Guardini-Briefe an Heidegger aus dem Jahr 1916 erwähnt wird [Siehe unten Q 3].

Für Guardinis Promotionsstudium in Freiburg stehen also auch die Professoren Göller und Reckendorf zu Buche. Göller hat von Guardini immerhin eine Reminiszenz in der Danksagung seiner Promotion über Bonaventura erhalten [Romano Guardini, Die Lehre des heiligen Bonaventura von der Erlösung, Düsseldorf 1921, S. VII].

Prof. Emil Göller (1874-1933) hatte in Freiburg 1900 den Dr. phil., 1907 den Dr. theol. erworben, erhielt dort 1908 den Ruf an die Theologische Fakultät und war ab 1909 Professor für Kirchenrecht. Erst ab 1917 vertrat er dort das Fach Kirchengeschichte. Für Guardini und Heidegger war Göller daher vor allem für das Fach Kirchenrecht relevant.

Reckendorf dagegen blieb bislang ohne weitere Erwähnung.

Prof. Hermann Reckendorf (1863-1924), ursprünglich Samuel Reckendorf, war Orientalist, Arabist und Literaturwissenschaftler, der sich 1888 an der Universität Freiburg habilitiert hatte, war ebendort zunächst als Privatdozent, dann seit 1893 als außerordentlicher, seit 1899 als etatmäßiger außerordentlicher Professor für semitisch-orientalische Philologie und seit 1908 als ordentlicher Professor für Orientalische Sprachen tätig.

Die philosophischen Lehrer Carl Braig, Engelbert Krebs und Heinrich Rickert

Auf die gesamte Studienzeit gesehen werden bei Guardini für das Theologiestudium in Freiburg im Sommer 1906 die Namen Joseph Sauer und Carl Braig, dann für das Promotionsstudium vor allem Engelbert Krebs relevant.

Einflussreich blieb aber auch und zwar durchgängig Herman Schell durch sein Werk: In der Guardini-Bibliothek in München befinden sich Schells „Der Katholizismus als Prinzip des Fort-schritts“ (1897, gb 3401) mit Lesedatum „17.10.-11.11.05“ sowie mit zahlreichen handschriftlichen Eintragungen sowie – ebenfalls mit handschriftlichen Anstreichungen – die Bücher „Das Wirken des dreieinigen Gottes“ (1885, Guardini-Bibliothek gb 3392) und „Die neue Zeit und der alte Glaube“ (1898, Guardini-Bibliothek gb 3403).

Großen Einfluss übte auch Wilhelm Koch in Tübingen aus, nicht nur als Dogmatiker, sondern auch als Beichtvater [Romano Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, a.a.O., S. 79 f.]. Auf philosophischem Gebiet wurde Guardini nachweislich von Georg Simmel, Heinrich Rickert und Max Scheler geprägt.

Auch Heidegger berichtet für den Beginn seines Theologiestudiums eine große Wertschätzung Herman Schells, nachdem ihm die „damals vorgeschriebenen Vorlesungen“ nur „wenig“ befriedigten, er sich daher „auf das Selbststudium der scholastischen Lehrbücher“ verlegt hatte: Diese Lehrbücher verschafften ihm zwar „eine gewisse formale logische Schulung“, gaben ihm „aber in philosophischer Hinsicht nicht das, was“ er „suchte, und auf apologetischem Gebiete durch die Werke von Herman Schell gefunden hatte. Neben der kleinen Summa des Thomas von Aquin und einzelnen Werken von Bonaventura waren es die logischen Untersuchungen von Edmund Husserl“, die für seinen „wissenschaftlichen Entwicklungsgang“ entscheidend wurden [Martin Heidegger, Lebenslauf (Zur Habilitation 1915), in: ders., Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges. 1910-1976, Gesamtausgabe (GA) Band 16, Frankfurt am Main 2000, S. 37-39, hier S. 37].

Bei Heidegger kommt zusätzlich zu den Genannten noch der Einfluss durch den Leiter des Knabenkonvikts in Konstanz, das Heidegger besuchte, hinzu: der Meßkirchner Konrad Gröber, der spätere Erzbischof von Freiburg. Er war mit den Heideggers entfernt verwandt und schenkte ihm 1907 bekanntlich die Aristoteles-Dissertation von Franz Brentano [Heidegger berichtet von diesem Geschenk im Sommer 1907 in: Martin Heidegger, „Aus einem Gespräch von der Sprache. Zwischen einem Japaner und einem Fragenden …“ (1953/54), erstmals gedruckt in: ders., Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, S. 83-155, hier S. 134]. Da Gröber aber für Guardini selbst erst im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit für die Liturgische Bewegung in den dreißiger Jahren relevant wird, muss er an dieser Stelle nicht weiter berücksichtigt werden.

Hier interessieren nun also vor allem Carl Braig, Engelbert Krebs und Heinrich Rickert. Die Unkenntnis von der gemeinsamen Studienzeit in Freiburg und der gemeinsamen „Schülerschaft“ führte wohl auch zu einer lang fehlenden Sensibilität für eine mögliche Beeinflussung Guardinis und Heideggers durch diese Lehrer.

Carl Braig (1852-1923)

In der Guardini-Bibliothek in München befindet sich ein mit handschriftlicher Datumsangabe „17.05.06“ und zahlreichen handschriftlichen Eintragungen versehenes Exemplar von gesammelten Aufsätzen Carl Braigs, die 1896 unter dem Titel „Vom Denken. Abriß der Logik“ erschienen waren. Es gehört daher zu den frühen Studienbüchern Guardinis [gb 4252]. Guardini hatte auch bei seinem ersten theologischen Studiensemester in Freiburg, bevor er nach Tübingen wechselte, bei Braig gehört und in seinen Erinnerungen „Berichte über mein Leben“ auch auf dieses Buch und auf die Persönlichkeit seines Lehrers Braigs verwiesen:

„Ich hatte schon früher seinen ‚Abriß der Philosophie’ studiert und von manchen Teilen – genauer muß ich wohl sagen: Sätzen – einen starken Eindruck gewonnen. Ein philosophischer Urlaut war darin. Man schätzte ihn nicht sehr. Er war von Tübingen gekommen. Von Hause Philosoph, hatte er dann eine theologische Professur übernommen. Seine Vorlesungen waren zu schwer. Er war ein Grübler. Ich sehe ihn noch, wie er, mit einem kleinen Bleistift in der Hand, auf die Spitze dieses Bleistiftes schaut und ganz versunken redet“[Romano Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, a.a.O., S. 25].

Eine tiefergehende Beeinflussung scheiterte bei Guardini also an Sprache und Persönlichkeit Braigs, die später auch dazu führte, dass er die zunächst von Braig gestellte Doktoraufgabe nicht verstand:

„Also ging ich zu Prof. Carl Braig. […] ... Als ich bei meinem Besuch auf ihn zutrat, machte er eine kleine Bewegung des Zurückweichens. Später erfuhr ich, daß er immer so tue; es war für ihn charakteristisch. Ich sagte ihm, welchen Eindruck sein ‚Abriß’ auf mich gemacht hätte; da erwiderte er in seinem schwäbischen Tonfall: ‚Ich weiß gar net mehr, was ich g’schrieben hab.’ Auch das war charakteristisch: er hatte aufgeben müssen, was ihm eigentlich wichtig gewesen war. Dann erzählte ich ihm, woher ich komme, was man mit mir vorhabe und fragte ihn wegen eines Themas. Er riet mir zu einem Vergleich zwischen Thomas von Aquin und Wilhelm Wundt. Ich erinnere mich nicht mehr, wo der Vergleichspunkt liegen sollte; jedenfalls wundere ich mich heute noch, wie ein akademischer Lehrer ein solches Thema geben konnte. Natürlich ging es auch damit schief. Ich konnte mit ihm nichts anfangen und stand nach kurzer Zeit wieder vor dem Nichts“[Ebd., S. 25 f.].

Bei Heidegger wissen wir, dass er Braigs Werke „Vom Sein. Abriß der Ontologie“ (1896) und „Vom Erkennen. Abriß der Noetik“ (1897) durchgearbeitet hat. Er hatte während seines Theologiestudiums viel bei Carl Braig gehört und dessen theologische Vorlesungen sogar noch in den Jahren nach Abbruch des Theologiestudiums weiter besucht. Braigs Sichtweise war, wie Heidegger erwähnte, nicht auf die Untersuchung des Problems des Seins in einem aristotelisch-thomistischen Sinn beschränkt. Durch Braig wurde er sich der Bedeutung moderner Ideen von Metaphysik außerhalb des Rahmens der Kirche bewusst, insbesondere jener Hegels und Schellings – oder mit seinen eigenen Worten ausgedrückt:

„Eine theologische Vorlesung hörte ich auch noch in den Jahren nach 1911, diejenige über Dogmatik bei Carl Braig. Dazu bestimmte mich das Interesse an der spekulativen Theologie, vor allem die eindringlichste Art des Denkens, die der genannte Lehrer in jeder Vorlesungsstunde Gegenwart werden ließ. Durch ihn hörte ich zum ersten Mal auf wenigen Spaziergängen, bei denen ich ihn begleiten durfte, von der Bedeutung Schellings und Hegels für die spekulative Theologie im Unterschied zum Lehrsystem der Scholastik. So trat die Spannung zwischen Ontologie und spekulativer Theologie als das Baugefüge der Metaphysik in den Gesichtskreis meines Suchens“[Martin Heidegger, Mein Weg in die Phänomenologie (1963), in: Martin Heidegger in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, dargestellt von Walter Biemel, Reinbek 1973, S. 21; dann in: ders., Zur Sache des Den-kens, Tübingen 1976, S. 81-90, hier S. 81 f., jetzt auch in: ders., Zur Sache des Denkens, Gesamtausgabe, Bd. 14, 2007, hier S. 94. Vgl. hierzu: Hugo Ott, Zu den katholischen Wurzeln im Denken Martin Heideggers. Der Theologische Philosoph, in: Christoph Jamme/Karsten Harries, Martin Heidegger. Kunst, Politik, Technik, München 1992, S. 225 ff., zu Braig S. 228-230 und 236]

Bezüglich Carl Braig hat erst die 2004 publizierte Doktorarbeit von Daniel Esch das Forschungsdefizit über den Lehrer Guardinis und Heideggers behoben, der die beiden darin ausführlich als „bekannteste Schüler“ Braigs beschreibt [Daniel Esch, Apostolat der Dialektik. Leben und Werk des Freiburger Theologen und Philosophen Carl Braig (1853-1923), 2004]. Bei Esch wird auch deutlich, dass Braig eine „Brücke“ von Heidegger und Guardini zu Engelbert Krebs darstellt, der ebenfalls ein Schüler Braigs war. Johannes Schaber weist in seinem Aufsatz „Der Theologiestudent Martin Heidegger und der Dogmatikprofessor Carl Braig“ darauf hin, dass Heidegger auch noch fünfzig Jahre nach seinem Studium bei Braig die Lektüre der Schriften des Dogmatikers und Philosophen empfahl [Johannes Schaber, Der Theologiestudent Martin Heidegger und sein Dogmatikprofessor Carl Braig, in: Freiburger Diözesan-Archiv, 125, 2005, S. 332-347, hier S. 332]. Vor diesen Arbeiten von Esch und Schaber hatte immerhin Franco Volpi in seinen Beiträgen zur italienischen Heidegger-Forschung den Einfluss von Braigs Buch „Vom Sein“ auf Heideggers eigenes Verständnis herausgearbeitet [Franco Volpi, Heidegger e Brentano. L´ aristotelismo e il problema dell´ univocità dell´ essere nella formazione filosofica del giovane Martin Heidegger, 1976; (2)1984; dann ders., Alle origini della concezione Heideggeriana dell’Essere. Il Trattato Vom Sein di Carl Braig, in: Rivista critica di storia della filosofia, 2, 1980, S. 183-194; ders., Le fonti del problema dell'essere nel giovane Heidegger. Franz Brentano e Carl Braig, in: C. Esposito/P. Porro (Hrsg.), Heidegger e i medievali. Atti del Colloquio Internazionale Cassino 10/13 maggio 2000), Quaestio I, Turnhout-Bari 2001, S. 39-52]. Die Studien Volpis fanden lange Zeit aber nur spärlich und meist auch nur kursorisch erwähnend Eingang in die deutsche Heidegger-Forschung [Rezension zu: Volpi, Heidegger e Brentano, in: Theologie und Philosophie, 62, 1987, S. 116: „Ziemlich unbeachtet von den deutschen Heidegger-Interessenten hat sich in Italien eine ernst zu nehmende, nicht zuletzt historisch angelegte Rezeption des Freiburger Meisters vollzogen.“].

Die „Doktorväter“ Romano Guardinis

In seinen „Berichten über mein Leben“ schrieb Guardini, dass ihm – nachdem die Themenstellung durch Carl Braig schiefgegangen war, ein Bekannter geraten habe, „zu dem damaligen Privatdozenten Engelbert Krebs zu gehen, der als klug und hilfsbereit galt, und dem man große geistige Unbefangenheit nachrühmte“:

„Das tat ich und habe es nicht bereut. Er wies mich auf den heiligen Bonaventura, von welchem die kritische Ausgabe von Quaracchi vorlag, sodaß das erste Erfordernis für eine systematische Untersuchung gegeben war. Und zwar sollte ich seine Erlösungslehre behandeln. So hatte ich denn endlich mein Thema und habe an ihm durch anderthalb Jahre gearbeitet. Eine ziemlich lange Zeit, was man denn auch von Mainz her nicht anzudeuten verfehlte“[Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, a.a.O., S. 27].

Guardini begründete die „lange Zeit“ mit seiner methodischen Schwierigkeit, dass er historisch arbeiten sollte, seine eigenen Interessen „aber auf systematische Fragen“, insbesondere auf die von ihm und Karl Neundörfer entwickelte Typen- und Gegensatzlehre gingen. Daher wollte er mehr über die Gestalt „Bonaventura“ schreiben als über die historischen Kontexte von dessen Erlösungslehre:

„Bonaventura war in besonderer Weise dafür geeignet, denn seine Theologie vereinigt verschiedene Elemente. Er ist Augustinianer, der sich mit einiger Mühe in die aristotelische Zeitströmung fügt, und im übrigen mehr ‚homo religiosus’ und Mystiker als Theoretiker“[Ebd.]

Nachdem Franz Henrich 1984 diese „Berichte über mein Leben“ erstmals herausgegeben hatte, nahm Hanna-Barbara Gerl dies in ihrer Guardini-Biographie von 1985 zum Anlass, richtig zu stellen, dass Engelbert Krebs die Doktorarbeit Guardinis begleitete und nicht Carl Braig [Vgl. Gerl, Romano Guardini, 1985, a.a.O., S. 84]. Ihr Schluss, dass deshalb Krebs und nicht Braig der Doktorvater Guardinis gewesen wäre, ergibt sich daraus aber nicht. Denn erstens war Krebs zum Zeitpunkt der Promotion Guardini noch Privatdozent ohne eigenes Promotionsrecht und zweitens sprechen die Archivalien eine andere Sprache. Schon in der Danksagung bei der Veröffentlichung im Jahr 1921 ist die „Rangfolge“ ziemlich klar geschildert.

„Verfasser hat noch die Pflicht, auch an dieser Stelle dem Hochwürdigsten Herrn Prälaten Prof. Dr. Karl Braig in Freiburg i. Br. für das freundliche Interesse zu danken, das er der vorliegenden Arbeit entgegengebracht hat. Ebenso Hochw. Herrn Prof. Dr. Engelbert Krebs, der sie durch stets bereiten Rat vielfältig gefördert hat. Auch Hochw. Herrn Prof. Dr. Emil Göller ist er zu Dank verpflichtet. Im persönlichen Verkehr mit ihm sowie in dem von ihm geleiteten Collegium Sapientiae zu Freiburg i. Br. hat Verfasser zahlreiche wertvolle Anregungen empfangen“[Romano Guardini, Die Lehre des heiligen Bonaventura von der Erlösung, Düsseldorf 1921, S. VII].

Im Universitätsarchiv der Universität Freiburg liegen aber auch noch die Unterlagen zum Vorgang der Promotion selbst. Daraus geht hervor, dass Guardini im Juni 1914 sein „Gesuch“ betreffend „Zulassung zu den Prüfungen für die Erlangung der Doktorwürde“ eingereicht hat. Dem Gesuch liegt die Erlaubnis zur Promotion durch den Mainzer Bischof Georg Heinrich Kirstein vom 7. Juni 1914 bei; außerdem ein mit Rotstift von dritter Hand korrigierter, handschriftlicher Lebenslauf auf Latein, in dem es im abschließenden Dank heißt: „gratias ago quam maximas praecipue vero admodum Reverendo Domino Praelato Carolo Braig, qui in componenda dissertatione „De S. Bonaventurae doctrina soteriologica, eius systemate et fontibus“ summa beniguitate me adiuvit.”[Universitätsarchiv Freiburg, B 60/45].

Auch im Begleitschreiben „Dissertation Guardini betr.” des Dekans Pfeilschifter für das Einholen der Einverständniserklärungen der Kollegen vom 18. Juni 1914 steht als Referent Prof. Braig, der am 27. Juni 1914 auf dem Gleichen Dokument handschriftlich sein Gutachten notierte. Unter diesem Gutachten stehen die Unterschriften der vier weiteren Professoren:

  • Mayer für Karl Julius Mayer (1857–1926), ab 1899 Professor der Moral;
  • Weber für Simon Weber (1866-1929), von 1908 bis 1916 Professor für neutestamentliche Literatur und Exegese; sowie die schon bekannten Professoren
  • Hoberg und
  • Göller.

Auf einem Extrablatt gab Professor Pfeilschifter am 12. Juli 1914 eine Art „Sondervotum“ bezüglich notwendiger Verbesserungen ab [Universitätsarchiv Freiburg, B 60/45]. Mit diesen Archivalien ist eindeutig erwiesen, dass Carl Braig der zuständige Referent und somit „Doktorvater“ Guardinis bis zur Einreichung der Arbeit war. Auch können wir festhalten, dass Braig vor allem sprachliche Mängel geltend macht, die etwas „mageren“ Abschnitte über „Geschichtliches" aber letztlich gutheißt, während der Kirchengeschichtler Pfeilschifter auch einen inhaltlichen Mangel benennt und dessen Nachbesserung verlangte. Guardini selbst vermerkt zur Wertung seiner Doktorarbeit und zum Verlauf des Rigorosums in seinen Erinnerungen:

„Die historischen Partien habe ich nur gemacht, weil ich mußte, und sie sind entsprechend schlecht. Das wurde bei der Beurteilung auch gerügt; trotzdem bekam die Arbeit die beste Zensur. Das Freiburger Rigorosum galt als leicht, weil man die sieben Fächer in drei Stationen absolvieren konnte. Trotzdem haben sie mir sehr viel Mühe gemacht, da der Schwerpunkt fast überall im Historischen lag, und ich für Fakten gar kein Gedächtnis hatte. Ich mußte mich sehr anstrengen, zeitweise bis zur körperlichen Erschöpfung. Immerhin wurde das mündliche Examen mit der zweiten Note bestanden. Die letzte Station stand unter einem äußeren Druck. Italien stand vor dem Krieg. Mein Vater war italienischer Staatsbürger und hatte in Mainz das Konsulat. So konnte von einem Augenblick zum anderen etwas geschehen, das meine Anwesenheit notwendig machte“[Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, a.a.O., S. 27].

Der ursprüngliche Zeitplan hatte insgesamt etwas anders ausgeschaut. Darüber schrieb Guardini seinem Freund Josef Weiger in seinem Brief vom 31. Dezember 1913:

„Meine Arbeit ist im systematischen Teil als Konzept fast fertig. Noch eine Woche. Nun gehe ich auf einige Tage nach Fulda, um dort zu sehen, ob die Franziskaner in ihrer Bibliothek etwas haben. Bis Ostern denke ich mit dem Ganzen fertig zu sein. Wie ists mit dem Abschreiben? [315: Abgeschrieben wurde die Arbeit aus dem Stenogramm von Maria Knoepfler] – Anfangs hieß es, ich solle Ostern wieder in die Seelsorge zurück, weil da der Mangel an Kräften so groß ist. Nun habe ich Hoffnung, daß ich noch das Ostersemester dazukriege. Ich wäre sehr froh darum, schon deswegen, weil die Vorbereitung auf das Rigorosum neben einer wenn auch leichten Seelsorge doch recht lästig wäre. Den Nerven gehts gut. Die Krisis ist vorüber, und ich hoffe auf einen ruhigen Winter“[Guardini, Briefe an Josef Weiger, a.a.O., S. 127].

Guardini hat die „dritte Station“ des Rigorosums wohl erst im Mai 1915 abgeschlossen. [Es konnte noch nicht wieder rekonstruiert werden, worauf sich die um einen Tag abweichende Angabe von Gerl-Falkovitz in Guardini, Briefe an Josef Weiger, a.a.O., 2008, S. 127 und 165 bezieht, er habe das Rigorosum am 15. Mai 1915 bestanden und die Promotion zum Dr. theol. sei am 15. Mai 1915 in Freiburg erfolgt.]. Die Promotionsurkunde datiert mit dem 14. Mai [Universitätsarchiv Freiburg, D 29/23]. Nun steht aber erstaunlicherweise auf der Promotionsurkunde selbst nicht Carl Braig, sondern Gottfried Hoberg als „Promotor“ der Arbeit. Der Grund hierfür konnte bislang noch nicht herausgefunden werden.

Am 20. Mai 1915 hat Guardini in Mainz wieder eine Stelle als Kaplan angetreten. Was den im „Bericht über mein Leben“ beschriebenen Druck auf ihn und die Familie durch den Kriegseintritt Italiens angeht, wurde dieser Ende Mai 1915 konkreter, nachdem Italien am 23. Mai den „Dreierbund“ verlassen und Österreich-Ungarn den Krieg erklärt hatte. Aufgrund der neuen Kriegskonstellation warfen nicht wenige Deutsche allen Italienern pauschal „treuloses Italienertum“ vor, selbst dann, wenn diese, wie die Familie Guardini, schon über zwei Jahrzehnte in Mainz wohnten [Walter Heist, Gespräche in Bayrischzell. Hans Waltmann erzählt von Romano Guardini, in: Romano Guardini. Der Mensch. Die Wirkung. Begegnung, Mainz 1979, S. 60; vgl. dazu Johannes Hürter/Gian Enrico Rusconi (Hrsg.), Der Kriegseintritt Italiens im Mai 1915, München 2007, insbesondere S. 7]. Zunächst hatten seine Eltern die Stadt nicht verlassen dürfen. Sie mussten sich „alle Tage auf der Polizei vorstellen. Von den Brüdern ist der eine in Kopenhagen, der andere in Darmstadt, wo er sich auch alle Tage, u. zw. zweimal, vor der Polizei stellen muss; der dritte ist bei den Alpenjägern.“ Zu diesem Zeitpunkt seien die Leute aber noch „recht freundlich“ gewesen und auch später noch hätten sie „manches Zeichen ehrlicher Teilnahme erfahren“, was aber nichts an der Härte und Unklarheit der Situation und Lage seiner Familie änderte, die eben, „äußerlich und innerlich, sehr kompliziert“ sei[55. Brief vom 26. Mai 1915, Mainz, in: Guardini, Briefe an Josef Weiger, a.a.O., S. 165].

Als der Vater dann - in der letzten Maiwoche[Rückrechnung aus der Aussage Guardinis: „Vater ist immer noch (jetzt 4 ½ Wochen) weg” (57. Brief vom 27. Juni 1915, Mainz, in: Guardini, Briefe an Josef Weiger, a.a.O., S. 170)] - tatsächlich „vom Abend auf den Morgen Deutschland verlassen“ musste, ging er „aber nicht nach Italien zurück, sondern blieb, in der Hoffnung, so eine gewisse Führung behalten zu können, in der Schweiz“[Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, a.a.O., S. 27]. Die Wertung von Gerl-Falkovitz, Guardinis Vater habe die Stadt verlassen müssen, „weil er den Kriegseintritt öffentlich mißbilligt hatte“[Gerl, Romano Guardini, 1985, a.a.O, S. 18], wird durch einen Brief an Weiger vom 8. Juni 1915 undeutlicher. Darin heißt es nämlich:

„Vater ist z.Z. in Bern. In München musste er an der dortigen Versammlung der Konsulatsbeamten teilnehmen und erhielt dann die Weisung, Deutschland zu verlassen. Wir haben aber die Hoffnung, dass eine Rückberufung erreicht wird. Jedenfalls ist die Sache unsicher und wir müssen mit der Möglichkeit rechnen, dass es definitiv bleibt“[56. Brief vom 8. Juni 1915, Mainz, in: Guardini, Briefe an Josef Weiger, a.a.O., S. 168].

Engelbert Krebs (1881-1950)

Ohne Frage hatte Engelbert Krebs im Vergleich zu Braig also den größeren inhaltlichen Einfluss auf Guardinis Doktorarbeit genommen und einen erheblichen auch auf Martin Heideggers Arbeiten. Aber erst durch die theologiegeschichtlichen Forschungen von Albert Junghanns von 1979 [Albert Junghanns, Der Freiburger Dogmatiker Engelbert Krebs (1881-1950). Ein Beitrag zur Theologiegeschichte. Freiburg i. Br. 1979] und Bernhard Casper von 1980 [Bernhard Casper, Martin Heidegger und die Theologische Fakultät Freiburg 1909-1923, in: Freiburger Diözesan-Archiv, 100, 1980, S. 534-541] ist über diesen Einfluss so viel offenbar geworden, dass sich in der Folgezeit zumindest die Heidegger-Forschung intensiver mit Engelbert Krebs auseinandersetzte, vor allem bei Hugo Ott [Hugo Ott, Zu den katholischen Wurzeln im Denken Martin Heideggers. Der Theologische Philosoph, in: Christoph Jamme/Karsten Harries, Martin Heidegger: Kunst, Politik, Technik, 1992, S. 225-239, zu Braig S. 230-233 und 238; ders., Engelbert Krebs und Martin Heidegger 1915, in: Freiburger Diözesan-Archiv, 113, 1993, S. 239-248] und Christoph von Wolzogen [Christoph von Wolzogen, „Gottes Geheimnisse verkosten, bevor sie geschaut werden“: Martin Heidegger und der Theologe Engelbert Krebs, in: Sic et non. Forum for Philosophy and Culture, 2000, November – http://archiv.sicetnon.org/artikel/historie/heidegger.htm (abgerufen im März 2021)].

2004 wurden die Briefe von Heidegger an Krebs und das Gutachten von Krebs für Heideggers Habilitation in einem Brief an Heinrich Rickert veröffentlicht [Briefe Martin Heideggers an Engelbert Krebs (1914–1919), in: Heidegger-Jahrbuch, Band 1, a.a.o, S. 61–68; Gutachten von Engelbert Krebs über Martin Heideggers Habilitationsschrift (Brief von Engelbert Krebs an Heinrich Rickert vom 18. Juni 1915), in: ebd., S. 68].

Oftmals stand aber weniger die konkrete inhaltliche Beeinflussung als vielmehr das „Ende“ der freundschaftlichen Beziehung durch den gemeinhin als „Abschiedsbrief“ bezeichneten Brief Heideggers an Krebs vom 9. Januar 1919 im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, da es sich dabei nicht nur um einen Abschied von Engelbert Krebs, sondern auch um einen ersten Abschied vom Katholizismus insgesamt handelte.

In der Guardini-Forschung begann Krebs zwar mit der Veröffentlichung der „Berichte über mein Leben“ 1984 und die darauf Bezug nehmende Biographie von Hanna-Barbara Gerl 1985 ins Bewusstsein zu rücken, aber auch dies geschah bisher nur in geringem Maße im Blick auf eine mögliche inhaltliche Beeinflussung. Das mag auch daran liegen, dass Guardinis Promotion und Habilitation zwar in der Bonaventura-Forschung durchgängig präsent waren, bis vor kurzem aber nicht als Vergleichs- und Referenzpunkt in der Guardini-Forschung [Erste vergleichende Aufsätze stammen aus der italienischen Guardini-Forschung, vgl. Silvano Zucal, L' Angelo di San Bonaventura. Angelo di San Bonaventura: Romano Guardini e l'angelologia bonaventuriana, in: Emanuele Curzel (Hrsg.), In factis mysterium legere, Bologna 1999, S. 537-552; Italo Sciuto, L' etica di Guardini tra Bonaventura e Agostino, in: Ferdinando L. Marcolungo/Silvano Zucal (Hrsg.), L´ etica di Romano Guardini. Una sfida per il postmoderno, Brescia 2005, S. 27-40; Silvano Zucal, Bonaventura nella formazione del pensiero di Romano Guardini con riferimento all' „Itinerarium mentis in Deum”, in: Studi francescani, 107, 2010, 3-4, S. 423-472; Ilario Tolomio, Introduzione, in: Guardini, Opera Omnia XVIII. Bonaventura, Brescia 2013, S. 7-60. In deutscher Sprache hat erst die Doktorarbeit von Franz-Xaver Heibl, „Geistliche Wissenschaft“. Ein Beitrag zur Theologie der Spiritualität im Trialog mit Bonaventura, Romano Guardini und Joseph Ratzinger, Wien 2017, einen ersten Fokus darauf gerichtet]; und dies obwohl Krebs, der sich 1911 im Fachgebiet „Studium der Scholastik“ habilitiert hatte und anschließend in Freiburg als Privatdozent wirkte, bis er schließlich 1915 außerordentlicher und dann 1919 ordentlicher Professor für Dogmatik wurde, für Guardinis Arbeiten zu Bonaventura und für seine Auseinandersetzung zum Beispiel mit Anselm von Canterbury geradezu grundlegend war. Dieses Manko mag aber auch daran liegen, dass Guardinis Auseinandersetzung mit Bonaventura insgesamt bisher nicht wirklich aufgearbeitet wurde. Nahezu allein das Engagement des jungen Werner Dettloff hat die Bonaventura-Arbeiten Guardinis nach dem Zweiten Weltkrieg Anfang der sechziger Jahre wieder „zugänglicher“ gemacht und dadurch etwas mehr ins Bewusstsein gehoben. Werner Dettloff gab in Zusammenarbeit und Übereinstimmung mit Guardini nämlich 1964 dessen Habilitationsschrift erstmalig heraus.

Dass Krebs – wie später Guardini in Bonn – vorrangig als Dogmatiker an der Theologischen Fakultät wirkte und sein philosophisches Interesse lediglich in den allgemeinen philosophischen Diskurs der Freiburger Universität einbrachte, mag das Seinige zum Übersehen des Einflusses beigetragen haben. Doch hatte Engelbert Krebs 1903 selbst in Freiburg mit einer Arbeit über Meister Dietrich – genannt von Dietrich von Freiburg – den Dr. phil. erworben und verstand sich durchaus als Schüler Rickerts und infolgedessen auch als Philosoph.

Warum man aber auch über einen inhaltlichen Vergleich von Martin Heidegger und Engelbert Krebs nur wenig lesen kann, mag wiederum daran liegen, dass Heidegger nach seiner Studien- und Promotionszeit sowie seiner Habilitation mit seiner Arbeit über die Bedeutungs- und Kategorienlehre des schottischen Franziskaners Duns Scotus, der als Theologe und Philosoph der Scholastik und Begründer der später nach ihm benannten Lehre des „Scotismus“ gilt, nur noch ein relatives Interesse für mittelalterliche Philosophie, Theologie und Mystik gezeigt hat – zumindest im Vergleich zu seiner gleichzeitig immer intensiveren Auseinandersetzung mit der antiken sowie der neuzeitlichen und spätneuzeitlichen Philosophie.

Während Krebs sich meiner Kenntnis nach nicht öffentlich oder publizistisch zu Heideggers philosophischem Werk geäußert hat, sind zu Romano Guardini bislang drei allerdings recht frühe Wortmeldungen bekannt geworden: In seinem Beitrag „Die religiöse Unruhe der Gegenwart und die katholische Kirche“ für das „Jahrbuch des Verbandes der Vereine katholischer Akademiker zur Pflege der katholischen Weltanschauung“ von 1920/21 sieht Krebs durch Guardinis erste Veröffentlichungen bereits die Mauern der katholischen Einengung im protestantischen deutschen Bürgertum durchbrochen[Engelbert Krebs, Die religiöse Unruhe der Gegenwart und die katholische Kirche, in: Jahrbuch des Verbandes der Vereine katholischer Akademiker zur Pflege der katholischen Weltanschauung, Augsburg, 1920/21, S. 8-32, zu Romano Guardini siehe S. 15].

Von Interesse ist auch, dass Krebs, nachdem Guardinis Doktorarbeit im Vorfeld seines Habilitationsprojekts 1921 gedruckt erschienen war, diese selbst – zusammen mit der ebenfalls zu Bonaventura gehenden Doktorarbeit des späteren Mainzer Bischofs Albert Stohr – für die „Franziskanischen Studien“ besprach [Engelbert Krebs, Zur spekulativ-theologischen Eigenart des hl. Bonaventura. Bericht über zwei Freiburger Dissertationen, in: Franziskanische Studien, 19, 1921, S. 136-144]. Eine weitere Rezension schrieb Krebs im Jahrgang 1921/22 für die Zeitschrift „Das Neue Reich“ über eine der zahlreichen Neuauflagen des Buches „Vom Geist der Liturgie“ [Engelbert Krebs, Rezension zu: Guardini, Vom Geist der Liturgie, in: Das Neue Reich, Wien, 4, 1921/22, 24 (12. März 1922), S. 459].

Heinrich Rickert (1863-1936)

Wohl überhaupt erst nach dem Zweiten Weltkrieg erscheinen Rickert, Heidegger und Guardini „nebeneinandergestellt“ in einem philosophischen Werk, nämlich in der 1947 erschienenen Arbeit von Otto Veit „Die Flucht vor der Freiheit. Versuch zur geschichtsphilosophischen Erhellung der Kulturkrise“: Darin verweist er innerhalb der Anmerkungen zu seinem 4. Kapitel „Symptomatik des Wandels“ (S. 265) sowohl auf Heinrich Rickerts „Die Philosophie des Lebens“ als auch auf Martin Heideggers „Sein und Zeit“ und „Was ist Metaphysik?“. Schließlich führt er Guardini neben Theodor Haecker als katholischen Vertreter einer Religionsphilosophie auf, bei denen „Spuren der existentiellen Denkweise“ nachweisbar seien. Veit sieht in Rickerts „scharfsinniger Kritik“ „alle Schwächepunkte des Lebensphilosophie – freilich mit einer gewissen Einseitigkeit – bloß gelegt“, nimmt aber Husserls Phänomenologie vor Rickerts Zuordnung zum Vitalismus in Schutz, da dessen Postulat der „Wesensanschauung“ eine viel breitere erkenntnistheoretische Basis habe. Neben Jaspers „Philosophie“ und „Vernunft und Existenz“ sowie „Die geistige Situation der Zeit“ zählt Veit Heideggers Werke zu den „repräsentativsten Werken“ der Existenzphilosophie.

Aber bei dieser vereinzelten Wahrnehmung ist es auch weitestgehend geblieben, was umso mehr verwundert, als Guardini sich selbst in einem der beiden 1916 an Heidegger geschriebenen Briefen ausdrücklich auf Rickert bezieht, sich aber von dessen Neukantianismus abgrenzt [siehe unten Q 4], andererseits aber just Max Scheler den jungen Theologen Guardini von Heinrich Rickert „vielfach bestimmt“ sieht. Denn Scheler antwortet Guardini 1919 in einem Brief:

„Vor allem aber bitte ich Sie, mir Ihre Arbeit über Lebensgegensätzlichkeiten, die Sie H. Rickert schon vorgelegt, bald zur Lectüre zu übersenden; dann haben wir reichen Stoff für unsere hoffentlich baldige mündliche Unterhaltung. Ich sehe in Manchem, daß Sie durch Windelband und Rickert in Ihrem Denken vielfach bestimmt wurden – und würde Ihnen gern über meinen inneren Gegensatz zu dieser Schule nur meine eigenen positiven Ansichten (Sie finden, was die Ethik betrifft, in meinem ‚Formalismus in der Eth. u. die materiale Werteethik’, Niemeyer) über dieselben Fragen Einiges sagen" [Siehe Gerl, Romano Guardini, 1985, a.a.O., S. 109].

Auch das Interesse am Einfluss von Rickert auf Heidegger wurde erst gehoben durch die Ausführungen Hugo Otts in seiner Heidegger-Biographie im Jahr 1988 [Hugo Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu einer Biographie, 1988, hier S. 74, 82-90, 98, 116. Guardini kommt in dieser Biographie allerdings nicht im Zusammenhang mit Rickert vor.] und schließlich mit der Veröffentlichung des Briefwechsels zwischen Heidegger und Rickert durch Alfred Denker im Jahr 2002 [Martin Heidegger/Heinrich Rickert, Briefe 1912 bis 1933 und andere Dokumente, hrsg. von Alfred Denker, Frankfurt am Main 2002].

Dass Guardini nicht Thema des Briefwechsels war, leuchtet ein, aber es scheint auch keine Veranlassung für die Herausgeber bestanden zu haben, Guardini als nahestehenden Studienkollegen herauszustellen, obwohl zu diesem Zeitpunkt schon, nämlich seit 1983, die weiter unten ausführlicher besprochene, gegenüber Petzet geäußerte Erinnerung Heideggers an das gemeinsam besuchte Seminar bei Rickert vorlag [Heinrich Wiegand Petzet, Auf einen Stern zugehen. Begegnungen und Gespräche mit Martin Heidegger. 1929-1976, 1983, S. 75]. Immerhin wird das inhaltliche Verhältnis Heideggers zu Rickert mittlerweile ausführlicher betrachtet, so unter anderem bei Konrad Hobe in Abgrenzung zum Denken Emil Lasks [Konrad Hobe, Zwischen Rickert und Heidegger. Versuch über eine Perspektive des Denkens von Emil Lask, in: Philosophisches Jahrbuch, 78, 1971, S. 360-376] sowie bei Claudius Strube im Blick auf das Verhältnis von Heidegger zum Neukantianismus [Claudius Strube, Heidegger und der Neukantianismus, Würzburg 2009].

Die „übersehenen“ Bezugspersonen Joseph Sauer, Heinrich Auer und Heinrich Ochsner

Während die gemeinsamen Bezüge zu Braig, Krebs und Rickert also mittlerweile etwas besser bekannt geworden sind, blieben andere relevante Namen weiter außen vor, allen voran der Freiburger Professor Joseph Sauer:

Joseph Sauer (1872-1949)

Joseph Sauer hatte – nach seiner Priesterweihe 1898 – an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg als Schüler von Franz Xaver Kraus im Jahr 1900 seinen theologischen Doktorgrad erworben. Zwei Jahre später folgte ebendort die Habilitation unter Georg Pfeilschifter mit anschließender Tätigkeit als Privatdozent für Kirchengeschichte des Mittelalters. 1905 erhielt Sauer den Titel eines außerordentlichen Professors für Kirchengeschichte. Von 1909 bis 1948 übte Sauer gleichzeitig das Amt des Konservators der kirchlichen Denkmäler in Baden aus. 1911 wurde er schließlich Direktor des Instituts für christliche Archäologie und Kunstgeschichte und im Jahr darauf erfolgte die Berufung zum etatmäßigen außerordentlichen Professor für christliche Archäologie. Von 1916 bis 1937 hatte Sauer schließlich den Lehrstuhl für Patrologie und Christliche Archäologie inne und übte seine Lehrtätigkeit auch noch über die Emeritierung hinaus bis 1948 aus [Vgl. zur Biographie und Bedeutung Claus Arnold, Katholizismus als Kulturmacht. Der Freiburger Theologe Joseph Sauer (1872-1949) und das Erbe von Franz Xaver Kraus, 1999, darin zu Romano Guardini siehe S. 262, 428; zu Heidegger S. 18, 25, 283, 303, 336, 366-379, 384, 392, 410, 417, 419, 422, 448].

Bekannt waren bislang einige Briefe Heideggers an Joseph Sauer in den Jahren 1912 bis 1914, die im Wesentlichen über Heideggers Rezensionen handeln, die in der von Sauer herausgegebenen Zeitschrift „Literarische Rundschau“ erschienen sind [Briefe Martin Heideggers an Joseph Sauer (1912–1914), in: Heidegger-Jahrbuch, Band 1, 2004, S. 57–61. Der erste hier abgedruckte Brief vom 17. März 1912 ist bereits ausschnittsweise zitierend erwähnt in: Christoph von Wolzogen, Natorp-Heidegger-Levinas. Zur Entwicklung des Begriffsfeldes „Es gibt“, in: Il Cannocchiale, 1991, S. 169-194, hier S. 177. Der zweite Brief datiert mit dem 29. August, der dritte mit dem 25. September 1912. Abgedruckt werden auch die Briefe vom 30. Dezember 1913 und vom 23. November 1914. Letzterer war der Begleitbrief zur Übersendung der Doktorarbeit, der eine große Dankbarkeit dafür ausdrückt, dass Sauer ihm während seiner Studienzeit „mit so manchen praktischen Rat und ständiger Aufmunterung in so liebenswürdiger Weise entgegengekommen“ ist (Heidegger-Jahrbuch, Band 1, a.a.O., S. 60). Bei den Rezensionen handelt es sich um: Martin Heidegger, Neuere Forschungen über Logik, in: Literarische Rundschau für das katholische Deutschland, 38, 1912, 10, Sp. 465-472; 11, Sp. 517-524; 12, Sp. 565-570; Rezension zu: F. Ohrmann, Kants Briefe in Auswahl, in: ebd., 39, 1913, 2, Sp. 74; Rezension zu: Nikolai von Bubnoff, Zeitlichkeit und Zeitlosigkeit, in: ebd., 39, 1913, 4, Sp. 178 f.; Rezension zu: Franz Brentano, Von der Klassifikation der psychischen Phänomene, in: ebd., 40, 1914, 5, Sp. 233 f.; Rezension von Charles Sentroul, Kant und Aristoteles, in: ebd., 40, 1914, 7, Sp. 330-332; Rezension von Kant-Laienbrevier, in: ebd., 40, 8, 1914, Sp. 376 f.; jetzt alle in: ders., Frühe Schriften, Gesamtausgabe, Bd. 1, Frankfurt am Main 1978.]

Aus dem nunmehr vorliegenden Online-Findbuch des Nachlasses Joseph Sauer (C 0067) im Universitätsarchiv der Albert-Ludwig-Universität Freiburg wurde schließlich ersichtlich, dass es über die bloße Hörerschaft hinaus auch briefliche Bezüge von Guardini zu Sauer gibt. Im Brief vom 9. November 1906 [Universitätsarchiv Freiburg, C 67/1606] berichtete Guardini aus Tübingen, dass er sich nach seinem Weggang von Freiburg für Tübingen entschieden habe und mit seiner Wahl sehr zufrieden sei, auch wenn Prof. Vetter inzwischen gestorben sei [Gemeint ist der Alttestamentler Paul Alexander Vetter (1840-1906). Dies lässt die Aussage in seinem „Bericht über mein Leben“, er habe in Tübingen von Professoren gehört: „Ludwig Baur über scholastische Philosophie; Franz Xaver Funk, der während meines Dortseins starb, über Kirchengeschichte; J. E. Belser über neutestamentliche Exegese und J. Vetter über Einleitung ins Alte Testament“, noch seltsamer erscheinen, erstens aufgrund der Bezeichnung als „J. Vetter“, zweitens dass er ihn noch im Fach „Altes Testament“ gehört haben will. Ab 1907 las dort Paul Rießler dieses Fach. Tatsächlich ist aber auch Franz Xaver Funk, Professor für Kirchengeschichte, während seiner Tübinger Studienzeit im Jahr 1907 verstorben].

Die Art und Weise, wie Guardini in diesem Brief an seinen Freiburger Professor auch über ganz persönliche oder alltägliche Dinge oder Mitstudenten schreibt, drückt bereits eine sehr große Verbundenheit aus, die sich im Brief vom 31. Dezember 1906 aus Mainz fortsetzt [Universitätsarchiv Freiburg, C 67/1606].

In einem weiteren Brief vom 13. Januar 1910 [Universitätsarchiv Freiburg, C 67/1606] erbittet sich Guardini ein Rezensionsexemplar des Buches von C. Auber „Histoire et Théorie du Symbolisme Religieux (4 voll., 12 Fr)“, um es für Sauers Literaturzeitung zu rezensieren. Am Ende des Briefes folgen kurze persönliche Äußerungen über die „Alumnensemester“ in Mainz sowie die bevorstehende Subdiakonats- und Presbyteratsweihen. Es konnte bislang aber weder in der „Literarischen Rundschau“ noch in einer anderen Zeitschrift eine Rezension Guardinis über das im Brief genannte Werk Aubers gefunden werden. Das Werk von Charles Auguste Auber war allerdings erstmals bereits 1870 erschienen. Vielleicht ist dies der Grund, warum diese Neuauflage dann in Sauers Rezensionszeitschrift nicht bearbeitet wurde.

Über diese drei Guardini-Briefe an Joseph Sauer hinaus ist ein weiterer Brief von Caritassekretär Heinrich Auer an Joseph Sauer von Bedeutung, der auch die Querverbindungen Sauers nach Mainz deutlicher aufzeigt und zugleich einen Aufenthalt Guardinis im Februar 1912 in Freiburg belegt [Universitätsarchiv Freiburg, C 67/1031]. Auer schickt diesen Brief vom 26. Februar 1912 mit einem auf Antwort wartenden Boten zu Sauer, ob Professor Schleußner ihn „heute morgen besuchen“ und ihn am gleichen Tag abends zu einem „Konveniat“ treffen könnte. An diesem Treffen wollten neben Schleußner auch dessen Frau, dessen junge Freunde Guardini und Gottron und auch Auer selbst teilnehmen. Der Brief belegt somit die sehr freundschaftliche Beziehung von Joseph Sauer insbesondere zum Ehepaar Schleußner und ihren „jungen Freunden“ und von diesen auch zu Heinrich Auer, der als mit beiden Seiten befreundeter „Vermittler“ fungiert. Ob an diesem Tage die geplanten Zusammenkünfte allerdings auch zustande kamen, muss offenbleiben.

Mit diesen Briefen ergeben sich zwei neue Aspekte, nämlich Heinrich Auers faktische und Romano Guardinis mögliche Mitarbeit an der von Joseph Sauer herausgegebenen Rezensionszeitschrift „Literarischen Rundschau“. Heinrich Auer erinnert sich in einem Geburtstagsbrief vom 6. Juni 1947 an Sauer zum 75. Geburtstag daran, dass – wenn er sich recht erinnere – die persönlichen Beziehungen schon um das Jahr 1910 herum begonnen hätten, als Sauer ihn zur Mitarbeit bei der „Literarischen Rundschau“ eingeladen habe [Siehe Universitätsarchiv Freiburg i. Br., C 067/1031].

Dass Guardini nicht namentlich als Mitarbeiter dieser Zeitschrift aufscheint, könnte aber unter anderem auch daran liegen, dass Guardini als nichtpromovierter Rezensent in manchen Zeitschriften noch gar nicht unter eigenem Namen veröffentlichen konnte. In dieser Hinsicht fällt auf, dass sowohl Wilhelm Schleußner - bei ihm handelt es sich um 5 Rezensionen zwischen 1908 und 1913 - als auch Guardinis bereits promovierter Freund Karl Neundörfer - Es handelt sich um insgesamt 14 Rezensionen zwischen 1908 und 1913 - mehrfach in Sauers Zeitschrift als Rezensenten vertreten sind. Die gesamte frühe Rezensionstätigkeit Neundörfers wurde bislang nicht wahrgenommen.

[Insgesamt ist Karl Neundörfers Bibliographie wesentlich umfangreicher als es die erste, bislang nicht in Frage gestellte Bibliographie von Heinrich Auer im posthumen Sammelband (Karl Neundörfer, Zwischen Kirche und Welt. Ausgewählte Aufsätze aus seinem Nachlass, hrsg. von Ludwig Neundörfer und Walter Dirks, Frankfurt am Main 1927) vermuten lässt.]

Da die Antwort Sauers auf diesen Brief nicht vorliegt, kann auch die Frage einer konkreten Mitarbeit Guardinis noch nicht abschließend beantwortet werden.

Heinrich Auer (1884-1951)

Über Joseph Sauer wird man nun ein zweites Mal auf Heinrich Auer verwiesen, der von Hans-Josef Wollasch bereits 1983 als „Duz-Freund“ sowohl von Heidegger als auch von Guardini identifiziert wurde [Hans-Josef Wollasch, Heinrich Auer (1884-1951), Bibliotheksdirektor beim Deutschen Caritasverband, als politischer Schutzhäftling Nr. 50241 im Konzentrationslager Dachau, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, 131, 1983, S. 383-429, hier S. 387]. Daher kann er als ein möglicher Freiburger Verbindungsmann gelten. Auer hatte nach dem Abitur im Wintersemester 1905/06 begonnen, in Freiburg Geschichte und Sozialwissenschaften zu studieren. Nach eigener Auskunft hatte er den Studienort aufgrund des dort lebenden Schriftstellers und Stadtpfarrers Heinrich Hansjakob gewählt. Außerdem studierte er bis 1910 auch in Heidelberg und Bonn, blieb aber letzten Endes ohne Promotionsabschluss, so dass ihm eine akademische Karriere versagt blieb. Nachdem er sich schon für Sonnenscheins sozial-caritative Studentenvereine engagiert hatte, gehörte er 1909 zu den Mitbegründern der akademischen Vinzenzkonferenz in Freiburg. Aus dieser Zeit stammt auch seine Bekanntschaft mit dem damaligen Caritaspräsidenten Lorenz Werthmann und dessen Nachfolger Benedict Kreutz, auf deren Vermittlung er zunächst von 1911 bis 1913 als Hilfsarbeiter an der Zentrale des Deutschen Caritasverbandes in Freiburg im Breisgau eine feste Stellung finden konnte. Von 1913 bis 1922 war er dann als hauptamtlicher Bibliothekar tätig, unterbrochen von seiner Teilnahme am Ersten Weltkrieg. 1922 wurde er schließlich zum Direktor dieser Bibliothek berufen [Ebd.].

Zu wenig beachtet wurden in diesem Zusammenhang bisher Karl Neundörfers frühe Beiträge und Rezensionen in der von Auer mit redigierten Zeitschrift „Caritas“; dann die Umstände, dass Guardinis erste Fassung seiner Gegensatzlehre 1914 im Druck und Verlag der Freiburger Caritaszentrale erschien; dass Neundörfer Heinrich Auers Buch über den Gründer der Vinzenzkonferenzen, Friedrich Ozanam, rezensierte [Karl Neundörfer, Rezension zu: Auer, Friedrich Ozanam, der Gründer des Vinzenzvereins. Ein Leben der Liebe, in: Allgemeine Rundschau, Bd. 10/II, 1913, S. 547]; und dass schließlich Guardini auf Wunsch Auers 1914 seinen Freund Josef Weiger um eine Rezension über ein Buch von Saitschik gebeten hat [Guardini, Briefe an Josef Weiger, a.a.O., S. 137 und 144]. Lediglich die gemeinsame Vorliebe Guardinis und Auers für den katholischen Schriftsteller Heinrich Hansjakob wurde 1987 durch Werner Scheurer öffentlich gemacht, indem er die Briefe Guardinis an Hansjakob sowie an Auer herausgab [Werner Scheurer, Heinrich Hansjakob und Romano Guardini, in: Manfred Hildenbrand u.a. (Hrsg.), Heinrich Hansjakob (1837-1916). Festschrift zum 150. Geburtstag, Haslach 1987, S. 246 ff., darin S. 246 und S. 251: Brief von Romano Guardini an Heinrich Hansjakob vom 15. Januar 1904 und Brief von Romano Guardini an Heinrich Auer vom 5. April 1939].

Heinrich Ochsner (1891-1970)

Der Vollständigkeit halber sei hier auch noch auf Heinrich Ochsner verwiesen. Seit 1981 liegt ein Gedenkband vor, der auch dem Verhältnis von Martin Heidegger und Heinrich Ochsner ein ausführliches Kapitel widmet [Curd Ochwadt/Erwin Tecklenborg, Das Maß des Verborgenen. Heinrich Ochsner zum Gedächtnis, 1981, S. 163-185]. Daraus geht ihre gemeinsame Vorliebe für die Vorsokratiker und für Kierkegaard hervor. Martin Heidegger sah in Heinrich Ochsner einen „lebenslangen Freund“ und Ochsner bezeichnete sich gerne als Martin Heideggers „ältester Schüler“ [Laut Max Müller hat Heidegger 1957 bei der 500-Jahres-Feier der Freiburger Alberto-Ludoviciana einen der sieben großen Festvorträge und ein Oberseminar gehalten. Dabei habe er von seinen Freunden und Schülern einen einzigen namentlich begrüßt: „Dr. Heinrich Ochsner, meinen ältesten Freund, der zugleich mir Kommilitone und auch Schüler war“; siehe Max Müller/Wilhelm Vossenkuhl, Auseinandersetzung als Versöhnung, Ein Gespräch über ein Leben mit der Philosophie, Berlin 1994, S. 86]. In einem Brief an den Bürgermeister von Meßkirch bekannte Ochsner darüber hinaus, dass für ihn „die Begegnung mit Martin Heidegger und seinem Denkweg“ „das entscheidendste Geschick“ seines Lebens gewesen sei [Ebd., S. 285].

Auch Ochsner hatte in Freiburg ein Studium der Theologie begonnen und dann Philosophie bei Heinrich Rickert studiert. Nach dem Heeresdienst 1914/15 setzte er sein Studium der Philosophie, Religionsgeschichte und Religionsphilosophie fort. Mit Heidegger gemeinsam hat er etwa im Jahr 1915 das Buch von Emil Lask „Über das Urteil“ gelesen. Mit Heidegger und Guardini teilte Ochsner auch die „benediktinische Ader“ und seine frühe Verbindung zum Benediktinerkloster Beuron. In Beuron lernte auch Ochsner 1916 Max Scheler kennen.

Am 21. März 1917, dem Hochfest des hl. Benedikt, war Ochsner zudem Trauzeuge bei der kirchlichen Eheschließung Martin Heideggers mit seiner Frau Elfride in der Universitätskapelle des Freiburger Münsters [Johannes Schaber, Phänomenologie und Mönchtum, a.a.O., S. 86]. Im August 1917 war Ochsner daher auch bei Elfride Heideggers Geburtstagsfeier eingeladen und äußerte sich später beeindruckt über den auf dieser Feier gehaltenen Vortrag Heideggers über das Problem des Religiösen bei Schleiermacher [Vgl. die Briefe Heinrich Ochsners vom 2. und 5. August 1917, in: Ochwadt/Tecklenburg (Hrsg.), a.a.O., S. 92].

Im Herbst 1917 nahmen Ochsner und Heidegger schließlich gemeinsam an einem Logik-Seminar Husserls teil. Ochsner berichtete später von dem damit beginnenden fruchtbaren Gespräch zwischen Husserl und Heidegger. Nach Bernhard Welte hat Heinrich Ochsner immer wieder darauf hingewiesen, wie wichtig dem jungen Heidegger Husserls Lehre von der kategorialen Anschauung gewesen sei [Vgl. Claudius Strube, Zur Vorgeschichte der hermeneutischen Phänomenologie, 1993, S. 122; Daniel O. Dahlstrom, Das logische Vorurteil, 1994, S. 125].

Später wechselte Ochsner als Stipendiat des Preußischen Kultusministeriums nach Marburg. Husserl empfahl ihn an Rudolf Otto, bei dem Ochsner auch promovieren wollte. 1922 musste er das Studium dort wegen einer schweren Erkrankung abbrechen, betrieb aber seine persönlichen philosophischen Studien weiter, insbesondere mit Scheler so intensiv, dass man ihn als dessen „Adept“ ansah [Müller/Vossenkuhl, Auseinandersetzung als Versöhnung, a.a.O., S. 85].

Von 1923 bis 1933 wurde er von Edmund Husserl als „unterstützender Lehrer“ für japanische Gelehrte und Studenten in Freiburg im Breisgau eingesetzt. Ochsner war ab 1934 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Zentrale des Deutschen Caritasverbandes sowie Verlagslektor beim zugehörigen Caritasverlag in Freiburg. Bei seinen Freunden hatte er während des Dritten Reiches den Decknamen „Don“ oder einfach der „Doktor“. Im sogenannten „Färber-Kreis“, in den hinein Guardini mehrere freundschaftliche Verbindungen hatte und zu dem zuletzt von Berlin her auch die Guardini-Freunde Reinhold Schneider, Ludwig Winterswyl und Hilde Hermann Aufnahme fanden, galt Ochsner als „spiritus rector“ [Vgl. dazu unter anderem: Ekkehard Blattmann, Reinhold Schneiders Ideenlaboratorium. Notate aus dem ‚Freiburger Kreis’ um Karl Färber und Reinhold Schneider, in: Frank-Lothar Kroll (Hrsg.): Die totalitäre Erfahrung. Deutsche Literatur und drittes Reich, Berlin 2003, S. 267-302, hier besonders S. 269 sowie für den "spiritus rector" Müller/Vossenkuhl, Auseinandersetzung als Versöhnung, a.a.O., S. 85].

Geradezu unverständlich bleibt daher, wieso in Guardinis Nachlass bislang keinerlei Bezüge zu diesem gemeinsamen Studienkollegen Guardinis und Heideggers zu finden sind, obwohl sich außer der Verbindungslinie über Heidegger eben auch noch zahlreiche andere finden lassen. Immerhin wissen wir durch Johannes Schaber, dass Heinrich Ochsner in Beuron Guardini kennengelernt und im Haus des Romanisten Ernst Robert Curtius in Marburg Romano Guardini und das Ehepaar Scheler „wiedergetroffen“ haben soll [Johannes Schaber, Artikel „Ochsner, Heinrich“, in: Bio-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. XIV, hrsg. von Traugott Bautz, Herzberg 1998, Sp. 1325-1331]. Auch dieser „Spur“ muss demnächst weiter nachgegangen werden.

Die gemeinsame Freiburger Studienzeit (1912-1915)

Die Personalverzeichnisse der Universität Freiburg (1912-1915)

Mittlerweile ist das „Verzeichnis der Behörden, Lehrer, Anstalten, Beamten und Studierenden der Großherzoglich Badischen Universität Freiburg“ für die entsprechenden Semester im Internet gut einsehbar. So finden wir für das Winter-Semester 1912/13 den Eintrag: „Name: Guardini Romano Geburtsort: Verona Italien St.-A. Hessen Theol. Straße: Karthäuser 41 [=Collegium Sapientiae, HZ] Immatrik.-Zeit: 12/13“[Verzeichnis der Behörden, Lehrer, Anstalten, Beamten und Studierenden der Großherzoglich Badischen Universität Freiburg, Freiburg i. Br. 1912, S. 54].

Auffallend ist, dass im Sommersemester 1913 (Freiburg 1913, S. 59) und im Winter-Semester 1913/14 (Freiburg 1913, S. 54) Guardini auch hier mit dem Studienfach „Philol.“ geführt wird und erst im Sommersemester 1914 (Freiburg 1914, S. 58) und im Wintersemester 1914/15 (Freiburg 1914, S. 52) wieder mit Studienfach „Theol.“. Der Grund hierfür ist noch unklar, eventuell liegt es aber an den für die Bonaventura-Arbeit als notwendig erachteten altphilologischen Kenntnissen. Wenig später wird dieser Wechsel, wie bereits gesehen, auch im „Studien- und Sittenzeugnis“ von 1914 sowie in dem von Guardini zur Promotion eingereichten Lebenslauf bestätigt.

Über Heidegger und Ochsner hinaus findet man für das Wintersemester 1912/13 und das Sommersemester 1913 dort folgende bekannte und für Guardini auch später noch relevante Mitstudenten:

  • zum einen:
    • Max Bondy (Philosophie seit Wintersemester 1912/13) [Vgl. Max Bondy, Jugendbewegung und Katholizismus, in: Die Schildgenossen, Rothenfels, 2, 1921/22, 1 (Gilbhard 1921), S. 44-56; auch in: Werner Kindt (Hrsg.), Grundschriften der Deutschen Jugendbewegung, Düsseldorf 1963, S. 274; ders., Noch einmal Jugendbewegung und Katholizismus. Eine Entgegnung auf Guardinis Antwort, in: Die Schildgenossen, Rothenfels, 2, 1921/22, 5 (Brachet 1922), S. 275-283; ders., Das neue Weltbild in der Erziehung, Berlin 1922; (2., umgearbeitete)1925, besonders S. 49-60] und
    • Harald Schultz-Hencke (Medizin seit Sommersemester 1911) [Vgl. Harald Schultz-Henke, Neue Jugend und katholische Werthierarchie, in: Die Schildgenossen, Rothenfels, 1, 1920/1921, 6 (Ernting 1921), S. 210-216].
  • zum anderen:
    • August Vonach (Theologie, seit 1911, wohnhaft in Karthäuser 41) [Siehe Buchwidmungen in der Bibliothek des Pfarrhauses Mooshausen] und
    • Xaver Zeugmann (Theologie, seit Wintersemester 1911/12, wohnhaft in Karthäuser 41) [Zu Xaver Zeugmann vgl. Brief von Pierre Lorson an Guardini vom 26. Dezember 1946 aus Straßburg (BSB Ana 342, B. II. Sachakten/Schriftwechsel, Schachtel 3: Übersetzungen und Nachdrucke, Mappe 3, Falter: Lorson)]

Während bei den ersten beiden Mitstudenten, Bondy und Schultz-Hencke, bislang eine persönliche Begegnung zur gemeinsamen Studienzeit nicht nachweisbar, aber durchaus wahrscheinlich ist, sind die Mitbewohner im Collegium Sapientiae auch später als befreundete Bekannte dokumentierbar. Zum Wintersemester 1913/14 finden sich Vonach und Zeugmann nicht mehr, dafür aber im Collegium Sapientiae neu:

  • Josef Peter, Philosophie [Bzgl. Josef Peter, siehe Brief von Lorson an Guardini vom 26. Dezember 1946, ebd.] sowie
  • Alois Eckert (Pülfringen, Rer. pol. ab 13/14).

Zum Sommersemester 1914 fehlt Bondy, dafür kehrt Zeugmann nach Freiburg zurück, allerdings nicht mehr ins Collegium Sapientiae. Dort kommt neu hinzu: Johannes Brinktrine [Vgl. dazu Brinktrines Geburtstagstelegramm zum 70. Geburtstag vom 18. Februar 1955 mit Verweis auf 1915 (BSB Ana 342, B.III. Schriftwechsel zu runden Geburtstagen, Schachtel 1: 70. Geburtstag) und Angabe in Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, a.a.O., S. 31: „In Freiburg war ich tiefer in die liturgischen Probleme hineingekommen und hatte auch Genossen dieses Interesses gefunden, so zum Beispiel den Paderborner Liturgiker Prof. Johannes Brinktrine.“].

Im Wintersemester fehlen dann Eckert, Heidegger und Peter, dafür erscheint im Collegium Sapientiae als neuer Bewohner: Josef Frings, der spätere Kölner Kardinal [Vgl. dazu spätere Briefwechsel mit Frings zu Ehrungen und runden Geburtstagen im Archiv der Bayerischen Staatsbibliothek, besonders eindrücklich Brief von Guardini an Kardinal Frings vom 20. März 1965: „Wie das bei bedeutsamen Lebensabschnitten so zu geschehen pflegt, gehen meine Gedanken zurück, und zwar zu der Studienzeit in Freiburg, in der „Sapienz“, wo ich Ihnen, Hochwürdigster Herr Kardinal, zum ersten Mal begegnet bin. Das geschah an der Schwelle der großen Ereignisse, die dann alle Verhältnisse umgestürzt, einen Schlussstrich unter das, was wir „Neuzeit“ nennen, gemacht und unsere gegenwärtige, noch nicht benannte Epoche eingeleitet haben. Was ist dazwischen alles geschehen! Man sagt wohl nicht zu viel, wenn man denkt, uns stünden die tiefgreifendsten Entscheidungen bevor, bzw. sie seien bereits im Gang. Aber ich habe so zum Greifen deutlich erfahren, was Vorsehung bedeutet, daß ich – in mancher Beziehung freilich ins Dunkle hinein – das Vertrauen habe, die Linie werde zum Guten weiterführen. Das Konzil, in dessen Mitte wir stehen, ist ja wie eine Unterweisung darin, was die Lehre bedeutet, die Kirche sei vom Heiligen Geiste geführt“ (BSB Ana 342, B 4-Sonderkonvolut, Mappe 3). Der letzte Abschnitt ab „Aber ich habe so zum Greifen deutlich erfahren …“ schon bei Gerl, Romano Guardini, 1985, a.a.O., S. 353].

Nach einer Erinnerung des später auch mit Heidegger über das „Philosophische Kränzchen“ befreundeten Philosophen Julius Ebbinghaus (1885-1981) wohnte Heidegger bis Sommer 1914 selbst im Freiburger Priesterseminar, das er mit der sogenannten „Sapienz“ identifiziert, und habe auch die Tracht eines Alumnus der Sapienz getragen [Vgl. Julius Ebbinghaus, Selbstdarstellung, in: Ludwig J. Pongratz (Hrsg.), Philosophie in Selbstdarstellungen, Band 3, Hamburg 1977, S. 1-59, hier S. 31]. Diese Erinnerung birgt aber mehrere Probleme. Erstens handelte es sich bei der Sapienz im eigentlichen Sinne nicht um ein „Priesterseminar“, sondern ein Studentenwohnheim für Theologiestudenten aus anderen Diözesen. Zweitens war Heidegger während seines Theologiestudiums im Erzbischöflichen Konvikt bis zum Sommersemester 1911 in der Burgstr. 1 gemeldet. Als Mathematiker wohnte Heidegger laut Verzeichnis in der Hohenzollernstr. 1 bis zum Abschluss der Promotion 1914 und das auch noch als Privatdozent [Adressangaben für Heidegger in: Verzeichnis der Behörden, Lehrer, Anstalten, Beamten und Studierenden der Großherzoglich Badischen Universität Freiburg, Freiburg im Breisgau, verschiedene Semesterbände]. Auch den Angaben in den Personalverzeichnissen nach hat also Heidegger nie in der Sapienz gewohnt. Schließlich scheint es nahezu ausgeschlossen, dass Heidegger als ab 1913 promovierter Philosoph noch 1914 die „Tracht eines Alumnus der Sapienz“ trug.

Zur Datierung der ersten Begegnung

Die Angabe bei Gerl[Gerl, Romano Guardini, 1985, a.a.O., S. 144], wonach Guardini Heidegger seit 1907 in Tübingen kennt, beruht auf einem redaktionellen Versehen, da sich die Jahreszahl auf die bereits erwähnte Bekanntschaft mit Max Scheler bezieht. Alfred Denker wiederum spricht in seinem Aufsatz in „Erbe und Auftrag“ (2003) davon, dass Heidegger noch als Theologiestudent Guardini getroffen habe[Denker, Martin Heidegger und die Erzabtei Beuron, a.a.O., S. 83]. Aber sowohl diese Aussage als auch jene im ersten Heidegger-Jahrbuch (2004) vom Kennenlernen Guardinis in Rickerts Seminar „im Wintersemester 1910/11“ sind dort nicht belegt und auch höchst unwahrscheinlich [Alfred Denker, Heideggers Lebens- und Denkweg 1909-1919, in: Heidegger-Jahrbuch, Band 1, 2004, S. 97-122, hier S. 105].

Heidegger selbst hat in seinem Brief vom Dezember 1950 an Guardini noch von einer ersten Begegnung „um 1913“ geschrieben. In einer – seit 2020 wieder zugänglichen – Postkarte an Guardini vom 23. Dezember 1958 hielt er dagegen fest, er habe als Gegengabe für Guardinis Weihnachtsgeschenk „‚nur’ das Gedenken an die Jahrzehnte seit 1911 in Freiburg“[Siehe unten Q 80]. Auch in seinem Geburtstagsbrief von 1965 steht „1911“ als Jahr der ersten Begegnung, wobei er sich ausdrücklich an Guardinis "Arbeitszimmer in der „Sapienz“", die Spaziergänge und ihre "Statistenrolle in Rickerts Seminar“ erinnert[Siehe unten Q 101].

Nun wissen wir aus einem Brief Guardinis an Josef Weiger vom 19. November 1911 aus Worms, dass Guardini „vor einigen Tagen … in Freiburg“ war und nun Aussicht habe, „diese Ostern [1912, HZ], auf die Universität zu kommen, falls nichts dazwischengerät.“ Er „werde dann wohl nach Freiburg gehen“ und nach einem Besuch beim Liturgiker Prof. Künstle „irgend etwas Liturgisches als Thema“ wählen[Guardini, Briefe an Josef Weiger, a.a.O., S. 61].

[Karl Künstle (1859-1932) riet Guardini von selbst entwickeltem Thema ab, die Aufbaugesetze, Zuordnung und hervortretenden Gedanken der Responsorien in Anlehnung an die Methoden der kunstwissenschaftlichen Analyse zu untersuchen. Vgl. Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, a.a.O., S. 23: „Über die Frage, in welcher theologischen Disziplin dieses Thema sich einzuordnen habe, machte ich mir wohl nicht viel Gedanken – wie ich sie mir im Grunde genommen nie gemacht habe. Für „Fächer“ habe ich nie viel Sinn gehabt, und es war eine sehr gütige Fügung, die mir erlaubt hat, unbehindert durch Fachzäune meinen Weg zu gehen. Immerhin mußte ich mich aber doch für ein Fach entscheiden, da ja davon die Wahl des promovierenden Professors abhing; und da für mich nur Freiburg in Betracht kam, fuhr ich zu Prof. E. Künstle, der u.a. auch über Liturgik las. Ich legte ihm meine Absichten dar, muß aber damit keinen guten Eindruck hervorgerufen haben. Er war Historiker und konnte sich nicht denken, wie ich die Sache anfassen wollte – ich aber, der keine war, konnte es ihm nicht sagen. Was ich vorbrachte, hielt er für Belletristik und riet mir, die Sache doch sehr zu überlegen.“ Auch hier fällt wieder das abweichende Vornamenkürzel „E.“ statt „K.“ ins Auge.]

Daher wäre eine erste Begegnung Ende 1911 durchaus möglich, allerdings dann wohl eher zufällig oder im Blick auf gemeinsame Freunde („Beuron“) oder Aktivitäten („Der Akademiker“). Guardini schreibt allerdings nie von einer ersten Begegnung vor 1912. Sein 1980 posthum veröffentlichter Tagebucheintrag vom 4. März 1958 lautet bekanntlich: „Seit dem Jahre 1912 oder 13 kennen wir uns, von Freiburg her“[Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, a.a.O., S. 260].

Ansonsten kannte man bisher nur Heideggers Erinnerung an das „Seminar bei Rickert zuhause“ gegenüber Petzet, die seit 1983 veröffentlicht ist:

„Heidegger erzählt von Rickert, der die Seminarreferate nur Auserlesenen vorbehalten habe. So habe er, H., mit Guardini zusammen (der damals schon Kaplan war) im Nebenzimmer am äußerten Tischende gesessen“[Heinrich Wiegand Petzet, Auf einen Stern zugehen. Begegnungen und Gespräche mit Martin Heidegger. 1929-1976, 1983, S. 75 – in der italienischen Übersetzung eines Aufsatzes von Gerl-Falkovitz wird daraus - wohl wegen des Sitzens am Tischende, vielleicht wurde aber auch versehentlich "gegessen" statt "gesessen" gelesen - irrtümlich ein „Mittagessen bei Rickert“ („pranzato“)]

Aus dieser Darstellung ergibt sich aber keine unmittelbare Jahreszahl. Zwar wissen wir, dass Guardini und Heidegger im Wintersemester 1913/14 gemeinsam Rickerts Vorlesung über Kant besuchten, und auch, dass Guardini im Anschluss an eine der Kollegsitzungen über „Kants Erkenntnislehre“ am 4. und 7. Dezember 1913 Skizzen über den „Begriff der Wirklichkeit“ anfertigte, da er diese einem Brief an seinen Freund Josef Weiger beilegte[Guardini, Briefe an Josef Weiger, a.a.O., S. 124 f.]. Dagegen wissen wir noch nicht sicher, um welches Seminar bei Rickert es sich genau gehandelt hat, an das Heidegger sich hier erinnert und zu dem er in seinem Brief an Guardini im Jahr 1965 von einer gemeinsamen „Statistenrolle in Rickerts Seminar“ spricht.

Auch bezüglich der Häufigkeit der gemeinsamen Spaziergänge gibt es Diskrepanzen. In seinem Aufsatz in „Erbe und Auftrag“ (2003) spricht Denker davon, dass Guardini mit Heidegger „in Freiburg wöchentlich Spaziergänge machte“[Denker, Martin Heidegger und die Erzabtei Beuron, a.a.O., S. 83]. Im ersten Heidegger-Jahrbuch (2004) heißt es dagegen vom gleichen Autor, Heidegger habe mit Guardini „öfters Spaziergänge“ gemacht[Denker, Heideggers Lebens- und Denkweg 1909-1919, a.a.O., S. 105].

Wenn zu diesen Datierungen und den Umständen der Freiburger Zeit zukünftig keine neuen Quellen auftauchen, sollte man sich daher unter Korrektur der Datierung von 1911 auf 1912/13 an die Erinnerung Heideggers in seinem Geburtstagsbrief an Guardini vom 13. Februar 1965 halten.

Erste Widmung Heideggers an Guardini

Martin Heidegger promovierte 1913 mit seiner Arbeit über „Die Lehre vom Urteil im Psychologismus. Ein kritisch-positiver Beitrag zur Logik“. Wenn auch diese Arbeit wesentlich durch den Privatdozenten Krebs begleitet worden sein dürfte, reichte Heidegger sie schließlich beim damaligen katholisch-philosophischen Lehrstuhlinhaber Artur Schneider ein. Korreferent war Heinrich Rickert. Heidegger veröffentlichte diese Doktorarbeit noch 1914 im Leipziger Verlag von Johann Ambrosius Barth.

Ein Exemplar dieser Doktorarbeit steht mit einer bislang übersehenen handschriftlichen Widmung auch in der Guardini-Bibliothek im Schloss Suresnes der Katholischen Akademie in Bayern, mit einer erstmaligen, gleichzeitig aber auch der einzigen ausdrücklichen Bezugnahme auf Guardinis „Gegensatzlehre“.

Aufgrund einer fehlenden Datierung der Widmung ist nicht genau zu sagen, wann Heidegger Guardini das Buch geschenkt hat. Ein Bezug auf „Vorarbeiten“ bzw. „Überarbeitungen“ zu der dann 1925 gedruckten zweiten Fassung der Gegensatzlehre [Romano Guardini, Der Gegensatz. Versuche zu einer Philosophie des Lebendig-Konkreten (1925), Mainz (4)1998] scheint zu spät, zumal ja in der Freiburger Caritas-Verlagsdruckerei 1914 eine erste Fassung unter dem Titel „Gegensatz und Gegensätze“ erschienen ist[Romano Guardini, Gegensatz und Gegensätze. Entwurf eines Systems der Typenlehre, Freiburg i. Br. 1914] und Guardini diese – dem Scheler-Brief von 1919 zufolge – wohl auch schon Rickert vorgelegt hatte. Durch die Anrede Guardinis mit „Dr.“ ist aber sowohl eine Schenkung vor 1915 als auch eine nach 1923 ausgeschlossen.

Q001

Widmung Heideggers an Guardini (um 1915) [Guardini-Bibliothek gb 4039]

Die Widmung lautet: "Dem Vf. der vielversprechenden Gegensatzlehre Herrn Dr. R. Guardini freundlichst gewidmet. d. Vf."

Arbeit für die Quickborn-nahestehende Zeitschrift „Heliand“

1915 und 1916 erscheinen in der Quickborn-nahestehenden, von Bernhard Strehler und Hermann Hoffmann herausgegebenen Zeitschrift „Heliand. Monatsschrift zur Pflege religiösen Lebens für gebildete Katholiken“ die Gedichte Trost (Heliand, 6, 1915, S. 161) und „Einsamkeit“ (Heliand, 7, 1916, S. 309). Heidegger erhält dabei das Pseudonym „Martin Heide“. Diese Zeitschrift löste 1909 die Zeitschrift „Friedensblätter. Monatsschrift zur Pflege des religiösen Lebens und Friedens“ ab. Der Vermittler des Gedichts an Hoffmann war der Freiburger Mitstudent und Freund Ernst Laslowski, der am 13. März 1915 an Heidegger schrieb: "[…] Ich habe ein Gedichtlein von Dir im Heliand abdrucken lassen, unter Pseudonym. Der Herausgeber, ein feiner, kluger junger Priester war so dankbar dafür. Du erhältst Belegexemplare. Der Heliand soll durchgehalten werden, er hat seinen Zweck als religiöse Zeitschrift. Ist doch jetzt sehr wertvoll. […]“[9. Brief von Ernst Laslowski an Martin Heidegger vom 13. März 1915 aus Breslau, in: Heidegger-Jahrbuch, Band I: Heidegger und die Anfänge seines Denkens, Freiburg/München 2004, S. 41-45, hier S. 43].

Ernst Laslowski (1889-1961) hatte ab 1910 in Breslau und dann in Freiburg im Breisgau Geschichte studiert. Unterbrochen vom Ersten Weltkrieg schloss er diese Studien 1920 mit einer Promotion in Freiburg ab. Von 1920 bis 1934 war er Leiter der politisch-kulturellen Wochenzeitung „Der Oberschlesier“, von 1923 bis 1930 Leiter des Volksbildungshauses „Heimgarten“ in Neisse-Neuland, 1930 bis 1934 wissenschaftlicher Referent beim Oberpräsidium Oppeln und von 1935 bis 1945 Leiter der Graf von Ballestremschen Archive in Gleiwitz. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm er von 1946 bis 1960 das Amt des Direktors des Zentralarchivar des Deutschen Caritas-Verbandes. 1951 trat er zudem die Nachfolge Heinrich Auers als Bibliotheksdirektor an.

Guardini wiederum veröffentlichte im „Heliand“ wohl erstmals 1918, und zwar unter dem Pseudonym Dr. Anton Wächter seine Texte über „Sagen“ (Heliand, 9, 1918, 5, S. 151-156) und über „Märchen“ (ebd., 6-7, S. 195-202) sowie unter seinem eigenen Namen: „O beata Trinitas“ (ebd., 10-11, S. 265-271). 1920 folgt als Originalbeitrag noch in der Rubrik „Nova et vetera“ eine phänomenologische Betrachtung „Vom Gespräch“ (Heliand, 10, 1920, 5, S. 153-158). Danach folgen noch einige weitere, meist kleinere Auszüge und Nachdrucke in den Jahren zwischen 1920 und 1935.

Über den Kontakt Guardinis zu Strehler nach Neisse sowie zum Quickborn seit dem August 1913 wissen wir aus dem brieflichen Bericht an Josef Weiger. Ob daraus auch schon sein Kontakt zur Zeitschrift „Heliand“ erwachsen ist oder erst später anzusetzen ist, ist schwer zu klären. Auszuschließen ist es nämlich auch nicht, dass Guardini – ähnlich wie Heidegger – die Zeitschrift „Heliand“ schon über die Freiburger Caritas, also durch Ernst Laslowski oder durch den gemeinsamen Freund Heinrich Auer kennengelernt hat [Vgl. dazu auch Ernst Laslowski: Heinrich Auer, der Freund, in: Heinrich Auer zum Gedenken, im Auftrag des Deutschen Caritasverbandes zusammengestellt von Karl Borgmann, Freiburg 1952, S. 31-35]. Immerhin veröffentlichte auch Guardinis Freund Josef Weiger bereits 1916 in dieser Zeitschrift einen Aufsatz „Über die Pietà von Casper in der Stuttgarter Gemäldegalerie“ (Heliand, 7, 1916, 4, S. 104-107). Karl Caspar war ein mit Weiger und Guardini befreundeter expressionistischer Maler. Für 1918 bereitete Weiger für den Heliand auch einen Aufsatz über das Herz Jesu Büchlein des Beuroner Benediktinerpaters Sebastian von Oer vor, der dann aber nicht erschienen ist [77. Brief an Josef Weiger vom 31.07.1918 „Der Aufsatz über das Herz Jesu Büchlein geht mit zurück. Ich habe ihn noch einmal gelesen; er ist sehr gut. Von seinem Inhalt, auch der Kritik, möchte ich nichts missen. Etwas weiter ausführen, und die Gedanken manchmal etwas schärfer von einander abheben; auch besser Absätze machen. Schicke ihn also nur bald. Er wird sicher genommen. Hat Kühnel geschrieben? Vielleicht tust Du es selbst: Kaplan Josef Kühnel, Glogau in Schlesien, kath. Pfarrhaus.“ Kaplan Josef Kühnel war von 1917 an stellvertretender Herausgeber und Schriftleiter von Hermann Hoffmann bei der Zeitschrift „Heliand“].

Im Herbst 1915 sollte Martin Heidegger im Übrigen – auf Vermittlung von Engelbert Krebs und Heinrich Finke – zunächst eine Mitarbeiterstelle im Freiburger Caritas-Bureau übernehmen, dann wurde er allerdings mit Gestellungsbefehl vom 16. August 1915 als Musketier nach Müllheim einberufen, so dass er die Stelle bei der Caritas nicht mehr antreten konnte [Hugo Ott: Engelbert Krebs und Martin Heidegger 1915, in: Freiburger Diözesan-Archiv, 113, 1993, hier S. 244-246].

Aufgrund dieser wechselseitigen Beziehungen Heideggers und Guardinis zur Freiburger Caritaszentrale ist vielleicht doch auch noch aus den dortigen Archiven und Nachlässen der ein oder andere Fund zu erwarten.

Die zwei frühen Briefe Guardinis an Heidegger

Die zwei Briefe und ihre historische Einordnung

Nach Abschluss seiner eigenen Promotion wurde Guardini zum 20. Mai 1915 wieder als Kaplan nach St. Ignaz in Mainz versetzt. Es folgte eine Weiterversetzung nach St. Peter zum 25. November 1915, dann zum 1. Februar 1916 nach St. Emmeran und schließlich zum 21. August 1916 wieder zurück nach St. Peter. Die beiden Briefe wurden infolgedessen aus Mainz, St. Emmeran geschrieben, was im ersten Brief auch vermerkt ist, für den zweiten somit ebenfalls vorausgesetzt werden kann. Obwohl die Briefe bereits im ersten Heidegger-Jahrbuch abgedruckt sind, sollen Sie hier noch einmal in groben Zügen wiedergegeben und eingeordnet werden, auch mit einigen kleineren Korrekturen bezüglich der Transkription.

Q002

Brief von Romano Guardini an Martin Heidegger (10. April 1916) [Deutschen Literaturarchiv Marbach Nr. 75.6840/1, erstmals in: Heidegger-Jahrbuch I, 2004; die nachfolgenden Zitate stammen daraus]:

Guardini spricht Heidegger förmlich als Privatdozent an. Ziel des Briefes war es, von Heidegger ein Urteil zu hören, ob er bei der beigelegten "Studie über religions-kritische Fragen" "überhaupt auf dem rechten Wege" und "ob hier etwas zu erreichen" sei und bittet um "Fingerzeige" zu diesem Aufsatz. Daß es sich bei der Studie um einen Aufsatz handelt geht eindeutig aus dem nachfolgenden Brief hervor. Guardini erklärt sein eigenes "Unbehagen ... angesichts der Sache": Denn zum einen sei "in zusammengerafften Ferienstunden entstanden" und daher noch einer "ruhigen tiefen Durcharbeitung" unterzogen werden müsse. An dieser Stelle sei ein Lesefehler bei der Transkription in der Erstausgabe hingewiesen, wo statt "Durcharbeitung" von "Ausarbeitung" die Rede ist. Zum anderen betrifft das Unbehagen die verwendete "kritische Methode", da er sie nur "dem einen" Rickert-Kolleg sowie seinem Seminar kenne und zu der er nur "ganz fragmentarisch" selten etwas gelesen habe. Bei der "einen Vorlesung" handelt es sich also um die gemeinsam mit Heidegger belegte über „Die deutsche Philosophie von Kant bis Nietzsche (historische Einführung in die Probleme der Gegenwart“. Dagegen bleibt das besuchte Seminar auch hier unbestimmt.

Im nachfolgenden Abschnitt spricht er davon, daß er sich mit dem Begriff des "Gewissens" und seiner "Stellung zu Urteil und Willen" auseinandergesetzt habe, und zu dem Ergebnis gekommen sei, dass dieser Begriff "vielfältig" sei. Deshalb sei er darauf gekommen, Material zu der Frage einer "Phänomenologie der Idee" zu sammeln. Dieses sei bereits "ziemlich viel". Er bittet Heidegger um "einige" Literaturhinweise bezüglich der "Fragen der `kritischen Religionsphilosophie´". In einem ersten Postscriptum erweitert er die Bitte um Buchhinweise auf das "ein oder andere Buch", aus dem er "die kritische Methode lernen könne".

Er schließt den Brief mit der Formel: "Ich hoffe, daß es Ihnen gut gehen wird, pro ratione temporis natürlich. Mit bestem Gruß Ihr ergebener RGuardini". In einem zweiten Postscriptum bittet er um eine kurze Empfangsbestätigung, da er nicht wisse, "ob die Adresse stimmt".

Es folgen noch Datum ("10. IV. 1916") und Ort ("Mainz, St. Emmeran, Emmeranstr. 15").

Q003

Brief von Romano Guardini an Martin Heidegger (20. April 1916) [Deutschen Literaturarchiv Marbach Nr. 75.6840/2, erstmals in: Heidegger-Jahrbuch I, 2004; die nachfolgenden Zitate stammen daraus]:

Im Unterschied zum ersten Brief wechselt Guardini in der Anrede von "Sehr geehrter Herr Privatdozent" auf "Lieber Herr Doktor". Er dankt Heidegger für seinen Antwortbrief. Dieser Brief ist leider nicht erhalten. Da Guardini ihm - aufgrund der bevorstehenden Kar- und Osterliturgien - erst später „nähere Antwort“ geben will, sind auch die Inhalte nicht mehr rekonstruierbar.

Auch diesem, am Gründonnerstagabend geschriebenen Brief ist wieder ein Text beigelegt. Aus der Formulierung "zweiter Aufsatz" folgt, dass es sich auch bei der Beilage im ersten Brief um einen "Aufsatz" gegangen sein müsste, was auch durch das Postscriptum ausdrücklich bestätigt wird, mit dem er bittet, ihm den "ersten Aufsatz" zu Zeiten zurückzuschicken.

Zum Inhalt gibt er an, dass in ihm "der Begriff des „lebendigen Subjekts“ eine ganz spezielle Anwendung erfährt". Auch zu diesem Text erbittet er sich Heideggers Urteil.

Die Antwort Heideggers lässt Guardini glauben, Heidegger und er "haben wirklich gemeinsamen Weg". In der Erstausgabe des Briefes steht hier: „gehen“ statt "haben". Guardini beschreibt seine Absicht damit, erkennen und sagen zu wollen, "worin der geheimnisvolle „Geist des Katholizismus“ bestehe. In der Konstellation „Geist des Katholizismus“ ist diese Briefstelle ein Unikum, allerdings ist bei ihrer Deutung zu bedenken, dass für Guardini der Begriff „Katholizismus“ keine ideologische Komponente hat und für ihn die Begriffe „Seele“, „Geist“, „Sinn“ und „Wesen“ stark oszillieren. Umgekehrt legt sich aufgrund der Anführungsstriche allerdings die Zitierung eines Titels nahe, der für beide Denker selbstredend wäre. Hier käme in jedem Falle in Max Weber in Frage (Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Katholizismus, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 20, 1904, S. 1-64 und 21, 1905, S. 1-110.). Guardini fährt fort, er glaube "fast", diesen Geist "sehen zu dürfen in der lebendigen Ineinssetzung bzw. Beziehung von höchster bzw. empirischer Realität und Idealität". In der Interpretation dieser Briefstelle gilt es zu beachten, dass es sich bei den Begriffen „Transzendentale Realität“, „Transzentendale Idealität“, „Empirische Realität“ und „Empirische Idealität“ allesamt um Begriffe aus Kants „Kritik der reinen Vernunft" handelt.

Guardini berichtet von seinem Gefühl, in seinen Gedanken "von zwei Seiten Angriffen ausgesetzt zu sein", einerseits "von den extremen Idealisten", andererseits von "den Positivisten oder Psychologisten". Wenn dies zuträfe, "wäre der Weg wirklich der rechte". Er schließt diesen Teil des Briefes mit der Aussage: "Kant ist noch lange nicht die Synthesis, wie Rickert meint! Das philosophische „dritte Reich“ hat noch zu kommen."

Man beachte, dass „Kants Synthesis“ ein stehender Begriff in der Interpretation von Kants Dialektik durch Hegel ist, aber auch durch die Neukantianer wie Rickert oder Kroner. Daher steht wohl Rickerts Heterologie im Hintergrund dieser Briefstelle (vgl. dazu Sven Wöhler, Das heterologische Denkprinzip Heinrich Rickerts und seine Bedeutung für das Werk Max Webers. Die Einheit der modernen Kultur als Einheit der Mannigfaltigkeit, Diss. Erfurt 2001.) Wie stark hier auch auf das Thema der Gegensatzlehre abgestellt wird, wird deutlich, wenn man den Aufsatz Rickerts dagegenhält (siehe Heinrich Rickert, Vom Begriff der Philosophie, in: Logos, 1, 1910/11, S. 1-34, hier S. 22): „Wollen wir trotzdem zu einem dritten Reich kommen, das Wert und Wirklichkeit miteinander verbindet, und in dem wir dann auch die gesuchte Weltanschauung zu finden hoffen dürfen, so kann dies nur eine Einheit von der Art sein, daß die beiden durch sie verbundenen Gebiete darin zugleich in ihrer Zweiheit und Besonderheit gewahrt bleiben. Ein Zwischenreich also suchen wir, nicht etwas Drittes, das in der Weise für sich besteht wie Wert und Wirklichkeit, denn diese beiden bilden eine Alternative. Auch können wir nicht daran denken, die Einheit durch einen ganz neu zu bildenden Begriff erst herzustellen. Sie ist nur vorzufinden, und wir müssen uns darauf beschränken, das Vorgefundene als Einheit von Wert und Wirklichkeit zu verstehen. Die gesuchte „Verbindung“ kann nichts mit realer oder gar kausaler Verbindung zu tun haben. Diese ist ja nur zwischen zwei Wirklichkeiten möglich, und hier soll Wirkliches mit Unwirklichem verknüpft sein.“

Abschließend erkundigt sich Guardini danach, ob Heidegger "Waffen- oder Bürodienst" habe und schließt den Brief mit "Ich wünsche Ihnen von Herzen gute Ostern! Ihr RGuardini".

Im schon angesprochenen Postscriptum bittet er, den aktuell mitgesandten Artikel an Guardinis "Leibbursch", "Herrn Rektor E. M. Roloff", den Herausgeber des Pädagogischen Lexikons weiterzusenden, da er ihn "wohl interessieren" könnte. Dazu gibt Guardini die Adresse "Kalrsstraße 20" an.

Der Philologe, Pädagoge und Lexikograph Ernst Maximilian Roloff (1867-1935) wirkte während seiner Arbeit für den Freiburger Herder-Verlag als Fachredakteur von Herders Konversationslexikon und Herausgeber des „Lexikons für Pädagogik“ in Freiburg auch als „Leibbursch“ der Studentenverbindung Unitas, und war als solcher für seinen, vor kurzem erst in die Verbindung aufgenommenen „Leibfuchs“ Guardini zuständig. Er stand auch mit Josef Weiger und Maria Knöpfler in Wangen und Mooshausen in Verbindung (vgl. Zeugnisse im Archiv und Bibliothek Mooshausen). Einige Guardini-Forscher gehen, wie auch ich selbst, heute stark davon aus, dass Guardini an mehreren Artikeln des Fünften Bandes vorbereitend oder schreibend mitgearbeitet hat, diese Artikel dann aber unter dem Namen Ernst M. Roloffs erschienen sind. Dabei handelt es sich wohl insbesondere um folgende Artikel: Art. Überzeugung, in: Lexikon der Pädagogik. Fünfter Band: Sulzer bis Zynismus, Freiburg i. Br. 1917, Sp. 243-247; Art. Urteilskraft, in: ebd., Sp. 393-399 (vgl. Guardini, Briefe an Josef Weiger, a.a.O., Nr. 37 und 53 und 70 über Kants „Kritik der Urteilskraft“ und seine Phänomenologie des Urteils); Art. Vertrauen, in: ebd., Sp. 508-513 (vgl. dazu seine Äußerungen zum Begriff „Vertrauen“ in seinem Aufsatz „Die Grundlagen des Sicherheitsbewußtseins in den sozialen Beziehungen“ (1913); Art. Volkstum, in: ebd., Sp. 608-614. Vgl. Guardini, Briefe an Josef Weiger, a.a.O., S. 193, 66. Brief vom 27. August 1916: „1) über „Volkstum“ werde ich Dir bald einen Artikel schicken können; ein Beispiel dafür, wie man konstruktiv-einfühlend gerade über das etwas sagen kann, was man nicht hat.“)

Es folgen noch als auf den Gründonnerstag verweisende Briefdatum ("Coen. Dni. 1916").

Brief an Josef Weiger über den polaren Gegensatz von Idee und Ich

Kurz darauf hat Guardini am 26. Mai 1916 in einem Brief an Josef Weiger über seine Versuche berichtet, eine Phänomenologie der Idee und des Ichs im Sinne des Gegensatzgedankens durchzuführen:

„Es handelt sich darum, für die zwei letzten data des menschlichen Daseins, für die Idee (das Objektiv-Letzte) und das Ich (das Subjektiv-Letzte) eine Phaenomenologie aufzustellen. D. h. den Gegensatzgedanken durchzuführen. Dann zu zeigen, wie die beiden Seiten der Idee (Typus des Seins <-> Richtung des Willens, der Tat, der Gesinnung) und des Ichs (Strukturzentrum <-> Richtungskonstante) zueinanderstehen: Primat des Statischen (Wahrheit, Sein, platonische Idee bzw. ruhendes, kontemplatives Ich) oder des Dynamischen (Gutheit, Tat, moderne Wertidee bzw. aktives schöpferisches Ich)? Daraus eine aus dem Innersten heraus arbeitende Analyse des ‚katholischen Geistes’: Primat des Statischen (wie oben.), des ‚Logos’, für gewisse Gebiete; anderseits des Dynamischen, des ‚Ethos’, für andere. Trotzdem aber, und endgültig, einen organischen Primat des Logos über den Ethos, der Kontemplation über die Aktion, des Seins über die Gesinnung. Siehst Du, ich habe hier das Gefühl, wirklich an die letzten Fragen zu rühren, und es ist eine tief beunruhigende Situation, nichts ausdenken zu können. Damit Du die Konsequenzen besser siehst: Die Diskussion von Idee und Ich führt auf die Phaenomenologie des Geistes – und Gottes. Nun denke Dir: Gott ist das absolute, echte Sein – und: Gott ist die absolute ‚Gesinnung’. Was das bedeutet für die Grundlegung des christlichen ‚kontemplativen’ und ‚aktiven’ Lebens! - Ich merke auch allmählich, worauf die Gegensatzlehre im Grund hinauswill. Sie ist das Handwerkzeug für eine ‚Philosophie des Konkreten’; im letzten: für eine ‚Philosophie des Geistes’. - Der Artikel von Simmel s. Z. hat auf mich einen sehr nachhaltigen Eindruck gemacht. Seine Formel ist mir fest geblieben (sie ist übrigens ein Stück aus der Gegensatzlehre)“ (Briefe an Josef Weiger 1908-1962, 2008, S. 183)

Es konnte bislang noch nicht herausgefunden werden, auf welchen Artikel Simmels Guardini sich hier genau bezieht. Gerl-Falkovitz verweist als eine Möglichkeit auf Simmels Text „Die Gegensätze des Lebens und der Religion“ (1904). Dies würde der Formulierung „seiner Zeit“ Rechnung tragen, die nahelegt, dass sie auf das Berliner Studiensemester bei Simmel bezogen ist. Dieser Bezug ist aber nicht zwingend, so dass zum Beispiel auch an etwas später, aber deutlich vor 1916 erschienene Aufsätze zu denken wäre, zum Beispiel an den 1910 in der Zeitschrift „Logos“ publizierten Aufsatz über „Michelangelo. Ein Kapitel zur Metaphysik der Kultur“, in der Simmel seine Gegensatzlehre auf die Kunstanschauung anwendet; zumal dieser Michelangelo-Aufsatz sich an die eigene, von ihm während seiner Berliner Studentenzeit 1905/06 vorbereitete und 1907 erschienene Michelangelo-Sammlung anschließen würde.

Guardini spricht in diesem Brief an Weiger sowohl von einer Phänomenologie der Idee und des Ichs, von einer Phänomenologie des Geistes als auch von einer Phänomenologie Gottes und bindet sie in seine Gegensatzlehre ein, die er als Handwerkszeug für eine „Philosophie des Konkreten“ bzw. eine „Philosophie des Geistes“ sieht. Die im Brief an Heidegger gewählte Formulierung „Phänomenologie der Idee“ ist dabei allem Anschein nach eine originäre Schöpfung Guardinis, sie kommt so bei anderen Denkern nicht vor und wird später sogar von einem Denker wie Jacques Derrida als „Unmöglichkeit“ angesehen [„Daß es keine Phänomenologie der Idee gibt, ist kein Zufall. Sie kann sich nicht leibhaftig geben, sie kann in keiner Evidenz bestimmt werden, denn sie ist die Möglichkeit der Evidenz und die Eröffnung des Sehens selber sie ist nichts anderes als die Bestimmbarkeit als Horizont jeder Anschauung überhaupt, das unsichtbare Medium des Sehens, analog zur Durchsichtigkeit des aristotelischen Diaphanen, elementares Drittes, aber gemeinsame Herkunft des Sehens und des Sichtbaren.“ (Jacques Derrida, Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie. Ein Kommentar zur Beilage III der „Krisis“. Mit einem Vorwort von Rudolf Bernet, München 1987, S. 183 f.)]. Auch Guardini selbst hat die Formulierung später nicht weiterverwendet.

Ein wesentliches „Kapitel“ dieser Vor-Arbeiten ist dann wohl unter dem Titel „Der Primat des Logos über das Ethos“ eingegangen in Guardinis Schrift „Vom Geist der Liturgie“. Da Heidegger in seinem eigenen Werk weder auf irgendwelche frühen Aufsätze Guardinis noch auf „Gegensatz und Gegensätze“ (1914) bzw. „Der Gegensatz“ (1925), und auch nicht auf „Vom Geist der Liturgie“ (1918) und die darin enthaltene Formel vom „Primat des Logos über das Ethos“ eingeht, kann man die Suche nach Vergleichspunkten an dieser Stelle beenden.

Überlegungen zu den nicht erhaltenen Beilagen

Allerdings bedarf es noch einiger weiterer Überlegungen zu den in den Briefen an Heidegger erwähnten und mitgeschickten Manuskripten. Seit der Veröffentlichung der beiden Briefe an Heidegger, die von Gerl-Falkovitz bei der Herausgabe der Briefe Guardinis an Josef Weiger folgerichtig mit dem angeführten Brief an Josef Weiger kombiniert wurden, gibt es verschiedene Mutmaßungen.

Die Herausgeber der Briefe im Heidegger-Jahrbuch vermuteten hinter der religions-kritischen Studie die erste Fassung der Gegensatzlehre von 1914 und in der speziellen Anwendung des „lebendigen Subjekts“ den noch 1916 im Pharus erschienen Aufsatz „Der religiöse Gehorsam“ [in: Pharus. Katholische Monatsschrift für Orientierung in der gesamten Pädagogik, Donauwörth, 7, 1916, Bd. 2, Heft 9 (September 1916), S. 737-744; auch in: Auf dem Wege, 1923; schließlich eingegangen in: Wurzeln eines großen Lebenswerks. Romano Guardini (1885-1968). Aufsätze und kleinere Schriften, Bd. I, 2000], vielleicht zusammen mit „Zum Begriff des Befehls und des Gehorsams“ [in: Pharus. Katholische Monatsschrift für Orientierung in der gesamten Pädagogik, Donauwörth, 7, 1916, Bd. 2, Heft 10 (Oktober 1916), S. 834-843; eingegangen in: Wurzeln eines großen Lebenswerks, Bd. I, a.a.O.] und „Zum Begriff der sittlichen Freiheit“ [in: Pharus. Katholische Monatsschrift für Orientierung in der gesamten Pädagogik, Donauwörth, 7, 1916, Bd. 2, Heft 12 (Dezember 1916), S. 977-989; eingegangen in: Wurzeln eines großen Lebenswerks, Bd. I, a.a.O.]. Das erstere ist nicht (mehr) nachvollziehbar, da Heidegger, wie die oben genannte Widmung zeigt, Guardinis Gegensatzlehre wohl schon in Freiburg kennenlernte, weil diese ja zu diesem Zeitpunkt bereits gedruckt erschienen war und daher weder erst in „Ferienstunden“ entstanden sein konnte noch im eigentlichen Sinne einer ruhigen tiefen Ausarbeitung ermangelte. Das letztere, der Bezug zu den Pharus-Aufsätzen, ist zwar grundsätzlich denkbar, aber eher unwahrscheinlich. Angesichts der im Ersten Weltkrieg erheblich längeren Vorlaufzeiten halte ich die Zeitspanne zwischen April 1916 und dem Erscheinen der Aufsätze im September, Oktober und Dezember 1916 für zu gering; außer man geht davon aus, dass es sich bei Guardinis Formulierung „Aufsatz“ um bereits „gedruckte Aufsätze“ handelt, was aber nicht erklärt, warum Guardini die Rücksendung des einen Aufsatzes an ihn selbst und die Weiterleitung des anderen an Roloff möchte. Eher ist daher von noch nicht veröffentlichten Aufsatz-Typoskripten auszugehen.

Gerl-Falkovitz stellt – in der Edition der Briefe an Josef Weiger (2008) [Guardini, Briefe an Josef Weiger, a.a.O., 2008, S. 182 f., Fußnote 516] - für das zweite eine Nähe zu „Vom Geist der Liturgie“ fest. Das würde dazu passen, dass er kurz darauf in dem oben angeführten Weiger-Brief die Idee des „Primats des Logos über den Ethos“ entwickelte. Allerdings wäre „Vom Geist der Liturgie“ nur in einzelnen Abschnitten als spezielle Anwendung des „lebendigen Subjekts“ anzusehen und geht weit darüber hinaus. Eher schon könnte es sich daher bei der „religions-kritischen Studie“ um eine Vorform des philosophischen Abschnitts „Primat des Logos über den Ethos“ aus „Vom Geist der Liturgie“ handeln, in dem es schließlich gerade auch um den geheimnisvollen „Geist des Katholizismus“ geht.

Dagegen möchte ich in der religions-kritische Studie, wenn es sich also nicht tatsächlich um einen frühen Entwurf des Kapitels „Der Primat des Logos über den Ethos“ handeln sollte, eher den 1918 erschienenen Artikel „Zum Begriff der Ehre Gottes“ [in: Philosophisches Jahrbuch der Görresgesellschaft, Bd. 31, 1918, 4, S. 321-332; auch in: Auf dem Wege, 1923; schließlich eingegangen in: Wurzeln eines großen Lebenswerks, Bd. I, 2000] sehen, dessen religionskritischer Ansatz durchaus erkennbar ist. Und in der speziellen Anwendung des „lebendigen Subjekts“ vermute ich den 1919 erschienenen Artikel „Zum Begriff des Berufes“ [in: Akademische Bonifatius-Korrespondenz, 35, 1919/20, 1 (1. Dezember 1919), S. 29-41; eingegangen in: Wurzeln eines großen Lebenswerks, Bd. I, 2000], in dem Guardini tatsächlich vorrangig der Frage nachgeht, wie das lebendige Subjekt zu dem ihm zugehörigen „Beruf“ kommt und dabei gleichzeitig seiner „Berufung“ von Gott her gerecht wird.

Denkbar sind aber, wie immer, auch verschollene Skripte wie jene der ebenfalls seit 1906 parallel zur Gegensatzlehre entstandenen und auf sie aufbauenden „Charakterlehre“ [Vgl. zur Charakterlehre: Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, a.a.O., S. 26. Guardini, Briefe an Josef Weiger, a.a.O., S. 38, 65, 67, 91. Guardini, Gegensatz und Gegensätze, a.a.O., S. 3, 4, 19 sowie Bericht über mein Leben „Geistige Entwicklung und schriftstellerische Arbeit“ (1943) [Guardini Archiv der Katholischen Akademie in Bayern, Nr. 152].

Aufgrund des Umstandes, dass aber die Charakterlehre gerade auch in der frühen Freiburger Zeit noch in Bearbeitung stand, ist sie für das frühe Gespräch mit Heidegger, aber eben auch für die frühen Briefe an Heidegger mit heranzuziehen.

Wenn Heidegger den einen Aufsatz, wie im Brief von Guardini gewollt, an Roloff weitergeschickt hat, könnte man Näheres über diesen Text nur über einen mir bislang unbekannten Nachlass von Roloff herausfinden. Der andere Text könnte sich rein theoretisch noch irgendwo unerkannt im Nachlass Heideggers verbergen.

Die räumliche Trennung (1915-1930)

Nun folgte eine erste längere „Pause“ in der Begegnung der beiden jungen Wissenschaftler, aus der bislang auch keinerlei Korrespondenzen oder Bezugnahmen auf den anderen in Briefen oder Typoskripten vorliegen. Dies liegt aber durchaus nachvollziehbar vor allem daran, dass es nach 1915 zu einer ständigen räumlichen Trennung kam. Während Heidegger den Ersten Weltkrieg in Freiburg bei der „Post- und Wetterbeobachtung“ (1915-1918) verbrachte, begann für Guardini in Mainz die Zeit als Militärkrankenwärter (1915-1918) und als Kaplan, zuständig vor allem für die katholische Jugendorganisation „Juventus“ (1915-1920). Während Heidegger dann von 1919 bis 1923 Assistent von Husserl in Freiburg wurde, ging Guardini 1920 zur Habilitation nach Bonn und wirkte dort nach deren Abschluss noch kurze Zeit bis 1923 als Privatdozent für Dogmatik.

Während Heidegger schließlich 1923 als außerordentlicher Professor nach Marburg ging und dort auch blieb, bis er 1928 zum Nachfolger Edmund Husserls nach Freiburg zurückberufen wurde, nahm Guardini 1923 den Ruf als Professor für katholische Weltanschauung nach Breslau mit ständigem Sitz in Berlin an. Er blieb dies bis 1939, als ihm seine Professur für katholische Weltanschauung weggenommen wurde. Das Angebot einer theologischen Professur für Dogmatik oder Fundamentaltheologie an einer noch bestehenden Theologischen Fakultät in Bonn, Breslau oder andernorts lehnte Guardini ab, äußerte stattdessen den Wunsch zukünftig als Privatgelehrter zu wirken und fragte deshalb um eine vorzeitige Emeritierung nach, die ihm als Versetzung in den Ruhestand schließlich mit würdigender Versetzungsurkunde auch gewährt wurde [Vgl. dazu meine Ausführung in: Zenz, Romano Guardini. Von der „fama mortalis“ zur Gewissheit einer historischen Ausnahmegestalt, in: Modesto/Seitschek (Hrsg.), Helfen durch die Wahrheit, a.a.O., S. 81-96, hier S. 93 f.].

Nach einem nicht verwirklichten Plan, Berlin bereits 1942 in Richtung Süden Deutschlands zu verlassen, blieb Guardini nach einem Ferienaufenthalt in Grendach im Jahr darauf – nach einem Evakuierungsaufruf für Zivilisten von Herbst 1943 – im Süden und zog bis Kriegsende 1945 zu seinem Freund Josef Weiger in das Pfarrhaus von Mooshausen.

Dagegen kehrte Heidegger zum Wintersemester 1928/29 von Marburg nach Freiburg zurück, nahm im Juli 1929 Wohnung in Zähringen und hielt am 24. Juli 1929 seine Freiburger Antrittsvorlesung „Was ist Metaphysik?“. Nachdem er 1930 eine Berufung nach Berlin abgelehnt hatte, blieb er bis 1945 ordentlicher Professor in Freiburg. Seine Rektoratszeit 1933/34 wird eigens behandelt. Für den Zeitraum von 1915 bis 1923 sind außerdem keine weiteren Aufenthalte Guardinis in Freiburg noch von Heidegger in Mainz oder Bonn belegt, anlässlich derer die beiden Studienkollegen sich hätten wiedersehen können. Das Gleiche gilt für den Zeitraum von 1923 bis 1930, in dem weder Aufenthalte von Guardini in Marburg noch Vortrags- oder sonstige Aufenthalte Heideggers in Berlin bekannt sind.

Erste eigene Auseinandersetzung und zwei persönliche Begegnungen 1930/31

Erste eigene Auseinandersetzung Guardinis mit der Philosophie Heideggers zum Jahreswechsel 1929/30

Seit der Guardini-Biographie von Hanna-Barbara Gerl aus dem Jahr 1985 wissen wir, dass in einem kleinen philosophischen Kreis an Silvester 1929/30 auf „Einladung“ Guardinis Heideggers „Sein und Zeit“ [Martin Heidegger, Sein und Zeit (Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung; Band VIII), Halle 1927] – neben Martin Bubers „Ich und Du“, Kierkegaards „Philosophischen Brocken“, Karl Mannheims „Ideologie und Utopie“ sowie Fritz Heinemanns „Neue Wege der Philosophie“ – besprochen wurden [Vgl. undatierte Einladung als Typoskript im Archiv Burg Rothenfels erhalten laut Gerl-Falkovitz, Geheimnis des Lebendigen, a.a.O., 2019, S. 204, siehe dazu Bericht in Elisabeth Wilmes-Merz, Jahre auf Burg Rothenfels. Chronik 1926-1937, Teil I, im Auftrag der Vereinigung der Freunde von Burg Rothenfels hrsg. vom Theatinerkreis im Quickborn, Typoskriptdruck o.J. (1983), S. 15]. Da sich Heinemann später zwar mit Heidegger [Fritz Heinemann, Jenseits des Existentialismus. Studien zum Gestaltwandel der gegenwärtigen Philosophie, 1957, S. 23-31], aber nicht mit Guardini auseinandersetzt, wird er hier nicht weiter besprochen.

An der Tagung nahmen 15 Gäste teil, darunter der Verfasser eines der Bücher, Fritz Heinemann , und Gustav Siewerth. Zu Siewerth wird später noch einiges zu sagen sein. Im Brief vom 6. Januar 1930 an Weiger berichtete Guardini von dieser dreitägigen philosophischen Tagung auf Burg Rothenfels über die Existenzphilosophie. Vor allem habe man sich mit Martin Heideggers Variante auseinandergesetzt. Guardinis Urteil darüber lautete: „Sehr bedeutungsvoll scheint mir diese Gedankenwelt!“[Guardini, Briefe an Josef Weiger, a.a.O., S. 308 f.]

Bislang nur ins Niederländische übersetzt publiziert, aber in der deutschen Guardini-Forschung noch nicht wirklich beachtet, wurde ein Brief Guardinis vom 11. Januar 1930 an den Philosophen und Soziologen F. F. J. Buytendijk, der ebenfalls in den dreißiger Jahren beginnt, Heidegger stärker zu rezipieren [Vgl. dazu Ralf Becker, Der Sinn des Lebens. Helmuth Plessner und F. F. J. Buytendijk lesen im Buch der Natur, in: Kristian Köchy/Francesa Michelini (Hrsg.), Zwischen den Kulturen. Plessners „Stufen des Organischen“ im zeithistorischen Kontext, Freiburg i. Br./München 2015, S. 65-90, hier S. 65 f.] und gegenüber dem Guardini bekennt:

„Ich lese über Montaigne und den Sinn der Skepsis … Und komme allmählich tief in Dostojewski hinein. Auch an Heidegger fühle ich mich langsam heran“[Im Holländischen veröffentlicht in: De rede van het hart. Correspondentie van F. J. J. Buytendijk met Romano Guardini, hrsg. von Henk Struyker Boudier, Zeist 1986, S. 85; hier zitiert nach der Kopie des deutschen Originalbriefes im Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1927].

Durch letzteren Hinweis wird deutlich, dass Guardini sich gleichzeitig zur Heidegger-Lektüre auch intensiver mit Dostojewskij zu beschäftigen beginnt. Dies kann gleich auch verständlicher machen, warum die Auseinandersetzung mit Heidegger ihren ersten Niederschlag in seinem Buch zu Dostojewskij finden wird.

Die Wieder-Begegnung in der Pfingstwoche 1930 auf Burg Rothenfels

Doch zuvor kam es auch noch zu zwei persönliche Begegnungen, deren zeitliche Einordnung und Abfolge aber aufgrund der bislang vorliegenden „Erinnerungen“ falsch vorgenommen wurde. Eine 1979 erstmals veröffentliche, durch Hans Waltmann begründete und vielfach weiterverwendete Erinnerungs-Tradition besagte nämlich:

„In Rothenfels war es auch, wie Hans Waltmann berichtete, daß Guardini zum erstenmal Heidegger begegnete. Das war 1933 – in dem Jahr, in dem Heidegger seine berüchtigte Freiburger Rektoratsrede hielt! -, irgend jemand hatte ihn zum Pfingsttreffen eingeladen. Ob sie sich damals näherkamen, wußte Waltmann nicht […]“[Hans Waltmann im Gespräch mit Walter Heist in: Romano Guardini. Der Mensch. Die Wirkung. Begegnung, 1979, S. 65].

Heidegger hatte seine Rektoratsrede am 27. Mai 1933 gehalten, das Pfingsttreffen auf Burg Rothenfels fand ab dem 4./5. Juni 1933 statt. Da die Erzählung offensichtlich nicht aus eigener Beteiligung hervorgeht, dürfte die Quelle wohl ebenfalls eine Erinnerung von Waltmanns Schwägerin Elisabeth Wilmes-Merz sein, die dann 1984 publiziert wurde [Elisabeth Wilmes-Merz, Jahre auf Burg Rothenfels 1926-1937. Erinnerungen II B und II C, hrsg. V. Theatinerkreis im Quickborn, Burg Rothenfels o.J. [1984], S. 23 f. (paraphrasiert bei Gerl-Falkovitz 2004 und ausführlicher 2019, S. 205)]. Wilmes datierte das Zusammentreffen auf den „Sommer 1933“.

„An einem Spätnachmittag im Sommer 1933 trat ein schlanker Sportler im blauen Trainingsanzug in die Türe der Kanzlei und stellte sich vor: ‚Mein Name ist Professor Dr. Martin Heidegger, kann ich Herrn Prof. Guardini sprechen?’ Ich bot ihm bejahend einen Platz an, denn ich wußte, daß ich R. Guardini auf dem Philosophenweg treffen konnte, wo er sich vor seinen Abendvorträgen konzentrierte. Im Flur stand durch glücklichen Zufall der Bruder Friedrich Dessauers, der Philosoph Philipp. Ich bat ihn, Professor Heidegger festzuhalten, bis ich mit R. Guardini kam. Diesen sah ich schon vor den nahen Steinbrüchen auf dem Rückweg und informierte ihn. Er machte mit seiner Frau eine Paddelfahrt mainabwärts und wollte im Gasthaus ‚Zum Anker’ übernachten. Als er in Erfahrung gebracht hatte, daß R. Guardini eine Tagung abhielt, war er die Burgtreppe heraufgestiegen. Man darf bemerken, daß der Existentialist als erster den Metaphysiker aufsuchte. Sie vereinbarten für den nächsten Morgen ein gemeinsames Frühstück; denn Prof. Heidegger wollte seine Frau nicht lange allein im Gasthaus lassen, und der Zeitpunkt für R. Guardinis Vortrag im Rittersaal war nahe. Für die eigentliche Begegnung bereiteten wir eine sehr schöne Frühstückstafel vor, bei der ich neben Frau Heidegger saß. Sie war sichtlich beglückt, als sich das Gespräch zwischen den beiden schöpferischen Denkern unverzüglich belebt. […] Nach dem Frühstück erläuterte R. Guardini dem Ehepaar durch seine eigene Führung die künstlerischen Ziele, die in der Kapelle und im Palas realisiert worden waren. Ihn freute der Eindruck, den die Innenarchitekturen und insbesondere die gottesdienstlichen Kunstwerke machten. Der Kontakt, der an diesem sonnigen Morgen seinen Anfang nahm, hat in der Folge viele Jahre anregend fortgesetzt“

Die Erinnerungen von Wilmes-Merz und Waltmann kranken erstens daran, dass sie von einer erstmaligen Begegnung mit Heidegger ausgehen, und zweitens, dass sie diese „erste“ Begegnung in das Jahr 1933 verlegen. Während das bezogen auf das „erstmalig“ bereits von Heidegger-Forschern in Frage gestellt wurde, wurde das „Datum“ als solches bislang nicht überprüft. Gerl-Falkovitz hatte – über Waltmann und Wilmes-Merz hinaus – bereits 1985 unter Berufung auf einer mündlichen Mitteilung von Mathilde Schütter von 1984 festgehalten:

„Guardini hatte Heidegger einmal in Rothenfels als Besuch empfangen und nach einer in Gesprächen verbrachten Nacht am nächsten Morgen gesagt: ‚Ich habe gemerkt, daß ich kein Philosoph bin’“[Gerl, Romano Guardini, 1985, a.a.O., S. 360; auch dies., Geheimnis des Lebendigen, 2019, a.a.O., S. 205].

Gerl-Falkovitz vermerkte dazu, dass es sich möglicherweise um denselben Besuch handle[Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, „Ich will nichts anderes, als die Kirche interpretieren”. Romano Guardini und Martin Heidegger – Anmerkungen zu einem latenten Gespräch, in: Die Tagespost, Würzburg, 57, 2004, 19. Juni].

Dem Besuch im Sommer 1933 stehen nun aber mehrere neue Funde aus der Guardini-Bibliothek und dem Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in München sowie seither veröffentlichten Briefwechseln Heideggers mit anderen Personen entgegen. Zunächst steht in der Guardini-Bibliothek nämlich ein Exemplar eines Sonderdrucks von Martin Heidegger, nämlich der 1929 erschienene Text „Vom Wesen des Grundes“ [Martin Heidegger, Vom Wesen des Grundes, Sonderdruck aus der Festschrift für Edmund Husserl, Halle a.d.S. Max Niemeyer Verlag 1929], mit einem einschlägigen handschriftlichen Eintrag:

Q004

Widmung Heideggers an Guardini [Guardini-Bibliothek gb 4050]

Die Widmung lautet: „Romano Guardini zur Erinnerung an das Gespräch auf der Burg, Pfingsten 1930 Martin Heidegger“

Im Archiv der Burg Rothenfels befindet sich außerdem die Kopie[Das Original habe ich bei meinen Archivaufenthalten nicht gefunden] einer Widmung Heideggers in seinem Buch „Was ist Metaphysik?“ (Bonn 1929), das er wohl einen Monat nach dem Besuch entweder der Burgverwaltung oder aber der von Romano Guardini aufgebauten Burgbibliothek zukommen ließ.

Q005

Widmung Heideggers an Guardini [Archiv Burg Rothenfels]

In der Widmung bedankt sich Heidegger für die "Aufnahme in Burg Rothenfels" und datiert mit Freiburg und "Juli 1930".

Schließlich erinnert sich Heidegger selbst in seinem Brief vom 19. Januar 1952 an ein „Nachtgespräch auf Burg Rothenfels“[Siehe unten Q 64 ] und terminiert dieses im Geburtstagsbrief 1965 eindeutig mit „Nachtgespräch auf der Burg im Jahr 1930“[Siehe unten Q 101 ].

Möglicherweise hat sich daher Heidegger an diesem Abend – nachdem Guardini seinen Vortrag gehalten und Heidegger seiner Frau Bescheid gegeben hatte – noch einmal zur Burg hinaufbegeben und gemäß der Erinnerung von Schütter mit Guardini die Nacht hindurch gesprochen, ohne dass Elisabeth Wilmes-Merz dies mitbekommen hatte. Seine Frau wäre schließlich wie vereinbart am nächsten Morgen lediglich zum Frühstück hinzugekommen. Einen weiteren Hinweis auf den genauen Besuchstermin und -umstand gibt schließlich auch noch die Erwähnung einer Bootstour auf dem Main in einem Brief von Heidegger an Rudolf Bultmann vom 26. Mai 1930:

„[…] Meine Frau und ich wollen von Pfingstmontag ab bis Ende der Woche mit unseren Freunden in Goslar auf dem Main zwischen Würzburg und Aschaffenburg paddeln. Könnten wir uns nicht bei dieser Gelegenheit in irgend einem Mainstädtchen sehen? […]“[Rudolf Bultmann/Martin Heidegger, Briefwechsel. 1925-1975, hrsg. von Andreas Grossmann und Christoph Landmesser, 2009, S. 128 f.. Pfingstmontag 1930 war der 9. Juni 1930. Mit den „Freunden aus Goslar“ ist das Ehepaar Walter und Friedel Daniel gemeint. Frau Daniel geb. Lieber war eine Schulfreundin von Elfride Heidegger.].

Diese Ankündigung passt jedenfalls zeitlich zum „Nachtgespräch“ auf der Burg von 1930 sowie zur sportlichen Paddelfahrt mainabwärts in der Erinnerung von Wilmes-Merz. Der erste Besuch Heideggers auf Burg Rothenfels fand also eindeutig zu Pfingsten 1930 statt. Dennoch bleibt es natürlich theoretisch denkbar, dass es eine zweite Mainfahrt 1933 und einen weiteren Besuch auf Burg Rothenfels im Jahr 1933 gegeben haben könnte, obwohl es dann sehr seltsam anmutet, dass in den Briefen Heideggers von 1952 und 1965 nur von dem einen Treffen 1930 die Rede ist. Ob es einen weiteren Besuch gab oder aber die Erinnerungen von Merz und Waltmann bezüglich 1933 vollständig irren, kann daher noch nicht abschließend beantwortet werden. Dazu müsste man die damalige Terminplanung Heideggers für Pfingsten und August 1933 noch genauer studieren. Die Wahrscheinlichkeit ist aber eher gering, da die möglichen Zeiträume 1933 schon mit den jetzt bekannten Terminen Heideggers als Rektor schwer zu vereinbaren sind.

Der Besuch in Zähringen (wohl 1931)

Die Beurteilung, ob und wann es 1933 einen Besuch Heideggers auf Burg Rothenfels gegeben haben könnte, hängt auch noch davon ab, wie man Guardinis Erinnerung an seinen Besuch in Zähringen terminiert. Denn Guardini schreibt Anfang 1946 in einem Brief an Heidegger:

„Es ist ja so lange her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Ich erinnere mich noch genau an den Besuch in Zähringen und an Ihr schönes Studierzimmer“[Siehe unten Q 18 ].

Diese Formulierung legt nahe, dass der Besuch in Zähringen tatsächlich das letzte Zusammentreffen war. Doch auch die Datierung dieses Besuchs ist noch nicht eindeutig geklärt. Nur wenn dieses Treffen 1933 nach einem Besuch Heideggers auf Burg Rothenfels, also im Sommer oder Herbst 1933, stattgefunden hätte, wären die Aussagen wieder miteinander kompatibel. Während nun aber Hugo Ott 1988 ohne Quellenangabe von einem Besuch „1930“ spricht[Hugo Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu einer Biographie, 1988, S. 301], verknüpft Berthold Gerner diesen Besuch erstmals „vermutlich“ mit einem Vortrag, den Guardini am 26. Juni 1931 in Freiburg über Pascal gehalten hat, genauer: „Die religiöse Krise im Leben Pascals“ bei der Akademisch-Literarischen Gesellschaft[Berthold Gerner, Romano Guardini in München, Bd. 2, München 2000, S. 8 f.]. Gerl-Falkovitz geht, allerdings ohne weitere Quellenangabe, bereits sicher davon aus, dass Guardinis Besuch in Zähringen im Anschluss an diesen Vortrag stattfand[Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, „Ich will nichts anderes, als die Kirche interpretieren”. Romano Guardini und Martin Heidegger – Anmerkungen zu einem latenten Gespräch, in: Die Tagespost, Würzburg, 57, 2004, 19. Juni; dies., Geheimnis des Lebendigen, a.a.O., S. 204].

Q006

Postkarte von Romano Guardini an Fanny Kempner (27. Juni 1931) [Privat-Archiv Gerl-Falkovitz]

Die Ansichtskarte zeigt das Münster zu Freiburg im Breisgau. Die Karte trägt den Stempel "Freiburg (Breisgau), 27. 6. 31, 6-7 V, 1". Der Text selbst besteht aus herzlichsten Grüßen aus Freiburg, das "in der Hauptsache noch das alte" sei, also das Freiburg seiner Studienzeit sei.

Ein Aufenthalt Guardinis in Freiburg im besagten Zeitraum ist aber außer für den Vortrag von 1931 auch noch für den 1. Februar 1933 belegbar. Dies wurde von der Heidegger- und der Guardini-Forschung bislang übersehen, obwohl es schon seit 1957 aus dem Tagebuch des 1932/33 amtierenden Rektors Joseph Sauer hervorgeht. Dort heißt es nämlich:

„1. Febr. Senatssitzung … Gleich nach der Sitzung Vortrag Guardinis über den philosophischen Grundgedanken der Divina Comedia, Hörsaal 1 mehr als überfüllt und viele noch vor der Türe. Guardini sprach sehr gewandt, etwas hoch, aber für Kenner ausgezeichnet. Nach dem Vortrag mit Guardini, Funk, Göller, Fränkel, Pringsheim und Freunden noch lange im Freiburger Hof. Der Reichstag gegen Abend aufgelöst, und wir hören Hitler durchs Radio trompeten“[Aus dem Tagebuch des 1932/33 amtierenden Rektors Joseph Sauer, in: Johannes Vincke, Freiburger Pro-fessoren des 19. und 20. Jahrhunderts, Freiburg i. Br. 1957, S. 135. Bei den genannten Personen handelt es sich um Philipp Funk, Emil Göller, Eduard Fraenkel (1888-1970) und Fritz Pringsheim (1882-1967). Der Altphilologe Fraenkel, seit 1931 Lehrstuhlinhaber in Freiburg, wurde auf ministerielle Weisung durch Martin Heidegger seines Amtes enthoben und emigrierte 1934 nach England. Pringsheim, seit 1929 Lehrstuhlinhaber für Römisches und Bürgerliches Recht, wurde wegen seiner jüdischen Abstammung nach der Abschaffung des sogenannten „Frontkämpferprivilegs“ 1935 entlassen und ist 1939 nach Oxford emigriert.]

Ob Heidegger selbst diesen Vortrag gehört hat oder gar zu den von Sauer nicht mehr namentlich genannten „Freunden“ gehörte, ist ungewiss. Zwei Tage darauf hielt Guardini denselben Vortrag über den „Sinn“ der Divina Commedia in München vor dem Deutschen Kulturbund. Aufgrund eines in einem Brief vom 26. Januar 1933 an Johannes Spörl geplanten Nachfolgetermins am darauffolgenden Morgen in Heidelberg und dem in der nachfolgenden Postkarte vom 2. Februar 1933 an Fanny Kempner erwähnten Spaziergang zum Odilienberg scheint die Zeit für einen Besuch in Zähringen am 2. Februar 1933 zwar möglich, aber eher zu knapp.

Q007

Auszug aus dem Brief von Romano Guardini an Johannes Spörl vom 26. Januar 1933 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1240]

Guardini äußert seine Vorfreude auf den Aufenthalt in Freiburg, bedauert aber gleichzeitig, dass er "leider nur kurz dort sein" könne. Er gibt an am Mittwoch mittags mit dem Zug anzukommen, aber bereits am Tag darauf morgens nach Heidelberg weiterfahren zu müssen. Er hofft darauf, dass Spörl in dieser Zeit wenigstens ein gemeinsames Essen einplanen könne.

Q008

Postkarte von Romano Guardini an Fanny Kempner vom 2. Februar 1933 [Privat-Archiv Gerl-Falkovitz]

Es handelt sich um eine Ansichtskarte, die eine Engelsskulptur am Freiburger Münster. Die Karte trägt den Stempel "Freiburg (Breisgau), 2.2.33, 10-11, 1".

Guardini sende an Frau Geheimrat Fanny Kempner herzliche Grüße von Freiburg nach Berlin und betont dabei, dass Freiburg "sehr schön" sei. Gleich nach der Ankunft sei er zum Odilienberg gegangen und zwar "durch die vorfrühlinghafte Natur".

Daher bleibt ein Besuch Guardinis bei Heidegger in Zähringen anlässlich seines Freiburger Vortrages über Pascal am 26. Juni 1931 die wahrscheinlichste Option. Unabhängig davon würde aber auch die Datierung des Besuchs auf Anfang Februar 1933 dies zum „letzten“ persönlichen Zusammentreffen machen und ein Treffen im Sommer oder Herbst 1933 auf Burg Rothenfels im Grunde ausschließen.

Zu Heideggers Freiburger Vortrag „Vom Wesen der Wahrheit“ (Dezember 1930)

In jedem Fall hat sich im zeitlichen Umfeld des Besuch Heideggers auf Burg Rothenfels an Pfingsten 1930 und des nachfolgenden Guardinis in Zähringen einiges an Funden für die Auseinandersetzungen Guardinis mit der Philosophie Heideggers in der Zeit vor 1933 aufgetan.

Gustav Siewerths Bericht als Druckfahne in der Guardini-Bibliothek

Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei eine Auseinandersetzung Siewerths mit Heideggers „Vom Wesen der Wahrheit“, die sich als Einlage in Heideggers Doktorarbeit in der Guardini-Bibliothek in München erhalten hat[gb 4039] und der Umstand, dass es sich dabei offensichtlich um eine mit handschriftlichen Eintragungen Guardinis versehene Korrekturfahne von einem am 23. und 27. Dezember 1930 in der „Freiburger Tagespost“ erschienenen Artikel Siewerths zu Martin Heideggers Vortrag „Vom Wesen der Wahrheit“ in der Akademisch-literarischen Gesellschaft in Freiburg handelt [Gustav Siewerth, „Vom Wesen der Wahrheit“. Zu Martin Heideggers Vortrag in der Akademisch-liter. Gesellschaft, Freiburg, Teil I und II, in: Freiburger Tagespost, 23./27. Dezember 1930]. Dieser zweiteilige Artikel ist zwar in der Freiburger Siewerth-Bibliographie enthalten, aber irrtümlich auf den „6./7. Januar 1930“ datiert, was chronologisch nicht zum erst am 11. Dezember 1930 gehaltenen Vortrag passt.

Dazu muss man wissen, dass Heidegger sich unter dem Titel „Vom Wesen der Wahrheit“ bereits seit 1926 mit dieser Frage auseinandersetzt. Als Vor-Version gilt ein Vortrag 1926 in Marburg. 1930 hat er mit diesem Titel insgesamt drei Vortragsversionen gehalten, nämlich am 14. Juli 1930 in Karlsruhe, am 8. Oktober 1930 in Bremen und schließlich eine dritte Version am 5. Dezember 1930 in Marburg und dann eben am 11. Dezember 1930 in Freiburg. Nach dem Freiburger Vortrag hielt er unter dem gleichen Titel noch im Herbst 1931 in Beuron und 1932 in Dresden weitere Vorträge. 1931/32 und 1933/34 bot Heidegger außerdem Vorlesungen zum Thema „Vom Wesen der Wahrheit“ an. Bei Siewerths Vortragsbericht geht es aber eindeutig um den Vortrag vom 11. Dezember 1930 in Freiburg.

Nicht in der Siewerth-Bibliographie enthalten, aber ebenfalls als Zeitungsausschnitt in der Heidegger-Doktorarbeit in der Guardini-Bibliothek erhalten ist seine Erwiderung Siewerths an Erich Przywara, der auf Siewerths Vortragsbericht mit einem eigenen Artikel reagiert hatte. Der Zeitungsausschnitt stammt daher wohl von Ende Januar 1931, da Przywaras Artikel „Vom Wesen der Wahrheit“ in der Ausgabe vom 17. Januar 1931 in der Freiburger Tagespost erschienen war. Da nun weder in Siewerths noch in Przywaras Artikel auf Guardini Bezug genommen wurde, sich die Korrekturen an der Druckfahne nur auf orthographische und sinnentstellende Druckfehler beziehen, die Texte also nur die Sichtweisen Siewerths und Przywaras auf Heidegger wiedergeben, kann hier auf ein ausführliches Referat dieser Beiträge verzichtet werden.

Allerdings sind die beiden Funde Beleg dafür, dass Guardini zur Jahreswende 1930/31 – wenn auch nicht persönlich, sondern durch die Berichterstattung Siewerths – Heideggers Auseinandersetzung mit dem „Wesen der Wahrheit“ kennengelernt hat. Bislang ist aber kein direkter Verweis bei Guardini auf diesen Vortrag bekannt geworden. Auch die Formulierung „Wesen der Wahrheit“ kommt in Guardinis eigenen Schriften nicht vor.

Der Kontrahent Erich Przywara

Allerdings lohnen sich einige Beobachtungen zu den beteiligten Protagonisten. Denn immerhin ist der Jesuit Erich Przywara (1889-1972) der erste Autor gewesen, der Guardinis und Heideggers philosophische Arbeit miteinander verglichen hat und dabei früh den Einfluss Georg Simmels und Edmund Husserls auf die katholische Lebens- und Existenzphilosophie erkannte. Przwyara war auf diesen ersten Nachweis später auch sehr stolz:

„Georg Simmel, Edmund Husserl, Max Scheler. Sie sind so groß und so vergessen, daß sie heute Brunnen sind, aus denen man geheim schöpft, ohne Gefahr zu laufen, daß einer diese Brunnen entdeckt. So ist Georg Simmel (wie ich früher nachwies) wesentlicher Brunnen für die Philosophie Romano Guardinis und Martin Heideggers. […]“[Erich Przywara, Simmel – Husserl – Scheler (1954), in: ders., In und gegen. Stellungnahmen zur Zeit, Nürnberg 1955, S. 33-54, hier S. 35 f. Der Beitrag erschien auszugsweise auch in: Kurt Gassen, Kurt/Michael Landmann (Hrsg.), Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie. Zu seinem 100. Geburtstag am 1. März 1958, Berlin 1958, (Neudruck)1993, S. 224-227. Er verweist im Anschluss daran auf seine „genauere Analyse“ der Eigenart der Philosophie Simmels in seinen fünf Vorlesungen „Gott“ (München 1926)].

Przywara hatte diese Analyse tatsächlich bereits im Jahr 1928 in einer Arbeit über die „Probleme der Neuscholastik“ für die „Kant-Studien“ vorgelegt und dabei verschiedene Kreise und Gruppen von Philosophen gebildet, die die Gedanken Simmels, Husserls, Diltheys, Troeltschs und Schelers jeweils weiterentwickelt hätten. Dabei erscheint Heidegger als Vertreter einer „reinen Metaphysik“ und Guardini mit seiner Gegensatzlehre als Vertreter einer „katholischen Phänomenologie“[Erich Przywara, Die Problematik der Neuscholastik, in: Kant-Studien, Berlin, 33, 1928, 1, S. 73-98, hier S. 83 ff. Bei Hans Leisegang, der diese Einteilungen Przywaras in seiner „Religionsphilosophie der Gegenwart“ (Berlin 1930) übernommen hat, ist es dabei zu einem markanten Druckfehler gekommen. Aus Przywaras Einschätzung Guardinis als „selten formstarker Denker“ wurde Guardini bei Leisegang zu einem „selten formstarren Denker“ (S. 24 mit Anmerkungen auf S. 92)].

Der Einfluss Simmels wurde bei Guardini erst wieder von Manfred Hermanns, aber auch nur in Bezug auf die Soziologie adäquat herausgestellt[Manfred Hermanns, Romano Guardini und die Soziologie, in: Renovatio, 44, 1988, 2, S. 65-81; ders., Guardinis soziologisches Denken im Berlin der Vorkriegszeit, in: Hermann Josef Schuster (Hrsg. im Auftrag der Guardini-Stiftung), Guardini weiterdenken, Berlin 1993, S. 179-192]. Auch für Heidegger gibt es nicht viele Studien[Michael Grossheim, Von Georg Simmel zu Martin Heidegger. Philosophie zwischen Leben und Existenz, Bonn/Berlin 1991; Gerhard Ehrl, Heideggers Stellung zu Simmel in der Vorlesung von 1919/20, in: Heidegger Studies, Bd. 23, Berlin 2007, S. 71-93].

Wie sehr Husserl wiederum Guardini schätzte, wurde uns bereits 1981 von Adelgundis Jaegerschmid OSB – einen Spaziergang am 20. April 1936 mit Husserl erinnernd – mitgeteilt:

„Nach dem Tee Spaziergang mit Husserl, der unsicher auf den Füßen war und sich führen ließ. Traurig sagte er: ‚Ich habe mein Vaterland verloren, ich bin ausgestoßen. Echte Philosophie ist das gleiche wie religiöse Selbstbesinnung. Wir sprachen dann über Guardini, dessen Dostojewski-Buch er sehr schätzt. Guardini gehört zu den christlichen Schriftstellern, die er verehrt und zu denen er eine innere Beziehung besitzt. Sein Buch „Der Herr“ hat er mit großer Anteilnahme gelesen. […] Husserl versicherte immer aufs neue, daß er Guardini so schätze. Heute behauptete er, in dem Buch „Spiegel und Gleichnis“, das ich ihm gegeben, habe Guardini sich wörtlich an Hedwig Conrad Martius angeschlossen“[Adelgundis Jaegerschmid, Gespräche mit Edmund Husserl 1931-1936, in: Stimmen der Zeit, 199, 1981, S. 48-58, hier S. 57 f.].

Albino Babolin verweist in seinem Aufsatz „Die religiöse Erfahrung bei Romano Guardini“ wiederum darauf, dass insbesondere Guardinis Werk „Religion und Offenbarung“ von 1958 ihn „als Phänomenologen und Theoretiker der religiösen Erfahrung“ zeige. „Guardini übernimmt Husserls Lehre als kritische Methodologie zur Erfassung der Bedeutung des religiösen Phänomens“[Albino Babolin, L´esperienza religiosa in Romano Guardini, in: Studia Patavina, Padua, 15, 1968, 2, S. 313-322; deutsch unter dem Titel „Die religiöse Erfahrung bei Romano Guardini, in: Philosophische Anthropologie, Rechtsphilosophie, Sozialphilosophie, Politische Philosophie, Religionsphilosophie, Philosophiegeschichtliche Forschung“. Akten des 14. Internationalen Kongresses für Philosophie (1968), Wien 1970, Bd. 1 ,2, S. 371-375, hier S. 372].

Zurück zu Przywara: Dieser gehörte aber auch zu den ersten Autoren, die die gemeinsamen Kierkegaard-Bezüge Guardinis und Heideggers herausstellten. So greift er in seiner eigenen Kierkegaard-Studie von 1929 sowohl Heideggers als auch Guardinis Auseinandersetzung mit Kierkegaard auf[Erich Przywara, Das Geheimnis Kierkegaards, 1929, S. V, 17, 20 f. und 23-29].

Neben ihm haben sich früh dazu geäußert:

  • Hans Urs von Balthasar (1928) [Hans Urs von Balthasar, Geschichte des eschatologischen Problems in der modernen deutschen Literatur, Zürich 1930, S. 141 f., 158 und 211; dann in ders., Apokalypse der deutschen Seele. Studien zu einer Lehre von letzten Haltungen, Salzburg/Leipzig 1937-1939, Bd. 1, S. 695-734; in französischer Übersetzung: Kierkegaard et Nietzsche, in: Dieu vivant, 1, 1945, S. 55-80. Balthasar, der in Berlin Guardinis Kierkegaard-Vorlesungen gehört hatte, betont ein „Wink Guardinis“ habe ihn auf die Antithese Kierkegaard-Nietzsche aufmerksam gemacht. Vgl. zu Balthasars Beschäftigung mit Heidegger vor allem: ders., Heideggers Philosophie vom Standpunkt des Katholizismus, in: Stimmen der Zeit, 82, 1940, S. 1-8 und den Abschnitt „Heidegger und Rilke“, in: ders., Apokalypse der deutschen Seele. Studien zu einer Lehre von letzten Haltungen, Bd. 3: Die Vergöttlichung des Todes, Salzburg/Leipzig 1939, S. 193-315].
  • Peter Wust (1929) [Siehe zum Beispiel Peter Wust, Die katholische Seinsidee und die Umwälzung in der Philosophie der Gegenwart, in: Max Ettlinger/Philipp Funk/Fritz Fuchs (Hrsg.), Wiederbegegnung von Kirche und Kultur. Eine Gabe für Karl Muth, München 1927, S. 127-150; Die Krisis des modernen Menschen und die Annäherung an das Christentum, in: Deutsche Rundschau, 55/220, 1929, S. 109-123; ders., Der augustinische Denktypus. Zum Vortrag Romano Guardinis in der Kantgesellschaft, in: Kölnische Volkszeitung, 9. März 1929] und
  • Theodor W. Adorno (1933) [Theodor W. Adorno, Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, 1933, zu Martin Heidegger besonders S. 76f. und 93, zu Romano Guardini siehe S. 80f., 88 sowie Anmerkungen auf S. 163].

Heidegger hielt von derartigen Interpretationen seiner Arbeiten durch Przywara offensichtlich nicht viel; er bezeichnete Przywara in einem Brief an seinen Freund Rudolf Bultmann von 1929 sogar als einen „Charlatan“[Rudolf Bultmann/Martin Heidegger: Briefwechsel 1925-1975, 2009, S. 105-111: Brief von Heidegger an Bultmann vom 9. April 1929, hier S. 107; dieses harte Urteil dürfte sich wohl auf Przywaras Aufsatz über die „drei Richtungen der Phänomenologie“ beziehen, die er mit Husserl, Scheler und Heidegger identifizierte. Vgl. Erich Przywara, Drei Richtungen der Phänomenologie, in: Stimmen der Zeit, 115, 1928, S. 252-264]. Przywaras Vortrag über „Metaphysik der Endlichkeit oder Unendlichkeit“ am 14. Januar 1930 in der Akademisch-literarischen Gesellschaft in Freiburg hielt er für „miserabel“[Brief von Heidegger an Bultmann vom 15. Januar 1930, in: Bultmann/ Heidegger, Briefwechsel. 1925-1975, a.a.O., S. 123]. Und eine von Przywara gewählte Bezeichnung von Heideggers Denken als „Philosophie der Endzeit“ und als „Ende“ sowie einen dabei angestellten Vergleich mit Freud quittierte Heidegger seinem Freund Bultmann gegenüber am 2. September 1930 mit der Hoffnung, „daß Przywara wirklich seine Entdeckung versteht und fortan aufhört, über mich zu schreiben“[Brief von Heidegger an Bultmann vom 2. September 1930, in: ebd., S. 135-138. Bislang konnte ich im Werk Przywaras dieses „Zusammenbringen” von Heidegger und Freud nicht finden].

Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt, wie Przywaras Artikel vom Januar 1931 zeigt. Angesichts dieser Kritik an Przywara durch Heidegger ist es auch fraglich, ob die Einschätzung von Karl Löwith zutrifft, wenn er neben Guardini auch Przywara als einen jener katholischen Theologen benennt, der vielleicht die „katholischen“ Voraussetzungen von Heideggers Existentialontologie besser durchschauen könnten als die „andern“[Karl Löwith, Der politische Horizont von Heideggers Existentialontologie (1940, 1946), in: Sämtliche Schriften: Band 2: Weltgeschichte und Heilsgeschehen, 1983, S. 473-541, hier S. 517. Es handelt sich dabei um ein Teilkapitel von „Der europäische Nihilismus“ (1940 in japanischer Übersetzung: Yôroppa no nihirizumu (Der europäische Nihilismus), übersetzt von Shibata Jisaburo, ist zuerst in der namhaften Zeitschrift Shisô (Denken ), 1940, Nr. 220 und 221, zuletzt auch in: ders., Der Mensch inmitten der Geschichte: Philosophische Bilanz des 20. Jahrhunderts, hrsg. von Bernd Lutz, 2016, S. 91; auch in: ders., Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933: Ein Bericht, hrsg. von Franz-Rutger Hausmann, 2016, S. 31 f.].

Löwiths Einordnung lautet im Kontext:

„Wodurch er zunächst auf uns wirkte, war nicht die Erwartung eines neuen Systems, sondern gerade das inhaltlich Unbestimmte und bloss Appellierende seines philosophischen Wollens, seine geistige Intensität und Konzentration auf „das Eine was not tut“. Erst später wurde uns klar, dass dieses Eine eigentlich nichts war, eine pure Entschlossenheit, von der nicht feststand Wozu? „Ich bin entschlossen, nur weiß ich nicht wozu“, hieß der treffliche Witz, den ein Student eines Tages erfand. Der innerliche Nihilismus dieser nackten Entschlossenheit vor dem Nichts war zunächst durch Züge verdeckt, die an eine religiöse Bekümmerung denken ließen, und in der Tat hatte sich Heidegger damals noch nicht entschieden von seiner theologischen Herkunft gelöst. Aus dieser Freiburger Zeit erinnere ich mich, auf seinem Schreibtisch Bilder von Pascal und Dostojewski gesehen zu haben, und in einer Ecke des zellenartigen Zimmers hing eine expressionistische Kreuzigung. Weihnachten 1920 schenkte er mir Thomas a Kempis DE IMITATIONE CHRISTI. Noch 1925 schien ihm geistiges Leben nur in der Theologie vorhanden, bei Barth und Gogarten. Am vertrautesten stand er damals mit Bultmann, mit dem er ein Seminar über den jungen Luther abhielt. Es war keine geringe Zumutung an die Studenten der Theologie, die pseudochristlichen Kategorien von Heideggers Existenzialontologie zusammenzubringen mit ihren diversen Theologien. Den Schlüssel für Heideggers gottlose Theologie finde ich in einem Brief von 1921, wo er sein „ich bin“ oder seine „historische Faktizität“ damit bezeichnet, daß er – in Anführungszeichen – „christlicher Theologe“ (sic!) sei, und darin liege „radikale Selbstbekümmerung und zugleich Wissenschaftlichkeit“; denn die wissenschaftliche Strenge des begrifflichen Forschens akzentuiere seine faktische Existenz, die ihm darum als „Faktizität überhaupt“ zum Problem werde. Die Wenigsten von uns vermochten diesen Zusammenhang von persönlichem Pathos und begrifflicher Leidenschaft existentiell zu begreifen. Am ehesten wurde das wohl von katholischen Theologen wie Przywara und Guardini verstanden, die Heideggers Voraussetzungen besser als wir andern durchschauten. Aus Luther stammte auch das unausgesprochene Motto seiner Existenzialontologie: „Unus quisque robustus sit in existentia sua“, was sich Heidegger ohne den Glauben an Christus damit verdeutschte, dass er immer wieder betonte, es komme nur darauf an, „dass jeder das macht, was er kann“, auf „das je eigene Sein-können“ oder die „existentielle Beschränkung auf die eigene historische Faktizität.“ Dieses Können nahm er zugleich als ein Müssen in Anspruch oder als „Schicksal“.“

Exkurs: Die „katholischen“ Schüler und Hörer Martin Heideggers mit Verbindung zu Romano Guardini

Neben Przywara und Guardini hätte von Löwith hier allerdings auch auf die zahlreichen „katholischen“ Hörer und Schüler Heideggers verwiesen werden können, zumal auf diejenigen, die gleichzeitig auch persönliche und inhaltliche Verbindungen zu Romano Guardini hatten. Max Müller lehnte zwar zu Recht die Rede von der Existenz einer „Katholischen Heidegger-Schule“ ab [Müller/Vossenkuhl, Auseinandersetzung als Versöhnung, a.a.O., S. 78] und wehrte sich daher auch gegen das ebenfalls von Przywara bereits 1940 geprägte Schlagwort[Erich Przywara, Die Reichweite der Analogie als katholische Grundform, in: Scholastik, 15, 1940, S. 339-362 und 508-532, hier S. 340; dann in ders., Schriften III, S. 247-301].

Aber wie Bernhard Casper aufgrund der Quästurakten des Universitätsarchivs Freiburg herausgefunden hat, gehörten allein im Wintersemester 1928/29 zu den 232 Hörern, die Heideggers Vorlesungen „Einleitung in die Philosophie“ besucht hatten, zahlreiche Katholiken[Bernhard Casper, Die Zeitigung des Leibes in der Diachronie des „pour l´ autre“, in: Archivio di filosofia, Band: Incarnazione, hrsg. von Marco Olivetti, Padua 1999 S. 159–170, hier S. 160, Fußnote 4]. Zu nennen sind davon in unserem Kontext:

  • Max Müller
  • Eugen Fink (1905-1975)
  • Gustav Siewerth (1903-1963) und
  • der spätere Freiburger Fundamentaltheologe und Erzbischof Eugen Seiterich.

Damit sind mit Max Müller, Gustav Siewerth (1903-1963) und Eugen Seiterich (1903-1958) gleich drei Heidegger-Schüler benannt, die auch eng mit Romano Guardini verbunden waren [Siehe für Seiterich: Eugen Seiterich, Die logische Struktur des Typusbegriffes bei William Stern, Eduard Spranger und Max Weber, Freiburg i. Br. 1930, in der er sowohl auf Heideggers „Sein und Zeit“ als auch auf Guardinis „Der Gegensatz“ verweist].

Hinzukommen aber noch:

  • der – neben Heidegger und Erzbischof Gröber – „dritte Meßkirchner“, Bernhard Welte (1906-1983) [Vgl. zum Heidegger-Bezug: Bernhard Casper, Bernhard Welte und Martin Heidegger. Zur Stellung Bernhard Weltes im christlichen Denken des 20. Jahrhunderts, in: Klaus Hemmerle (Hrsg.), Fragend und lehrend den Glauben weit machen. Zum Werk Bernhard Weltes anlässlich seines 80. Geburtstages, München 1987, S. 12-28; zu Romano Guardini siehe hingegen Bernhard Welte, Rezension zu: Guardini, Der Engel in Dantes Göttlicher Komödie, in: Oberrheinisches Pastoralblatt, Karlsruhe, 40, 1938, 6 (Juni 1938), S. 168-170 und meist übersehen: Bernhard Welte, La position de la théologie en Allemagne dans le cadre de la philosophie actuelle, in: Catholicisme allemand, Paris 1956, hier S. 540 und 551; dann ebenfalls in französischer Sprache aufgenommen in: ders., Theologische Schriften, hier S. 123 und 130; zu Weltes eigenem, an beiden Maß nehmenden religionsphilosophischen Ansatz neuerdings Markus Endres, Zu Bernhard Weltes (* 1906 in Meßkirch, + 1983 in Freiburg i. Br.) religionsphilosophischer Deutung des menschlichen Daseins, in: Peter Häger/Jakobus Kaffanke OSB (Hrsg.), Beuroner Forum. Edition 2018/2019, 2019, S. 59-77], sodann
  • die Jesuiten:
    • Johannes Baptist Lotz SJ (1902-1993)[Zu Romano Guardini siehe schon früh: Johannes Baptist Lotz, Rezension zu: Guardini, Das Wesen des Christentums, in: Katholische Bibelbewegung, Stuttgart, 6, 1939, 1, S. 37; ders., Rezension zu: Guardini, Zu Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins, in: Scholastik, Freiburg, 17, 1942, 1, S. 100-103]
    • Alfred Delp SJ (1907-1945)[In seinem 1935 erschienenen Buch über die Philosophie Heideggers bezieht Delp Guardini ausdrücklich in seine Auseinandersetzung mit Heidegger ein. Er verweist dabei sowohl auf Guardinis Kierkegaard- als auch auf seine Dostojewskij-Studien und übernimmt dabei Guardinis Interpretation vom „Bloß-Endlichen“ und vom „Titanischen Finitismus“, siehe Alfred Delp, Tragische Existenz. Zur Philosophie Martin Heideggers, 1935, zu Romano Guardini siehe S. 108 und 110; wieder in: ders., Gesammelte Schriften, Band II: Philosophische Schriften, Frankfurt am Main 1983, S. 39 ff.] und
    • Karl Rahner SJ (1904-1984)[Vgl. zu Heidegger: Karl Rahner im Gespräch mit Meinold Krauss, 1991, S. 31 und Andreas R. Batlogg, Der Denkweg Karl Rahners: Quellen, Entwicklungen, Perspektiven, 2003, S. 73 f. Mit Ausnahme dieses Theorems vom "Ende der Neuzeit" und einiger weniger anderer Bruchstücke findet aber bei Rahner keine wirkliche Rezeption des Werkes Guardinis statt, auch nicht als Rahner Nachfolger Guardinis auf dessen Münchener Lehrstuhl wurde].

Rahner entstammte einer Reihe von Heidegger-Schülern, die gleichzeitig über Quickborn oder Bund Neudeutschland der von Guardini geprägten katholischen Jugendbewegung angehörten. Zu nennen sind hier:

  • Robert Scherer (1904-1997) [Zur Biographie des bislang wenig beachteten Robert Scherer vgl. Bruno Steimer, Bibliotheca Theologica Internationalis. Internationale Aktivitäten des Verlages Herder im Spannungsfeld von Wissenschaft und Ökonomie, in: Johannes Wischmeyer/Claus Arnold (Hrsg.), Transnationale Dimensionen wissenschaftlicher Theologie, 2013, S. 153-168, hier S. 156 f. sowie Müller/Vossenkuhl, Auseinandersetzung als Versöhnung, a.a.O., S. 166; zu seiner Auseinandersetzung mit Guardini und Heidegger siehe Robert Scherer, Das Symbolische. Eine philosophische Analyse, in: Philosophisches Jahrbuch, Fulda, 48, 1935, S. 210-257, zu Romano Guardini siehe S. 249, 251 f. und 255; ders., Besuch bei Heidegger, in: Wort und Wahrheit, 2, 1947, 12, S. 780-782; ders., Martin Heidegger und der wahre Thomismus, in: Wort und Wahrheit, Freiburg/Wien, 4, 1949, 9 (September 1949), S. 680-686].
  • Max Müller (1906-1994) und
  • Fritz Leist (1913-1974) [Zu Heidegger vgl. Fritz Leist, Der Mensch im Bann der Bilder, 1962, S. 9; ders., Heideggers Fragen an die Theologie, in: Eckart, 21, 1951, S. 147-151; ders., Existenz im Nichts. Versuch einer Analyse des Nihilis-mus, 1961; ders., Heidegger und Nietzsche in: Philosophisches Jahrbuch, Bd. 70, München 1962/63, S. 363-394; zu Romano Guardini siehe ders., Können wir noch Christen sein? Romano Guardini erhält den Friedenspreis des deutschen Buchhandels, in: Münchner Merkur, 1952, 230, 24. September, S. 8; ders., Um die Überwindung der Neuzeit. Zur geschichtsphilosophischen Konzeption im Werk Romano Guardinis, in: Philosophisches Jahrbuch der Görresgesellschaft, Fulda, 62, 1953, 1. Halbband: Deutung der Gegenwart, S. 60-85; ders., Er war der Wegbereiter des Konzils, in: Münchner Merkur, 1968, 3. Oktober; wiederabgedruckt in: Helmut Zenz (Hrsg.): Deuter der christlichen Existenz. Nachrufe – Erinnerungen – Würdigungen. Romano Guardini zum 50. Todestag. Mit einer aktuellen Würdigung von Hans Maier, Mainz 2018, S. 79-81].

Schließlich muss hier zumindest auch noch Ernesto Grassi (1902-1991) erwähnt werden[Einiges bislang wenig Bekannte zum Verhältnis von Grassi zu Guardini und Heidegger findet sich bei Robert Josef Kozljanič, Ernesto Grassi. Leben und Denken, 2003 und bei Wilhelm Büttemeyer, Ernesto Grassi, 2009]. Es wäre eine eigene Studie wert, die vernetzte Beeinflussung dieser jungen Philosophen durch Guardini und Heidegger nachzuzeichnen.

Aufgrund ihrer biographischen Bezüge zwischen Romano Guardini und Martin Heidegger werden im Folgenden von diesen „katholischen“ Schülern nur Gustav Siewerth und weiter unten Max Müller näher betrachtet.

Der Berichterstatter Gustav Siewerth

Gustav Siewerth hatte nach einem Philosophie- und Psychologie-Studium an der Universität Frankfurt und nach seinem 1924 abgeschlossenen „Philosophicum“ am Theologischen Seminar in Fulda, von 1926 bis 1930 in Freiburg an der Albert-Ludwigs-Universität bei Martin Honecker, Martin Heidegger und Edmund Husserl Philosophie gehört und 1930 mit einer Arbeit über „Die Metaphysik der Erkenntnis nach Thomas von Aquin in Freiburg“ zum Dr. phil. promoviert. Nach einem Forschungsauftrag der Forschungsgemeinschaft der deutschen Wissenschaft über die Thematik „Der Gottesgedanke in der Entwicklung des jüngeren Hegel“ erhielt Gustav Siewerth 1932 die Habilitationsgenehmigung der Universität in Frankfurt am Main. 1933 scheiterten seine Habilitation und seine Berufung als Professor am Lyceum Hosianum in Braunsberg aber aufgrund der politischen Verhältnisse. Schließlich konnte Siewerth sich erst 1937 mit der Schrift „Die Apriorität der Erkenntnis als Einheitsgrund der philosophischen Systematik nach Thomas von Aquin“ an der Universität Freiburg habilitieren. Aber auch hier wurde ihm zunächst die Übertragung einer Dozentur verweigert. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg mit Genehmigung durch die Militärregierung wurde er zum Professor für Philosophie und Pädagogik sowie zum Direktor an der Pädagogischen Hochschule Rheinland, Abteilung Aachen, berufen. 1961 wurde Gustav Siewerth Gründungsrektor und Professor für Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg im Breisgau.

Zum „Consensus und Contrarium“ im Denken von Siewerth und Heidegger hat bereits 1964 Heribert Heinrichs einiges herausgearbeitet[Heribert Heinrichs, Gustav Siewerth und Martin Heidegger, Consensus und Contrarium in ihrem Denken, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 40. 1964, S. 135-145], und auch Karl Rahner hat sich mit dem „biographisch-systematischen“ Verhältnis der beiden Denker beschäftigt[Karl Rahner, Gustav Siewerth y Martin Heidegger. Una discutida relacion biografico-sistematica, in: Pensamiento, 52, 1996, S. 115-126].

Besonders Siewerth hatte versucht Heideggers „Existenzialismus“ mit dem „Thomismus“ in Verbindung zu bringen. Dies wird insbesondere in Siewerths Schrift „Der Thomismus als Identitätssystem“ deutlich. Siewerth stellt selbst die Wege des Einflusses auf seine Doktorarbeit sowie frühere und spätere Arbeiten über metaphysische Fragestellungen dar:

„Betrachtet man nun den von M. Heidegger ausgearbeiteten Stand der Seinsfrage, so läßt sich ohne Zweifel eine zu tiefstem Dank verpflichtende fundierende Anregung feststellen für das zentrale Thema der Dissertation, die den sinnlichen Erkenntnisakt erörterte und für das „In-der-Welt-Sein“ von „Sein und Zeit“ die metaphysische Begründung durch die habituell vollendete Unmittelbarkeit des sinnlichen Gewahrens aus thomistischen und aristotelischen Prinzipien beibrachte. Dieses „gestimmte“ „In- der-Welt-Sein“ hat der Verfasser als „Sein in der Wahrheit“ und „im Guten“ in den transzendentalen Dimensionen der apriorisch verfaßten, habituell durch die intelligiblen und sittlichen Prinzipien ermächtigten „Natur“ tiefer ausgefaltet. Dies geschah in mehreren seiner philosophischen und pädagogischen Arbeiten. Besondere Erwähnung verdienen hier die „Metaphysik der Kindheit“ und der Aufsatz über „Reife und Begabung in metaphysischer Sicht und Deutung“. Denn hier wurde in der Konzeption des „Reife-“ oder „Wohnrings“ des Herzens die „Gestimmtheit“ aus der welthaft waltenden, die göttliche Tiefe des Seins exemplarisch repräsentierenden „zeugenden Liebe“ zum erweckenden, einstimmenden, sammelnden und spannenden Ruf der mögend – vermögenden „Natur“, die nur in dieser Eröffnung und Transzendenz in den innerlich „incarnierten Wohnraum“ ins Reifen kommt. Bei diesen Arbeiten stand der Verfasser [25] in der metaphysischen Vertiefung thomistischer Lehren in dauerndem inneren Gespräch mit Martin Heidegger“[Gustav Siewerth, Der Thomismus als Identitätssystem (1939), in: ders., Gesammelte Werke, 1979, S. 24].

Auch nach 1954 bleibt ihm dieses „Maßnehmen“ an Heidegger ein zentrales Anliegen. So gibt es in seinem Kommentar zu der von ihm neu herausgegebenen Schrift Thomas von Aquins „Die menschliche Willensfreiheit“ (1954) einen eigenen Abschnitt „Die Öffnung der Problematik auf Martin Heidegger. Wegen, Wägen, Wagen“[Thomas von Aquin, Die menschliche Willensfreiheit, hrsg. von Gustav Siewerth, 1954, S. 73 f.]. Laut Alma von Stockhausen in ihrer Einleitung zu Siewerths „Das Schicksal der Metaphysik von Thomas zu Heidegger“ wird Siewerths „Versuch, das von Heidegger beschriebene weltgeschichtliche Schicksal der „Irre“ als christliches Ereignis zu begreifen und zu überwinden“, von Heidegger allerdings abgelehnt, da es für diesen „die Frage der persönlichen Freiheit oder Schuld eines für sich gesetzten Subjekts, unabhängig von der je und je sich ereignenden Seinsgeschichte“ nicht gebe und somit auch „die Frage nach Überwindung des Schicksals durch menschliches Bemühen irrelevant“ werde [Gustav Siewerth, Das Schicksal der Metaphysik von Thomas zu Heidegger, Einsiedeln 1959; (Neuausgabe: Gesammelte Werke, Band 4)1987, S. 21]. Auch diese Versuche Siewerths blieben von Seiten Heideggers ohne Antwort. Auch auf seinen Hochland-Aufsatz „Martin Heidegger und die Frage nach Gott“ von 1961 gab es von Heidegger selbst keine Reaktion[Gustav Siewerth, Martin Heidegger und die Frage nach Gott, in: Hochland, 53, 1961, S. 516-526, hier S. 525 f.; auch in: ders., Grundfragen der Philosophie im Horizont der Seinsdifferenz, Düsseldorf 1963, S. 245-259, hier S. 259; und in: ders., Gott in der Geschichte, Düsseldorf 1972 (Siewerth: Gesammelte Werke; Bd. 3), S. 290].

In Bezug auf Guardini ist neben den hier verhandelten Episoden auf Burg Rothenfels 1929/30 und zum Heidegger-Vortrag 1930/31 zu erwähnen, dass Siewerth sich 1933 sehr kritisch mit Guardinis Deutung des „Großinquisitors“ auseinandergesetzt hat. Dies schlug sich in einem offenen Brief an Guardini nieder, der in den „Schildgenossen“ abgedruckt wurde. Dabei kritisierte er zunächst Guardinis Rede von den „bösen Maßlosigkeiten Dostojewskijs“. Außerdem hielt er es für gefährlich, dass Guardini in seiner Deutung bewusst gegen die Sinnrichtung des Werkes „die Legende mit römisch-katholischen Kategorien“ analysiere [Gustav Siewerth, Zur Deutung des Großinquisitors, in: Schildgenossen, 12, 1933, 5, S. 195-202, hier S. 196. Siewerth liefert 1939 und 1941 drei weitere Beiträge für die Schildgenossen, so: ders., Über die Bedeutung und Funktion des Primates in der geschichtlichen Wirklichkeit der christlichen Wahrheit: Ein Brief an Hermann Herrigel, in: Die Schildgenossen, 18, 1939, S. 16-32; ders., Das Gebet in der Ordnung des täglichen Lebens, in: Die Schildgenossen, 18, 1939, S. 289-298; ders., Hinweis auf die Dichtung Orpheus und Eurydike, in: Schildgenossen, 20, 1941, 3, S. 117-119]. Auf sechs weiteren Seiten lieferte Siewerth seine eigenen Interpretationen und möchte dadurch von Guardini aus seiner Sicht nicht berücksichtigte Fragen beantworten. Interessanterweise – und eher unüblich – hat Guardini Siewerth den Brief nicht öffentlich beantwortet; ob es eine persönliche Antwort an Siewerth gab, ist bislang nicht bekannt.

Siewerths Haltung zu Guardini bleibt auch nach 1945 ambivalent. In seinem Aufsatz über die „Gegenwartsphilosophie in Deutschland“ von 1950 charakterisierte Siewerth Guardinis Werk recht positiv: Es sei „für diese liebevolle, hellsichtige Offenheit kennzeichnend, die hiebei für die eigene Theologie und Philosophie der gläubigen Existenz die ganze Breite geistiger Erfahrung gewinnt“[Gustav Siewerth, Gegenwartsphilosophie in Deutschland, in: Wissenschaft und Weltbild, Wien, 3, 1950, S. 129-131 und S. 181-183, hier S. 181]. Dagegen kritisierte Siewerth 1958 und 1961 Guardinis „Grundlegung der Bildungslehre“[Gustav Siewerth, Wagnis und Bewahrung. Zur metaphysischen Begründung des erzieherischen Auftrages, Düsseldorf 1958, S. 73-75; ders. Bildung und Glaube, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 37, 1961, S. 81-113, zu Romano Guardini siehe S. 89 f. Vgl. zur Kritik der Kritik: Reinhold Mühlbauer, Der Begriff „Bildung“ in der Gegenwartspädagogik, 1965, S. 203-205; Berthold Gerner, Guardinis Bildungslehre. Beiträge zur Wirkungsforschung, 1985, S. 65]; und zwar so fundamental, dass Guardini dies wohl als „Integralismus“ wahrgenommen hat. So zumindest erscheint es in einem Brief von Balthasar an Siewerth im Jahr 1958. Anlässlich eines eigenen Vortrags am 24. November 1958 besuchte Balthasar Guardini mit dem Ziel, seinen Freund Gustav Siewerth als Kandidat für die Neubesetzung des Dempf-Lehrstuhls zu protegieren. Der Versuch, das Votum Guardinis zu gewinnen, scheiterte jedoch, nachdem der in Münchener Berufungsfragen durchaus einflussreiche Guardini nach Siewerths Angriff auf seine pädagogischen Schriften gegen ihn votierte. Balthasar berichtet Siewerth daher in einem Brief vom 28. November 1958: „Guardini nannte Sie einen ‚Integralisten’, ich redete ihm das Wort aus, aber ich musste zittern, als ich an die grollenden Gewitter des Buches dachte“[Manfred Lochbrunner, Hans Urs von Balthasar und seine Philosophenfreunde, Würzburg 2005, S. 151 f.].

Schließlich stellte damals die Fakultät in der Dreierliste Josef Pieper auf Platz eins, Max Müller auf zwei und Gustav Siewerth auf drei. Nachdem Pieper nach langem Zögern absagte, wurde im Sommer 1959 Max Müller nach München berufen.

So blieb das Verhältnis zu Guardini und zu Heidegger gleichermaßen und in beiden Fällen bis zum frühen Tod Siewerths 1963 ein „gespanntes“ und ein von Missverständnissen und Einseitigkeiten geprägtes.

Guardinis vertiefte Einarbeitung in Heideggers Philosophie

Ein weiterer Brief an Buytendijk (1931)

Aufgrund dieser Funde in der Guardini-Bibliothek wird nun aber die ergänzende Äußerung zu Heidegger in Guardinis Brief an Buytendijk vom 11. März 1931 nicht mehr nur als „zukünftiger Plan“, sondern als „begleitende Beschreibung“ zu lesen sein:

„[…] Ich möchte nun versuchen, mich in die Philosophie Heideggers einzuarbeiten – der ja von anderer Seite, das heraufhebt, was auch bei Nietzsche das Entscheidende ist: die bloße, mit sich allein seiende Endlichkeit. Ein schweres Problem, mit dem ganzen Kämpfen und Leiden und Sündigen des Abendlandes beladen. Aber hier wird sich die Kraft des Christlichen zu bewähren haben. Ich meine so: Es wird zu sehen sein, was die blosse Endlichkeit bedeutet, und inwiefern wirklich die „absoluten Positionen“ destruiert sind. Dieses Ganze als „Existenz“, d.h. als konkretes, mit dem Accent des persönlichen Heilsschicksals und der persönlichen Entscheidungsnotwendigkeit des Denkenden belastetes Wirklichkeitsgewebe (nicht als blosse Idee, oder Struktur, oder System) zu nehmen sein. Dann gilt es, zu sehen, was das ganz rein und ungebrochen genommene Christentum, die christliche Wirklichkeit dazu zu sagen haben hat. Und da scheinen in einer sehr tief liegenden z. T. verborgen laufenden Tradition des Abendlandes (der Philosophia und Theologia cordis) und im Osten sehr bedeutsame Ansätze zu liegen, die voranführen können. […]“ [Im Holländischen veröffentlicht in: De rede van het hart. Correspondentie van F. J. J. Buytendijk met Romano Guardini, hrsg. von Henk Struyker Boudier, Zeist 1986, S. 87 f.; hier zitiert nach der Kopie des deutschen Originalbriefes im Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1927].

Ein Tagebucheintrag vom Juni 1932

Q009

Immer wieder „im Gehen“ gewinnt Guardini entscheidende Erkenntnisfortschritte in der Auseinandersetzung mit Heidegger. Nach dem Besuch des Gottesdienstes in Sils-Maria am Sonntag, den 12. Juni 1932 bei denen die „Epistel von Dedicatio“ gelesen worden seien, kommen ihm auf dem Nach-Hause-Weg die entscheidenden Gedanken für seine „Lehre vom christlichen Dasein“. Er empfindet dies als ein Geschenk. In seinem Gedankengang gelingt ihm auch die „Aufnahme“ der „ganzen Arbeit“ Heideggers:

Auszug aus dem Tagebuch Romano Guardinis (Eintrag vom 12. Juni 1932) [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 812]

Am 12. Juni 1932 schreibt Guardini in sein Tagebuch über seine Arbeiten zur "Lehre des christlichen Daseins". Ziel sei es die Sünde und den Tod, so wie ihn die alte griechische Theologie sie "so tief" erlebt habe, von dem abzuheben, was vom heutigen Menschen als Vergänglichkeit, als sinnlos und leer erfahren wird, abzuheben. An dieser Stelle sei "die ganze Arbeit Heideggers" mit aufzunehmen. Nach Guardini enthülle Heidegger den "Sinn" der gefallenen, der Nicht-Existenz. Guardini zeigt sich überzeugt, dass er in seiner Vorlesung diesen Gedankengang von dort aus zu einer guten Darstellung von Erlösung, Wiedergeburt und Gnade kommen könne.

Tatsächlich kommt dieser Gedankengang in wohl ab Herbst 1932 entstandenen Texten vor, sowohl in seinem Exzerpt aus Heideggers „Was ist Metaphysik?, als auch in dem, was davon in seinem Kolleg "Der Mensch", aber auch im Schluß seines Dostojewskij-Buches über Heidegger steht.

Die „bloße Endlichkeit“ – Guardinis Exzerpt aus Heideggers „Was ist Metaphysik?“

Gerl-Falkovitz weist seit 2004 auf einen „sechsseitigen maschinenschriftlichen Teilentwurf zur noch ungedruckten ‚Anthropologie’ oder – später teiledierten – ‚Existenz des Christen’, welcher Entwurf sich in den sonstigen Typoskripten zur Anthropologie nicht findet“ hin. Er trägt den Titel „Der Zustand des Gefallen-seins. 1. Die bloße Endlichkeit“ und liegt als Typoskript Nr. 86 mit der Seitennummerierung 46 bis 51 im Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern. Darin geht Guardini ausführlich auf Heideggers Freiburger Antrittsvorlesung „Was ist Metaphysik?“ vom 24. Juli 1929 ein. In ihrem Buch von 2019 wird der Text von Gerl-Falkovitz erstmals veröffentlicht und ist dort in Gänze nachlesbar. Der Text ist mittlerweile auch in der italienischen Gesamtausgabe. Die Seitenzahlen im Text von Guardini beziehen sich auf die Erstausgabe: Was ist Metaphysik? (Frankfurt 1929).

Q010

Romano Guardini: Typoskript „Der Zustand des Gefallen-Seins“ [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 86]

Guardini beginnt damit, dass auf diese, sehr umfassend und subtilen Dinge und Fragen, gemeint ist der "Zustand des Gefallen-seins" und die Frage der "bloßen Endlichkeit" - "ein besonderes Licht ... aus der Existentialphilosophie der Gegenwart" falle. Daher könne er an dieser Stelle auch nur einen Hinweis geben und zwar mit Heidegger:

"In seiner kleinen Schrift „Was ist Metaphysik?“ definiert Heidegger die Philosophie dahin: sie sei die Bewusstmachung der Tatsache, dass das Dasein in der Bezogenheit auf das Seiende selbst besteht: „Worauf der Weltbezug geht, ist das Seiende selbst und sonst nichts.“ „Worum die forschende Auseinandersetzung ... geschieht, ist das Seiende selbst und darüber hinaus nichts.“ (Seite 9).. Diese Redeweise macht stutzig: „Das... und sonst nichts“– so heisst es weiter... (S. 9ff)"

Dies münde bei Heidegger in der Herausarbeitung "der Tatsache, dass es in der Logik" und im allgemeinen Bewußtsein "die Negation" gebe, bezugnehmend auf S. 12 f. von Heideggers Schrift.

Dann komme "der wichtige Schritt" mit der Frage "Wo findet sich aber diese Allheit? Wo gelangt uns „das Ganze des Daseins“ zur Gegebenheit?" Nach Heidegger (S. 13 f.) eben "nicht auf dem Wege über eine abstrakte Vorstellung", sondern nur "über eine echte Erfahrung".

"Die Erfahrung, die das leistet, muss etwas Doppeltes leisten: einmal muss sie wirklich in Dasein stehen; darf sich nicht in eine luftleere abstrakte Höhe erheben; muss im Vollzuge des Existierens vor sich gehen... Andererseits darf sie nicht im Speziellen stecken bleiben, sondern uns in all ihrer Besonderheit das Ganze als solches vor die Augen bringen. Eine Reihe von Erfahrungen leisten das, z. B. die Langeweile usw. Das ihnen Gemeinsame ist, dass in einer besonderen Gestimmtheit sich das Seiende im Ganzen enthüllt; und zwar so, dass diese Enthüllung nicht nur an uns passiert, sondern uns als Akt unseres eigenen Wesens offenbar wird. Die Gestimmtheit, in welcher dieses ganz rein geschieht ist die Angst: ... (S. 15)"

Heidegger beschreibe dann auf S. 18 f. "dieses Nichts".

Guardini fasst nun Heideggers Position wie folgt zusammen:

"Die entscheidende, wahres Bewusstsein begründende Erkenntnis des Seins tritt erst dort ein, wo dieses Sein in der Gegenwart des Nichts erblickt wird. Das geschieht im Erlebnis der Angst. „Angst“ warum? Weil vor der nichtenden Macht des Seins das Dasein selbst „entgleitend“ erscheint. Vielleicht interpretieren wir das richtig, wenn wir sagen: Weil deutlich wird, dass es selbst zunichte werden kann; ja, in der Bewegung auf das Nichts zu steht. Das aber deshalb, weil es endlich ist. Dieses Erlebnis der Angst, in welchem das endliche Dasein sich in das Nichts hinaushält – ebendarin hebt es gleichsam den Kopf über sich selbst hinaus und umfasst sich als Ganzes vom Nichts Abgewiesenes, dein Nichts gegenüber Anderes, aber für die Vernichtung Anfälliges; ebendarin wird das Seiende sich seiner selbst bewusst – dieses Erlebnis macht es fähig, sich selbst zu übernehmen; macht es fähig, zu sich selbst zu stehen; macht es mündig und verantwortungsfähig. Wir dürfen wohl weiterführen: Darin wird es seines Daseins mächtig; der Kostbarkeit dieses Daseins inne und so zur wahren Freude, welche Daseinsfreude ist, fähig. Das alles ist sehr aufschlussreich. Es stimmt genau, freilich unter einer Voraussetzung: dass nämlich die Endlichkeit von der hier die Rede ist, die gefallene Endlichkeit ist, die Endlichkeit nach der Sünde."

Nun betont Guardini aber in zweifacher Ausführung und Abgrenzung vom ursprünglichen, dem von Gott geschaffenen, aber endlichen Daseins, das "im Auf-hin der Gnade und Liebe" und "in der alle Kategorien des gefallenen Denkens übersteigenden Einheit der Gnade mit Gott" gestanden habe:

"Die Angst, von der Heidegger redet, gibt es erst nach der Sünde, denn erst nach der Sünde gibt es jenes Nichts, vor dem diese Angst erwacht – deshalb, weil es erst nach der Sünde jene Art Dasein gibt, für welche das Nichts eine Drohung ist."

Und:

"Dieses Nichts, das umgebende der Verlassenheit wie das innere aus der Hinbewegung auf den Unwert, ist Nichts, von dem Heidegger redet. Das gibt es erst nach der Sünde."

Erst als durch die Sünde diese Einheitsrelation aufgehoben wurde, galt:

"Jetzt erst war die Endlichkeit blosse Endlichkeit; von Gott losgerissen. Jetzt traf der Satz zu: endliches Wesen, nicht Gott. Nun war auch das Nichts da. Einmal das umfassende Nichts: jenes, das um diese losgelöste Endlichkeit herumlag. Das Nichts, welches der mythologische Ausdruck für die Empörung gegen Gott und, dem entsprechend, der Verlassenheit durch Gott, ja des Zornes Gottes ist. Das ist das Nichts der Leere. Dann das andere, das innere."

Nach Ausführungen über die unterschiedliche Intensität und Qualität von Wirklichkeiten, hält Guardini abermals fest:

"Der Bruch der Auf-hin-Beziehung bedeutet also die Umkehr der Bewegung auf Gott hin in die von Gott weg, damit auf den Unwert zu, auf das Böse. Und also auf das Nichts. Das ist das innere Nichts, das im Menschen aus der Sinnrichtung seiner Daseinsbewegung her droht."

Es gehöre nun - so Guardini "zum Trug der Sünde", dass alle "Phänomene der Verfallenheit", also "dessen, was nicht sein soll", "zu normalen Phänomen gemacht werde". Dazu gehören nach Guardini die Phänomene der Endlichkeit, des Seins, des Nichts, der Bewegung, des Todes, des Bewusstseins. Schon Pascal habe dies so gesehen, indem er sage: "Da die erste Natur zerstört war, etablierte sich eine zweite, falsche, auf der Sünde beruhende."

Damit wurde die "Typizität der Zerstörung" und das "Kategoriensystem des Nicht-sein-sollenden" zur "Basis der Selbstdeutung". Ein Umdenken, eine Umkehr sei deshalb "unendlich schwer", da es dabei nicht nur um "die Umkehr der Gesinnung, die Bereitschaft zum Glauben und zur Änderung des Lebens" gehe, sondern auch um "die Umwendung des Denkens", die Masstäbe für wahr und falsch wieder "aus der Existenz Christi" zu nehmen und nicht mehr aus der "zweiten Natur".

Guardini ist sich bewußt, dass an dieser Stelle seiner Überlegungen noch "eine genaue Analyse der gefallenen Existenz" sowie "der Nachweis und Aufweis ihres Trugcharakters" folgen müssten.

Auch an einigen weiteren Stellen der Typoskripte aus dem Umfeld von Guardinis Anthropologie-Kolleg (1932/39) finden sich noch einzelne Bezugnahmen auf Heidegger, so auf seine Rede von der „Grenze“ und Guardinis Rede vom „tragischen Heroismus“ bei Heidegger und Jaspers und vom „unmittelbaren Eschatologismus" bei Hölderlin, Rilke, Kierkegaard, Nietzche und Heidegger. Diese Verweise sind über die italienische Übersetzung seit 2009 bereits zugänglich[Romano Guardini, L´ uomo. Fondamenti di una antropologia cristiana, Brescia 2009 (Opera omnia, Band III/1.), S. 109, 216 und öfters]. Diese Texte befinden sich auch für die deutsche Werkausgabe zur Anthropologie, herausgegeben durch Alfons Knoll, in Vorbereitung.

Die „bloße Endlichkeit“ in Guardinis Dostojewskij-Buch „Der Mensch und der Glaube“ (1932)

Die exzerpierten Gedanken Heideggers zur „bloßen Endlichkeit“ aus „Was ist Metaphysik?“ finden inhaltlich erstmals Aufnahme in Guardinis Studien zu den religiösen Gestalten in Dostojewskijs Werk, die Ende 1932 erstmals unter dem Titel „Der Mensch und der Glaube. Versuche über die religiöse Existenz in Dostojewskijs großen Romanen“ als Buch erschienen und so auch in die zweite Auflage unter dem Titel „Religiöse Gestalten in Dostojewskijs Werk“ eingegangen sind. Der Großteil des Inhaltes dieses Buches lag bereits für die vier Vorträge über „Die religiöse Existenz in Dostojewskijs Romanen“ beim Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt vom 11. bis 14. Februar 1931 vor. Einladender Direktor des Hochstifts war damals der deutsche Literaturhistoriker Ernst Beutler (1885-1960). Es gab dazu eine sehr ausführliche Berichterstattung in der Rhein-Mainische Volkszeitung vom 17. bis 20. Februar 1931 und auch in der Frankfurter Zeitung durch Dolf Sternberger (1907-1989), der just in diesem Jahr bei Paul Tillich mit einer Arbeit über Martin Heideggers „Sein und Zeit“ promoviert hatte[d. s. (Dolf Sternberger), Ein geistlicher Redner vor weltlichen Hörern (zu den vier Vortragsabenden vom 11. bis 14. Februar 1931 im Frankfurter „Freien Deutschen Hochstift“ über „Die religiöse Existenz in Dostojewskijs Romanen“), in: Frankfurter Zeitung, Frankfurt am Main, Reichsausgabe, 1931, Nr. 144-146 (24. Februar 1931), S. 14].

Schon beginnend in der März/April-Ausgabe der Schildgenossen 1931 wurden diese vier Vorträge in den nächsten Heften abgedruckt[Romano Guardini, Die religiöse Existenz in Dostojewskijs großen Romanen, in: Die Schildgenossen, 11, 1931, 2 (März/April 1931), S. 98-130; 3 (Mai/Juni 1931), S. 193-228, 4 (Juli/August 1931), S. 316-351; 5 (September/Oktober 1931), S. 420-451]. Nicht in die Buchausgabe übernommen und daher auch nicht wieder über eine Werkausgabe zugänglich ist dabei die Einleitung zu dieser Aufsatzreihe unter dem Titel „Untergehende christliche Werte“[Romano Guardini, Untergehende christliche Werte. Zu der Aufsatzreihe über religiöse Gestalten in den Werken Dostojewskijs, in: Die Schildgenossen, 11, 1931, 2 (März/April 1931), S. 97-98].

In diesen Schildgenossen-Aufsätzen ist aber das sechste Kapitel mit dem oben genannten Passus noch nicht enthalten gewesen. Es findet sich auch nicht bei den Teilen, die Guardini im Rahmen der Salzburger Hochschulwochen vom 3. bis 22. August 1931 bei seinem Kursus „Die religiöse Existenz in Dostojewskijs großen Romanen“ verwendet hat[(Ankündigungen), in: Der Katholische Gedanke, München, 4, 1931 = Mitteilungen des Katholischen Akademiker-Verbandes, 1931, Heft 32, S. 325 f.: „Die Salzburger Hochschulwochen vom 3. bis 22. August 1931 in Salzburg – Dozenten und Themata: … Romano Guardini von der Universität Berlin: Die religiöse Existenz in Dostojewskijs großen Romanen – vom 17. bis 22. August (6 Tage). Dozenten: … Guardini“]. Mitunter erscheint dieser Salzburger Kursus auch unter dem Titel „Die religiöse Wirklichkeit bei Dostojewski“[Aufruf für die Salzburger Hochschulwochen vom 3. bis 22. August 1931, in: Der Katholische Gedanke, München, 4, 1931, S. 117 ff., zu Romano Guardini siehe S. 121: „Romano Guardini von der Universität Berlin: Die religiöse Wirklichkeit bei Dostojewski“].

Übersehen wurde bisher, dass bereits 1931 in der Gesamtdokumentation der Hochschulwochen eine ausführliche Zusammenfassung über Guardinis Vorlesung steht, aus der man aber ebenfalls ablesen kann, dass das sechste Kapitel des Buches in Salzburg 1931 noch nicht herangezogen wurde[Die ersten Salzburger Hochschulwochen. Aufriß und Gedankengänge der Vorlesungen, eingeleitet und herausgegeben von Alois Mager, Salzburg 1931, zu Romano Guardini siehe S. 31 f. und S. 157-168]. Guardini fand auch für diese Vorträge eine durchaus beeindruckende Resonanz. Besonders herausstechend sind dabei die namentlich gekennzeichneten Berichte von Gottfried Hasenkamp (1902-1990) im „Münsterischen Anzeiger“, von Josef Stürmann (1906-1959) in der „Kölnischen Volkszeitung“, von Karl Holzamer (1906-2007) in der „Rhein-Mainischen Volkszeitung“, von Eugen Kogon (1903-1987) in der „Schöneren Zukunft“, von Hugo Lang OSB für die „Münchener Neuesten Nachrichten“ sowie von Max von Brück für die „Augsburger Postzeitung“. Schließlich muss noch der „Schildgenossen“-Bericht von Gerta Krabbel erwähnt werden.[Gottfried Hasenkamp, Die Salzburger Hochschulwoche, Der dritte Kursus, in: Münsterischer Anzeiger, Münster/Westfalen, 1931, Nr. 886 (28. August 1931); Josef Stürmann, Die Salzburger Hochschultagung, in: Kölnische Volkszeitung, Köln, 1931, Nr. 407 (29. August 1931); Karl Holzamer, Katholische Laienbil-dung im Lichte der Salzburger Hochschulwochen, in: Rhein-Mainische Volkszeitung, Frankfurt am Main, 1931, Nr. 207 (6. September 1931); Eugen M. Kogon, Die Salzburger Hochschulwochen, in: Schönere Zukunft, Wien, 6, 1930/31, 50 (13. September 1931), S. 1188-1190, zu Romano Guardini siehe S. 1190; Hugo Lang, Die Salzburger Hochschulwochen 1931, in: Münchener Neueste Nachrichten, München, 1931, Nr. 255 (20. September 1931); Max von Brück, Guardini deutet den Großinquisitor, in: Augsburger Post-zeitung, Augsburg, 1931, Nr. 234 (13. Oktober); Gerta Krabbel, Die Salzburger Hochschulwochen, in: Die Schildgenossen, 11, 1931, 5 (September/Oktober 1931), S. 556-558, zu Romano Guardini siehe S. 557].

Im Februar 1932 hat Guardini dann in Berlin bei der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit Vorträge „Aus Dostojewskis religiöser Welt" gehalten, allerdings erneut ohne Bezug zum sechsten Kapitel des Buches.

Interessant zu erwähnen ist an dieser Stelle noch, dass die Zeitschrift „Die christliche Frau“ das Dostojewskij-Buch im November 1932 noch unter dem Titel „Menschenland und Grenze. Versuche über die religiöse Welt Dostojewskijs“ ankündigt hat[(Verzeichnis von Literatur über den christlichen Osten), in: Die christliche Frau, Münster/Westfalen, 30, 1932, 11 (November 1932), S. 378], was aufgrund der engen Freundschaft Gerta Krabbels mit Guardini als „Insider-Information“ gewertet werden kann. Warum es dann aber zu dem anderen Titel kam, ist bislang nicht bekannt.

So muss an dieser Stelle noch offenbleiben, wann genau für wen und wofür Guardini dieses Heidegger-relevante sechste Kapitel erarbeitet hat und ob bzw. wann er es vorab als Vortrag gehalten haben könnte, ob er es als neuen Beitrag für das Buch oder eine Zeitschrift vorgesehen hatte oder aber von Anfang an als Originalbeitrag für das Buch geplant hatte.

Dieses sechste Kapitel „Gottlosigkeit“ hat insgesamt vier Abschnitte:

  1. Vorbemerkung
  2. Kirilloff
  3. Die Endlichkeit und das Nichts
  4. Stawrogin

Aus diesem Kapitel sollen nun die wichtigsten Passagen mit unmittelbarem Bezug zu Existentialismus, Existentialphilosophie und Heidegger aufgenommen sein, weil durch sie deutlich wird, wie stark diese Auseinandersetzung mit der Gottlosigkeit, der Endlichkeit und dem Nichts von Guardinis Heidegger-Lektüre geprägt ist:

„‚Gott’; jenes, das gemeint ist, wenn heute von Gott geredet wird, ist überhaupt nicht – er entsteht nur psychologisch aus der Angst vor einem ‚Nichts’. Er ist der zum Eindruck eines Wesens verdichtete Schmerzgehalt der Angst; die Hypostasierung des Daseinsschmerzes. Gott ist selbst ein Nichts; der in der Angst vor dem Nichtseienden erfahrene und zur Weltgewalt werdende Schmerz. Gott ist ein aus gegenstandloser Qual bestehendes Gespenst.[....] Weil aber Angst und Schmerz das Erste [194] sind; genauer der Wille zum Schmerz, das Verlangen nach der Angst – sie sind ja das erste existentielle ‚Weil’ -, darum wird auch jenes Nicht-Seiende, das den Namen ‚Gott’ trägt, vom Menschen gewollt, auf daß es ihn quälen könne, so wie der Aberglaubende, der Angst vergehend, das Gespenst erzeugt, um die wolllüstige Qual des Grausens zu leiden. Am Anfang steht also die sinnzerstörende und nicht nur furchtbare, sondern schmachvolle Liebe zu Schmerz und Angst; der Wille, in einer Weise zu existieren, die gegen Würde und Reinheit geht?[…] Mithin eine Perversion der Existentialhaltung selbst?[…]“[Guardini, Religiöse Gestalten in Dostojewskijs Werk, Mainz (7)1989, S. 193 f.].

In zwei Fußnoten zu dieser Passage, verweist Guardini den Leser einerseits auf einen Vergleich des Dargelegten mit dem „Begriff der „großen Gesundheit““, andererseits darauf, dass „die hier geschilderten Seelenvorgänge“ „zur Krankheitsgeschichte des unerlösten Gottesverhältnisses“ gehören:

„Deren Endstadium ist wohl durch Nietzsches Wort aus dem Zarathustra bezeichnet: ‚Gott ist tot’“ [Ebd.]

Guardini schlussfolgerte daraus:

„Diese Unerlöstheit könnte nur auf Christus hin durchbrochen werden – der freilich selbst frei bleiben müßte, damit sein Bild nicht wiederum dem Trug verfiele; frei erhalten durch die Kirche. In der Hingabe an Christus, im glaubenden und liebenden Mitvollzug seines Daseins würde […] die als Qual und Angst erlebte nackte Endlichkeit zur begnadeten Endlichkeit erlöst; zu jener Endlichkeit, die Gott in die Existenz der Liebe, des Gottmenschen also und der Teilhabe an diesem, aufgenommen hat.“

Davon unterscheidet sich nach Guardini aber die Empfindung und der Wille des neuzeitlichen Menschen:

„Dieses Endliche wird von vornherein als Bloß-Endliches empfunden und gewollt. So zwar, daß es nach der Hingabe verlangt, gegen dieses Verlangen sich aber ein innerer Einspruch erhebt: das Gebot, sich selbst zu genügen, autonom zu sein. Es ist also nicht so, daß sich gegen die Hingabe an das göttliche Du, welches als das Eigentliche, die Seele Beanspruchende anerkannt wäre, nur die Trägheit und Selbstsucht der Natur stemmte. Das Herz verlangt vielmehr nach jener Hingabe; aber aus Geist und Gewissen, aus dem Bereich der Würde und des Berufsbewußtseins wendet sich ein Einspruch dagegen – deshalb, weil jene zur Hingabe auffordernde Angrenzung als quälend, ängstend, als Unwürdigkeit erfahren wird. Es handelt sich also nicht um eine einfache Wertträgheit und Opferscheu, sondern um einen sinnhaften Einspruch, stammend aus einer Krise der Existenzstruktur, und gerichtet gegen eine falsche religiöse Unmittelbarkeit, die nun unerträglich wird. Hier erfährt der religiös sehr wache und fühlige Mensch sich nicht mehr als selbstverständlich auf Gott bezogenes Geschöpf, mit ihm in der Einheit der Liebe und der Gnade verbunden, sondern als ‚Endliches’, das sich vom ‚Absoluten’ kritisch abgrenzt, sich von ihm bedroht fühlt, ja gegen es in Existenzkampf tritt. Ihm ist Gott nicht mehr gegenüber und ringsum und inne und eins, sondern er fühlt sich ‚den Absoluten’, vielleicht ‚das Absolute’ entgegenstehen. Das Bewußtsein erfährt hier das eigene Dasein als abgespaltene, ‚nackte Endlichkeit’; Gott aber als abgespaltene, ‚bloße Absolutheit’. Dessen Macht empfindet es als Bedrohung der in der Emanzipation begriffenen Endlichkeit. Da die Hingabe ersehnt, aber verboten ist, wandelt sich ihr mächtig anziehender Gegenstand in etwas Feindliches, das zu verschlingen droht. Da die Liebe zu ihm nicht sein darf, wird es zum Ungeheuer. Da sich kein personales Verhältnis zu ihm bildet, wird es zu einem Angesichtslosen, Wesenlosen, zu etwas, ‚das es nicht gibt, das aber da ist’, zu einem Gespenst: zum ‚Nichts’, das ängstende, grauenerregende Macht hat – Martin Heideggers Terminus bietet sich an: das ‚nichtet’“[Ebd., S. 197 f.].

In dieser Erwähnung Heideggers und seines Begriffs „nichtet“ ist der bislang erste öffentliche namentliche Verweis auf Martin Heideggers Terminologie und Philosophie zu sehen. Auf den beschriebenen Zusammenhang zwischen Endlichkeit, Nichts und Angst kommt er weiter hinten im Buch noch einmal bei der Analyse der Dämonen-Gestalten Dostojewskijs zurück:

„Der entscheidende Schritt dahin ist im Letzten der Entschluß zur radikalen und ausschließlichen Endlichkeit: der titanische Finitismus. Im Maße, wie dieser Schritt vollzogen wird, wird die Endlichkeit selbst ‚göttlich’; genauer ‚profan-heilig’. Das Gemeinte steht ‚jenseits’ dessen, was die neuzeitliche Gegenüberstellung ‚Welt und Gott’ besagte. Hier ist die Schwelle der kommenden Zeit. Daß dieser Vorgang offenbar wird, macht das Beunruhigende im Werke jener drei Männer aus. Dem ‚absoluten Paradox’ Kierkegaards liegt die nämliche Existentialerfahrung zugrunde wie der Menschen- und Daseinslehre Nietzsches. Kierkegaard überwindet sie christlich – freilich ist’ s zuweilen, als treibe er Satan mit Beelzebub aus. Denn wodurch unterscheidet sich, wenn wir die christliche Gewilltheit wegnehmen, sein Begriff des „ganz verschiedenen Gottes“ inhaltlich noch von Nietzsches und Kirilloffs ‚Nichts’? Könnte ein anders gewilltes Denken nicht Kierkegaards Erbe übernehmen und daraus eine Philosophie der verzweifelten Endlichkeit machen? Die nämliche Grundsituation kehrt bei Nietzsche wieder, nur daß dieser Ja sagt, wo Kierkegaard Nein, und verneint, wo jener bejaht. Diese Ambivalenz offenbart die dialektische Einheit der Position. Noch einmal die gleiche Existenzlage ist es, die in so manchen Gestalten Dostojewskijs deutlich wird, vor allem in den Dämonen. Ihre stärkste Offenbarung ist Kirilloff. In dessen pathologischer Über-Fühligkeit und Phantastik wird offenbar, was jene Situation Furchtbares enthält. Da ist eine starke Gotteserfahrung, aber nicht christlich erlöst, sondern naturhaft-unmittelbar und bannend. Zugleich ist die Existenzerfahrung in jene Phase vorgerückt, wo die Endlichkeit ablösungsbereit erscheint. So wird jene religiöse Unmittelbarkeit zur Qual. Sie müßte christlich aufgearbeitet werden: die naturhafte Unmittelbarkeit ins Christlich-Personale; die schrittbereite Unabhängigkeit des Endlichen in echte christliche Mündigkeit; das falsche Verhältnis von Endlichem und Ewigem in das Eigentlich-Christliche, wie es durch die Menschwerdung und das Geheimnis der Gnade gewiesen ist. Statt dessen wird das Christliche abgelehnt; die Endlichkeit geht in die Empörung; das naturhaft-religiöse Verhältnis vergiftet sich, und, um sich zu befreien, verbündet es sich mit dem Endlichkeitsaffekt: ‚Gott’ soll ausgelöscht, das Endliche als das Einzige erklärt werden, in der Erwartung, dann werde die Existentialnot sich lösen, und die eigentliche sinnerfüllte Menschlichkeit erwachen. Was aber in Wahrheit durchbricht, ist die nackte Endlichkeit; jene, die nicht mehr Symbol ist, die keinen Ort mehr hat und die sich nicht mehr von Gott umfaßt weiß. Erst um sie liegt das ‚nichtende’ Nichts. […] Welches Grauen der Angst wird hier erwachen – falls es nicht dem Menschen gelingt, sich durch eine, christlich gesehen noch weit furchtbarere, Empfindungslosigkeit zu schützen. Also der Mechanismen des Seins wo weit Herr zu werden, [216] daß er die Angst ‚wegoperieren’ kann; […]. Dann wäre der ganz emanzipierte, in seiner Bloß-Endlichkeit ruhig gewordene Mensch da. Aber christlich gesehen würde keine Qual der sich ängstigenden Kreatur an das Grauen dieses Zustandes heranreichen“[Ebd., S. 214 ff.]

In der Deutung des „Existenzphänomens Stawrogin“ spricht er bereits ein frühes Mal von „dem, was nun auf die ‚Neuzeit’ folgt“ und deutet somit ein weiteres Mal [Vgl. unten das Kapitel über „Das Ende der Neuzeit“] in einem Text sein späteres Theorem vom „Ende der Neuzeit“ an:

„Wir glaubten, das entscheidende Moment der neuzeitlichen Entwicklung darin sehen zu sollen, daß die Endlichkeit des Daseins losgelöst und als solche hervortrete. Die christliche Entscheidung aber gehe darum, ob die Endlichkeit neu als Aufgabe vor Gott begriffen werde oder nicht. Einst war das Endliche naiv und ohne weiteres auf Gott bezogen. Der Neuzeit, richtiger, dem, was nun auf die ‚Neuzeit’ folgt, scheint die Entscheidung gestellt zu sein, das Endliche mündig und verantwortungsreif in die Gottesbeziehung zu tragen – oder aber es loszureißen, für autark und autonom zu erklären. Dann wird es nackt. Um es herum ‚nichtet’ das Nichts. Das Dasein fällt und verfällt der Angst ... Mir scheint, aus dem Existenzphänomen Stawrogins tritt etwas Ähnliches hervor. Nur ist die Endlichkeit hier nicht jene des lebendigen Seins, sondern des lebendigen Aktes: Der Lebensakt selbst wird als endlich erfahren. Und zwar nach innen hin, in seiner Intensität, in seiner Innigkeit. Die Endlichkeitsgrenze kommt hier in der Weise zur Geltung, wie das Leben lebendig ist; wie es seiner selbst inne wird, und wie es, im Vollzug seiner Akte, sich seine Gegenstände aneignet. In der Lebendigkeit des Lebens selbst wird hier die Grenze deutlich. Der Mensch sieht sich auf seine Lebensintensität allein angewiesen, und es wird ihm bewußt, daß sie sowohl transitiv, als Macht über die Wirklichkeit, begrenzt ist, wie auch existentiell, als Einheit zwischen Akt und Subjekt, Akt und Aktinhalt, Subjekt und Gegenstand, als Subjektsverwirklichung und Gegenstands-Aneignung, als Selbersein und Wirklich-Haben. Dort fühlt er sich mit dem Sein über dem Nichts hängen – hier mit der Kraft über der Ohnmacht, mit dem Handeln über der Sinnlosigkeit, mit dem Tun über der Langeweile, mit dem Leben über dem Tod ... Auch hier ist ein Nichts. Es sitzt aber im Inneren des Lebens selber. Und auch dieses Nichts ‚nichtet’. Von innen her steigt, wie Pascal sagt, die Langeweile auf, der Überdruß, der Ekel, die Dürre, die Sinnlosigkeit, das Gift. Nicht aus dem umgebenden, sondern aus dem innewohnenden Nichts dringt die Angst hoch. Hier wird auch das Phänomen der Leere deutlich. Ich weiß nicht, hat es diese Leere immer gegeben, ist sie eine einfache Verfallserscheinung, Anzeichen absinkender Kultur – oder ist sie nur der Neuzeit eigen? Jedenfalls wird sie von dieser in einer besonderen Weise empfunden. In Stawrogin tritt sie erschreckend hervor. Das Dasein dieses Menschen ist leer. Nicht weil er nichts besäße, oder weil sich in seinem Leben nichts zutrüge; die Leere steht in seinem Lebensvollzuge selbst. In seinem Herzen gähnt sie“[Ebd., S. 250].

Die Resonanz auf dieses Buch insgesamt, besonders aber auch auf dieses Kapitel über Gottlosigkeit, war groß und zum Teil überschwenglich. Hermann Hesse nennt es im Propyläen, der Beilage zur Münchner Zeitung, und im Schwabenspiegel „das einzige der vielen Bücher über Dostojewski, das im Mutterboden dieser gewaltigen und unheimlichen Dichtungen heimisch wird und das Grundgeheimnis ihres Wesens erfaßt hat“[Hermann Hesse, Rezension zu: Guardini, Der Mensch und der Glaube, in: Die Propyläen. Beilage zur Münchner Zeitung, München, 30, 1932/33, S. 234; auch in: Der Schwabenspiegel. Wochenschrift der Württemberger Zeitung, Stuttgart, 27, 1933, S. 277; dann wieder in: ders., Gesammelte Werke, Frankfurt am Main, Suhrkamp-Verlag, 1970, Bd. 12: Schriften zur Literatur 2, S. 508 f.]. Die mit Guardini befreundeten Rezensenten Fred Neumeyer, Reinhold Schneider, die damaligen Heidegger-Schüler Max Müller und Gustav Siewerth, aber auch Paul Fechter und Hermann Herrigel setzten sich mit Guardinis Dostojewskij-Buch auseinander [Fred Neumeyer, Rezension zu: Guardini, Der Mensch und der Glaube, in: Europäische Revue, Leipzig, 9, 1933, S. 638; Max Müller, Überwelt und Welt, in: Werkblätter, Neudeutschland Älterenbund, Würzburg, 6, 1933, 3/4 (Juni/Juli 1933), S. 84-87; Gustav Siewerth, Zur Deutung des „Großinquisitors“, in: Die Schild-genossen, Rothenfels, 12, 1932/1933, S. 195-202; Paul Fechter, Im Kraftfeld Gottes. Romano Guardini: Der Mensch und der Glaube, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, Berlin 1933, 1. März, Literarische Beilage: Das Unterhaltungsblatt, S. 1; Hermann Herrigel, Rezension zu: Guardini, Der Mensch und der Glaube, in: Frankfurter Zeitung, 1933, 24. September]. Letzterer war immerhin schon gemeinsam mit Guardini Teilnehmer am Frankfurter christlich-jüdischen Religionsgespräch zu Ostern 1923 [Vgl. Rudolf Bultmann/Friedrich Gogarten, Briefwechsel 1921-1967, 2002, S. 26, Fußnote 14 mit Verweis auf einen Brief von Gogarten an E. Thurneysen vom 7. Mai 1923. Die anderen Teilnehmer waren außer Gogarten, Guardini und Herrigel: Martin Buber, Paul Natorp, Arthur Bonus, Alfons Paquet und Ernst Michel].

Heideggers Philosophie in der „Religiösen Offenheit der Gegenwart“ (1932/34)

In dem erst 2008 aus Guardinis Nachlass zugänglich gemachten, von Guardini selbst als „Aufsatz“ bezeichneten Text über „Die Religiöse Offenheit der Gegenwart“ bildet in einer Passage erneut Heideggers Philosophie den Hintergrund für Guardinis Auseinandersetzung mit dem Charakter des christlichen Existierens. Dieser Text ruht wohl auf Vorarbeiten des Jahres 1932, wurde nach Guardinis eigenen Angaben dann größtenteils im Januar 1933 noch vor der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten zu Papier gebracht und dann bis Ostern 1934 fertigstellt:

„Heideggers Philosophie ist eine Herausforderung an den Christen und erinnert ihn an ein langes Versäumnis. Der Charakter des christlichen Existierens muss herausgearbeitet werden, ganz aus dem Eigenen, aus dem ersten Anfang, ‚in Zuversicht“. Was heißt für ihn ‚Sein’? Was ‚Nichts’? Was ‚Selbst’? Was ‚der Andere’? ‚Absolutheit’ und ‚Endlichkeit“? ‚Geburt, Leben, Tod“? Was ist für ihn ‚Angst’? ‚Sünde’, ‚Offenheit“ und ‚Verschlossenheit’? Seit dem ausgehenden Mittelalter scheint ein eigentliches christliches Existentialbewusstsein verloren zu gehen. […] In Wirklichkeit erfolgt seit der Renaissance die christliche Antwort auf die gegnerischen Positionen immer mehr in Form von Verteidigungen, Einschränkungen, Korrekturen, Zugeständnissen und Zurücknahmen. Und zwar weder aus intellektueller Unzulänglichkeit noch aus menschlichen Mängeln; die Gründe für ihr Versagen liegen viel tiefer: darin, dass ein originäres christliches Existenzbewusstsein als Allgemeinhaltung, die der Einzelne sich wohl in Entscheidung aneignen muss, die ihm aber doch als Möglichkeit entgegengetragen, lebendig in ihm gezeugt und herangebildet wird, in der Neuzeit verloren zu gehen scheint. Nur von hieraus ist zu verstehen, daß z. B. auf die tief erregende Frage eines Heidegger eine christliche Antwort noch nicht erfolgt ist. Entweder kapituliert das christliche Denken vor ihm, oder aber es arbeitet mit summarischen Ablehnungen, die auf die Sache selbst im Grunde gar nicht eingehen. Heidegger geht von der neuzeitlichen Existenzerfahrung aus, in welcher sich die Probleme der Endlichkeit und Unendlichkeit, des Etwas und des Nichts, des Absoluten und des Faktischen in einer anderen Form anmelden, als es noch im 15. Jahrhundert geschah. Soll ihm geantwortet werden können, so muss, auf gleicher menschlicher, kultureller und geschichtlicher Ebene, eine originäre christliche Existenzerfahrung da sein, von welcher aus jene Phänomene wirklich christlich gesehen werden“[Romano Guardini, Die Religiöse Offenheit der Gegenwart, 2008, S. 90-92].

Bislang ist der konkrete „Sitz im Leben“ dieses erst 2008 veröffentlichten „Aufsatzes“, dem aber mit ziemlicher Sicherheit eine Vorlesung oder ein Vortrag vorausgegangen ist, nicht eindeutig festzulegen. Allerdings scheint mir ein Zusammenhang mit einer Erinnerung von August Berning anlässlich des 75. Geburtstages Guardinis 1960 plausibel. Demnach ließ Guardini durch Frau Dr. Schlüter-Hermkes eine Reihe von katholischen Abgeordneten und Politikern zusammenkommen und machte dabei „auf das unterirdisch grollende Erdbeben aufmerksam“ [August Heinrich Berning, Romano Guardini 75 Jahre, in: Schwäbische Zeitung, 1960, 17. Februar, Feuilleton (1 S.); ders., Romano Guardini zum 75. Geburtstag, in: Kirchenzeitung für das Bistum Aachen, 15, 1960, 13. März, S. 5 f.]. Dieses „unterirdisch grollende Erdbeben“ käme in diesem Text Guardinis eindrucksvoll zum Ausdruck. Diese späte „Verortung“ würde auch erklären können, warum der von Guardini wohl zum Druck vorgesehene Vortragstext bzw. „Aufsatz“ dann 1933 nicht mehr in den Schildgenossen oder auch anderen Zeitschriften des politischen bzw. religiösen Katholizismus erschienen ist, weil die darin enthaltene offene Kritik am Nationalsozialismus für die in Frage kommenden Zeitschriften doch zu riskant war.

Heideggers Philosophie in „Welt und Person“ (1939)

Auch wenn der Abschnitt „Welt und Person“ aus dem Anthropologie-Kolleg erst 1939 als eigenständige Schrift erschienen ist, gehört der folgende Passus zeitlich von der Entstehung her gesehen noch in den Kontext von Guardinis Auseinandersetzung mit der Endlichkeit, dem Nichts und der Angst bei Heidegger. So lesen wir in Guardinis Phänomenologie der „Grenze“:

„Diese Grenze wird von der Macht gesetzt, welche ‚höher’ ist als die Welt, weil sie die Welt geschaffen hat ... Ebenso undeutlich ist die andere Grenze, welche innen liegt. Und zwar deshalb, weil dieses Innere einfachhin als Mitte empfunden wird. Erst allmählich dringt das Bewußtsein durch, daß es auch nach innen hinein immer weitergeht ebenso wie nach Oben immer weiter hinauf -, die praktische Unmöglichkeit aber, nach Innen an ein Ende zu kommen, ebensowenig reale Unendlichkeit bedeutet wie nach Oben, und daher auch nach Innen hin Grenze ist. Diese Grenze hat, sobald sie entdeckt wird, sogar eine besondere Eindringlichkeit, weil sie mit der [82] inneren Grenze des Daseinsganzen zusammenfällt. ‚Innen’ ist also auch ‚Mitte’, aber keine absolute, in sich selbst ruhende, sondern endliche, bedingte. Sie ist sozusagen durchlöchert; sie hat eine Transzendenz nach Innen, und da steht, angrenzend, die Macht, die alles trägt, Gott ... ‚Zwischen’ Gott und der Welt aber, oben sowohl wie innen, ist das Nichts. Die Welt ist vom Nichts eingefaßt, übergriffen und durchmittet. Wir gelangen nur dadurch zu einer Vorstellung von der Welt, daß uns das Nichts über ihr und in ihr zu Bewußtsein kommt. Indem die Grenze zur Macht wird, wird das von ihr Umfaßte durchfühlt. Wir bekommen die Mächtigkeit des Daseins ins Bewußtsein, indem wir dessen Krise erfahren. Heidegger hat das am Erlebnis der Angst gezeigt. Im Unterschied zur Furcht, welche immer Furcht vor diesem oder jenem, das heißt also ein Unterscheidungsgefühl innerhalb der Welt bedeutet, bezieht sich die Angst nicht auf etwas Bestimmtes, sondern auf das Sein überhaupt. In ihr enthüllt sich das Nichts als Macht, die Endlichkeit als Bedrohung. Darin kommt aber zugleich das Ganze zum Vorschein, und – wäre der Gedanke fortzuführen – erwacht das Gegengefühl: der Mächtigkeit und Wirklichkeit der Welt. Das echte ‚Nicht’ und ‚Nichts’ kommt von der Wirklichkeit Gottes. Er ‚weist die Welt in ihre Grenzen’, indem er deutlich macht, daß sie nicht er; daß er über ihr und innert ihrer; daß er der aus sich selbst und eigentlich Seiende, ‚der Herr’ im ontologischen Sinne, sie aber das Geschaffene und nur ‚vor ihm’ seiend, ontologisch im Gehorsam Bestehende ist. Ebendarin ist die Welt aber sie selbst und als Welt wirklich ... Gott ist der wirklich Ganz-Andere, der fähig ist, zu schaffen und ebendamit die wirkliche Grenze zwischen sich und dem Geschaffenen zu setzen. Das eigentliche ‚Nicht’ und ‚Nichts’ ist jenes, welches der Satz meint, die Welt sei ‚aus Nichts geschaffen’; und ebenso der andere, die Welt bestehe immer als geschaffene, das heißt, sie sei ‚nicht [83] Gott’. Erst von Gott her kann wirklich Welt erfahren werden“[Romano Guardini, Welt und Person (1939), Mainz (6)1988, S. 81-83].

Der Zusammenhang von existentieller „Umdrohtheit, „Grenze“ und „Tod“ beschäftigt Guardini bereits in seiner Gegensatzlehre von 1925, wenn er über die von der Gegensatzlehre her geformte Haltung schreibt:

„Sie weiß um die von endlichem Leben untrennbare Grenze: um den Tod. Vom Leben weiß nur, wer vom Tode weiß - wenigstens gilt das von jenem besonderen Wissen, das Verantwortung tragen kann -; wer das Leben sieht und spürt, wesenhaft umdroht vom Tode. Denn das ist es, umfaßt durch ihn »von beiden Seiten«, von den Todesbereichen her, vom Übermaß, von der spannungsbrechenden Selbstbehauptung. Und bedroht durch ihn von innen her; von dort, wo das Leben sich ausgleichen und in sich selbst ruhen möchte, vom lähmenden Gleichgewicht“[Romano Guardini, Der Gegensatz, (4)1998, a.a.O., S. 181].

Und den im Jahr darauf erschienenen Aufsatz über „Die Gefährdung der lebendigen Persönlichkeit“, der auf Vorträgen von Februar 1925 in Düsseldorf basiert, leitet Guardini ein mit den Worten:

„Es ist, ich weiß nicht, von wem, das Wort von der Umdrohtheit unseres heutigen Daseins geprägt worden. Das Empfinden, irgendwie gefährdet zu sein, gehört zu unserem Menschlichen Eigenbewußtsein überhaupt. Wenn wir uns aber heute tiefer selbst besinnen; wenn wir aufsteigen lassen, was tief drinnen liegt; wenn wir jene Stimmen herangelangen lassen, die aus unserer Umgebung, aus dem Geschehen unserer Zeit hertönen, und die wir meist, unwillkürlich uns selbst schützend, fernhalten - so kommt das Bewußtsein über uns, daß wir heute in besonderem Maß gefährdet sind. Es mag oft durch die Anspannung des Augenblickes zurückgedrängt werden; aber es ist da und wartet immer nur darauf, durchzudringen“[Romano Guardini, Die Gefährdung der lebedigen Persönlichkeit, in: Die Schildgenossen, 6, 1926, S. 33-52; eingegangen in: Wurzeln eines großen Lebenswerks. Romano Guardini (1885-1968). Aufsätze und kleinere Schriften, Bd. II, 2001, hier S. 258].

Guardini sieht – insbesondere in der Jugendbewegung - einen „eigentümlichen Wirklichkeitshunger“ am Werk, ein Drängen aus dem Abstrakten ins Konkrete, eine „neue Haltung“:

„Es bildet sich ein Standort, ein Maßstab, ein Hebelpunkt, von wo aus ein Mensch an sein Werk gehen kann: in seinem gottverpflichteten Innen“[Ebd., S. 280].

Auch hier ist es mehr als wahrscheinlich, dass er auf die von Heidegger auch später immer wieder aufgeworfene Frage der „Umdrohtheit“ – nicht zuletzt in seiner Auseinandersetzung mit Rilke – antwortet, auch wenn Heidegger aufgrund seines neuen Standpunktes diese „katholische“, die Gegensätze in Spannungseinheit umfassende Antwort Guardinis zurückweisen muss. Während sich Guardini also Heidegger zuwendet, wendet sich dieser zunehmend vom Katholizismus ab, selbst in der Gestalt, wie Guardini ihn vertreten hat.

Heideggers Abkehr vom Katholizismus

Heideggers Rückzug von Beuron (1931/32)

Begonnen hat Heideggers endgültige „Abkehr“ vom Katholizismus wohl Ende 1931, verbunden mit einer „Beuroner“ Erfahrung. Denn zwischen Oktober 1930 und Herbst 1931 besuchte Heidegger – nach seiner Rückkehr aus Marburg – mehrmals Beuron und hielt dort auf Einladung des Konvents auch Vorträge. Der bis 1949 vorerst letzte Aufenthalt Martin Heideggers in Beuron fand im Oktober 1931 statt, bei dem er, wie bereits erwähnt, einen seiner Vorträge über das „Wesen der Wahrheit“ hielt. Am 11. Oktober 1931 schrieb er dazu aus Beuron an Elisabeth Blochmann:

„Seit Freitag bin ich hier in meiner alten Zelle u. schon wieder eingewöhnt in das geschlossene u. gehaltene Leben der Mönche – am liebsten hätte ich auch noch gleich das Mönchsgewand’, weil ich es jedesmal als stilwidrig empfinde, wenn ich in „Zivil“ durch die Klostergänge gehe“[Heidegger/Blochmann, Briefwechsel, a.a.O., S. 43].

Johannes Schaber OSB berichtet 2003 über eine aufschlussreiche Erinnerung von Pater Petrus Pietschmann OSB an die damaligen Vorgänge:

„Pater Petrus Pietschmann OSB (Beuron) erzählte später einmal, dass die Beuroner vom erzbischöflichen Ordinariat in Freiburg einen ‚Rüffel’ bekommen hätten, weil sie Heidegger zu Vorträgen eingeladen hätten. Heidegger hat wohl von diesem seltsamen Freiburger Verhalten gehört und entsprechend reagiert“[Schaber, Phänomenologie und Mönchtum., a.a.O.]

Von wem der „Rüffel“ ausging, ist bislang nicht bekannt. Der damalige Bischof war noch Karl Fritz (1920-1931), der am 7. Dezember 1931 starb. Konrad Gröber war dagegen am 13. Januar 1931 von Freiburg – er war dort zuletzt seit 1925 Domkapitular und im Ordinariat für das Referat für Liturgie und Kirchenmusik zuständig, weg zum Bischof von Meißen ernannt. Die Bischofsweihe spendete ihm am 1. Februar 1931 der Freiburger Erzbischof Carl Fritz. Bereits am 21. Mai 1932 erfolgte dann die Ernennung zum Erzbischof von Freiburg. Generalvikar unter Bischofs Fritz war bis 1931 Josef Sester (1877–1938), der dann auch bis zum Amtsantritt von Erzbischof Gröber Kapitularverweser war. Adressiert müsste der Rüffel, wenn es denn ein offizieller war, an Erzabt Raphael Walzer gewesen sein.

Die „Reaktion“ bestand eben darin, dass er aus Enttäuschung die Beuroner Abtei fortan nicht mehr besuchte.

Just ab diesem Oktober 1931 sind nun aber auch Heideggers sogenannten „Schwarzen Heften“ mit „Überlegungen“ erhalten. In den ersten Heften geht Heidegger dabei auch auf seine „vorige Schriftstellerei“ ein und kommt in einem mit „März 1932“ datierten Abschnitt in den „Überlegungen II“ zum Schluss:

„Heute (März 1932) bin ich in aller Klarheit dort, von wo mir die ganze vorige Schriftstellerei (Sein und Zeit; Was ist Metaphysik?; Kant-Buch und Vom Wesen des Grundes I und II) fremd geworden ist. Fremd wie ein stillgelegter Weg, der in Gras und Strauch verwächst – ein Weg, der doch das bei sich behält, daß er in das Da-sein als Zeitlichkeit führt. Ein Weg, an dessen Rand viel Zeitgenössisches, Verlogenes steht – oft so, daß diese „Markierungen“ wichtiger genommen werden als der weg selbst“[Martin Heidegger, Überlegungen II, Abschnitt 49, in: ders., Überlegungen II-VI (Schwarze Hefte 1931-1938), Gesamtausgabe, Bd. 94, Frankfurt am Main 2014, S. 19 f.]

Am 18. September 1932 schreibt Heidegger an Elisabeth Blochmann schließlich, er gehe dieses Jahr nicht nach Beuron. Ohnehin sei er in seiner Todtnauberger Hütte „viel einsamer als im Kloster“[Heidegger/Blochmann, Briefwechsel, a.a.O., S. 56].

Martin Heidegger und Engelbert Krebs 1933

Eine für diesen Kontext nicht unwichtige Erinnerung trägt auch der spätere Beuroner Pater Drutmar Helmecke OSB (1912-2000) bei. Dieser hatte 1931 zunächst evangelische Theologie in Berlin studiert. 1933 konvertierte er unter dem Einfluss Guardinis zur katholischen Kirche. 1934 trat er dann in die Erzabtei Beuron ein. Die Erinnerung bezieht sich auf seinen Studienwechsel nach Freiburg im Mai 1933, also noch vor seinem Eintritt in Beuron:

„Ich wollte auf keinen Fall im Dritten Reich weiterstudieren, ich habe in Freiburg Heidegger als Rektor erlebt, diese ganze Art war für mich so entsetzlich, wie er da geredet hat und wie die Studenten sich aufgeführt haben. Ich habe das auch in Berlin erlebt, als scharenweise evangelische Theologiestudenten in die „Leibstandarte“ Adolf Hitlers eingetreten sind. […] All das hat mich in Berlin sehr enttäuscht. Dort wollte mich Guardini an sich ziehen, in seinem Kreis halten. Ich hatte damals eine Einladung nach Rom zu den Jesuiten, und sagte zu ihm: „Ich möchte in ein katholisches Milieu, wo finde ich das noch in Deutschland? Da gab er mir den Rat und sagte: „Ja, wenn sie dort zu den Jesuiten gehen, dann werden sie jesuitisch, aber nicht katholisch.“ Guardini hat mir dann geraten: „Gehen Sie nach Freiburg, gehen Sie zu Engelbert Krebs, der wird gut für Sie sorgen, bestellen Sie eine Empfehlung von mir, das genügt.“ Ich bin am nächsten Tag, am 5. Mai ’33 nach Freiburg gefahren, vom Bahnhof sofort zur Universität und habe den Pedell gefragt: ‚Ist Prof. Krebs im Haus?’ – ‚Ja, der ist oben im Dekanat der theologischen Fakultät.’ Dann bin ich zu ihm rein – er saß an seinem Tisch -, habe ich ihm die Empfehlung von Guardini bestellt und meine Situation ganz kurz erläutert. Krebs sagte: ‚Junger Mann, ich kann ihnen nur einen Rat geben, lassen sie sich nicht in meiner Nähe sehen. Ich bin infam bei Herrn Heidegger, ich räume hier bloß meine Schubladen aus’ und hat mich mit der Bemerkung rausgeworfen ‚gehen Sie aber zum Studentenpfarrer, Herrn Schlenker, der wird für Sie sorgen’; das hat dann auch geklappt“[Jakobus Kaffanke, Strukturelle Umbrüche und interne Verwerfungen – Erinnerungen an die letzten Beuroner Jahre von Erzabt Raphael Walzer. Der Zeitzeuge Pater Drutmar Helmecke OSB (1912-2000) im Gespräch, in: Beuroner Forum Edition, 2013, S. 13-36, hier S. 15].

Bei "Herrn Schlenker" handelt es sich um Ernst Schlenker (1901-1944), Studentenseelsorger in Freiburg/Breisgau, der beim Bombenangriff auf Freiburg am 27. November 1944 ums Leben kam. Er war zu seiner Tätigkeit als Studentenseelsorger hinzu ab 1932 Repetitor für Dogmatik am Collegium Borromäum und ab 1941 Dompräbendar [Vgl. Hermann Ginter, Necrologium Friburgense 1941-1945. Verzeichnis der in den Jahren 1941 bis 1945 verstorbenen Priester der Erzdiözese Freiburg, in: Freiburger Diözesan-Archiv, 70, 1950, S. 179-258, hier S. 2380.

Engelbert Krebs erhielt aber schließlich erst ab 1936 Lehrverbot und wurde 1937 in den Ruhestand versetzt. 1943 kam noch ein Redeverbot hinzu.

Heidegger und das Konkordat

Heidegger beschäftigte sich im Sommer 1933 auch mit der Frage des Konkordats, das im Juli 1933 abgeschlossen wurde. Unmittelbar vor dem Juli 1933 notierte sich Heidegger als Abschnitt 35 der „Überlegungen III“ in seine „Schwarzen Hefte“:

„Das bevorstehende Konkordat mit der katholischen Kirche soll ein Sieg werden, weil es die Priester aus der „Politik“ vertreiben soll. Das ist eine Täuschung; die unvergleichlich gut eingespielte Organisation bleibt – die Macht der Priester ebenfalls – sie ist nur noch „geheiligter“ und wird in der Handhabung gerissener“[Heidegger, Überlegungen III, Abschnitt 35, in: ders., Überlegungen II-VI, Gesamtausgabe, Bd. 94, a.a.O., S. 117].

Und im zeitnahen Rückblick auf die Situation nach Abschluss des Konkordats ergänzte Heidegger dann im Abschnitt 184 über den „deutschen Katholizismus“:

„Der deutsche Katholizismus beginnt jetzt, sich der geistigen Welt des deutschen Idealismus – Kierkegaards und Nietzsches – zu bemächtigen, in seiner Weise und mit den klaren und festen Mitteln seiner Überlieferung sich anzuverwandeln. Er übernimmt in seiner Weise eine wesentliche und starke Überlieferung und schafft sich damit im voraus eine neue geistige ‚Position’; während man im Nationalsozialismus Gefahr läuft, vor lauter Betonung des Anderen und Neuen sich von der großen Überlieferung abzuschneiden und im Unbeholfenen und Halben sich zu verlaufen. Indem man aber dem Konkordat gemäß dem Kampf gegen die katholische Kirche absagt, sieht man nicht das Heraufkommen des Katholizismus als einer in gewisser Weise sich selbst bewußt ‚säkularisierenden’ Macht – die leicht sich mit den übrigen Mächten verbindet. Gegen die Kirche zu kämpfen ist sinnlos – wenn nicht eine Macht gleicher Art dagegen aufsteht – aber den Katholizismus zu bekämpfen – als das in das Geistige-politische sich hinüberverwandelnde Zentrum – mit dem ganzen festen inneren Gefüge seiner erstarkt kirchlichen ‚Organisation’ – ist Grunderfordernis. Doch dieser Kampf verlangt zuerst eine entsprechende Ausgangsstellung und ein klares Wissen um die Lage“[Heidegger, Überlegungen III, Abschnitt 184, in: ebd., S. 186].

Diese Heideggersche „Bemächtigungsthese“, dass der deutsche Katholizismus sich des deutschen Idealismus von Kierkegaard und Nietzsche „bemächtigt“ habe, kann nur auf dem Hintergrund der vorhin angesprochenen „katholischen“ Kierkegaard- und Nietzsche-Interpretationen Guardinis, Przywaras, Balthasars und Wusts und seiner eigenen „katholischen“ Schüler und Hörer her verstanden werden. Offensichtlich stellt für Heidegger der Kampf gegen das „Heraufkommen des Katholizismus“ ein „Grundproblem“ dar, das ihn in seinen „Überlegungen“ dann 1937/38 gerade noch einmal im Blick auf Romano Guardini beschäftigen wird. Im Konkordat sieht Heidegger dagegen eine „Absage“ dieses Kampfes, der für ihn aber 1933 ein „Grunderfordernis“ darstellt. Wenn nun aber schon konkordatsgemäß kein Kampf geführt werde, gelte es zumindest „öffentliche Siege“ des Katholizismus zu verhindern.

In diesen Verhinderungskontext passt denn auch ein Brief Heideggers vom 5. Februar 1934. Der Brief ist an den Reichsführer der Deutschen Studentenschaft (DSt) Oskar Stäbel gerichtet und spricht sich zugunsten des Studentenschaftsführers Heinrich von zur Mühlen aus, der die kath. Studentenverbindung Ripuaria (CV) suspendiert hatte. Dies hatte Stäbel aber mit Rücksicht auf den Reichstagsabgeordneten und CV-Vorsitzenden Edmund Forschbach zurückgenommen. Edmund Forschbach war am 7. Juli 1933 von Stäbel zum Führer des Cartellverbands der katholischen deutschen Studentenverbindungen (CV) ernannt worden. Heidegger hadert nun mit dieser Entscheidung des Reichsführers Stäbels:

„Dieser öffentliche Sieg des Katholizismus gerade hier darf in keinem Fall bleiben. Es ist eine Schädigung der ganzen Arbeit, wie sie zur Zeit größer nicht gedacht werden kann. […] Ich werde daher das Vorgehen des Studentenschaftsführers unbedingt decken. Man kennt katholische Taktik IMMER noch nicht. Und eines Tages wird sich das schwer rächen“[Brief von Martin Heidegger an Reichsführer Stäbel, in: Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, Gesamtausgabe, Bd. 16, a.a.O., S. 246].

Forschbach war bis zum 14. Oktober 1933 als DNVP-Abgeordneter Mitglied des Preußischen Landtags, gehörte dann ab dem 12. November dem Reichstag mit dem Status eines „Hospitanten“ der NSDAP-Fraktion an, ohne aber je Mitglied zu werden. Von August 1933 bis März 1934 gehörte er aber der SA an. Forschbach wurde schließlich am 2. März 1934 von Stäbel abgesetzt, führte aber die Geschäfte bis Juli 1934 weiter. Während des Röhm-Putsches im Sommer 1934, bei dem sein Freund Edgar J. Jung ermordet wurde, floh Forschbach zu den Jesuiten nach Valkenburg in die Niederlande und legte im Juli sein Reichstagsmandat nieder. Er kehrte im September 1934 wieder nach Deutschland zurück und fand bei Johannes und Karin Schauff ein Refugium. Er schloß sich dem um das Ehepaar entstandnen rheinischen Widerstandskreis an. Aus dieser Haltung Heideggers lässt sich erschließen, dass er sich auch gegen die von Franz von Papen ausgehenden Brückenbau-Versuche der „Arbeitsgemeinschaft katholischer Deutscher“ ausspricht, in Freiburg insbesondere vertreten durch Kuno Brombacher, und somit auch gegen die von Erzbischof Gröber gemachten Versuche, diesen Kreis mit Hilfe von Max Müller und anderen zu einem Kreis der Konfliktvermittlung zu machen (siehe unten zu Max Müller).

Vorgänge während und unmittelbar nach Heideggers Rektoratszeit

Unbekanntes Begleitschreiben zu einem Abzug an Heidegger (1933)

In einem Brief an Johannes Spörl vom 13. Mai 1933 merkt Guardini an:

Q011

Briefauszug von Romano Guardini an Johannes Spörl (13. Mai 1933) [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1240]

Guardini bedankt sich in diesem Briefauszug dafür, "die Abzüge" bekommen zu haben. Er kündigt an, amselben Tag noch einen Abzug an Heidegger zu schicken samt einem Begleitschreiben, das von Philipp Funk "gewünscht" worden war.

Das genannte, von Philipp Funk gewünschte Begleitschreiben ist bislang noch nicht aufgefunden worden. Im vorausgehenden Brief an Spörl vom 3. Mai 1933 spricht Guardini von „Belegexemplaren des Danteaufsatzes“, die er noch nicht in Händen habe. In einer Postkarte vom 6. Mai 1933 fragt Guardini erneut nach dem Dante-Aufsatz: „Ist er erschienen? Ich habe die Abzüge noch nicht erhalten.“ Daher handelt es sich auch hier um „das“ Exemplar eines Sonderdruckes des in Freiburg und München gehaltenen Vortrag, der unter dem Titel „Seinsordnung und Aufstiegsbewegung in Dantes Göttlicher Komödie“ noch 1933 im von Philipp Funk herausgegebenen „Historischen Jahrbuch der Görresgesellschaft“ erschienen ist [Romano Guardini, Seinsordnung und Aufstiegsbewegung in Dantes Göttlicher Komödie, in: Historisches Jahrbuch der Görresgesellschaft, Köln, 53, 1933, 1, S. 1-26]. Dafür spricht außerdem, dass auch der in der Bibliothek des Pfarrhauses Mooshausen befindliche, an Josef Weiger geschenkte Sonderdruck den Eintrag „10.5.33. Romano“ trägt.

Ob der Sonderdruck Guardinis sich noch in der Privatbibliothek Heideggers befindet, ist mir nicht bekannt.

Heidegger hat sich in seinem Werk nach bisheriger Kenntnis auch nicht auf Guardinis Dante-Deutung bezogen. Obwohl Heidegger bereits 1909 in seiner ersten Veröffentlichung „Allerseelenstimmung“ im „Heuberger Volksblatt“ aus der Inschrift „Laßt alle Hoffnung ihr, die hier eintretet!“ des Höllentors im dritten Gesang von Dantes „Göttlicher Komödie“ zitiert[Martin Heidegger, Allerseelenstimmung (1909), in: Heidegger-Jahrbuch, Band 1, a.a.O., S. 19], hat er in seinen späteren Arbeiten nicht ausführlicher auf ihn Bezug genommen. Es gibt nur zwei kursorische namentliche Erwähnungen, dann aber immerhin in einer Reihe mit Homer, Sophokles, Vergil, Shakespeare und Goethe [Martin Heidegger, Hölderlin und das Wesen der Dichtung, 1937, S. 3; ders., Das Wesen der Wahrheit, Gesamtausgabe, Bd. 34, Frankfurt am Main 1988, Teil 2, S. 64].

Unklar bleibt aber, warum Guardini diesen Sonderdruck auch an Heidegger schickt und warum Funk dafür ein Begleitschreiben wünscht, außer es handelt sich dabei um eine Art Empfehlungsschreiben für Funk persönlich oder für die Görresgesellschaft bzw. ihr „Historisches Jahrbuch“ oder Ähnliches.

Philipp Funk, der 1929 als ordentlicher Professor der mittelalterlichen und neueren Geschichte auf den Konkordatslehrstuhl an der Universität Freiburg im Breisgau berufen worden war, war vom gleichen Jahr an Herausgeber der Bände 49 bis 56 des „Historischen Jahrbuches“. Der mit Guardini zu diesem Zeitpunkt schon lange befreundete Johannes Spörl war Assistent bei Funk. Spörl war für Funk laut Max Müller „bei der Redaktion des „Historischen Jahrbuches“ unentbehrlich geworden“. Demnach war Spörl auch „der einzige Schüler Philipp Funks, den dieser zur Habilitation brachte, und zwar mit einer vortrefflichen Arbeit zur Geschichte der mittelalterlichen Geschichtsschreibung“[Müller/Vossenkuhl, Auseinandersetzung als Versöhnung, a.a.O., S. 153].

Im Zusammenhang mit dem in Freiburg wirkenden Historiker Philipp Funk ist darauf zu verweisen, dass auch dessen Nachlass im Universitätsarchiv Freiburg (C 118) sowie weitere Bestände im Archiv der Görres-Gesellschaft, im Universitätsarchiv in München und in der Bayerischen Staatsbibliothek – meiner Kenntnis nach – bislang noch nicht systematisch ausgewertet wurden.

Rücktritt als Rektor „wegen Guardini“?

Nach eigenem Bekunden und auch der gängigen Lesart der Quellen nach hatte Heidegger Ende Februar 1934 bereits mündlich in Karlsruhe seinen Rücktritt vom Rektorat zwar wohl nicht „erklärt“, aber doch angeboten, als das Karlsruher Ministerium ihn nach Karlsruhe zitiert und von ihm in Anwesenheit des Gaustudentenführers verlangt hatte, die von ihm im Oktober 1933 ernannten Dekane der juristischen Fakultät (Erik Wolf) und medizinischen Fakultät (Wilhelm von Möllendorf) abzulösen und durch die Partei annehmbare Kollegen zu ersetzen. Er habe dieses Ansinnen deutlich zurückgewiesen [So z.B. bei Istvan M. Fehér, Heideggers politisches Intermezzo. Rektor der Universität Freiburg, in: Annales Universitatis Scientiarum Budapestinensis de Rolando Eötvös Nominatae, XIX, 1985, S. 123-148, hier S. 143 f.].

Als dann der Kultusminister Otto Wacker am 12. April 1934 schriftlich erneut den Rücktritt Erik Wolfs verlangte, antwortete Heidegger am 14. April 1934 mit der erneuten Ankündigung, er wolle sein Amt als Rektor zur Verfügung stellen und sich wieder der „unmittelbaren Erziehungsarbeit“ widmen. Um Wacker Zeit für die Suche nach einem Nachfolger zu geben, ordnete Heidegger intern an, die Entscheidung vorerst auch dem Kanzler und den Dekanen gegenüber noch geheim zu halten. Diese Mitteilung erfolgte dann aber am 23. April, worauf auch der Kanzler und die Dekane der Verfassung einer „Führer-Universität“ gemäß, ebenfalls ihre Ämter zur Verfügung stellten. Das Ministerium nahm alle Rücktritte am 27. April an.

Die Freiburger Presse übernahm wohl bei der Bekanntgabe und Berichterstattung über die Amtsübernahme die Vorlage der nationalsozialistischen Blätter wie „Der Alemanne“, dass es sich bei Heideggers Nachfolger, dem nationalsozialistischen Juristen Eduard Kern (1887-1972), um den „ersten nationalsozialistischen Rektor der Universität Freiburg“ handelte. Heidegger lehnte es schließlich ab, an der Rektoratsübergabe an seinen Nachfolger teilzunehmen, zumal eine Rektoratsübergabe in der neuen Führerverfassung nicht mehr vorgesehen sei [Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, 1988, S. 238].

Gemeinhin wird also angenommen, dass Heidegger zurücktrat, weil seine Hochschulpolitik – Stichwort „Führerrektor“ und „Philosophische Dozentenakademie“ zur Erlangung der Lehrerlaubnis – weder an der Universität (Streit um Dekan Erik Wolf in der causa „Adolf Lampe“) noch bei der Partei (Gutachten von Ernst Krieck) genügend Unterstützung fand. Aus dem familiären Umfeld wird später ein „Streit mit dem Gauleiter“, ab Mai dem Reichstatthalter für Baden Robert Wagner (1895-1946) angegeben, dessen Beteiligung an den anderen benannten Konflikten noch nicht näher überprüft wurde. Daher muss offenbleiben, ob sich dieser Streit ebenfalls auf diese universitätsinternen bzw. hochschulpolitischen Konflikte bezogen hat.

Der mit Heidegger ab 1934 befreundete Medizinprofessor Immo von Hattingberg erinnerte sich etwa 1978 aber in eine völlig andere, überraschende Richtung. Dieser war zwar erst vom 1. Juli 1934 an bis 31. Juli 1940 Professor in Freiburg, hatte Heidegger aber noch vor seiner eigenen Augenerkrankung im Jahr 1934 aufgesucht, also als Heidegger noch Rektor der Freiburger Universität war, um ihn kennenzulernen und ihn zu bitten, seine Vorlesungen hören zu dürfen. Hattingbergs 2018 veröffentlichte Erinnerungen besagen nun:

„Heidegger war 1934 als Rektor kurze Zeit für Hitler. Er hat aber das Amt des Rektors aus Protest niedergelegt, als ihm die Berufung des Jesuitenpaters und Philosophen Romano Guardini abgelehnt worden war. Damals schon begann gegen ihn eine heimliche, aber allgemein bekannte Hetze von Seiten der N.S. Studentenführung. Das N.S. Theater mit entsprechendem Bonzentum und Parteiengerangel konnte an der Freiburger Universität keine Macht gewinnen“ [Monika von Hattingberg, Aus den Aufzeichnungen meines Vaters Immo von Hattingberg. Über seine Begegnung mit Martin Heidegger und seiner Philosophie und deren Bedeutung für sein Leben, in: Heidegger Studien, 34, 2018, S. 9-14, hier S. 11.]

Die irrtümliche Kennzeichung Guardinis als „Jesuitenpater“ macht das Zeugnis schwierig. Dennoch muss diese Erinnerung bei zukünftigen Recherchen mit überprüft werden und wäre, wenn es zuträfe, geradezu eine Sensation.

Dass Heidegger unter anderem auch wegen „Querelen bei Berufungen“ zurückgetreten war, wurde bislang – vor allem durch Ott – auf die Streitigkeiten um die Nachfolge Karl Diehls bzw. eine mögliche Lehrstuhlvertretung durch Adolf Lampe bezogen, die Heidegger und Dekan Wolf in jedem Falle zu verhindern suchten [Vgl. insgesamt zu möglichen Bezugspunkten vor allem Bernd Martin, Die Universität Freiburg im Breisgau im Jahre 1933. Eine Nachlese zu Heideggers Rektorat, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, 136, 1988, S. 445-477, hier unter Berufung auf Ott, S. 475]. Ob alle archivalischen Quellen im Universitätsarchiv schon soweit ausgewertet sind, dass auch mögliche Einflussnahmen Heideggers auf andere Berufungsverfahren auszuschließen wären, ist mir nicht bekannt.

Theoretisch wäre Guardini aufgrund seiner Berliner „Themen“ durchaus für die Nachfolge des vertriebenen Jonas Cohn als Professor für philosophische Pädagogik bzw. „Pädagogik und Philosophie“ in Frage gekommen. Faktisch kam es dann im Sommer 1934 mit Georg Stieler zu einer Hausberufung. Obwohl Stieler fachlich gesehen Heideggers engster Kollege in der Freiburger Philosophie gewesen wäre, ist über einen Austausch mit ihm nichts bekannt. Christa Kersting [Pädagogik im Nachkriegsdeutschland. Wissenschaftspolitik und Disziplinentwicklung 1945 bis 1955, Bad Heilbrunn 2008, S. 286ff und S. 307ff.] dokumentiert sowohl die kurzzeitige Beurlaubung Cohns vom 1. bis 28. April 1933, dann die Entlassung von Jonas Cohn durch Heidegger im Oktober 1933 als auch die Initiative und Unterstützung eines Berufungsverfahrens für die Nachfolge. Nachdem Wolfgang Schadewaldt kurz nach der Ernennung mit dem Rektor Heidegger im April 1934 demissionierte, wurde Hans Dragendorf Dekan der Philosophischen Fakultät. Heidegger hat sich – gemeinsam mit Martin Honecker – am 4. Juni 1934 für eine Umwidmung in eine Professur für „politische Pädagogik“ ausgesprochen [Reinhard Mehring, Heideggers „große Politik“. Die semantische Revolution der Gesamtausgabe, 2016, S. 119 und 195].

Schließlich schlug der Dekan am 18. Juni 1934 Georg Stieler offiziell für „Neugestaltung und Besetzung“ des außerordentlichen Lehrstuhls vor. Infolgedessen hat er - wohl noch im Juni - ohne Dreierliste, aber mit Empfehlung der Philosophischen Fakultät den Ruf erhalten. Über die Diskussionen zwischen Oktober 1933 bis zum Rücktritt Heideggers vom Rektorat ist bislang nur wenig bekannt. Stieler hat schließlich am 1. Oktober 1934 die Stelle angetreten. Auf seine Initiative hin wurde das Ordinariat dann auch in „Philosophie und Erziehungswissenschaft“ umbenannt.

Auch wenn also die Berufung und Ernennung erst nach Heideggers Rektorat vom Nachfolger Eduard Kern zu Gunsten Stielers durchgeführt wurde, geht Kersting davon aus, dass Heidegger selbst noch während seines Rektorats die Weichen für eine Berufung Stielers gestellt habe. Dies ist jedoch nicht zwingend aus den genannten Quellen ableitbar; auch nicht ob Heidegger vor seinem Rücktritt nicht doch andere Namen als Alternativen ins Spiel gebracht haben könnte. Umgekehrt bleibt aber bei der Erinnerung Hattingbergs offen, wer genau und von welcher Stelle aus eine Berufung Guardinis auf diesen oder einen anderen Lehrstuhl verhindert haben sollte. Von außerhalb der Universität kämen natürlich die erklärten Guardini-Kritiker Jaensch (siehe oben in Bezug auf Vortrag in Marburg), Krieck und Baeumler in Frage. Aber dies bleibt alles noch im Bereich der Spekulation, ebenso wie die Frage, ob Guardini ein solches Angebot überhaupt in Erwägung gezogen oder angenommen hätte. Aufschluss könnte hier vielleicht das oben erwähnte, aber eben noch nicht aufgefundene Begleitschreiben Guardinis an Heidegger im Mai 1933 geben.

Guardini im Juni 1934: Heidegger als „kaputtgehender“ Denker

Nicht völlig unabhängig von Heideggers Rektoratsübernahme und Rücktritt dürfte schließlich jenes Gespräch im Rahmen eines gemeinsamen Abendessens sein, das Guardini mit seinem Sekretär Erich Görner am 19. Juni 1934 geführt hat. Angesichts der vielfältigen Beziehungen Guardinis nach Freiburg, zu diesem frühen Zeitpunkt vor allem zu seinem Studienfreund Philipp Funk und zum Quickborner Johannes Spörl, sowie des oben genannten Briefs an Heidegger im Mai 1933 hat Guardini mit Sicherheit nicht nur die Übernahme des Rektorats, sondern auch den späteren Rücktritt „registriert“.

Guardini sagte in dem Gespräch mit Görner dabei zunächst von sich selbst, er sei kein großer Denker. Auf die Nachfrage Görners, ob denn heute ein Mensch lebe, den man wirklich einen „großen Denker“ nennen könne, habe Guardini geantwortet:

„‚Nein, einen wirklich großen Denker haben wir nicht. Solche sind z.B. Platon und Kant und in einer dritten Reihe vielleicht Denker wie Scheler. Heute ist wohl der größte Denker, der den Namen Denker verdient, Heidegger.’ Aber er (G.) würde sich selber nicht neben diese beiden letzteren stellen. – ‚Ein Denker lebt durch und mit seinen Gedanken, und wenn die ihm kaputt gehen, dann geht er auch menschlich kaputt.’ Das sagte er in Bezug auf Heidegger, der vom Dritten Reich in Beschlag genommen worden ist. Auch auf Hauer trifft das zu, dem die Rolle eines Propheten gar nicht liegt“[Romano Guardini im Gespräch mit Erich Görner 1933/34, hrsg. im Auftrag der Vereinigung der Freunde von Burg Rothenfels bzw. vom Theatinerkreis im Quickborn Rothenfels o.J. (ca. 1983), S. 22].

[Der evangelische Theologe Jacob Wilhelm Hauer (1881-1962) hatte 1920 den zunächst evangelisch-pietistischen, später freiprotestantischen Jugendbund „Bund der Köngener“, den er bis 1934 leitete. Von 1920 bis 1927 gab er für diesen Bund die Zeitschrift „Unser Weg“ heraus, von 1928 bis 1933 die Zeitschrift „Die kommende Gemeinde“. Schließlich wurde der Bund zum „Freundeskreis der kommenden Gemeinde“ erweitert. 1921 hatte er sich in Tübingen für Religionswissenschaften und Indologie habilitiert, war ab 1925 außerordentlicher Professor in Marburg, kehre aber 1927 auf den Lehrstuhl für Religionswissenschaften und Indologie nach Tübingen zurück. Diesen Lehrstuhl hatte er bis 1945 inne. In diesem Jahr wurde er Nachfolger Rudolf Ottos im von diesem gegründeten „Religiösen Menschheitsbund“. Der er davon ausging, dass die jüdisch-christliche Religion letztlich dem germanischen Volk übergestülpt wurde, versuchte er zu den „Wurzeln“ zurückzukehren, die seiner Ansicht nach in der indischen Religion noch zum Teil vorfindbar seien. Im Mai 1933 trat Hauer zunächst Alfred Rosenbergs völkisch gesinntem, antisemitischen Kampfbund für deutsche Kultur bei und arbeitete im Rassenpolitischen Amt der NSDAP und in der SS-Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe mit. Am 30. Juli 1933 führte Hauer in Eisenach eine Reihe freireligiöser und „völkisch-deutschgläubiger“ Gruppen zur Deutschen Glaubensbewegung zusammen, die er gemeinsam mit Ernst Graf zu Reventlow leitete. Im Dezember 1933 wurde er förderndes Mitglied der Hitlerjugend, im Sommer 1934 trat er der SS und SD bei. Nach 1945 wird Hauer bei Guardini um ein Gutachten für seine religionswissenschaftlichen und gegen die Anthroposophie gerichteten Werke bitten, was Guardini aber nachdrücklich ablehnte. Vgl. BSB Ana 342, B 4-Sonderkonvolut, Mappe 3: Briefe Hauers vom 3. und 23. November sowie Antwort Guardinis vom 29. November 1948.]

Diese Gesprächsaufzeichnungen Görners sind Anfang der achtziger Jahre veröffentlicht worden. Gerl-Falkovitz hat seit 2004 auf diesen nicht unwichtigen Ausschnitt hingewiesen [Gerl-Falkovitz, „Ich will nichts anderes, als die Kirche interpretieren”. Romano Guardini und Martin Heidegger – Anmerkungen zu einem latenten Gespräch, in: Die Tagespost, Würzburg, 57, 2004, 19. Juni; dies., Geheimnis des Lebendigen, a.a.O., S. 205].

Einträge in „Überlegungen V“ (1937/38)

Guardini als ernstester und geschicktester katholischer „Verführer des Geistes“

Seit 2014 sind Heideggers „Überlegungen II-VI“ oder auch „Schwarze Hefte“ genannt, in der Gesamtausgabe veröffentlicht. Der anglikanische Theologe George Pattison gibt nun in seinem Aufsatz „Why Heidegger didn’ t like Catholic Theology: The Case of Romano Guardini“ (2017), in dem er erstmals auf die auf Guardini bezogene Stelle hinweist und sie einzuordnen versucht, irrtümlich als Eintragsjahr an: „1932 entry“[George Pattison, Why Heidegger didn´t like Catholic Theology: The Case of Romano Guardini, in: Marten Björk/Jayne Svenungsson (Hrsg.), Heidegger’s Black Notebooks and the Future of Theology, 2017, S. 77-98, hier S. 78]; irrtümlich, da im Unterschied zu den vorausgehenden „Überlegungen II-IV“ die Schwarzen Hefte V und VI zwar nicht direkt datiert, die „Überlegungen V“ aber aufgrund von Zeitangaben im Text eindeutig auf das Wintersemester 1937/38 eingegrenzt werden können. In diesen „Überlegungen V“ heißt es nun im Abschnitt 58 über Guardini:

„Große Verführer des Geistes fehlen – umso zahlreicher sind die mittelmäßigen. Der ernstesten und vor allem geschicktesten Einer ist z.B. der Theologe Guardini. Er spielt alle Möglichkeiten des Geistes an großen Gestalten der Dichter und Denker durch, nie platt und nie grobschlächtig katholisch – immer im Anschein des ‚modernen’ ‚Ringens’ um die Wahrheit und mit allen Mitteln heutigen Denkens und Sagens. Aber nirgends ist eine wesentliche Frage gewagt und gar eine bislang nicht gestellte Frage errungen -; es wird immer nur der schon feste Besitz an Antworten für die, die aus allem Fragen fliehen wollen, neu zurechtgemacht. Das gibt sogar beim Durchschnitt der Denkfaulen und Müden den Anschein des ‚Schöpferischen’, und doch ist alles nur ein sehr geschicktes Nachmachen dessen, was in ihrer Art schon die Kirchenväter und Apologeten der ersten christlichen Jahrhunderte ‚praktizierten’. Das jetzige ‚Geistesleben’ ist aber so richtungs- und maßstablos, daß es in solcher Schriftstellerei nicht nur sein Genüge findet, sondern sich sogar gegenüber Früherem für überlegen hält“[Heidegger, Überlegungen V, Abschnitt 58, in ders., Überlegungen II-VI, Gesamtausgabe, Bd. 94, a.a.O., S. 345].

Guardini als „ernstester und geschicktester“, „nie platter oder grobschlächtiger“ unter all den „mittelmäßigen“, weil bloß „apologetischen“ und die Tradition „nachmachenden“ „Verführern des Geistes“ – das ist eine sehr eindrucksvolle Zusammenstellung von Wertungen für den ehemaligen Studienkollegen, dessen Gegensatzlehre er doch als „vielversprechend“ charakterisierte. Offensichtlich war Heidegger auch von Guardinis Art zu „Denken“ und „Sagen“ enttäuscht. Ob er dabei Guardinis einzigen zu diesem Zeitpunkt veröffentlichten, unmittelbaren Bezug auf ihn in den Dostojewskij-Gestaltdeutungen kannte oder ihm Guardinis Stellungnahmen in den Vorlesungen, Vorträgen oder Gesprächen im Freundeskreis oder auf Burg Rothenfels zugetragen worden sind, muss dabei offenbleiben.

Unmöglichkeit und Überflüssigkeit nationalsozialistischer Philosophie

Dass Heideggers Einschätzung gegenüber der „Unmöglichkeit“ und „Überflüssigkeit“ konfessioneller oder ideologischer Philosophien sich keineswegs nur auf die katholischen Versuche erstreckte, sondern genereller Natur waren, zeigt dagegen die im zeitlich nahen Zusammenhang (Abschnitt 61) stehende Feststellung:

„Sobald eine Philosophie die Frage nach der Wesung des Seyns erreicht hat – und erst dann ist sie künftig rechtmäßige Trägerin dieses Namens – muß sie notwendig gegen ihr Zeitalter denken. Und wenn Philosophie etwas nicht ist und niemals sein kann, dann dieses: der ‚Ausdruck’ ihrer Zeit in Gedanken gefaßt. Aber jene notwendige Gegnerschaft gegen ihre Zeit kann auch niemals zur Zuflucht für jene werden, die zu ihrer Zeit nur am Vorherigen und Bisherigen haften und den Willen zur Gestaltung der Zukunft verwirren und lähmen, indem sie ihm die Last einer unschöpferisch gewordenen Überlieferung als Maßstab anhängen. Jene Gegnerschaft der Philosophie gegen ihre Zeit entspringt nicht irgendwelchen Mängeln und Mißständen des Zeitalters, sondern kommt aus dem Wesen der Philosophie und dies umso genötigter, je mehr gerade und je echter das Wollen ins Künftige Gestalt und Richtung in der Zeit gewinnt. Denn immer noch ist auch dann und zwar wesenhaft das Erdenken der Wahrheit des Seyns aller Einrichtung, Rettung und Wiederbringung des Seienden – allem unmittelbaren Schaffen und Werken – vorausgesprungen. Deshalb kann auch die Philosophie – gesetzt, daß sie solche ist – nie ‚politisch’ abgeschätzt werden, weder in einem bejahenden noch in einem verneinenden Sinne. Eine nationalsozialistische Philosophie’ ist weder eine ‚Philosophie’ noch dient sie dem ‚Nationalsozialismus’ – sondern läuft lediglich als lästige Besserwisserei | hinter ihm her – aus welcher Haltung schon zur Genüge das Unvermögen zur Philosophie erwiesen ist. Sagen, eine Philosophie sei ‚nationalsozialistisch’ bzw. sei dies nicht, bedeutet ebensoviel wie die Aussage: ein Dreieck ist mutig bzw. ist es nicht – also feig“[Heidegger, Überlegungen V, Abschnitt 61, in ders., Überlegungen II-VI, Gesamtausgabe, Bd. 94, a.a.O., S. 348].

Geradezu als Ergänzung steht hierzu in den „Überlegungen VI“ über die Unmöglichkeit nationalsozialistischer und katholischer Philosophie:

„Wer heute die Überflüssigkeit und Unmöglichkeit der Philosophie verkündet, hat den Vorzug der Ehrlichkeit vor allen jenen, die eine ‚nationalsozialistische Philosophie’ betreiben. Dergleichen ist noch unmöglicher und zugleich weit überflüssiger als eine ‚katholische Philosophie’“[Heidegger, Überlegungen VI, Abschnitt 154, in ders., Überlegungen II-VI, Gesamtausgabe, Bd. 94, a.a.O., S. 509].

Bemerkenswert ist dabei, dass bei Heidegger dieser „Affekt“ gegen die „katholische Philosophie“ so tief sitzt, dass er auch noch nach 1945, wie aus seinen jüngst veröffentlichten „Anmerkungen II“ (1946) hervorgeht, schreibt:

„“Katholische Philosophie“, dieses Gebilde, und eher noch sein Aushängeschild, wagt sich jetzt aufdringlicher hervor. Daß sich schon im bloßen Titel die bare Unmöglichkeit kundtut, scheinen die noch nicht zu merken, die meinen, es sei nötig, mit dieser Form von Spiegelfechterei sich einzulassen. „Katholische Philosophie“ – das ist nicht viel anders als „nationalsozialistische Wissenschaft“ – ein viereckiger Kreis, ein hölzernes Eisen, das, wenn es ins Feuer kommt, zur Asche zerfällt, statt gehärtet zu werden. Aber es geht nicht einmal ins Feuer. Es erhebt nur ein großes Geschwätz nach dem Vorbild des modernen Journalismus – auch vor der „Aneignung“ dieser Erscheinung schreckt man nicht zurück. „Katholische Philosophie“ – dieser Titel erklärt schon, falls man ihn denkt, die unbedingte Bereitschaft zum – Verzicht auf das Denken, aber hinter der Fassade und mit dem Aufwand der Terminologie des jeweils gerade gängigen „Philosophierens“, das auch nicht immer schon Denken ist.“

Es folgen Gedankenspiele zur „antifaschistischen Zusammenarbeit“ als „reizvolles“ Experiment, das aber „ein elendes Gezappel“ und eine „unter christlichen Phrasen verdeckte Irreführung“ und „geschichtliche Falschmünzerei“ sei, „die nur noch raffinierter wiederholt, was soeben war.“

„Ob nun gar bei diesem Geschwätz, das sich „katholische Philosophie“ nennt, auch jemals nur eine Spur von einem Kern einer wirklichen Einsicht, ja auch nur einer echten Frage ans Licht kommt oder nicht, darnach fragt niemand, weil niemand so zu fragen vermag; für das Blühen dieses Unvermögens wird gesorgt – und das ist allerdings eine eigenständige Aufgabe und bewußte Absicht dieser Art „Philosophie“. Doch es ist nur ein klägliches Zeichen mehr, daß alles zu Ende gegangen“[Heidegger, Anmerkungen II, in: ders., Anmerkungen I-V, Gesamtausgabe, Bd. 97, Frankfurt am Main 2015, S. 158].

Wer mit dem „Aushängeschild“ der „Katholischen Philosophie“ gemeint ist, erschließt sich nicht, Guardini dürfte an dieser Stelle aber wohl kaum gemeint sein. Eine Grammatik des griechischen Begriffs „katholisch“, wie wir ihn bei Guardini finden, der sehr differenziert von „katholischer Religionsphilosophie“, „katholischer Weltanschauung“ und „katholischer Demokratie“ spricht, während er gleichzeitig von vorschnellen, unbedachten Verknüpfungen wie einer „christlichen“ wie „katholischen“ „Kultur“, „Politik“ oder „Gesellschaft“, sogar einem „christlichen“ oder „katholischen“ „Mittelalter“ warnt , ist für Heidegger offenbar nicht möglich bzw. nachvollziehbar.

Gemeinsames Thema „Hölderlin“

Schließlich wird aus den „Überlegungen V“ (1937/38) in den „Schwarzen Heften“ das große gemeinsame Thema Guardinis und Heideggers für die kommenden Jahre deutlich, nämlich die „Rettung“ Hölderlins aus einer einseitig „völkischen“ Deutung. Durch die Abschnitte 51 und 59 wird der Abschnitt 58 über Guardini geradezu „gerahmt“. Im Abschnitt 51 beginnt Heidegger seine Überlegungen zu Hölderlin:

„Einsam steht da der Dichter – Hölderlin – und er wird noch mehr in seine Einsamkeit zurückgestoßen, wenn er nun gar „im Zuge“ der „Kulturpolitik“ zeitgemäß gemacht wird – ohne daß wir uns darauf besinnen: wozu Dichter jetzt sind -; sein Ahnungsreichstes in seinem Werk ist daher: die Dichtung des Dichters. Aber wer soll dies ermessen, der nicht zugleich die Not der Seinsverlassenheit aus dem Grunde erfährt? Was wird, wenn wir nicht aus diesem tiefsten Grunde zu Gründern seiner Überwindung werden? Wenn wir nicht offen und vertrauend genug werden, um Beides zu leisten: dieses Ursprünglichste und das Nächste der Bewältigung der unmittelbaren Bedrängnisse?“[Heidegger, Überlegungen V, Abschnitt 51, in ders., Überlegungen II-VI, Gesamtausgabe, Bd. 94, a.a.O., S. 340].

Im Abschnitt 59 schließlich kommt er zum weitreichenden Entschluss:

„Hölderlin – könnten wir ihn aus dem Heutigen wieder ganz herausnehmen, um das Bruchstückhafte seines wesentlichsten Werkes ganz zu ermessen und zu retten. Das Werk so als Bruchstück zu erfahren, verlangt die höchste Kraft; denn dies meint nicht, daß wir das Unfertige und Abgebrochene herausrechnen und feststellen und damit ein ‚Negatives’ – sondern Bruchstücke meinen wir als die äußersten Stöße und Anstrengungen, in einem ganz neuen – abendländisch noch gar nicht geahnten – Bereich einzubrechen und ihn nach wesentlichen Bezirken aufzubrechen und erste wesentliche Gestaltungen vorzubrechen. Das ist nichts Unfertiges – sondern das Höchste, was an Tiefstem im Schaffen der Wahrheit des Seyns erreicht werden kann. Stücke des Bruches, des Brechens der großen Erstarrung und Verlorenheit und dies im scheinbar ohnmächtigen Wort. Welches Umlernen aber ist da nötig, um das Werk des Dichters zu seiner verborgensten Wahrheit zu befreien. Welches Darangeben alles Bisherigen und vermeintlich Gesicherten. Welcher Verzicht auf die nur schwer zu beseitigenden Vergleiche und Vergleichsformen mit anderen Dichtern. Welche Kraft in dem notwendig Zeitgenössischen gerade den Aufbruch des Zukünftigen zu erahnen. Welcher Wille, aus dem scheinbar Geringen des Werkes die Quelle des höchsten Reichtums zum Springen zu bringen“[Heidegger, Überlegungen V, Abschnitt 59, in ders., Überlegungen II-VI, Gesamtausgabe, Bd. 94, a.a.O., S. 346].

Nun findet sich in der Guardini-Bibliothek – zwar ohne Datierung aber mit handschriftlich eingetragenem „Herzlichen Gruß“ – eine Erstausgabe von Heideggers Schrift „Hölderlin und das Wesen der Dichtung“ aus dem Jahr 1937, die zuerst im Dezemberheft 1936 der Zeitschrift „Das Innere Reich“ gedruckt worden war.

Q012

Widmung Heideggers an Guardini (vor 1941) [Guardini-Bibliothek gb 4053]

Die Widmung lautet: "Herzlichen Gruß Martin Heidegger"

Eine Erwähnung dieser Schrift in Guardinis 1939 erschienenen Buch „Welt und Person“ belegt zwar, dass Guardini das Buch vor 1939 kannte, aber nicht zweifelsfrei, dass die Widmung bereits kurz nach dem Erscheinen und noch vor der Herausgabe von „Welt und Person“ signiert wurde. Da durch die zeitlich nachfolgenden Widmungen von 1940/41 aber eine Kontaktaufnahme Heideggers spätestens Anfang der vierziger Jahre belegbar ist, spricht nichts dagegen diese Widmung in den Zeitrahmen von 1937 bis 1941 zu stellen.

In dem besagten Abschnitt in „Welt und Person“ bezieht sich Guardini zustimmend auf Heideggers Verständnis der Sprache:

„Die Sprache gewährt, wie Heidegger sagt, ‚überhaupt erst die Möglichkeit, inmitten der Offenheit von Seiendem zu stehen’ (‚Hölderlin und das Wesen der Dichtung’, 1937, S. 7)“[Guardini, Welt und Person (1939), Mainz (6)1988, S. 138].

Auch die nächste in der Guardini-Bibliothek entdeckte handschriftliche Eintragung Heideggers findet sich in einer Hölderlin-Schrift Heideggers, nämlich – dieses Mal mit dem Dezember 1941 datiert – in „Hölderlins Hymne ‚Wie wenn am Feiertage …’“

Q013

Widmung Heideggers an Guardini (1941) [Guardini-Bibliothek gb 4048]

Die Widmung lautet: "Romano Guardini Mit herzlichem Gruß u. Dank Dez. 41. Martin Heidegger"

Da hier Heidegger nun ausdrücklich „dankt“ ist diese Widmung eine Antwort auf einen vorausgehenden Kontakt von Seiten Guardinis, sei es durch ein eigenes Buchgeschenk Guardinis oder durch eine Korrespondenz.

Aufgrund dieser Buchwidmungen spätestens ab Anfang der 1940er Jahre ist die oft – von Hugo Ott – abgeschriebene Behauptung, dass Heidegger sich erst im August 1945 an seine Freundschaft mit Guardini „erinnerte“, nicht mehr aufrechtzuerhalten [So zum Beispiel noch Hugo Ott, Martin Heidegger: Unterwegs zu seiner Biographie, 1988, S. 20 im Blick auf den Brief vom 6. August 1945: „Auch wenn Heidegger über lange Jahre – besonders während der Phase des Dritten Reiches – zu dem Religionsphilosophen Guardini in keiner Beziehung stand, jetzt war es sehr geboten, sich in Erinnerung zu bringen.“].

In Kurzform sei an dieser Stelle die „Hölderlin“-Chronologie des „latenten“ Gesprächs zwischen Guardini und Heidegger nachgezeichnet:

  • Guardini – 1935/36: „Hölderlins Bild von der Geschichte“, „Der Strom und der Raum des menschlichen Daseins in der Dichtung Hölderlins“ I und II, in: Die Schildgenossen, 15, 1935/36
  • Heidegger 1936/37: „Hölderlin und das Wesen der Dichtung“, in: Das innere Reich, 1936/37; dann eigenständig „Hölderlin und das Wesen der Dichtung“, München 1937.
  • Guardini 1939 (1955): „Hölderlin. Weltbild und Frömmigkeit“, Leipzig 1939, gegenüber der Schildgenossen-Fassung von 1935/36 mit drei neuen Kreisen „Die Götter und der religiöse Bezug“, „Die Natur“ und „Christus und das Christliche“
  • Heidegger 1941: „Hölderlins Hymne ‚Wie wenn am Feiertage …’“, Halle 1941;
  • Heidegger 1944 (1951): „Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung“, Frankfurt am Main 1944, (2., erweiterte)1951;
  • Guardini 1946: „Form und Sinn der Landschaft in den Dichtungen Hölderlins“. Vortrag vom 8. Juli 1944 vor der Stuttgarter Hölderlin-Gesellschaft, 1946;

Guardini, die Hölderlin-Gedenkschrift und die Hölderlin-Gesellschaft

Aus einem Brief von Heidegger an Rudolf Stadelmann vom 30. November 1945 (siehe unten) wissen wir, dass Heidegger „bei der Vorbereitung der Hölderlin-Gedenkschrift damals Herrn Kluckhohn auch die Mitarbeit Guardinis vorgeschlagen“ hatte. Dass dies unterblieben sei, kommentierte Heidegger Stadelmann gegenüber mit der Bemerkung:

„Er war aber offensichtlich nicht tragbar“[Brief von Heidegger an Stadelmann vom 30. November 1945, in: Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, Gesamtausgabe, Bd. 16, a.a.O., S. 405 ff.].

Gemeint ist die Hölderlin-Gedenkschrift zu dessen 100. Todestag 1943. Hölderlin war am 7. Juni 1843 in Tübingen gestorben. Die Vorbereitungen zu dieser im Auftrag der Stadt und der Universität Tübingen herausgegebenen Festschrift hatten bereits Ende 1940 begonnen. Denn Max Kommerell begründet bereits in einem Brief vom 8. November 1940 an den Herausgeber Paul Kluckhohn seine Verweigerung eines Beitrags (vgl. Nils Kahlefendt, „Im vaterländischen Geiste …“ Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe und Hölderlin-Gesellschaft (1938-1946), in: ders./Werner Volke/Bruno Pieger/Dieter Burdorf, Hölderlin entdecken. Lesarten 1826-1993, Tübingen 1993, S. 115-163, hier S. 148; außerdem Christian Weber, Max Kommerell. Eine intellektuelle Biographie, 2011, S. 462]. Demnach wusste Kommerell schon vor dem 7. Oktober 1942, dass Gadamer für die Festschrift einen Beitrag übernommen hat.

[Kommerell hat im Übrigen Heidegger in einem Brief an Karl Reinhardt vom 19. Januar 1942 ausdrücklich mit Walter Friedrich Otto und Romano Guardini verglichen: „Heidegger: ich beschränke mich aufs Zusehen, da ich gar nicht tangiert bin und als Literaturhistoriker sehr viel lerne… Daß er seine philosophische Situation nicht aushält, könnte verstimmen; daß er wiederum dies Factum verschleiert durch das befremdende Ausdrucksmittel einer Dichter-Interpretation, allerdings noch mehr; und daß er den Dichter, der ihm Götter erlaubt, mit hinlänglicher Scholastik nach Heideggerscher Esoterik tönen läßt, ist am wenigsten fein. Aber mich beschäftigt die Frage: wie sieht diese Schrift aus als Übergang, wenn man das Ganze seiner Entwicklung überblicken wird – kurzum, wie Sie selbst sagten: Was geht hier vor?, – zu sehr und ich empfinde auch die ẟυναμις in allem zu deutlich um nicht in andern Augenblicken neugierig, ja fast fasciniert hinzuhören. Und es ist ihm nicht so gemütlich dabei wie Otto und Guardini, deren geistige Situation viel molliger ist – sondern er erfriert oder verbrennt sich, wie es sich gehört“(Max Kommerell, Briefe und Aufzeichnungen 1919-1944, aus dem Nachlass hrsg. von ‎Inge Jens, 1967, S. 388).]

Daher gehört wohl auch der Vorschlag Heideggers an den Anfang der vierziger Jahre. Die Gedenkschrift enthielt schließlich Beiträge von Josef Weinheber, Paul Kluckhohn, Paul Böckmann, Hans-Georg Gadamer, Walther Rehm, Kurt Hildebrandt, Theodor Haering; W. F. Otto, Wilhelm Böhm, Friedrich Beissner und Martin Heidegger, letzterer mit seinem Text über die Hymne „Andenken“. Die Mutmaßung Heideggers, dass Guardini 1943 für die Festschrift „nicht tragbar“ gewesen sei, muss dahingehend eingeschränkt werden, dass man Guardini dann – siehe auch den eigenen Angaben in seinen „Berichten über mein Leben“ zufolge – 1944 nach Stuttgart eingeladen hat, um vor der ebenfalls anlässlich des Gedenkjahres in Tübingen gegründeten „Hölderlin-Gesellschaft“ zu sprechen:

„Ich bin nun seit eineinhalb Jahren hier, in Mooshausen, einem kleinen Dorfe im schwäbischen Allgäu. In dieser Zeit ist das Heimweh nach der akademischen Lehrtätigkeit, mit der ich abgeschlossen zu haben glaubte, wieder sehr gewachsen. Im Frühjahr 1939 wurde der Lehrstuhl aufgehoben – vor etwa einem halben Jahre habe ich in Stuttgart, eingeladen von der dortigen Hölderlin-Gesellschaft, in einem Hörsaal der technischen Hochschule einen Vortrag über ‚Die Landschaft in Hölderlins Dichtung’ gehalten. Eigentlich war es das einzige Mal, daß ich mich seitdem ganz an meinem Platz gefühlt habe. Niemand weiß, was die Zukunft bringt: wer weiß, vielleicht werde ich doch noch einmal gerufen ...“[Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, a.a.O., S. 21].

Maßgeblich beteiligt war Guardini dann auch an der Neugründung der „Friedrich-Hölderlin-Gesellschaft“ nach dem Zweiten Weltkrieg. So berichtet das Hölderlin-Jahrbuch von 1947:

„Die 1943 gegründete Hölderlin-Gesellschaft war durch den Zusammenbruch des nationalsozialistischen Staates von den Mächten befreit worden, die schon vor ihrer Gründung sich ihr aufgedrängt und die Verwirklichung ihrer Absichten außerordentlich erschwert hatten. Im Juni 1945 hatte eine innere Umbildung erfolgen können, die der ursprünglich geplant gewesenen Gestalt der Gesellschaft entsprach. Aus grundsätzlichen Erwägungen war aber die formelle Auflösung der Gesellschaft nötig, die in einer Sitzung des Beirats am 14. März 1946 erfolgte. Damit wurde der Weg für eine Neugründung frei, die von den Herren Professor Guardini, Oberbürgermeister Hartmeyer , Professor Kluckhohn, Staatsrat Professor Karl Schmid und der Rektor der Tübinger Universität Professor Steinbüchel beantragt wurde und die Zustimmung der Französischen Militärregierung fand. Am 21. Oktober 1946 hat die Gründungsversammlung der Friedrich Hölderlin Gesellschaft in der Universität Tübingen stattgefunden, […]“[Bericht über die Gründung der „Friedrich Hölderlin Gesellschaft“, in: Hölderlin-Jahrbuch, 1947, S. 240. Der SPD-Politiker Adolf Hartmeyer (1886-1953) war von 1946 bis 1948 Oberbürgermeister von Tübingen. Mit "Karl Schmid" ist Carlo Schmid gemeint].

Guardini übernahm in der Gesellschaft bis 1950 das Amt des Vizepräsidenten. Nachdem er nicht mehr die Möglichkeit sah, dieses Amt altersbedingt und aufgrund seiner vielfältigen Beanspruchungen sinngemäß auszufüllen, erklärte er seinen Rücktritt und Austritt, bekam im Gegenzug dafür aber die Ehrenmitgliedschaft angetragen, die Guardini auch dankbar angenommen hat [Vgl. weitere Geschichte in BSB Ana 342, vor allem B 2 Sachakten/Schriftwechsel, Schachtel 3, Mappe 2 bzgl. Austritt und Ehrenmitgliedschaft].

Heidegger wurde erst 1955 Mitglied der „neuen“ Friedrich-Hölderlin-Gesellschaft, hielt 1959 bei der Jahresversammlung seinen vielbeachteten Vortrag „Erde und Himmel bei Hölderlin“. Nach fortgesetzter Kritik an ihm persönlich, seiner „Sprache von Meßkirch“ und an seiner Hölderlin-Deutung, vor allem durch Adorno und Minder, die dies sowohl mit Heideggers Vergangenheit als auch mit seiner zunehmend schärfer werdenden Polemik gegenüber von seiner Deutung abweichenden Autoren begründeten, trat er aber 1968 als Mitglied aus. Er kehrte aufgrund einer Einladung 1974 wohl nur noch einmal für einen Vortrag zurück [Vgl. dazu Theodor Pfizer, Die Ausnahme, in: Günther Neske (Hrsg.), Erinnerung an Martin Heidegger, Pfullingen 1977, S. 191-196].

In den letzten Kriegsjahren

Heideggers Kritik an Guardinis Rilke-Interpretation

Im Wintersemester 1942/43 hält Heidegger Vorlesungen über „Parmenides“. Gegen Ende des Semesters kommt er im Zweiten Teil „Die vierte Weisung des Wortes aletheia [im Original griechisch geschrieben, HZ]. Das Offene und das Freie der Lichtung des Seins. Die Göttin „Wahrheit“ im Abschnitt „Das ‚Offene’ der ‚Kreatur’ in der achten Duineser Elegie Rilkes“ auf Guardinis Auslegung der achten „Duineser Elegie“ zu sprechen und wendet sich dabei explizit gegen Guardinis Interpretation dieses „Offenen“ im Blick auf Tiere und vernunftlosen Lebewesen:

„Was Rilke mit dem Offenen meint, können wir nur verstehen und überhaupt erst eigentlich fragen, wenn klar gesehen wird, daß der Dichter den Unterschied zwischen dem Tier und vernunftlosen Lebewesen überhaupt auf der einen und dem Menschen auf der anderen Seite im Blick hat. Guardini dagegen legt aus in einer Hinsicht, als werde in dieser Elegie aufgrund des Bezugs, der Kreatur – soll sagen des ens creatum überhaupt – zum ‚Offenen’ gleichsam ein Beweis für die Existenz des Schöpfergottes gedichtet. Mit der Entgegenstellung von Tier und Mensch, vernunftlosen und unvernünftigen Lebewesen, finden wir uns innerhalb einer Unterscheidung, deren anfängliche Gestalt im Griechentum zu suchen ist. […]Der Mensch, und er allein, ist das Seiende, das, weil es das Wort hat, in das Offene hineinsieht und das Offene im Sinne des alethes [griechisch] sieht. Das Tier dagegen sieht das Offene gerade nicht und nie und mit keinem einzigen aller seiner Augen. Der Beginn der achten Elegie Rilkes sagt genau das Gegenteil. Bringt Rilke somit eine Umkehrung der abendländischen metaphysischen Bestimmung von Mensch und Tier in ihrem ‚Verhältnis’ zum Offenen? Allein, zum Wesen einer Umkehrung (‚Revolution’) gehört als Grundbedingung, daß gerade das, im Hinblick worauf umgekehrt wird, das Selbe bleibt und als das Selbe festgehalten wird. Das trifft jedoch im vorliegenden Fall nicht zu. Denn das Offene, das Rilke meint, ist nicht das Offene im Sinne des Unverborgenen. Rilke weiß und ahnt nichts von der aletheia [im Original griechisch geschrieben, HZ]; er weiß und ahnt nichts davon, so wenig wie Nietzsche. Demnach verharrt Rilke ganz in den Grenzen der überlieferten metaphysischen Bestimmung des Menschen und des Tieres“[Heidegger, Parmenides, Gesamtausgabe, Bd. 54, Frankfurt am Main 1982, S. 230 f.]

Heidegger bezieht sich hier, ohne es explizit zu nennen, auf das 1941 in Berlin veröffentlichte Buch Guardinis „Zu Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins. Eine Interpretation der zweiten, achten und neunten Duineser Elegie“. Zumindest wissen wir durch diese Verweise, dass Heidegger auch Guardinis Rilke-Deutung unmittelbar zur Kenntnis genommen hat.

In dieser Deutung schrieb Guardini [Guardini, Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins, (4)1996, S. 269]:

„‚Die Kreatur’, von welcher der erste Vers spricht, ist die Schöpfung. Wie die nächsten Verse zeigen, zunächst die der Tiere – jener, die ‚Augen’ haben. Damit vollziehen sie einmal die unmittelbare Funktion dieser Organe: sie sehen die Dinge und Vorgänge ihrer Umgebung. Darüber hinaus tut aber ‚die Kreatur’ mit ihren Augen noch etwas anderes: sie sieht ins ‚Offene’ hinaus – und es ist für die Rilkesche Bestimmung des menschlichen Daseins entscheidend, daß seiner Ansicht nach darin dieser Akt fehlt. Was ist mit diesem ‚Offenen’ gemeint?“

Zur Erläuterung zitierte Guardini aus dem Brief von Rilke an Witold von Huléwicz vom 13. November 1925, in dem es heißt:

„Lebens- und Todesbejahung erweist sich als Eines in den ›Elegien‹. Das eine zuzugeben ohne das andere, sei, so wird hier erfahren und gefeiert, eine schließlich alles Unendliche ausschließende Einschränkung. Der Tod ist die uns abgekehrte, von uns unbeschienene Seite des Lebens: wir müssen versuchen, das größeste Bewußtsein unseres Daseins zu leisten, das in beiden unabgegrenzten Bereichen zu Hause ist, aus beiden unerschöpflich genährt ... Die wahre Lebensgestalt reicht durch beide Gebiete, das Blut des größesten Kreislaufs treibt durch beide: es gibt weder ein Diesseits noch ein Jenseits, sondern die große Einheit, in der die uns übertreffenden Wesen, die ›Engel‹, zu Hause sind [...] Wir, diese Hiesigen und Heutigen, sind nicht einen Augenblick in der Zeitwelt befriedigt, noch in sie gebunden; wir gehen immerfort über und über zu den Früheren, zu unserer Herkunft und zu denen, die scheinbar nach uns kommen. In jener größesten ›offenen‹ Welt sind alle, man kann nicht sagen, ›gleichzeitig‹, denn eben der Fortfall der Zeit bedingt, daß sie alle sind. Die Vergänglichkeit stürzt überall in ein tiefes Sein [...] Nicht in ein Jenseits, dessen Schatten die Erde verfinstert, sondern in ein Ganzes, in das Ganze.“

Im Anschluss daran interpretierte Guardini diese Aussagen Rilkes über das „Offene“:

„Hier erscheint der Begriff des „Offenen“ als Charakter jener „Welt“, die in den Elegien als Ergebnis des vom Menschen geforderten existentiellen Verhaltens verkündet wird.“

Diese Deutung von Rilkes Elegie war Guardini selbst so wichtig, dass er sie textgleich sowohl in „Der Engel in Dantes Göttlicher Komödie“ als auch in „Welt und Person“ aufgenommen hat.

Drei Widmungen an Guardini im Dezember 1943

Zu den beiden Hölderlin-Schriften kommen Ende 1943 noch weitere Buchgeschenke hinzu: Im Dezember 1943 schenkt Heidegger Guardini nämlich drei Bücher und versieht sie gleichlautend und gleichgestaltet mit handschriftlichen Eintragungen. Es handelt sich dabei erstens um die 1943 gedruckte Ausgabe des Vortrags „Vom Wesen der Wahrheit“ von 1930; zweitens und vorab zum im Buch eingetragenen Erscheinungsjahr 1944 [sic!] Martin Heideggers „Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung“ und drittens um die mit einem Nachwort versehene Neuausgabe der Freiburger Antrittsvorlesung „Was ist Metaphysik?“

Q014

Gleichlautende Widmungen Heideggers an Guardini (1943) [Guardini-Bibliothek gb 4041, gb 4046 und gb 4047]

Die Widmungen lauten: "Mit herzlichem Gruß und Dank Dez. 1943 M. Heidegger"

Inwieweit diese Buchgeschenke bereits mit Begleitbriefen oder Beilagen versehen waren, ist nicht mehr feststellbar, was auf Seiten Guardinis daran liegt, dass er seine empfangenen Briefe vor 1943 weitestgehend vernichtet hat und erst ab seinem Aufenthalt in Mooshausen – von Herbst 1943 an – vor allem aufgrund der nun mehrheitlichen Verwendung einer Schreibmaschine regelmäßig Durchschläge und Briefentwürfe vorliegen. Allerdings hielt Guardini auch bei privateren und persönlicheren Briefen weiterhin an der Handschriftlichkeit fest, was erklären würde, dass es von den Briefen und Karten an Heidegger keine Durchschläge bzw. Entwürfe gibt.

Johannes Spörls Vergleich der Antike-Deutung Guardinis und Heideggers im Jahr 1944

Guardini hat seinem jüngeren Quickborn-Freund Johannes Spörl seinen „Tod des Sokrates“ zugeeignet. Spörl hat das Widmungsexemplar wiederum an Karl Färber weitergeschenkt [Karl Färber, Brief, in: Speculum historiale. Geschichte im Spiegel von Geschichtsschreibung und Geschichtsdeutung. Festschrift für Johannes Spörl zum 60. Geburtstag, München 1965., S. 759-762, hier S. 761].

Spörl hatte nach seiner Lektüre des Buches eine regelrechte Eloge auf das Werk seines Lehrers und Freundes in der Form eines fünfzehnseitigen handschriftlichen Briefes verfasst. In einer Passage des Briefes zieht Spörl einen unmittelbaren Vergleich von Guardini und Heidegger. Dabei geht aus der Formulierung hervor, dass offensichtlich Guardini Heidegger als Philosoph mehr schätzte als Spörl dies tat; und dass dieser dabei wiederum auf seine eigenen Erfahrungen als Hörer des Kollegs „Der Anfang des abendländischen Denkens“ rekurrierte. Dieses Kolleg hat Heidegger im Sommersemester 1943 gehalten.

Q015

Auszug aus dem Brief von Johannes Spörl an Romano Guardini vom 28. September 1944 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1239]

Spörl bescheinigt in diesem Brief Guardini einen "Ur-instinkt für die historische Wirklichkeit", so wie er sich in Guardinis Arbeiten über Augustin und Dante gezeigt habe. Gerade die Mittelalter-Erforschung und die "Darstellung der mittelalterlichen Weltanschauung" würden davon wesentlich angeregt. Spörl bestätigt Guardini mit seinen Werken eben "keine primär geschichtswissenschaftliche" Absicht zu verfolgen, sondern von der "historischen Prinzipienfrage" ausgehend bewundernswert ehrlich und sauber - und dies stellt Spörl ausdrücklich in den Gegensatz zu Heideggers Absichten und Vorgehen - zu Aussagen über das Mittelalter und die mittelalterliche Weltanschauung zu kommen. Er verweist dazu auf das von ihm selbst besuchte Heidegger-Kolleg "Der Anfang des abendländischen Denkens", in dem dieser die Vorsokratiker als "Ansatz und Höhepunkt zugleich" des abendländischen Denkens gepriesen habe, während er dagegen in Platon bereits "ein Abgleiten von diesem Gipfel" bedeute. Spörl übte dabei besonders Kritik an Heideggers Verschweigen der Tatsche, dass wir nur durch die "Epigonen" Platon und Aristoteles und durch deren Brille überhaupt etwas über diese "vorsokratischen Denkbemühungen" wissen würden. Hier seien Guardinis Ausführungen über die Vorsokratiger eben "ungleich wahrhaftiger".

Ernst Moritz Manasse sieht in seinem Durchgang durch die „Platonliteratur“ von 1957 dagegen stärker den gemeinsamen Ausgangspunkt zwischen Guardini und Heidegger:

„Romano Guardinis: Der Tod des Sokrates läßt sich unschwer den Werken Heideggers und seiner Schüler anreihen, ohne daß doch der Verfasser als Schüler Heideggers gelten könnte. Guardinis Denken ist zunächst von Pascal geprägt worden. Von Pascal her fand er einen selbständigen Weg zur „Existenzphilosophie“, auch wenn seine deutlichsten Formulierungen durch die Auseinandersetzung mit Jaspers, Heidegger und besonders deren Ahnen Kierkegaard und Nietzsche mitbestimmt sein mögen. Von diesen Voraussetzungen her konnte es Guardini leichter als Friedlaender gelingen, den möglichen Existenzgehalt der von ihm paraphrasierten und kommentierten platonischen Dialoge (es sind die der ersten Tetralogie) als solchen zu umschreiben. Guardini erkennt wie Krüger in Sokrates-Platon den Übergang von der alten mythischen Religion zu einer persönlicheren Religiosität. Aber, indem Guardini das Dämonische mit dem Numinosen gleichsetzt, verfehlt er das Wesen des Philosophierens. Beim heutigen Sprachgebrauch erweckt es eine falsche Vorstellung, wenn versichert wird, Sokrates’ Hören auf die geheimnisvolle Stimme sei ein Zeichen seiner Kommunikation mit dem Numen Apollos. Noch bedenklicher ist es, wenn Guardini, über Jaegers theologische Interpretation der Idee des Guten hinausgehend, auch den Ideen, auf Grund ihrer Verwandtschaft mit dem Guten, den Charakter des Numinosen zuspricht. Was vielleicht einmal einen Augenblick als Möglichkeit wahr ist, wird dadurch zu einer Tatsächlichkeit verkehrt, die Platon fremd ist“[Ernst Moritz Manasse, Platonliteratur. Werke in deutscher Sprache, 1957, zu Romano Guardini siehe S. 4 und 39, hier S. 39].

Ob diese Kritik an Guardini greift, sei dahingestellt. Erstaunlich ist allerdings, dass Manasse Guardini nicht nur mit Heidegger, sondern auch noch mit von Friedlaender, Krüger und Jaeger vergleicht. Damit legt er weitere Spuren für die systematische Guardini-Heidegger-Forschung.

Zur Person Johannes Spörls

Der zum „Baierngau“ gehörende Quickborner Johannes Spörl (1904-1977) führte ab 1923 einen intensiven Briefwechsel mit Guardini [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern, Nr. 1239-1252, dazu sowie weitere Briefe in BSB Ana 342, zusammen mehr als 200 Briefe und Postkarten]. Er gehört neben Felix Messerschmid zu jenen „Schülerfreunden“, die über die Jahre hinweg zu seinen engsten Vertrauten wurden. Schon 1924 hat Guardini in seiner Sammelrezension „Liturgische Bewegung und liturgisches Schrifttum“ im Literarischen Handweiser auch ein von Spörl im Auftrag des Baierngaues herausgegebenes Buch „In Gottes Namen fahren wir. Ein geistliches Weggeleit“ sehr wohlwollend besprochen [Romano Guardini, Liturgische Bewegung und liturgisches Schrifttum, in: Literarischer Handweiser, 60, 1924, 11, Sp. 579]. Spörl, der in München Geschichte studierte, war an jenem „denkwürdigen Abend“ vom 18. Januar 1928 dabei, als Guardini dort seinen Vortrag „Vom Wesen des Geistes“ hielt [Aus der unveröffentlichten Ansprache des Dekans zur Feier des 70. Geburtstages 1955, wiedergegeben durch Laetitia Böhm, Johannes Spörl (1904-1977). In mutabilitate initium conversationis. Zum Gedenken an den Herausgeber des Historischen Jahrbuchs, in: Historisches Jahrbuch, 97/98, 1977/78, S. 1*-54*, hier S. 11*].

1929 promovierte Spörl noch in München, machte dann in Bonn und Köln das Staatsexamen und die Referendarzeit. Anschließend ging er dann nach Freiburg, hat sich 1934 bei Philipp Funk habilitiert und war dort dann noch bis 1940 Privatdozent. 1934 wurde er, um seinen Status als Privatdozent abzusichern, Mitglied der SA.

1935 hatte Spörl mit einem Aufsatz über „Gregor der Große und die Antike“ zur Guardini-Festschrift beigetragen. Er wusste auch um die Studienfreundschaft Guardinis zu Philipp Funk, wie sein Nachruf auf Funk 1937 zeigt [Johannes Spörl, Philipp Funk zum Gedächtnis, in: Historisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft, Freiburg/München, 57, 1937, S. 1-15, zu Romano Guardini siehe S. 7, 10 und 15].

Von 1937 an – bis zu seinem Tod 1977 – war er in der Nachfolge seines Lehrers Philipp Funk Herausgeber des Historischen Jahrbuchs der Görres-Gesellschaft, unterbrochen nur durch den Zweiten Weltkrieg. 1941 veröffentlichte er darin Guardinis Interpretation von Rilkes zweiter Duineser Elegie [Johannes Spörl, (Anmerkungen), in: Historisches Jahrbuch der Görresgesellschaft, Köln, 61, 1941, S. 173].

Seit 1940 war Spörl außerplanmäßiger Professor in Freiburg, doch wird ihm von den Machthabern aus politischen Gründen eine Diätendozentur verweigert und dies, obwohl 1940 sein schon früher gestellter Antrag auf NSDAP-Mitgliedschaft wie bei Max Müller angenommen worden war. Ebenfalls wie Müller war auch Spörl Mitglied des von den Nationalsozialisten beargwöhnten Freiburger „Färber-Kreises“.

1947 ging Spörl schließlich von Freiburg weg und wurde Professor für mittelalterliche Geschichte in München. Ab 1949 leitete er die historische Sektion der Görresgesellschaft und war ab 1952 Vizepräsident der Görres-Gesellschaft. Ab 1950 war Spörl auch wieder als Honorarprofessor in Freiburg tätig und vermittelte zusammen mit Max Müller die Ehrenpromotion der Freiburger Philosophischen Fakultät an Romano Guardini. Zu diesem Zeitpunkt war er selbst in München Dekan der Philosophischen Fakultät. In mehreren Personen-Artikeln von 1952 bis 1969 würdigte Johannes Spörl seinen Lehrer Guardini [Johannes Spörl, (Artikel) Romano Guardini, in: Lexikon der Pädagogik, Band 2, Freiburg 1953, S. 551-552; ders., Romano Guardini, in: Katholisches Kirchenblatt, München, 1955, 10. Februar; ders., Überwindung der Zeit. Zum 1. Todestag von Romano Guardini, in: Gehört – gelesen, 16, 1969, November, S. 1201-1209; gesendet in: Bayerischer Rundfunk, Kirchenfunk, 2. Programm, 1969, 29. September, 14 Typoskriptseiten; ders., Guardinis geistiger Werdegang, in: Christ in der Gegenwart, Freiburg im Breisgau, 21, 1969, S. 333-335; wiederabgedruckt in: Helmut Zenz (Hrsg.), Deuter der christlichen Existenz. Nachrufe – Erinnerungen – Würdigungen. Romano Guardini zum 50. Todestag. Mit einer aktuellen Würdigung von Hans Maier, Mainz 2018, S. 135-146].

Bevor er von Freiburg nach München wechselte, hatte Spörl als Guardini-Freund die Rolle des vermittelnden Verbindungsmannes übertragen bekommen, als man Guardini ab Weihnachten 1945 nach Freiburg holen wollte, unabhängig von Heideggers eigenem Versuch, Guardini im Sommer 1945 diesen Schritt nahezulegen, zu einem so frühen Zeitpunkt also, als auch Guardini noch keinerlei Entscheidung zugunsten Tübingens getroffen hatte und Heidegger auch nicht wissen, sondern höchstens ahnen konnte, dass Guardini von vielen Universitäten Anfragen erhalten würde. Auch diese Chronologie der Ereignisse hätte daher in der Guardini- und Heidegger-Forschung die Frage aufwerfen müssen, ob Heidegger nicht schon vor dem Sommer 1945 wieder mit Guardini Kontakt aufgenommen haben hätte können. Außerdem wurde bislang – zumindest was die Guardini-Forschung angeht – nicht ausreichend wahrgenommen, dass Guardini im Herbst 1945 auch in Versuche involviert war, Heidegger von Freiburg nach Tübingen zu holen.

Berufungsfragen in Tübingen und Freiburg in der Nachkriegszeit 1945/46

Möglicher Wechsel Heideggers nach Tübingen mit Unterstützung Guardinis

Bereits unmittelbar nach Kriegsende gab es Überlegungen innerhalb der Universität Tübingen, Heidegger nach Tübingen zu berufen. 1997 hat Kurt Oesterle für die Zeitschrift „Allemende“ den Vorgang unter dem Titel „Der Ruf kam aus Hölderlins Turm“ – journalistisch, in der (Be-)Wertung auch einseitig – die historischen Fakten in aller Regel wohl zutreffend aufbereitet [Kurt Oesterle, Der Ruf kam aus Hölderlins Turm. Wie Heidegger 1945 fast einen Tübinger Lehrstuhl erklommen hätte, in: Allemende, 52/53, 1997, S. 172-180. Ein Irrtum ist zum Beispiel, dass Oesterle Stadelmann vor seinem Wechsel nach Tübingen 1938 in Göttingen statt in Gießen lokalisiert.]. Er stützt sich dabei vielfach auf die Angaben bei Victor Farías[Victor Farías, Heidegger et le nazisme, 1987, S. 285-288] und Hugo Ott[Ott, Martin Heidegger, Unterwegs zu seiner Biographie, 1988, S. 19-25]. Beginnend mit dem Verweis auf die „Tübinger Chronik“ vom 1. Dezember 1933, die geradezu begeistert im Freiburger Rektor Heidegger den „stärksten nationalsozialistischen Vorkämpfer unter den deutschen Gelehrten“ sah, wird von Oesterle die Verhinderung des Wechsels als erfolgreiche Opposition von „resoluter Nazi-Gegnerschaft“ und „demokratischem Verantwortungsbewusstsein“ angesehen:

„Alte Heidegger-Knappen hatten gleich nach Kriegsende versucht, ihren Meister aus Freiburg aus der Schußlinie zu bringen, indem sie andernorts seine Berufung betrieben, wie in Tübingen so auch in Göttingen. Heideggers Tübinger Kontrahenten behielten schließlich recht: Es glückte dem Philosophen 1945 nur kurzzeitig, die Gunst der Stunde Null zu nützen, schon bald geriet er in Freiburg in die Mühlen der Entnazifizierung – an eine glorreiche Fortsetzung der Karriere war vorläufig nicht mehr zu denken“[Oesterle, a.a.O., S. 172].

Als „Hauptknappe“ wird von Oesterle dabei Rudolf Stadelmann identifiziert, der als „kommissarischer Dekan“ der Philosophischen Fakultät, zwei Monate nach dem Ende des Dritten Reiches, also im Frühsommer 1945 Heidegger anfragte, ob er sich vorstellen könne in Tübingen zu lehren, da dort zwei philosophische Lehrstühle wieder zu besetzen seien, vor allem aber der Lehrstuhl für Systematische Philosophie, den während des Dritten Reiches der Nationalsozialist Theodor Haering innehatte. Nach der sofortigen Amtsenthebung wurde er 1948 als „Mitläufer“ eingestuft, verlor für weitere drei Jahre die Bürgerrechte der Universität und somit seine Professur, wurde 1951 allerdings nach dem am 1. April 1951 in Kraft getretenen „Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen“ wiedereingestellt und emeritiert.

Zur Person Rudolf Stadelmanns

Der anfragende Historiker Rudolf Stadelmann (1902-1949) hatte 1924 an der Universität Tübingen als Schüler von Gerhard Ritter promoviert, anschließend die Lehrerausbildung absolviert und bis 1928 auch als Lehrer gearbeitet. Nach Auslandsaufenthalten habilitierte er sich 1929 an der Universität Freiburg über den „Geist des ausgehenden Mittelalters“ und wirkte danach ebendort als Privatdozent. Unter dem Einfluss Martin Heideggers engagierte er sich nach der Rektoratsübernahme 1933 in der nationalsozialistischen Studentenbewegung. Stadelmann hat von Heidegger für das Wintersemester 1933/34 die Aufgabe erhalten, die programmatische Ringvorlesung „Aufgaben des geistigen Lebens im nationalsozialistischen Staat" am 9. November 1933 mit dem Titel „Das geschichtliche Selbstbewußtsein der Nation“ zu eröffnen. Außerdem hat Heidegger ihn wohl zum Pressesprecher seines Rektorenamtes gemacht. 1936 war Stadelmann noch der Reiterstandarte der SA beigetreten, doch dann kühlte sich sein Verhältnis zur NSDAP so weit ab, dass bereits 1936 sein Ruf als ordentlicher Professor nach Gießen [Peter Stadler, Historiker und Geschichtswissenschaft in Gießen, in: Dieter Hein/Klaus Hildebrand/Andreas Schulz (Hrsg.), Historie und Leben. Der Historiker als Wissenschaftler und Zeitgenosse. Festschrift für Lothar Gall zum 70. Geburtstag, München 2006, S. 103–114, hier S. 108; Jörg-Peter Jatho/Gerd Simon, Giessener Historiker im Dritten Reich, 2008, S. 218]; und mehr noch 1938 der Ruf als Professor für Neuere Geschichte nach Tübingen, „manche Kämpfe mit den Parteistellen“ kosteten. Dabei lagen die Differenzen sowohl im politischen wie im persönlichen Bereich [Wolfram Fischer, Exodus von Wissenschaften aus Berlin, Berlin 1994, S. 182]. Heideggers „weltanschaulich lupenreinen Zeugnis“ hat angeblich den Ausschlag für den Ruf nach Gießen gegeben. Stadelmann musste nicht zur Wehrmacht einrücken, sondern leistete „kriegswichtige Forschungsarbeiten“, beispielsweise im Rahmen der „Aktenkommission“ bei der Auswertung und Überführung der „Beuteakten“ des Quai d’Orsay [Uwe Dietrich Adam, Hochschule und Nationalsozialismus, Stuttgart 1977, S. 189]. Dort tat er Dienst in der „Aktenkommission“ die in den Archiven Urkunden zur deutschen Geschichte zusammenstellte und teilweise nach Deutschland „überführte“ [Frank-Rutger Hausmann, „Auch im Krieg schweigen die Musen nicht.“ Die Deutschen Wissenschaftlichen Institute im Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2002, S. 116].

Dennoch blieb er „mit unbeschädigtem Ruf“ auch nach dem Krieg Ordinarius in Tübingen, über seine eigene Entnazifizierung ist bislang nicht viel bekannt. Er konnte sich aber offensichtlich der Militärregierung als „moderater Konservativer“ und als Mann des Neuanfangs empfehlen und war zunächst kommissarischer, dann ab dem Wintersemester 1945/46 gewählter Dekan der Philosophischen Fakultät und bestimmte als solcher maßgeblich die Richtung der Universität, gerade auch in Berufungsfragen.

Für Guardini hatte Rudolf Stadelmann noch eine weitere Bedeutung; und zwar über die von Stadelmann und Spranger wieder aufgenommene Idee einer „Mittwochs-Gesellschaft“[Hans Speidel, Aus unserer Zeit. Erinnerungen, Berlin/Frankfurt am Main/Wien 1977, S. 260] bzw. „Mittwochs-Tisch-Gesellschaft“[Hans Wenke, Eduard Spranger. Bildnis eines geistigen Menschen unserer Zeit, Heidelberg 1957, S. 376] – in der Tradition des zuletzt von Spranger geleiteten Berliner Vorbilds. Zu ihr gehörten neben Spranger, Stadelmann und Guardini – laut eigener Angaben – Hans Wenke und Hans Speidel sowie – laut einer Auflistung Speidels – Adolf Butenandt, Hermann Stock, Helmut Thielicke und Theodor Eschenburg. Im Rahmen der Treffen berichtete jeweils einer der Runde aus seinem Fachgebiet. Diese Referate „brachten eine Fülle geistiger Anregungen“:

„Mittelpunkt blieb Eduard Spranger, von dem eine starke geistige Kraft ausging. In der beherrscht-disziplinierten Art seiner Erscheinung, in der sich preußische Schlichtheit und Gemessenheit ausdrückten, wie in der Exaktheit und Klarheit seines Geistes war er ein Inbegriff des deutschen Gelehrten alter Schule“[Hans Speidel, Aus unserer Zeit, a.a.O., S. 260].

Während bei Wenke also Stadelmann, bei Speidel eher Spranger Initiator und Mittelpunkt dieses Kreises war, erscheint es in der Butenandt-Forschung so, wie wenn Eschenburg gemeinsam mit Thielicke, der in Tübingen als evangelisches „Pendant“ zu Guardini fungierte, die Initiatoren der neuen Mittwochgesellschaft gewesen seien [Vgl. Peter Karlson, Adolf Butenandt. Biochemiker, Hormonforscher, Wissenschaftspolitiker, Stuttgart 1990, S. 170].

Eduard Spranger sah 1949 bei der Trauerfeier für den plötzlich verstorbenen Stadelmann in ihm „einen unserer geistvollsten Historiker"[Eduard Spranger, Gedenkrede, in: Rudolf Stadelmann zum Gedächtnis. Akademische Trauerfeier am 21. Januar 1950 im Festsaal der Universität Tübingen, Tübingen 1950, S. 14-35]. Anlässlich dieser Trauerfeier kam auch zum Vorschein, dass Stadelmann als Gesprächspartner Guardinis für seine Arbeit an seinen 1950 aus den Tübinger Pascal-Vorlesungen hervorgegangenen Buch „Das Ende der Neuzeit“ in Frage kam, da Stadelmann in seinen letzten Texten ebenfalls von „endender Neuzeit“ und „Nachneuzeit“ sprach; und dies offensichtlich so stark, dass Eduard Spranger es in seiner Gedenkrede thematisierte:

„Seit 1914 ist eine neue Weltepoche angebrochen – Stadelmann nennt sie die Nachneuzeit -, und jeder Sehende muß erkennen, dass für Europa mit der Explosion von 1945 das Problem der Nationalstaatsbildung seine vorherrschende Bedeutung verloren hat. Jetzt gilt es wieder, das gemeinsame antik-christliche Kulturerbe zu retten als ein wiedererstehendes übergreifendes Corpus humanum et Christianum“[Ebd., S. 32 f. 1948 hatte er in seinem im Laupheimer Kreis gehaltenen Vortrag über „Hegemonie und Gleichgewicht“ davon gesprochen, dass wir uns am Eingang einer Nachneuzeit befinden (vgl. Theodor Pfizer, Rudolf Stadelmann, in: Robert Uhland (Hrsg.), Lebensbilder aus Schwaben und Franken, Bd. 15, 1983, S. 432-451, hier S. 443)].

Heideggers erste Antwort

Den Brief Stadelmanns beantwortete Heidegger am 20. Juli 1945. Dabei reagierte er auf Stadelmanns Ansinnen durchweg positiv:

Den Brief Stadelmanns beantwortete Heidegger am 20. Juli 1945. Dabei reagierte er auf Stadelmanns Ansinnen durchweg positiv. Er schreibt Stadelmann einleitend, dass "eine Stunde" bevor der Brief Stadelmanns angekommen sei, er "lebhaft" an ihn gedacht habe und zwar beim Nachsinnen "über das geschichtliche Selbstbewußtsein, dessen Wesen und Vermögen". Daher hätten ihn seine "Zeilen aus Tübingen" und Stadelmanns "kühner Gedanke" eines Wechsels nach Tübingen "wie die Stimme des Dichters aus seinem Turm am heimatlichen Strom" getroffen. Heidegger betonte, er sei im letzten halben Jahr in seinem Geburtsland "im oberen Donautal unterhalb der Burg Wildenstein", in der Nähe von Meßkirch und Beuron gewesen. Dort habe er festgestellt:

"Mein Denken ist weit über bloße Interpretation hinaus zu einem Gespräch geworden, und seine leibhafte Nähe ist das Element meines Denkens."

Daher ginge mit einem Wechsel nach Tübingen "ein Jugendtraum in Erfüllung, wenn ich in der eigenen Heimat im Element Hegels, Schellings und vor allem Hölderlins mein eigentliches Denken in seine gemäße Gestalt bringen dürfte."

Und - außer dem Freund Bauch - halte ihn auch "nicht mehr hier in der Fakultät und Universität". Aber aus taktischen Gründen bittet Heidegger Stadelmann um strenge Vertraulichkeit und bittet um Verständnis noch abwarten zu müssen, bis in Freiburg über seine Zukunft entschieden sei.

"Trotzdem ich seit meiner Amtsniederlegung in steigendem Maße gehemmt und angepöbelt wurde und hart an Schlimmerem vorbeikam, entdeckt man jetzt (nicht die Alliierten, sondern die Eigenen) Belastendes in meinem Rektorat, das alles andere war als ein Eintreten für die Partei und Parteidoktrin."

Wenn er in Freiburg bleiben würde und "die hiesigen Umstände es erlauben", könnte er sich aber ein Gastsemester in Tübingen vorstellen. Während so eines Semesters "könnte dann das Weitere erwogen werden."

"Zur weiteren Unterrichtung" nennt Heidegger sodann noch die Namen seiner "drei Schüler Gadamer (Leipzig), Krüger (Münster) und Bröcker (Rostock)", ohne allerdings zu wissen, wo sich diese zur Zeit aufhalten würden. Dagegen warnt er vor einer Verpflichtung Eduard Baumgartens.

[Eduard Baumgarten (1898-1982), Neffe von Max Weber, war 1929 nach einem mehrjährigen Aufenthalt in den Vereinigten Staaten 1929 nach Deutschland zurückgekehrt, um sich in Freiburg bei Martin Heidegger zu habilitieren. Nach einem Kantreferat Baumgartens im Oberseminar war es aber zu einem Zerwürfnis gekommen, da Heidegger Baumgartens Pragmatismus anprangerte und ihm deshalb die in Aussicht gestellte Assistentenstelle verweigerte. Nachdem 1931 Werner Gottfried Brock die Stelle bekommen hatte, wechselte Baumgarten nach Göttingen. Heidegger versuchte 1933 zu Baumgartens Mitgliedschaft in der SA und seine Anstellung als Dozent in Göttingen von Freiburg aus zu verhindern, dadurch dass er ihn am 16. Dezember 1933 gegenüber Hermann Vogel als wenig überzeugten Nationalsozialisten bezeichnete, der „verwandtschaftlich und seiner geistigen Haltung nach aus dem liberal-demokratischen Heidelberger Intellektuellenkreis um M. Weber“ komme und in Freiburg mit dem „nunmehr hier entlassenen Juden Fränkel“ verkehrt habe. „Auf dem Gebiet der Philosophie halte ich ihn für einen Blender“. Vogel habe allerdings das Schreiben als „hassgeladen“ und daher unbrauchbar ignoriert. Baumgarten war im April 1934 auch dem Nationalsozialistischen Lehrerbund beigetreten. 1936 habilitierte sich Baumgarten in Göttingen und wurde ebendort 1937 zum Dozenten ernannt. Im gleichen Jahr wurde er Mitglied im Nationalsozialistischen Deutschen Dozentenbund und in der NSDAP sowie Blockwart. 1940 wurde er ordentlicher Professor in Königsberg. Durch Entlastungsschreiben von Karl Jaspers, Marianne Weber, Leopold von Wiese und Arnold Bergsträsser blieb Baumgarten trotz seiner nationalsozialistischen Vergangenheit im Universitätsdienst und war nach 1945 zunächst wieder Gastprofessor an der Universität Göttingen. Baumgarten selbst hatte wohl um 1934/35 eine Kopie von Heideggers Brief an Vogel erhalten. Auch Marianne Weber erhielt Kenntnis davon und hatte ebenfalls um 1934/35 Karl Jaspers eine Abschrift dieses „Gutachtens“ vermittelt, so dass Jaspers den Fall „Baumgarten“ in sein von Heidegger selbst gewünschtes Gutachten gegenüber der Bereinigungskommission in Freiburg einbrachte und infolgedessen Heideggers Verhalten als antidemokratisch und antisemitisch und somit „belastet“ ansah. Auch durch die Anhörungen zur Entnazifizierung Baumgartens im Jahre 1946 wurde die Denunziation durch Heidegger bekannt. 1948 wechselte Baumgarten dann ausgerechnet nach Freiburg, bevor er 1953 Honorarprofessor an der Technischen Hochschule Stuttgart wurde und von 1957 bis 1963 schließlich Lehrstuhlinhaber für Soziologie an der Wirtschaftshochschule Mannheim war.]

Schließlich gab Heidegger noch eine Empfehlung für Robert Heiß, der Schüler von Jaspers, Hartmann und Heidegger und kein Parteigenosse gewesen sei, ab.

[Die Quellen bezüglich einer NSDAP-Mitgliedschaft von Robert Heiß widersprechen sich. Zwar gibt es eine Karteikarte im Bundesarchiv, die eine Mitgliedschaft ab 1. Oktober 1940 verzeichnet, allerdings fehlen sowohl der Aufnahmeantrag, der Hinweis auf Aushändigung des Ausweises sowie Belege für Beitragszahlungen. Heiß selber hatte am 9. Januar 1943 in einem dienstlich verlangten Personalfragebogen die Mitgliedschaft in einer Partei verneint. Heiß selbst wusste laut seiner Erklärung vom 17. Juni 1946 darum, dass man ihn im Oktober 1943 fälschlich als Parteimitglied bezeichnet habe (Universitätsarchiv Freiburg, UAF B24/1249–50, B254/36). Es könnte sich um eine Verwechslung mit dem ebenfalls in München geborenen Medizinprofessor Robert Heiß handeln. Vgl. zu ihm: Jochen Fahrenberg, Robert Heiß, in: Baden-Württembergische Biographien, Band 5, 154-157.]

Zum Abschluss des Briefes folgt der mittlerweile viel zitierte Satz:

„Alles denkt jetzt den Untergang. Wir Deutschen können deshalb nicht untergehen, weil wir noch gar nicht aufgegangen sind und erst durch die Nacht hindurchmüssen. Ich schreibe Ihnen, sobald meine Entscheidung gefallen ist“[alle vorausgegangenen Zitate aus dem Brief von Martin Heidegger an Rudolf Stadelmann vom 20. Juli 1945, in: Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, Gesamtausgabe, Bd. 16, a.a.O., S. 370. Der Brief liegt im Nachlass Rudolf Stadelmann, Bundesarchiv Koblenz].

Am 28. Juli 1945 schrieb Stadelmann einen weiteren, nicht mehr erhaltenen Brief, in dem er Heidegger wohl um Berufungs-Empfehlungen gebeten hatte. Diesen Brief hat Heidegger erst am 30. August erhalten und am 1. September 1945 beantwortet. In der Zwischenzeit hatte er am 23. Juli 1945 das erste Mal vor der Freiburger „Bereinigungskommission“ gestanden.

"Heidegger-Freiburg" erkundigt sich bei Messerschmid nach Guardinis Adresse

Bereits im Sommer 1945, kurz nach Kriegsende, setzten “Versuche ein, Guardini der Universität zurückzugewinnen. Heidegger-Freiburg kannte seine Exiladresse nicht und bat” daher Felix Messerschmid “um eilige Vermittlung” [Messerschmid, in: Romano Guardini. Der Mensch. Die Wirkung. Begegnung, S. 22. Das Messerschmid Mooshausen als Guardinis „Exil“ bezeichnet, entspricht dem Empfinden Guardinis. vom „Heimweh nach der akademischen Lehrtätigkeit“ [Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, a.a.O., S. 21]. „Alles hat sich in die Arbeit am Schreibtisch zusammengezogen – und in die Hoffnung, noch einmal zu irgend einer Aufgabe gerufen zu werden.“ [ebd., S. 55].

Briefe Heideggers an Guardini von Mitte Juli und vom 6. August 1945

Zwischen der ersten und der zweiten Antwort an Stadelmann liegt nun aber auch der erste erhaltene Brief Heideggers an Guardini, geschrieben am 6. August 1945, bezüglich der Übernahme eines Lehrstuhls in Freiburg durch Guardini. Vorausgegangen war „wenige Wochen“ vorher ein nicht mehr erhaltener Brief, der durch den Bruder übermittelt werden sollte, und auf den Guardini nicht geantwortet hatte. Daher folgt nun am 6. August ein zweiter, nachfragender und das Anliegen wiederholender Brief Heideggers. Wenn man also davon ausgehen kann, dass der erste Brief bereits Mitte Juli mit ähnlichem Inhalt geschrieben wurde, wäre er noch nicht von der Kommissionsbefragung am 23. Juli 1945 beeinflusst gewesen. Auch der Inhalt des Briefes vom 6. August ist noch nicht wirklich davon geprägt. Anders als im Juli-Brief an Stadelmann schreibt er Guardini auch nichts davon, dass ihn in Freiburg im Grunde nichts und niemand mehr „halte“, außer sein Freund Kurt Bauch. Lediglich seine Selbst-Karikatur als „Luxuspferd“ der Freiburger Philosophischen Fakultät deutet an, dass er mit seinem Status in Freiburg nicht zufrieden ist.

Q016

Brief von Martin Heidegger an Romano Guardini vom 6. August 1945 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 875]

Q 16: Brief von Martin Heidegger an Romano Guardini vom 6. August 1945 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 875]

Heidegger schreibt Guardini mit "Sehr verehrter Herr Guardini!" an. Er berichtet zunächst davon, dass er ihm - bestellt durch seinen Meßkirchener Bruder - bereits vor wenigen Wochen versucht habe, einen längeren Brief zukommen zu lassen. Bereits darin habe er "einen langjährigen persönlichen Wunsch" geäußert, Guardini möge seine Lehrtätigkeit an der Freiburger Universität wieder aufzunehmen, wenn sich dafür eine bestimmter gestaltete Gelegenheit böte. Er verweist auf frühere Gespräche, in denen Guardini nicht nur "unterrichten" wolle und könne dies aus eigenen Erfahrungen verstehen. Auch wenn die Verhältnisse zunächst wohl nur eingeschränkt wären, würde er es als "Luxus" denken, Guardini neben sich an der Universität zu haben, wo er doch "selbst auch nur als `Luxuspferd im Stall der Fakultät´ gelte. Er fände es aber vor allem schön, wenn Guardini wieder einmal in Freiburg sein könnte, "um Manches zusammen zu bedenken". Abschließend bittet er Guardini, "an Freiburg zu denken".

Bezüglich des "Luxuspferdes" erinnert sich Walter Biemel im Jahr 1976: „Als Heidegger noch vor dem Krieg Kommerell, den er sehr schätzte, der Fakultät als Germanisten vorgeschlagen hatte, erhielt er zur Antwort: Ein Luxuspferd im Stall genügt.“ (Walter Biemel, Erinnerungen an Heidegger, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 2/I, 1976/77, S. 1-23, hier S. 12) So unmittelbar wie Heidegger dies hier anführt, scheint er wie selbstverständlich davon auszugehen, dass Guardini mit dieser Aussage bereits etwas anfangen kann, also über Dritte oder durch Heidegger selbst um Heideggers Stellung in der Fakultät wusste.

Guardini wird auf diesen Brief erst im Januar 1946 reagieren (siehe unten). Zu betonen ist, dass es sich bei dem Brief nicht um eine Ermunterung handelt, „den Lehrstuhl für Philosophie II, den sogenannten Konkordatslehrstuhl“ zu übernehmen, wie 1988 Hugo Ott noch vermutet hat, da dieser zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht zur Disposition stand. Auch hat Heidegger Guardini weder in diesem Brief noch zu einem späteren Zeitpunkt persönlich um Unterstützung bei seiner Entnazifierung, Bereinigung, Emeritierung oder Reintegration gebeten; schon gar nicht hat er sich um ein „Unterstützungsschreiben“ bei Guardini bemüht [So zu lesen bei Reinhard Mehring/Dieter Thomä, Leben und Werk Martin Heideggers im Kontext, in: Dieter Thomä (Hrsg.), Heidegger-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart/Weimar 2003, S. 515-539, hier S. 532]

Zwei Briefe von Martin Heidegger an Rudolf Stadelmann (September und November 1945)

Am 1. September 1945 beantwortete Heidegger, den erst am Vortag, also am 30. August angekommenen Brief Stadelmanns vom 28. Juli 1945. Darin gab er vor allem die wohl erbetenen Empfehlungen, namentlich für Gadamer, Krüger und Löwith, ab. Bezüglich Wilhelm Weischedel bestätigt Heidegger offensichtlich eine zuvor gegebene Einschätzung Stadelmanns. Heidegger verweist im Brief auf den vorausgehenden Brief Mitte Juli 1945 "über die `Philosophie´". Er kommt schließlich auf Guardini zu sprechen:

"Daß Sie in Tübingen Guardini haben, hörte ich gerüchteweise; ich hoffte im stillen, ihn hierher zu ziehen; aber hier wäre ihm die Luft zu wenig frei."

Dies bringt nun Heidegger in Verbindung mit seiner eigenen Zeit. Wegen dieser "zu wenig freien Luft" in Freiburg sei er "zeitweise auch hier (auch von der Stadt) „beschossen“ worden. E schreibt dann weiter:

"Die Franzosen sind – und zumal in Paris – darüber empört. So wie die Dinge jetzt liegen, werde ich von Paris und Frankreich aus, wo ich zur Zeit als „Modephilosoph“ gelte, gegen die Landsleute gehalten; besonders auch in Baden-Baden. Tübingen würde mich atmosphärisch sehr locken, hier ist mir vieles fremd geworden; im übrigen bin ich der Überzeugung, daß aus unserem schwäbischen Land der abendländische Geist erwachen wird. Da jetzt auch noch Guardini in Tübingen ist, das er von seiner Studienzeit her sehr liebt, würde ich mir einen Ruf sehr ernstlich überlegen. Aber ich weiß nicht, wie Ihre Fakultät zu solchem Vorhaben steht. Einen bloßen Pauk- und Schulbetrieb könnte ich freilich nicht übernehmen“ [Martin Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, Gesamtausgabe, Bd. 16, a.a.O., S. 395 f.]

Im September 1945 hatte dann die Bereinigungskommission in Freiburg empfohlen, Heidegger zu emeritieren und ihm „beschränkte Lehrtätigkeit" zu erlauben. Gleichzeitig bescheinigte ihm die Militärregierung „disponibilité", also eine geringe Belastung, so dass er zu diesem Zeitpunkt seine „Rehabilitierung“ erwarten durfte. Gegen dieses Ergebnis setzten sich im Oktober 1945 einige Freiburger Professoren zur Wehr, namentlich vor allem Adolf Lampe. Man hielt ihm insbesondere vor, er habe junge Gelehrte „intellektuell verführt“ und sei am „politischen Verrat deutscher Universitäten“ maßgeblich beteiligt gewesen.

Über den weiteren Verlauf der „Tübinger Sache“ geben bislang nur Hugo Ott[Hugo Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, 1988, S. 23], Victor Farías und Kurt Oesterle Auskunft. Deren Angaben wurden hier nicht selbst überprüft und vertieft ausgewertet, allerdings mit anderen Informationen und Vorgängen abgeglichen. Demnach ergibt sich folgendes Bild:

Am 8. November 1945 notierte der Tübinger Ministerialrat Hans Rupp, rechte Hand von Kulturdirektor Carlo Schmid, in einen Aktenvermerk der Württembergischen Kultusverwaltung über eine zwei Tage zuvor stattgefundene Besprechung mit dem französischen Kontrolloffizier in Tübingen, Capitaine René Cheval:

„Besprechung mit Capitaine Cheval am 6. November 1945 – I. Capitaine Cheval teilte mit, daß die französische Militärregierung es begrüßen würde, wenn Professor Heidegger auf einen philosophischen Lehrstuhl in Tübingen berufen würde. Auf meine Gegenfrage, ob dies ein Befehl oder lediglich als eine Anregung aufzufassen sei, erklärte er, es sei nur eine Anregung. Selbstverständlich sei die Fakultät in ihren Berufungswünschen vollkommen frei. Die französische Militärregierung wolle nur zum Ausdruck bringen, daß, falls die Fakultät Professor Heidegger in Vorschlag bringen würde, die Militärregierung seiner Ernennung keinerlei Schwierigkeiten bereiten wolle“[Wohl erstmals zitiert durch Volker Schäfer, in: Jürgen Fischer unter Mitarbeit von Peter Hanske (Bearb.), Hochschuloffiziere und Wiederaufbau des Hochschulwesens in Westdeutschland 1945-1952: Die französische Zone, 1991, S. 57 f. Das Symposium „Französische Hochschulpolitik in Deutschland 1945-1952“ wurde mit französischen Zeitzeugen an der Universität Tübingen vom 16.-18.9.1985 von Jacques Bariéty und Manfred Heinemann durchgeführt].

Daraufhin hat – wann genau ist nicht bekannt – Stadelmann einen weiteren Brief an Heidegger geschrieben, den dieser auch am 30. November 1945 beantwortet. Da er wohl zu dieser Zeit noch nicht wissen konnte, dass in Tübingen die Berufungsliste der Fakultät vom 23. November am 24. November 1945 im Senat abgelehnt werden sollte (siehe nachfolgende Dokumentation), ist der Antwortbrief an dieser Stelle einzufügen [Martin Heidegger, Von der französischen Militärregierung für disponibel erklärt (28. September 1945), in: ders., Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, Gesamtausgabe, Bd. 16, a.a.O., S. 405 ff. Der Brief liegt im Nachlass Stadelmann, Bundesarchiv Koblenz].

Heidegger hatte inzwischen sowohl von Guardinis Berufung nach Tübingen als auch von dessen damit wohl nur noch geringen Neigung, nach Freiburg zu wechseln, erfahren. Im bereits im Jahr 2000 publizierten Brief Heideggers vom 30. November 1945 an den Tübinger Professor Rudolf Stadelmann heißt es:

"Die Tübinger Sache hielt ich für erledigt. Ich habe Ihnen deshalb über den Gang und Stand der Dinge hier, d.h. über das Ergebnis der Epuration Anfang Oktober, nicht weiter berichtet. Ich wurde von der französischen Militärregierung weder entlassen noch suspendiert, sondern für disponibel erklärt. Die Franzosen wissen, daß meine philosophische Arbeit seit 15 Jahren in Frankreich das Denken und vor allem die Haltung der Jugend in geistigen Dingen bestimmt und erregt. Bereits im September wurde ich durch den Herausgeber der „Fontaine “, der Nachfolgerin der NRF (Nouvelle Revue Francaise], aufgefordert, noch nicht übersetzte Schriften, unveröffentlichte Arbeiten und die Vorlesungen des letzten Jahrzehntes für die Übersetzung und Veröffentlichung zur Verfügung zu stellen. Solche Einflußnahmen unseres Denkens in Frankreich wage ich erst dann, wenn gleichzeitig mir die Möglichkeit gegeben wird, für die Deutschen meine Arbeiten zugänglich zu machen."

Was die Angelegenheit mit der "Fontaine" betrifft: Im Herbst hatte der Herausgeber Max-Pol Fouchet (1913-1980) einen Mitarbeiter der französischen Militärregierung in Baden-Baden, Edgar Morin, mit einem mit dem 24. September 1945 datierten Brief zu Heidegger geschickt, mit der Bitte um neue Text für seine Zeitschrift „Fontaine“. Dieser Bitte kam Heidegger nach und seine Texte wurden durch Joseph Rovan ins Französische übersetzt [Martin Heidegger, L´ hymne “Tel qu'en un jour de fête”, in: Fontaine, Paris, 1946, 54, S. 206-235; als Erstveröffentlichung: ders., La remontée au fondement de la métaphysique, in: Fontaine, Paris 1947, 58, S. 888-898; vgl. dazu bereits: Edgar Morin, L´ an zero de l´ Allemagne, Paris 1946].

Heidegger berichtet dann weiter über die Situation in Freiburg:

"Gestern wurde hier die philosophische Fakultät durch eine Feier eröffnet; die Suspendierten und Disponiblen sind, wie in den übrigen Fakultäten auch, „reintegriert“ und zur Feier eingeladen. Heute beginnen die Vorlesungen. Trotz des genannten Ergebnisses der Epuration wurde ich nicht einmal zur Feier eingeladen. Die Universität, der Senat und d. h. einige Herren, besinnen sich noch, ob die Universität von sich aus bei der französischen Militärregierung den Antrag auf Wiedereinstellung meiner Person stellen soll. Man ist über das Ergebnis der Epuration, das wider Erwarten des Rektors (der Suspendierung erwartete) und gegen mein eigenes so günstig ausfiel, verärgert. Ich habe, nachdem mir diese Haltung der Universität bekannt wurde, bei der Fakultät den Antrag auf Emeritierung eingereicht; ich behalte so die venia und brauchte die Jugend und die Deutschen so nicht ohne meine Arbeit zu lassen, wenn sie diese verlangen. Es sind jetzt 7 Wochen vergangen, und die Fakultät hat es nicht für nötig erachtet, auf meinen Emeritierungsantrag im geringsten zu reagieren. In den Kreisen der Theologischen Fakultät und des Erzbischofs hat man sich inzwischen eines anderen besonnen und lernt verstehen, daß hinter dem vermeintlichen „Nihilismus“ etwas ganz anderes steht, da ja doch auch der weise Meister Eckhart schon vom Nichts der Gottheit gesprochen. Aber man hat in anderen Kreisen einfach Angst vor meiner Wirkung auf die Jugend und möchte zugleich natürlich sich nicht blamieren und meine „geistige Potenz“ dem Ausland gegenüber für die Universität beanspruchen. Daneben laufen immer wieder Hetzereien von seiten der Widerstandsbewegung in der Stadt wegen meines Rektorats. Auf jeden Fall stehe ich außerhalb des Lehrbetriebs. Der Rektor, der objektiv denkt und mir wohlgesinnt ist, hat mir auch schon zu verstehen gegeben, daß es im Falle meiner Emeritierung nicht erwünscht sei, daß ich im nächsten Jahr schon wieder meine Lehrtätigkeit aufnehme. Ich habe ihm schriftlich geantwortet, daß ich von mir aus durchaus warten könne, daß aber die Frage sei, ob die Jugend und ob die heutige geistige Lage der Deutschen warten könne. Die Verantwortung trage die Universität."

Mit "Rektor" ist hier noch der erste Nachkriegsrektor Sigurd Janssen gemeint, der mit großen Teilen des Senats die Auffassung vertrat, dass das von der französischen Militärregierung im Juni 1945 eingesetzte und in der Hochschulverfassung nicht vorgesehene Gremium die Aufgabe der „épuration“ nicht autonom erledigen könne. Janssen trat am 13. Dezember aufgrund eines Berufungs-Konfliktes mit der französischen Militärregierung, die ohne Auswahlverfahren und Dreierliste der Fakultät den nicht-habilitierten Geographen Josef Schmid berufen haben. Janssen weigerte sich auch, sich einer Wiederwahl durch den Senat zu stellen. Als Nachfolger wurde daher am 20. Dezember der katholische Theologe Arthur Allgeier gewählt.

Heidegger bekennt, dass ihn weniger seine eigene, als die Lage der Universität "sehr traurig stimmt", weshalb ihm "Verständnis und Zuneigung", die ihm "aus der Heimat Hölderlins entgegenkommen" sehr bewegen würden. Daher wäre es für ihn auch keine Schwierigkeit, "`Hiesiges´ aufzugeben", dennoch müsste für den Fall seiner Berufung nach Tübingen dort aber "das wenigstens Nötige" geregelt sein.

An dieser Stelle verweist er noch einmal auf Guardini:

"Nach Ihrem Brief zu urteilen, arbeitet und denkt Ihre Universität großzügiger. Daß Guardini eine große Bereitschaft mitbringt, weiß ich längst. Ich hatte bei der Vorbereitung der Hölderlin-Gedenkschrift damals Herrn Kluckhohn auch die Mitarbeit Guardinis vorgeschlagen. Er war aber offensichtlich nicht tragbar.“

Mit der Aussage, „daß Guardini eine große Bereitschaft mitbringt, weiß ich längst“, ist hier ziemlich eindeutig die Bereitschaft Guardinis gemeint, sich für eine Berufung Heideggers nach Tübingen einzusetzen. Auf die angesprochene Hölderlin-Gedenkschrift und der Hölderlin-Gesellschaft wurde bereits hingewiesen. Heideggers Rede von den „Hetzereien von seiten der Widerstandsbewegung in der Stadt wegen meines Rektorats“ ist wohl vor allem auf die Mitglieder des „Freiburger Konzils“, insbesondere Adolf Lampe gemünzt (siehe oben). In diesem Zusammenhang von „Hetzereien“ zu sprechen, zeigt, dass Heidegger zu diesem Zeitpunkt noch kaum Einsicht in die Folgen seines Verhaltens während seines Rektorats zeigte, das die „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten innerhalb der Universität stabilisieren half und die „Hetzereien“ der Nationalsozialisten gegen jüdische sowie politisch liberale, sozialistische oder pazifistische, aber auch bekennend-kirchliche Akademiker zumindest duldete. Auch konnte Heidegger offensichtlich nicht sehen, dass sein Fehlverhalten auch nicht durch seinen Rücktritt und die folgende „Marginalisierung“ im Freiburger Universitätsbetrieb aufgerechnet werden kann.

Es folgen im Brief noch einige Äußerungen zu Personen, die wohl den Tübinger Pädagogik-Lehrstuhl im Gespräch waren, und zu denen Stadelmann sich offensichtlich Empfehlungen eingefordert hatte. Der Brief schließt vor den Grüßen mit:

„Zu der geplanten Reise nach Meßkirch bin ich bisher nicht gekommen. Ich bitte, die Herren Kluckhohn und Guardini gelegentlich zu grüßen“

Das Berufungsverfahren in Tübingen und das Bereinigungsverfahren in Freiburg im November und Dezember 1945

Die erste Berufungsliste wurde am 23. November 1945 in der Philosophischen Fakultät diskutiert und beschlossen mit dem Ergebnis: 1. Martin Heidegger – 2. Gerhard Krüger „mit Abstand“. Es gab nur eine Gegenstimme von Heinrich Dannenbauer, der während seiner Tätigkeit in Tübingen seit Juni 1933 gegen die völkisch-mythisierende Geschichtsbetrachtung der Nationalsozialisten und gegen die Nazifizierung der Universität auftrat, dann aber selbst von 1946 bis 1949 wegen seiner bereits 1932 vollzogenen NSDAP-Mitgliedschaft suspendiert wurde.

Im Senat stellten sich nun am Tag darauf einige Professoren sehr vehement gegen Heideggers Berufung, allen voran der Mathematikprofessor Erich Kamke (1890-1961), der seit 1926 an der Universität Tübingen lehrte, bis er 1937 aus „politischen Gründen“ in den Ruhestand versetzt oder – wie Oesterle wissen will – ohne Bezüge „entpflichtet“ wurde. Er konnte zwar weiterforschen, allerdings brachte ihn seine antinationalsozialistische Haltung immer wieder in die Gefahr, in Arbeits- oder Konzentrationslager zu kommen, zuletzt im Herbst 1944 [Stanford Segal, Mathematicians under the Nazis, Princeton 2003, S. 106]. Kamke wurde unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs im Juni 1945 rehabilitiert und dann zum Ordinarius ernannt. Auch Dannenbauer wiederholte im Senat seine Bedenken. Der Senat lehnte infolgedessen diese erste Liste ab – laut Oesterle – mit einer Mehrheit von 23 zu 13 ab.

Daraufhin revidierte die Fakultät die Liste und legte sie bereits eine Woche später wieder dem Senat vor: Nun standen Nicolai Hartmann an erster, Martin Heidegger an zweiter, Heinrich Scholz an dritter und Gerhard Krüger an vierter Stelle. Die Wiederaufnahme Heideggers in die neue Liste begründete Stadelmann damit, dass die Fakultät zwar wisse, dass Heidegger ein „notwendig einseitiger“ Denker sei, der deshalb vielfach missverstanden werde und auch in Tübingen Feinde habe, aber sei überzeugt, dass Heidegger sich „als eine aufrüttelnde Kraft gerade unter der geistig träge gewordenen Jugend der Nachkriegszeit bewähren“ werde [Zitate nach Oesterle, a.a.O.].

Diese Begründung aber musste bei den Heidegger-Gegnern erst recht auf Unverständnis stoßen, warf man Heidegger ja gerade für 1933/34 vor, die damals „geistig träge gewordenen Jugend“ für das „Dritte Reich“ aufgerüttelt zu haben. Wieso sollte Heidegger daher jetzt in der Lage sein, sich mit seiner Philosophie unter der „Jugend der Nachkriegszeit“ zu „bewähren“? Nachdem nun in der Senatssitzung vom 1. Dezember 1945 die geänderte Liste vom Senatsberichterstatter Theodor Steinbüchel – der selbst gegen die Berufung Heideggers votierte – vorgestellt und ihre Annahme beantragt worden war, wunderte sich Kamke laut dem bei Oesterle wiedergegebenem Protokoll, „daß Heidegger wieder auf der Liste ist" und Dannenbauer bemerkte, dass die neue Liste ungefähr die alte sei, da die nun benannten Philosophen Hartmann und Scholz zu bejahrt seien und daher wieder nur Heidegger und Krüger übrigbleiben würden. Laut Oesterle sprachen sich nun neben Stadelmann „Guardini, Littmann und später auch Kluckhohn“ für Heidegger aus[Bei Victor Farías, Heidegger et le nazisme, 1987, S. 285 werden die Unterstützer Stadelmann und Kluckhohn als „Nationalsozialisten“ bezeichnet. Für die Ambivalenz Stadelmanns siehe oben. Für Kluckhohn ist aber eine NSDAP-Mitgliedschaft oder ausgesprochen nationalsozialistische Publikation nicht nachgewiesen. Er gilt als „national“ und „konservativ-revolutionär“. Vgl. auch Paul Kluckhohn, Die konservative Revolution in der Dichtung der Gegenwart, in: Zeitschrift für Deutsche Bildung, 9, 1933, S. 177 ff.], da dieser stets „gegen das Negative“ eingestellt gewesen sei und sich längst von der Nazi-Partei abgewandt habe [Oesterle, a.a.O., S. 177].

[Der Orientalist Enno Littmann (1875-1958) hat 1898 sowohl sein Examen als „Oberlehrer“ für Religion und Hebräisch als auch seine Promotion in orientalischer Philologie gemacht. Nach vertieften Studien und Reisen wurde er 1906 zum ordentlichen Professor für Orientalistik nach Straßburg berufen, wechselte 1914 nach Göttingen, 1917 nach Bonn und schließlich 1921 nach Tübingen, wo er bis zu seiner Emeritierung 1951 blieb[Vgl. Axel Knauf, Enno Littmann, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 5, Herzberg 1993, Sp. 134-136)].]

Kamke stellte schließlich den Antrag, Heidegger von der Liste zu streichen, über den aber nicht abgestimmt wurde. Stattdessen votierte der Senat dieses Mal mit 31 zu 8 Stimmen für den Vorschlag der Fakultät, woraufhin Kamke noch in der Sitzung einen Sonderbericht an den Rektor sowie an den Kulturdirektor Carlo Schmid ankündigte. Dieser Bericht wurde am 3. Dezember 1945 fertiggestellt und begründet detailliert das „Sondervotum“ von sieben Professoren, die „mit Nachdruck bitten, von Heideggers Berufung nach Tübingen abzusehen". Kamke charakterisiert in diesem Bericht Heidegger als „Prophet der Zeitkrisis“, dessen Sprache ein Symptom der „Pathologie unserer Zeit“ seien. Als Belegzitat gab Kamke laut Oesterle an: „Die Nichtung läßt sich nicht in Vernichtung und Verneinung aufrechnen. Das Nichts selbst nichtet"[Das Originalzitat stammt aber bereits aus der Freiburger Antrittsvorlesung „Was ist Metaphysik?“ von 1929 und lautet ohne Auslassung: „Erforscht werden soll das Seiende und sonst – nichts; das Seiende al-lein und weiter – nichts; das Seiende einzig und darüber hinaus – nichts. Wie steht es um dieses Nichts? – Gibt es das Nichts nur, weil es das Nicht, d. h. die Verneinung gibt? Oder liegt es umgekehrt? Gibt es die Verneinung und das Nicht nur, weil es das Nichts gibt? – Wir behaupten: das Nichts ist ursprünglicher als das Nicht und die Verneinung. – Wo suchen wir das Nichts? Wie finden wir das Nichts? – Wir kennen das Nichts. – Die Angst offenbart uns das Nichts. – Wovor und worum wir uns ängsteten, war „eigentlich“ – nichts. In der Tat: das Nichts selbst – als solches – war da. – Wie steht es um das Nichts? – Das Nichts selbst nichtet.“ (Martin Heidegger, Was ist Metaphysik?, in: Wegmarken, Gesamtausgabe, Bd. 9, Frankfurt am Main 1976, S. 105 f.).]

Eine solche Sprache stelle eine Gefahr für die gegenwärtige Generation dar. Während des Rektorats von 1933/34, so Kamke weiter, habe Heidegger sich als „höchst aktiver Nationalsozialist" ins Zeug gelegt, die Universitätsverfassung zerschlagen und das Führerprinzip durchgesetzt. Heidegger habe einen „nicht unwesentlichen Teil von Schuld für die jetzigen Leiden unseres Volkes zu tragen". Außerdem sah er – wie auch der Senatsberichterstatter Steinbüchel – in der Berufung eines so belasteten Mannes eine „Kränkung" und „Ungerechtigkeit“ gegenüber allen kurz zuvor aus politischen Gründen suspendierten Kollegen, in Tübingen 1945/46 immerhin 29 Professoren, darunter auch der unmittelbare Lehrstuhl-Vorgänger Theodor Haering.

In Freiburg übernahm unterdessen, nachdem Heidegger im Oktober einen Antrag auf Emeritierung und im November einen weiteren auf Reintegration gestellt hatte, Anfang Dezember die Philosophische Fakultät das Anliegen und stellte ihrerseits einen Antrag auf Reintegration und Emeritierung Heideggers. Anfang Dezember hatte aber auch Dietze der Bereinigungskommission sein aufgrund von Kritik überarbeitetes Gutachten vorgelegt, infolgedessen es am 11. und 13. Dezember zu weiteren Befragungen Heideggers vor der Kommission kam. Diese Befragungen brachten aber wohl noch keine neuen Erkenntnisse brachte, sogar im Blick auf Anschuldigungen, Heidegger habe sich antisemitisch geäußert oder antijüdisch verhalten, zumindest eine Relativierung, in manchen Punkten sogar eine Revision [Bernd Martin, Martin Heidegger und das „Dritte Reich“. Ein Kompendium, 1989, S. 43]. Allerdings einigte man sich – auf Vorschlag Heideggers -, über das Kommissionsmitglied Friedrich Oehlkers um ein weiteres Gutachten bei Karl Jaspers anzufragen.

[Der Pastorensohn, Biologe, Zoologe, Botaniker und Chemiker Friedrich Oehlkers (1890-1971) hatte 1917 im Bereich der Botanik promoviert. Im November 1922 hatte er sich dann an der Universität Tübingen habilitiert, wo er bis 1925 als Privatdozent arbeitete. Von 1928 bis 1932 war er Ordinarius an der Technischen Hochschule Darmstadt und war dann im April 1932 nach Freiburg auf den Lehrstuhl der Botanik gewechselt. Aufgrund der jüdischen Herkunft seiner Frau Frances Ida Schwarzschild, war er ab 1933 ständigen Schikanen ausgesetzt, ging aber seiner Forschungsarbeit weiter nach. Oehlkers gehörte zusammen mit Constantin von Dietze, Gerhard Ritter, Adolf Lampe und der katholische Theologe Arthur Allgeier – Allgeier war ab 20. Dezember 1945 Rektor der Universität – zum „Bereinigungsausschuss“. Für den Heidegger-Gegner Adolf Lampe war es – angesichts der ständigen Bedrohung von Oehlkers Frau, ins Konzentrationslager zu kommen, und der Verfolgung von Oehlkers Sohn, der infolgedessen während des Krieges den Freitod wählte, völlig unverständlich, setzte er sich in diesem Ausschuss auch für „belastete“ Hochschulangehörige ein, auch für Martin Heidegger.]

Mit diesen „doppelt“ offenen Situationen in Tübingen und Freiburg ging man ins neue Jahr, war aber offensichtlich davon ausgegangen, dass man den Fall mit einer Emeritierung regeln kann, so dass Heidegger nicht mehr auf den Lehrstuhl zurückkehren werde, unabhängig davon, ob er als Emeritierter in den Lehrbetrieb reintegriert werden könnte.

Maurice de Gandillacs Bericht von einem Besuch bei Heidegger (Dezember 1945)

Im Januar 1946 erscheint in der Zeitschrift „Les temps modernes“ der Bericht über den Aufenthalt des französischen Philosophen Maurice de Gandillacs (1906-2006), damals als Repräsentant der Besatzungsmacht Frankreich, bei Martin Heidegger in Zähringen. Interessant ist dabei, dass Heidegger dabei auch seine Freundschaft mit Guardini zum Thema macht:

„Son cabinet de travail est d'une nudité presque monacale. (Heidegger nous rappelle avec un sourire ambigu qu'il fut d'abord „théologien“ et qu'il est resté dans les meilleurs termes avec Romano Guardini.)“[Maurice de Gandillac: Entretien avec Martin Heidegger, in: Les temps modernes, 1, 1945/46, 4 (Januar 1946), S. 713-716, hier S. 714. Meine Übersetzung: „Sein Arbeitszimmer wirkt in seiner Nacktheit fast klösterlich. (Heidegger erinnert uns mit einem zweideutigen Lächeln daran, dass er zunächst „Theologe“ war und mit Romano Guardini weiterhin gute Beziehungen pflegte.)“]

Gemäß einer späteren Datierung des Besuchs mit „1945“ ist der Besuch wohl auf Ende Dezember 1945 zu legen [Vgl. dazu sein Interview „Je n´envisage pas la possibilité d'un socialisme réussi“ mit der Zeitschrift „Le Figaro Magazine“: „Juste après la guerre, vous avez rencontré Heidegger… M. G. – C´était en 1945, à Fribourg-en-Brisgau. J´ai vu Martin Heidegger provisoirement suspendu d´enseignement. Sans nouvelles de ses deux fils prisonniers des Russes, dans son bureau à la nudité monacale, il donnait l'impression d'un homme accablé.“ (Le Figaro Magazine, 945-948???, 1998, S. 45)].

Die erste Vermittlungstätigkeit durch Johannes Spörl (Dezember 1945)

Johannes Spörl hatte – seinem Brief von Ende März/Anfang April 1946 zufolge (siehe unten) – Guardini wohl noch kurz nach Weihnachten diesen neuen Stand mitgeteilt, dass es nämlich „um Weihnachten“ so aussah, als dass Heidegger „nicht mehr zurückkehren“ könne und man daher Guardini „als seinen Nachfolger“ wolle. Tatsächlich gibt es eine briefliche Antwort Guardinis vom 6. Januar 1946 auf diese nicht mehr erhaltene Mitteilung:

Q017

Auszug aus Brief von Romano Guardini an Johannes Spörl vom 6. Januar 1946 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1239]

Zusammenfassung wird noch erfolgen.

Die Entscheidung in Tübingen für Gerhard Krüger (Januar 1946)

Schließlich entschieden sich die Gremien in Tübingen Anfang Januar für Gerhard Krüger. Am 11. Januar 1946 informierte Fakultät und Senat gemeinsam Carlo Schmids Behörde, dass Krüger den Lehrstuhl erhalten solle. Heidegger hatte Gerhard Krüger in seinem Brief an Stadelmann vom 1. September 1945 selbst an zweiter Stelle nach Gadamer und vor Karl Löwith für Tübingen empfohlen:

„Krüger ist, wie mir Tellenbach sagt, nach Münster zurückgekehrt. Gründlich, auf dem Gebiet der Geschichte der neueren Philosophie sehr gut, hat er von Bultmann und Marburg her Neigungen zur Theologie, vielleicht etwas doktrinär und mir etwas zu berlinisch. […] Mit jedem der drei würde die Fakultät unbedingt gut wählen“[Brief von Martin Heidegger an Rudolf Stadelmann vom 1. September 1945, in: Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, Gesamtausgabe, Bd. 16, a.a.O., S. 395].

Da Heidegger vermutlich im Januar selbst nicht mehr mit der Möglichkeit eines Rufs aus Tübingen an sich selbst gerechnet hatte, dürfte er mit der „Wahl“ seines Schülers Gerhard Krüger auch jetzt noch durchaus einverstanden gewesen sein.

Die „verspätete“ Antwort Guardinis an Heidegger im Januar 1946

Aufgrund dieser Diskussionen in Tübingen verwundert es nun aber auch nicht mehr so stark, warum Guardini den Brief Heideggers vom August 1945 erst fünf Monate später und genau drei Tage nach der Tübinger Entscheidung für Gerhard Krüger beantwortet hat, auch wenn er die lange Verschiebung der Antwort im Brief gegenüber Heidegger selbst natürlich anders begründete. Wenn Heidegger nach Tübingen berufen worden wäre, wäre Heidegger ein Wechsel von Guardini nach Freiburg „an seiner Statt“ vermutlich „absurd“ erschienen, war doch das eigentliche Ziel der Anfrage Heideggers vom August 1945, den als Freund angesehenen Kollegen in Freiburg „neben sich“ zu haben.

Q018

Briefdurchschlag von Romano Guardini an Martin Heidegger vom 14. Januar 1946 [BSB Ana 342, B 12/007, auszugsweise bereits publiziert in: Hugo Ott, 1985]

Die Zusammenfassung wird noch erfolgen.

Heideggers Lage in Freiburg (Januar 1946)

Anfang 1946 hatte sich aber auch Heideggers Lage in Freiburg verschlechtert. Aufgrund der veränderten Situation in der Bereinigungskommission sowie des gemeinsam von Heidegger und dem Ausschuss angeforderten Gutachtens von Karl Jaspers, das Heidegger nicht entlastete, sondern die anklagenden Punkte bekräftigte, fällte der Freiburger Senat am 19. Januar 1945 sein Urteil: Emeritierung unter Entzug der Lehrbefugnis; außerdem wurde Heidegger Zurückhaltung in der Öffentlichkeit auferlegt. So schrieb Heidegger es dann auch vier Tage später, am 23. Januar 1946, selbst an Rudolf Stadelmann nach Tübingen. Er beantwortet damit den ihm von Herrn Vogt übergebenen Brief Stadelmanns [Brief von Martin Heidegger an Rudolf Stadelmann vom 23. Januar 1946, in: ders., Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, Gesamtausgabe, Bd. 16, S. 419 ff. Der handschriftliche Brief Heideggers liegt im Bundesarchiv Koblenz, R. 183 – Nachlass Stadelmann]:

Heidegger beginnt damit, dass er mit der Antwort warten wollte, "bis sich hier die Lage klärte". Sodann schildert er den aktuellen Stand:

"Heute hat mir der Rektor (gemäß ausdrücklichem Beschluß des Senats nur mündlich) eröffnet, daß der Senat mein am 8. Oktober 1945 eingereichtes Emeritierungsgesuch einstimmig bewilligt habe, allerdings unter „Versagung der Lehrtätigkeit auf unbefristete Zeit“. Später soll bei Wohlverhalten geprüft werden, ob und wie ich vielleicht wieder zu einer Lehrtätigkeit zugelassen werden soll. Es könnte dann sogar (nach einem Gutachten von Jaspers über mich) das „der Universitätsidee Gegnerische und Gefährliche“ in meinem Denken zur Geltung kommen. Der Senat läßt mir durch den Rektor empfehlen, mich in der Öffentlichkeit bis auf weiteres völlig zurückzuhalten. Unser Haus soll geschützt bleiben, damit ich arbeiten könne. Der Senat habe davon abgesehen, einem (ebenfalls von Jaspers vorgeschlagenen) Antrag auf Pensionierung stattzugeben."

Heidegger bedankt sich bei Stadelmann für sein "schönes und freundschaftliches und wohl auch kräfteanzehrendes Bemühen", auch wenn es nicht erfolgreich war. Aufgrund einer kurzen Andeutung seines Freundes Kurt Bauch, daß nach Stadelmanns Mitteilungen ihm gegenüber "in Tübingen kein besonderer Mut mehr sei, es mit mir zu wagen", habe er das "nach den hiesigen Vorgängen und der Schlußbemerkung" von Stadelmanns letztem Brief "nicht anders erwartet".

"Die hiesige Philosophische Fakultät wird sich vom Vorgehen des Senats distanzieren. Praktisch sind die Würfel über mein Verhältnis zur Universität gefallen."

Daher bat Heidegger abschließend Stadelmann, in der Sache nichts mehr zu unternehmen, denn dies hätte "nur neue Störungen und Verwicklungen" zur Folge. Stattdessen sollten "gerade die Philosophischen Fakultäten zu ihrer Arbeit zurückkehren" können - und Heidegger ergänzt "vielleicht auch zur Besinnung".

Der Brief endet mit einem Hölderlin-Bezug:

"Schön wäre es und erfreuend, wenn wir uns im Verlauf dieses Jahres einmal in ruhigen Stunden länger sprechen könnten. Ich habe das Gefühl, daß noch einmal hundert Jahre der Verborgenheit nötig sind, bis man ahnt, was in Hölderlins Dichtung wartet. „… Lang ist / Die Zeit, es ereignet sich aber / Das Wahre.“"

Ein erster „Wink nach Tübingen“

Das Ende eines Werbens um Heidegger von Seiten einiger Tübinger Persönlichkeiten ging aber nicht einher mit einem ebensolchen Ende des Werbens um Guardini von Seiten einiger Freiburger Persönlichkeiten und Institutionen. So schrieb Martin Heidegger am 6. März 1946 an seinen Freund Kurt Bauch:

„Lieber Freund! Der Wink nach Tübingen ist sogleich besorgt worden. G. [Guardini] soll München bereits abgelehnt haben und keine besondere Neigung für die Atmosphäre des Freiburger Ordinariats verspüren“[Martin Heidegger – Kurt Bauch. Briefwechsel 1932-1975, hrsg. und kommentiert von Almuth Heidegger, Freiburg i. Br./München 2010, S. 103].

Noch nicht zu Ende geklärt werden konnte, die Frage, worauf sich der in Martin Heideggers von Badenweiler aus an Kurt Bauch geschickte Brief vom 6. März erwähnte „Wink“ genau bezogen hat. Er dürfte aber bereits mit diesem Wunsch zu tun gehabt haben, Guardini doch noch nach Freiburg zu holen.

[Kurt Bauch (1897-1975), seit 1932 freundschaftlich mit Heidegger verbunden, war zum Sommersemester 1933 auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Universität Freiburg berufen worden. Er wurde 1939 zur Wehrmacht eingezogen und war bei der Marine, zuletzt als Korvettenkapitän, bis er 1944 nach Freiburg zurückkehrte. Obwohl seit 1. Mai 1933 NSDAP-Mitglied und als Referent für Wissenschaft im NS-Dozentenbund tätig, wurde Bauch selbst am 15. Dezember 1948 als „Mitläufer“ und im Revisionsverfahren 1950 als „Entlasteter“ eingestuft und konnte ungehindert bis 1962 weiterlehren.]

Die zweite Vermittlung durch Johannes Spörl (Ende März/Anfang April 1946)

Nach dem Tod Honeckers war der Lehrstuhl 1943 konkordatswidrig mit dem auf Psychologie spezialisierten Robert Heiß (1903-1974) besetzt worden, der aber von einigen NS-Dozentenführern als „politisch nicht zuverlässig” eingestuft worden war. Einen Lehrauftrag für Philosophie an der katholischen Fakultät der Universität Freiburg erhielt daraufhin der Philosoph Vinzenz Rüfner (1899-1976), NSDAP-Mitglied seit 1940. Heiß wurde im November 1945 von der französischen Militärregierung im Amt bestätigt und als „politisch Unbelasteter” 1946 Dekan der Philosophischen Fakultät. Nachdem die Kritik an der Besetzung des Konkordatslehrstuhls mit Heiß zunahm, wurde innerhalb der Fakultät eine Umordnung vorgenommen. So konnte im Frühjahr der Konkordatslehrstuhl wieder zur Neubesetzung frei gegeben werden. Heiß gehörte als Dekan zum Kreis derer, die nun sowohl für die Berufung Guardinis nach Freiburg als auch für die endgültige Klärung der „Causa Heidegger” zuständig waren. Diese Kreise hatten wohl zunächst Johannes Spörl beauftragt, bei Guardini in der Sache Konkordatslehrstuhl „vorzufühlen“. Mit dem 27. März 1946 datiert ist im Nachlass von Johannes Spörl ein noch stark handschriftlich bearbeiteter Briefentwurf an Romano Guardini zu finden, in dem dieser ihm die Freiburger Wünsche übermittelte. Der Originalbrief ist bislang nicht aufgefunden worden. Das ursprüngliche Typoskript besagte:

Q019

Briefentwurf von Johannes Spörl an Romano Guardini vom 27. März 1946 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1240]

Zusammenfassung wird noch erstellt werden.

Q020

Auszug aus einem Brief von Romano Guardini an Johannes Spörl vom 4. April 1946 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1241]

Zusammenfassung wird noch erstellt werden.

Das hier angesprochene Festschriftheft liegt in den Ansätzen ebenfalls im Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern [Nr. 1201]. Darin befinden sich die bereits abgegebenen, zum Teil nicht weiter veröffentlichten Beiträge von Otto Karrer („Die geistige Krise des Abendlandes in der Prognose Kardinal Newmans“), von Dieter Sattler („Zum Wiederaufbau der Stadt München. Ein Vortrag“), von Heinrich Scholz („Theologische Fragmente eines Nicht-Theologen“), von Alexander Scharff („Vom altägyptischen Weltengott“), von Walter Dirks („Spiel der Pilger. Überlegungen zum Charakter der Musik“), und andere. Dazu Listen von eingeladenen, noch einzuladenden, zusagenden und absagenden Autoren. Auf einer steht „noch einzuladen? Heidegger Martin …“ Ob Spörl Heidegger angefragt hat, bevor das Projekt aufgegeben wurde und ein Teil der für die Festschrift geplanten Beiträge nach und nach im von Spörl herausgegebenen „Historischen Jahrbuch der Görres-Gesellschaft“ erschienen sind, ist aus dieser Quelle nicht klärbar. Eine Berufung auf einen philosophischen Lehrstuhl hatte Guardini gegenüber Heidegger abgelehnt mit dem Argument, er sei für dieses Fach „nach 16 Jahren Arbeit in der Selbstständigkeit Berlins verdorben.“ Ähnlich argumentierte er nun wieder gegenüber Johannes Spörl: Er sei „kein systematischer Philosoph, sondern ein philosophischer Interpret.“ Daher gehöre er „nicht auf diesen Lehrstuhl.“

Q021

Briefdurchschlag von Romano Guardini an Johannes Spörl vom 4. April 1946 [BSB, B 1-3-069, auszugsweise zitiert bei Gerl, 1985, S. 331; Originalbrief]

Zusammenfassung wird noch erstellt werden.

Briefwechsel zwischen Franz Büchner und Romano Guardini (Mai 1946)

Anfang Mai 1946 meldete sich erstmalig der Freiburger Mediziner und Pathologieprofessor Franz Büchner (1895-1991) bei Guardini. Er weist in diesem, seinem „ersten“ Brief an Guardini nicht nur auf seine Werkkenntnis, sondern auch auf seine freundschaftlichen Beziehungen zu Spörl, von Gebsattel und Oehlkers hin.

Nachdem der als „streng katholisch“ geltende Franz Büchner 1921 an der Universität Gießen seine Studien mit Staatsexamen und Dissertation zum Dr. med. abgeschlossen hatte, wirkte er ab Oktober 1922 am Pathologischen Institut der Universität Freiburg, wo er sich zum Facharzt weiterbildete und 1927 für Pathologie habilitierte. Anschließend wirkte er als Privatdozent und Oberarzt, 1931 wurde er zum außerordentlichen Professor ernannt. 1933 wurde er zunächst zum Direktor es Pathologischen Instituts am Berliner Krankenhaus im Friedrichshain, dann 1934 zum außerordentlichen Professor an der Berliner Universität. Zu diesem Zeitpunkt wurde er auch zum Mitglied der berufsspezifischen nationalsozialistischen Organisationen, nicht aber der NSDAP. 1936 wechselte er an die Universität Freiburg zurück, wo er bis zu seiner Emeritierung 1963 den Lehrstuhl für Pathologie und das Direktorat des Pathologischen Instituts innehatte. 1938 wurde er zum Beratenden Pathologen in der Sanitätsinspektion der Luftwaffe ernannt und leitete ab Anfang Januar 1940 das seinem Institut in Freiburg angeschlossene „Institut für Luftfahrtmedizinische Pathologie des Reichsluftfahrtministerium“, das sich der Luftwaffenforschung widmete.

Trotz seiner Stellung als „oberster Arzt für pathologische Zweckforschung“ übte er in seinem Vortrag „Der Eid des Hippokrates“ am 18. November 1941 im Volksbildungswerk Freiburg deutliche Kritik an der nationalsozialistischen Euthanasiepraxis. Diesen Vortrag legte Büchner seinem Brief an Guardini bei. Der Vortrag gilt als einzig bekannter öffentlicher Protest eines prominenten Mediziners gegen diese Verbrechen. Trotz seiner Kritik konnte er seine Stellung behalten, legte sie seinerseits aber auch nicht nieder. Und dies obwohl Büchner wohl doch mehr Kenntnisse über die nationalsozialistischen „Versuche am Menschen“ in den Konzentrationslagern hatte, als er nach 1945 einräumte [Bernd Martin, Die Freiburger Pathologie in Kriegs- und Nachkriegszeiten (1906-1963), 2018].

Bereits ab dem 11. Mai 1945 sprach Büchner sich für den überkonfessionellen Aufbau neuer demokratischer Parteien auf und gründete am 17. Juli 1945 gemeinsam mit Constantin von Dietze die „Christliche Arbeitsgemeinschaft“, eine der beiden Vorläuferorganisation der am 22. Oktober 1945 gegründeten „Badischen Christlich-Sozialen Volkspartei“ (BCSV) und somit der CDU. Ob Guardini zu diesem Zeitpunkt Büchner aus der Erinnerung an dessen Teilnahme bei Guardinis Vorträgen in Freiburg 1931 und Salzburg 1932 oder namentlich über Spörl oder Gebsattel schon „kannte“, ist wohl nicht mehr zu klären. Büchners Formulierungen über Heideggers Wertschätzung gegenüber Guardini und über dessen Sehnsucht nach christlicher Geborgenheit legen einen persönlichen Austausch der beiden Freiburger Professoren nahe.

Q022

Brief von Franz Büchner an Romano Guardini vom 3. Mai 1946 [BSB Ana 342, C 1-12-6]

Zusammenfassung wird noch erfolgen.

Während die Anfrage Spörls, wie gesehen, noch vorliegt, ist von einer schriftlichen Anfrage Gebsattels bislang nichts bekannt geworden. Diese kann aber natürlich auch im Rahmen einer persönlichen Begegnung geschehen sein, wie zum Beispiel auf der besagten Tagung in Salem im April 1946.

Ob ein Treffen zwischen Büchner und Guardini am 24. Mai 1946 in Tübingen stattfand, konnte nicht geklärt werden. Außerdem bleibt völlig unklar, warum Büchner, der natürlich als Prorektor der Hochschule mit diesen Fragen auch offiziell zu tun hatte, sich völlig ohne Verweis auf den Rektor, den katholischen Theologen Arthur Allgeier (1882-1952), an Guardini wendet, obwohl es sich doch um den Ruf auf einen Konkordatslehrstuhl für Philosophie handelte, der gerade eben auch die Theologiestudenten zu unterrichten hatte.

Die Lösung mit dem planmäßigen Extraordinariat für Philosophie für Max Müller berichtet schon Hugo Ott [Brief von Franz Büchner an Guardini vom 2.[???] Mai 1946, berichtet nach Ott, Hugo: Um die Nachfolge Martin Heideggers, in: Gethmann-Siefert, Annemarie (Hrsg.): Philosophie und Poesie. Otto Pöggeler zum 60. Geburtstag, Bd. 2, Stuttgart-Bad Cannstatt 1988, S. 44f.]. Ob diese mit dem Rektor und mit der Katholisch-Theologischen Fakultät zu diesem Zeitpunkt abgesprochen war, erschließt sich mir bislang auch nicht aus der Sekundärliteratur. Die geplante Entlastung hatte sich allerdings mit der Absage Guardinis am 20. Mai 1946 ohnehin erübrigt.

[Der Alttestamentler Arthur Allgeier wurde 1910 an der Universität Freiburg zum Dr. theol. und 1914 an der Universität Berlin zum Dr. phil. 1915 habilitierte er sich an der Universität Freiburg und wurde 1919 Lehrstuhlinhaber in Freiburg. Allgeier war von 1929 bis 1941 Generalsekretär der Görres-Gesellschaft und ab 1941 Konsultor der Päpstlichen Bibelkommission. Er war vor allem auf dem Gebiet der lateinischen Psalmenüberlieferung tätig. Daher dürfte ihm kaum der Übersetzungsauftrag der Deutschen Bischofskonferenz an Romano Guardini entgangen sein. Außer seiner Rezension für die „Theologische Literaturzeitung“ im Jahr 1951 ist allerdings bislang keinerlei Bezug zwischen Guardini und Allgeier herstellbar.]

Q023

Brief von Romano Guardini an Franz Büchner vom 20. Mai 1946 [Entwurf BSB, C 112-6 sowie Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1197; Abschrift an Dekan Robert Heiß in Universitätsarchiv Freiburg B 3 77]

Zusammenfassung wird noch erfolgen.

Q024

Auszug aus einem Briefdurchschlag von Romano Guardini an Johannes Spörl vom 20. Mai 1946 [BSB Ana 342, B 1-3-069, auszugsweise schon zitiert bei Gerl, 1985, S. 331]

Zusammenfassung wird noch erfolgen.

Wiederholt lehntee Guardini also Freiburg auch als zu „geschlossenen Raum“ ab; ihn zog es offensichtlich stärker in eine Großstadt zu gehen.

Nach der Absage Guardinis standen Alois Dempf, Jakob Barion und Max Müller auf der Dreierliste der Fakultät. Den Ruf angenommen hat schließlich Max Müller, der den Lehrstuhl dann noch im ausgehenden Sommersemester 1946 übernahm.

Heideggers Kuraufenthalt in Hausbaden von Februar bis Mai 1946 und die Rolle Viktor E. von Gebsattels bei den Berufungsanfragen an Guardini

Nach einem körperlichen Zusammenbruch Heideggers, war Heidegger von Ludwig Binswanger ein Aufenthalt in Badenweiler in der von Viktor E. Gebsattel geleiteten psychosomatischen Klinik des Deutschen Caritasverbandes angeraten worden. Diesen Rat befolgte Heidegger und hielt sich von Februar bis Ende Mai 1946 über drei Monate im Sanatorium Schloss Haus Baden (auch „Hausbaden“) auf.

Bis heute ist nicht völlig geklärt, wie es zu Heideggers abweichender Darstellung gegenüber Petzet gekommen ist, dass er nach seiner erneuten Befragung Mitte Dezember 1945 einen Zusammenbruch hatte, auf den ein dreiwöchiger Aufenthalt in Badenweiler folgte [Hugo Ott, Martin Heidegger – Mentalität der Zerrissenheit, in: Freiburger Diözesan-Archiv, 110, 1990, S. 427-448, hier S. 429; ähnlich ders., Biographische Gründe für Heideggers „Mentalität der Zerrissenheit“, in: Peter Kemper (Hrsg.), Martin Heidegger – Faszination und Erschrecken. Die politische Dimension einer Philosophie, Frankfurt am Main/New York 1990, S. 13-29]. So heißt es bei Petzet – ausgewiesen als Zitat Heideggers:

„Als ich damals – im Dezember 1945 – völlig unvorbereitet vor der Fakultät in das Inquisitionsverhör der dreiundzwanzig Fragen genommen wurde und darauf zusammenbrach, kam der Dekan der Medizinischen Fakultät, Beringer (der den ganzen Schwindel und die Absichten der Ankläger durchschaut hatte) zu mir und fuhr mich einfach weg nach Badenweiler zu Gebsattel. Und was tat der? Er stieg erst mal mit mir durch den verschneiten Winterwald auf den Blauen. Sonst tat er nichts. Aber er half mir als Mensch. Und nach drei Wochen kehrte ich gesund zurück“[Petzet/Heidegger, Auf einen Stern zugehen, a.a.O., 1983, S. 52].

Dies dürfte aber wohl an einer falsch erinnerten Darstellung der Aussage von Seiten Petzets liegen, der sich des Öfteren in der Zuordnung von Namen und Zeiten irrt, so dass die Dezember-Befragung als pars pro toto für die Befragungen im Dezember und Januar stehen würden, die dann im Januar zu Heideggers Zusammenbruch geführt haben; und dass in der Erinnerung aus „drei Monaten“ irgendwie „drei Wochen“ wurden.

Die Wanderung auf den Blauen ist auch verbürgt durch einen Geburtstagsbrief Heideggers vom 25. Januar 1973 an Gebsattel. Im Brief heißt es:

Q025

Auszug aus einem Brief von Martin Heidegger an Viktor E. von Gebsattel vom 25. Januar 1973 [DLA Marbach]

Zusammenfassung wird noch erfolgen

Daher ist die aus der Erinnerung Heideggers bei Petzet oft geschlossene Annahme, dass die Aussage „Sonst tat er nichts. Aber er half mir als Mensch“ auch den Verzicht auf persönliche Gespräche einschloss, nicht richtig ist. Dass Heidegger diese Gespräche mit Gebsattel nicht als therapeutisch im engeren Sinne empfand, kann man dabei auf sich beruhen lassen.

Q026

Widmung Heideggers an Gebsattel in „Hölderlins Hymne: `Wie wenn am Feiertage …´ vom Mai 1946 (DLA Marbach)

Im Deutschen Literaturarchiv Marbach befindet sich dazu eine handschriftliche Buchwidmung Heideggers an Gebsattel in seiner Schrift „Hölderlins Hymne `Wie wenn am Feiertage …´“ aus dem Mai 1946 ((HH. Kps (Hölderlin, Fr.))

Die Widmung trägt "Frbg." für Freiburg und den "16. Mai 46" als Ort und Datum und denkt ausdrücklich "an das Frühjahr 1946".

Außerdem gibt es mehrere Briefe Heideggers an seine Frau Elfride von Badenweiler nach Freiburg vom 17. Februar 1946 bis zum 8. Mai 1946 [Heidegger, „Mein liebes Seelchen!“, a.a.O., S. 240-250]. So schrieb Heidegger im März 1946 an seine Frau im Zusammenhang mit seinem Kuraufenthalt in Hausbaden auch über eine bevorstehende Tagung in Salem, an der laut seinem Arzt Viktor E. von Gebsattel auch Viktor von Weizsäcker, Guardini und F. G. Jünger teilnehmen sollten:

„G.[Gebsattel, HZ] meint, ich solle ja nicht vorzeitig abbrechen. Er fährt erst am 8. April über Freiburg nach Überlingen zu seiner Tochter u. zu einer Tagung in Salem mit Weizsäcker (Heidelb.), Guardini u. F. G. Jünger“[Martin Heidegger, „Mein liebes Seelchen!“ Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride 1915-1970, hrsg., ausgewählt und kommentiert von Gertrud Heidegger, München 2005, S. 246].

Eine solche Tagung beim Markgrafen von Baden in Salem ist – allerdings ohne einer Teilnahme Guardinis – zwar für Oktober 1945 bekannt [G.B., Die Erziehung der deutschen Jugend. Eine pädagogische Tagung auf Schloß Salem, in: Südkurier (Konstanz), 26. Oktober 1945; vgl. dazu auch: Daniel Morat, Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger, 1920-1960, Göttingen 2007, S. 333]; die hier konkret angesprochene im April oder Mai 1946 hingegen konnte bislang noch nicht identifiziert werden. Wohl aber könnte es in diesem Zusammenhang zu einem Austausch zwischen Guardini und Gebsattel über die Freiburger Berufungswünsche gekommen sein.

Heidegger war schließlich noch einmal im Frühjahr 1948 auf Einladung des Ehepaars Krohn für einige Zeit in Hausbaden, wie aus Briefen an seine Frau Elfride vom 2. März 1948 [Heidegger, „Mein liebes Seelchen!“, a.a.O., S. 253 f.] und an Elisabeth Blochmann vom 21. März 1948 [Heidegger/Blochmann, Briefwechsel 1918-1969, 1989, S. 95] hervorgeht. Auch Anfang April ist Heidegger wieder in Badenweiler. Von dort aus suchte er jeweils auch das Gespräch mit Gebsattel, soweit dieser in der Klinik anwesend war.

Heidegger blieb Gebsattel noch lange über diese Aufenthalte hinaus verbunden, wie sein Beitrag „Grundsätze des Denkens“ zum Festschrift-Band des „Jahrbuchs für Psychologie und Physiotherapie“ [Martin Heidegger, Grundsätze des Denkens, in: Jahrbuch für Psychologie und Physiotherapie, 6, 1958, S. 33-31] zeigt und wie es zahlreiche Briefe auch noch Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre dokumentieren [Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlass Martin Heidegger. Der Nachlass enthält nach Ausweis des Kalliope-Verbunds wechselseitige Briefe von 1965 bis 1973].

Guardini kennt Viktor Emil von Gebsattel (1883-1976) schon aus seinen ersten Berliner Jahren. Ob allerdings auch die Stelle im Brief an seinen Freund Josef Weiger vom 19. November 1924 auf diesen Gebsattel oder einen Verwandten gemünzt ist, kann noch nicht endgültig geklärt werden. Im Brief heißt es:

„Gestern war ich bei der Baronin v. Gebsattel. Sie ist protestantisch; ihr Mann katholisch (eine ganz feine Persönlichkeit; voll lebendigen philosophischen Interesses, wirkt im Auswärtigen Amt, glaube ich.) Sie hatte um jemand gebeten, der sie in katholischen Dingen unterrichte, damit sie bei der Erziehung ihrer katholischen Kinder Bescheid wisse in deren Glauben. (Wie einem die Unnatur dieses so häufigen Verhältnisses an einem solchen Fall klar wird, nicht?) Ich habe niemand gewußt, und mich dann selbst entschlossen. Alle 14 Tage, nach dem Kolleg, das sie übrigens auch besucht. Ich bereue es nicht, zugesagt zu haben. Es ist eine Luft von so schlichter Vornehmheit, daß sie einem im Herzen wohltut. Sie weiß auch bereits viel, und als ich fragte, ob ihr die Lesung von Bartmanns Grundriß (nicht Lehrbuch) der Dogmatik zusagen würde, wobei ich kein Hehl aus seiner Trockenheit machte, meinte sie, im Gegenteil, Ordnung und Verständlichkeit gefielen ihr gerade, und für Dogmatik habe sie immer viel Interesse gehabt. So ist die Sache leichter“[Guardini, Briefe an Josef Weiger, a.a.O., S 258 f.].

Tatsächlich war Karoline von Falkenheyn, die Frau Viktor von Gebsattels, zunächst evangelisch. Die Angaben bezüglich ihrer Konversion sind sehr unterschiedlich. Es ist nicht ganz eindeutig, ob sie kurz vor der Heirat katholisch wurde oder erst in späteren Jahren. Allerdings passt dazu im Brief nicht Guardinis Vermutung, dass der Baron von Gebsattel im Auswärtigen Amt wirke. Dies würde eher auf den Onkel Viktors, den Generalkonsul Fritz Freiherr von Gebsattel (1868-1939) zutreffen, der seit 1909 kaiserlicher Generalkonsul in Prag war, von dort aus aber 1919 ausgewiesen wurde und nach Berlin ins Außenministerium versetzt wurde. Allerdings war er zu diesem Zeitpunkt schon 56 Jahre alt und von seiner Frau und seinen Kindern ist mir nichts bekannt. Aber auch ein Cousin von Viktor von Gebsattel war zeitweise im Auswärtigen Amt tätig: Franz Freiherr von Gebsattel, der allerdings ab 1919 den Familiensitz im bayerischen Gebsattel führte. Dieser hatte zwar 1919 Theresia Gräfin von Ueberacker, Freiin zu Sighartstein, geheiratet und das Paar hat ebenfalls 1920 einen Sohn und 1922 eine Tochter bekommen. Allerdings ist das Salzburger Adelsgeschlecht derer von Ueberacker und zu Sighartsein von Haus aus katholisch.

Von daher ist davon auszugehen, dass Guardinis Vermutung („ich glaube“) falsch ist. Dann dürfte er aber Gebsattel zu diesem Zeitpunkt noch nicht besser kennengelernt haben. Dies würde dann auch die theoretische Möglichkeit ausschließen, dass Gebsattel und Guardini sich sogar schon in Guardinis beiden Münchner Studiensemestern kennengelernt haben könnten, da der Kunsthistoriker, Philosoph und Psychologe Gebsattel in München sein Studium beendete und 1906 bei Theodor Lipps mit einer psychologischen Arbeit über Gefühlsirradiation promovierte. Da Gebsattel auf väterlichen Wunsch hin die Diplomatenlaufbahn einschlagen sollte, hatte er anfänglich Jura studiert, ging aber bereits nach einem Jahr nach Paris, wo er beim Philosophen Bergson gehört und Rainer Maria Rilke kennengelernt hatte, dann nach Berlin zu Dilthey und schließlich eben nach München zu Lipps wechselte. Es folgte eine lange Zeit der freien Schriftstellerei, verbunden mit vielen Reisen und Begegnungen mit den Künsten und Künstlern. Schließlich verlagerte sich sein Interesse auf die Psychotherapie. Er machte eine psychoanalytische Ausbildung bei Leonhard Seif (1866-1950), gründete mit ihm und anderen im Mai 1911 die Münchner Ortsgruppe der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. Als sich Seif und C. G. Jung von Freud trennten und von der Vereinigung ausgeschlossen wurden, grenzte Gebsattel sich zwar auch von Freud ab, schloss sich aber keiner Schule an [Berthold Gerner, Romano Guardini in München. Beiträge zu einer Sozialbiographie, Band 1: Lehrer an der Universität, München 1998, S. 556 f.].

1913 begann er mit dem Medizinstudium, das er ebenfalls mit einer Promotion über Tuberkulose abschloss. Schließlich heiratete er 1920 die hat die Kinderärztin Karoline von Falkenhayn, bekam mit ihr 1920 und 1922 zwei Töchter . 1922 ging er mit seiner Familie nach Berlin, arbeitete in den Kuranstalten Westend und übernahm 1924 deren Leitung. Dort wurde Werner Leibbrand (1896-1974) sein Mitarbeiter. Von Nicolaus Sombart wissen wir, dass die Freiin von Gebsattel, geb. von Falkenheyn und ihr Mann – wie auch Guardini – im Hause Sombarts verkehrten [Die Töchter Marie Elisabeth Viola, später verheiratete Baronin von Gagern (1920-2013) und Christine Elisabeth Mathilde, später verheiratete Gräfin von Kalckreuth (* 1922)].

Spätestens für 1925 berichtet Leibbrand davon, Gebsattel habe ihm, als sie gemeinsam in der Heilanstalt im Westend arbeiteten, Näheres über Guardini erzählt [Werner Leibbrand, Encuentro con Romano Guardini en las catacumbas de Berlin, in: Folia humanistica, Barcelona, T. III, 1965, Nr. 34 (Octubre), S. 857-864 (zitiert nach Gerner, Romano Guardini in München, Band 1, a.a.O., S. 558 f.)]. In Gebsattels Schrift “Ehe und Liebe” von 1925 findet sich bereits ein ausdrücklicher Hinweis auf Guardinis Buch “Vom Sinn der Kirche” [Viktor Emil von Gebsattel, Ehe und Liebe, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Soziologie, I, 1925, S. 247-264, S. 261 (Anm. 2)]. 1926 publiziert er in Guardinis “Schildgenossen” einen richtungsweisenden Aufsatz “Über den personalen Faktor des Heilungsprozesses”[in: Die Schildgenossen 6, 1926, S. 495-506].

1925 hatte Gebsattel sein Privatsanatorium Schloss Fürstenberg in Mecklenburg eröffnet, das er bis zur Schließung und vorübergehenden Beschlagnahme durch die Reichswehr im Jahr 1939 leitete. Bis zur Schließung versteckte er dort auch Juden und sympathisierte anschließend offen für den „Kreisauer Kreis“ [Vgl. dazu Gerhard Danzer, Wer sind wir? Anthropologie im 20. Jahrhundert. Ideen und Theorien für die Formel des Menschen, Berlin/Heidelberg 2011, S. 272 ff., hier S. 273].

Von Maria von Gagern, der Tochter Gebsattels, und von Sophie von Puttkamer wissen wir, dass Guardini 1937 selbst zur Kur in Fürstenberg war [BSB Ana 342, B 3, Mappe 4: Annemarie und Sophie Puttkamer erinnern sich in ihren Briefen zum 80. Geburtstag von Romano Guardini am 14. Bzw. 17. Februar 1965 an Begegnungen mit Guardini und Gebsattel. Maria von Gagern, geb. Gebsattel bestätigt dies in einem Brief zu Guardinis 70. Geburtstag vom 16. Februar 1955 (BSB Ana 342, B 4-Sonderkonvolut, Mappe 3), in dem sie von einer ersten Begegnung in Fürstenberg vor fast 20 Jahren schreibt und zehn Jahre später am 16. Februar 1965 (BSB Ana 342, B 4-Sonderkonvolut, Mappe 3) das Jahr 1937 angibt].

Gebsattel wechselte 1939 in eine Privatpraxis in Berlin und lehrte bis 1944 am Berliner Zentralinstitut für Psychotherapie. Er kaufte dafür zum 1. Oktober 1939 das wohl immer noch Guardini gehörende Kempner-Haus in der Sophienstraße 4-5 in Berlin-Charlottenburg. Leibbrand berichtet nun, wie ihn Gebsattel kurz nach Kriegsbeginn 1939 bat, „mit Guardini einen “Rilke-Kreis” zu gründen, zusammen mit einigen wenigen treuen Mitarbeitern [Die Geschichte von Guardinis Berliner Rilke-Kreisen [sic!] ist mittlerweile bekannt, muss aber im Einzelnen an anderer Stelle ausgeführt werden]. Guardini versuchte, in den Diskussionen die `Duineser Elegien´ und `Die Sonette an Orpheus´ zu interpretieren. So füllten sich die Katakomben wieder”[Werner Leibbrand, Encuentro con Romano Guardini en las catacumbas de Berlin, in: Folia humanistica, Barcelona, T. III, 1965, Nr. 34 (Octobre), S. 857-864 (zitiert nach Gerner, Romano Guardini in München, Band a.a.O., S. 558 f.)]. In einem späteren Rückblick erinnert sich Leibbrand: „Es war ergreifend, in dieser Zeit einen Mann zuversichtlich darüber reden zu hören, dass es eine unübertragbare Person gebe“[Aus einer unveröffentlichten Autobiographie zitiert von Fridolf Kudlien, Werner Leibbrand als Zeitzeuge. Ein ärztlicher Gegner des Nationalsozialismus im Dritten Reich, in: Medizinhistorisches Journal, 21, 1986, S. 332-352, hier S. 341]. So kann man für den Einfluss Guardinis auf Gebsattel festhalten:

„Wenn er sich in der Folge auch als Psychotherapeut voll und ganz als `Katholik´ empfand und verstand, war dies vor allem dem Gespräch mit Guardini zu danken, das die `Auseinandersetzung´ in einzelnen Problemkreisen keineswegs ausschloß. Drei Aufsätze dokumentieren dieses Gespräch: `In seelischer Not. Briefe eines Arztes´ (1940), `Von der christlichen Gelassenheit´ (1940) und `Religion und Psychologie´ (1941). In allen drei Fällen sorgte Romano Guardini für den Druck“ [Gerhard Schmolze, Arzt und Mittler. Zum 100. Geburtstag von Viktor Emil Freiherr von Gebsattel, in: Unser Bayern. Heimatbeilage der Bayerischen Staatszeitung, 32/2, 1983, S. 13ff., hier S. 14f. Viktor Emil von Gebsattel, In seelischer Not. Brief eines Arztes, 1940, Nr. 35; ders., Von der christlichen Gelassenheit, 1940 (in: Christliche Besinnung); ders., Religion und Psychologie, in: Die Schildgenossen, 20/1941, S. 45-63].

Guardini sollte 1943 auch der kirchlichen Trauung von Gebsattels älterer Tochter assistieren, nachdem der Bräutigam kurzfristig Fronturlaub bekam. Aber Guardini schaffte es nicht, rechtzeitig in Berlin einzutreffen [Stefan Scheible, Viktor Emil von Gebsattel (1883-1976). Leben und Werk, Diss. Tübingen 2008, S. 109, unter Berufung auf Maria Freifrau von Gagern, Tochter Gebsattels]. Obwohl Gebsattel im November 1943 durch einen Bombenangriff das Haus in Berlin verlor und infolgedessen 1944 zunächst nach Wien zur Gründung einer “Zweigstelle” gegangen war, scheint der Kontakt nicht abgerissen zu sein. Dem dortigen Wiener Arbeitskreis für Tiefenpsychologie gehört auch Pater Augustinus von Wucherer-Huldenfeld an, der wiederum später Autor einer bekannten Studie über Guardinis Gegensatzlehre wird. Über seine Freiburg-Kolmarer Verbindungen veröffentlichte Gebsattel 1944 noch seine Schrift „Not und Hilfe. Prolegomena zu einer Wesenslehre der geistig-seelischen Hilfe (Kolmar 1944, erneut Freiburg 1947).

Nach Kriegsende betrieb Gebsattel zunächst in Überlingen am Bodensee eine Privatpraxis, 1946 übernahm er die ärztliche Leitung der Caritas-Klinik “Schloß Haus Baden” in Badenweiler. Er hatte ab 1947 außerdem einen Lehrauftrag für Psychotherapie an der Universität Freiburg [Aus der Freiburger-Badenweiler Zeit stammen folgende Veröffentlichungen: Viktor Emil von Gebsattel, Christentum und Humanismus. Wege des menschlichen Selbstverständnisses, Stuttgart 1947; ders., Der Ethos des Arztes. Ein Gespräch, in: Wort und Wahrheit, 3, 1948, S. 652ff.; ders., Das christliche Berufsethos des Arztes, in: J. Ammer/Karl Borgmann (Hgg.), Anruf und Zeugnis der Liebe. Beiträge zur Situation der Caritasarbeit, Regensburg 1948, S. 118ff.].

1949 wird Gebsattel dann Honorarprofessor für Medizinische Psychologie und Psychotherapie in Würzburg und übernahm kommissarisch die Leitung des Anthropologischen Instituts, welches 1958 in “Institut für Psychotherapie und medizinische Psychologie” umbenannt wurde. Daraufhin übergab Gebsattel die Aufgabe als Chefarzt 1950 an Herrmann Ell (1912-1977), der infolgedessen auch für die beiden Aufenthalte von Guardini 1952 und im Herbst 1953 medizinisch verantwortlich zeichnete.

Gebsattel blieb der Vorstand dieses Würzburger Instituts bis 1969. Zahlreiche Veröffentlichungen aus den Würzburger Jahren zeigen weiterhin seine enge Verbindung zu Guardini [Vgl. vor allem: Viktor Emil von Gebsattel, Prolegomena einer medizinischen Anthropologie, 1954]. Auch aus dieser Zeit belegen weitere Briefe und Telegramme aus Bamberg den freundschaftlichen Kontakt [BSB Ana 342: B3-1-058, B3-3-089, B4-3-043 bis -045]. Guardini schlägt ihn darüber hinaus 1956 für einen der Eröffnungsvorträge für die Katholische Akademie in Bayern vor [Gerner, Romano Guardini in München, Band 1: Lehrer an der Universität, a.a.O., S. 390].

Aufgrund der biographischen Zusammenhänge wäre auch aus dem Nachlass von Viktor Emil von Gebsattel und seiner Familie noch das ein oder andere Neue und Aufschlussreiche zu erwarten.

Die weiteren Anfragen Franz Büchners für die Nachfolge Martin Heideggers (ab August 1946)

Als es dann im Herbst 1946 wieder um den Nachfolger für den Rickert-Husserl-Heidegger-Lehrstuhl ging, gab es abermals Anfragen an Guardini durch Franz Büchner und Clemens Bauer.

[Auf Clemens Bauer wird hier nicht weiter eingegangen. Siehe zu ihm aber Hugo Ott, Clemens Bauer + (16.12.1899-1.1.1984), in: Historisches Jahrbuch, 107/I, 1987, S. 223: „Es gab erhebliche Anstrengungen, der Freiburger Universität ein christliches, ja katholisches Profil zu schaffen. Clemens Bauer wurde in den inneren Kreis, in ein informelles Leitungsgremium, einbezogen, versagte sich jedoch bald dieser strengen Ausrichtung. Immerhin: er versuchte gemeinsam mit Johannes Spörl und dem Pathologen Franz Büchner seit dem Frühjahr 1946 den in Tübingen lehrenden Romano Guardini für die restituierte Weltanschauungsprofessur für Philosophie zu gewinnen bzw. im Herbst 1946 nach Heideggers endgültiger Entlassung.“]

Büchner war, wie gesehen, bereits in seiner Antwort auf die Absage Guardinis bezüglich des Honecker-Lehrstuhls auf die Besetzung des Heideggerschen Lehrstuhls zu sprechen gekommen, da er selbst einen Ruf nach Göttingen erhalten habe und seinen Weggang von Guardinis Haltung bezüglich des Heidegger-Lehrstuhls mit abhängig machen wollte. Nun konkretisierte er sein Anliegen:

Q027

Brief von Franz Büchner an Romano Guardini vom 3. August 1946 [BSB Ana 342, C 1-12-6]

Zusammenfassung wird noch erfolgen.

Guardini hatte auf diese Anfrage einen abschlägigen Bescheid angedeutet, erneut mit der Begründung, er sei kein Philosoph, sondern ein Interpret. Büchner zitiert dies entsprechend auch schon bei seiner Rede anlässlich der Verleihung des Guardini-Preises aus dem Brief: "Ich bin kein systematischer Philosoph, sondern ein philosophischer Interpret. So gehöre ich nicht auf diesen Lehrstuhl." [Franz Büchner: Leib und Verleiblichung in Biologie und Pathologie in: Therapie der Gegenwart, 114, 1975, 11, S. 1819].

Q028

Brief von Romano Guardini an Franz Büchner vom 4. September 1946 [Entwurf BSB C 1/12-6; Original in Universitätsarchiv Freiburg i. Br., E 23-176]

Zusammenfassung wird noch erfolgen.

Die Schlussbemerkung zu Göttingen erhält dadurch Gewicht, dass Guardini selbst in langen Briefen vom 1. und 4. Januar sowie 15.2.1946 durch Dekan Herbert Schöffler eine Anfrage erhalten hat. Eine Antwort Guardinis ist in der Bayerischen Staatsbibliothek nicht erhalten, war aber offensichtlich abschlägig. Der unter Depressionen leidende Schöffler hat sich dann am 18. April 1946 überraschend das Leben genommen. Erst als die Philosophische Fakultät am 29. Oktober 1946 in Person von Nohl erneut anfragte, weil der in Aussicht genommene Kandidat Söhngen einem Ruf an die Theologische Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität in München gefolgt sei, und diese Anfrage sowohl mit Schreiben vom Erzbischof von Paderborn, Lorenz Jaeger, und vom Bischof von Hildesheim, Joseph Godehard Machens, sowie einem sehr persönlichen verbundenen Schreiben des Ministerialrats Dr. Kurt Zierold im Namen von Minister Adolf Grimme, untermauert wurde, schrieb Guardini allen vier Anfragenden am 27. November 1946 zurück, seine Absage mit sehr persönlichen Worten und mit großem Dank verbindend.

Nun versuchte Büchner mit einer „doppelten“ Anfrage, einer persönlichen und einer offiziellen, dem Freiburger Anliegen ein größeres Gewicht zu verleihen.

Q029

Brief von Franz Büchner an Romano Guardini vom 21. September 1946 [Original BSB C 1/12-6; Entwurf im Universitätsarchiv Freiburg i. Br., E 23-176]

Zusammenfassung wird noch erfolgen.

Zeitgleich schickte Büchner an diesem 21. September 1946 auch die im persönlichen Brief angekündigte offizielle Anfrage als Prorektor der Universität Freiburg:

Q030

Offizielle Anfrage von Franz Büchner an Romano Guardini vom 21. September 1946 [BSB Ana 342, C 112-6 in doppelter Ausführung]

Am 27. September 1946 schickt Guardini an Büchner eine briefliche Eingangsbestätigung mit Bitte um Bedenkzeit.

Q031

Brief von Romano Guardini an Franz Büchner vom 27. September 1946 [BSB Ana 342, C 112-6]

Die endgültige Absage Romano Guardinis (19. Oktober 1946)

Mit dem 9. Oktober 1946 sind die Briefe an Büchner und Steinbüchel datiert, in denen Guardini seine endgültige Absage begründet. Einem Brief an Johannes Spörl zufolge hat er diese aber wohl erst 10 Tage später abgeschickt, was auch die handschriftliche Eintragung „Abges. 19.10.46“ auf den Briefdurchschlägen in der Bayerischen Staatsbibliothek erklärt. Insofern sind die diesbezüglichen Angaben bei Hugo Ott chronologisch dahingehend zu korrigieren [Vgl. Ott, Martin Heidegger und die Universität Freiburg nach 1945, in: Historisches Jahrbuch, 105, 1985, S. 119]. Freiburg bekam also frühestens am 20. Oktober folgenden Absagebrief Guardinis.

Q032

Briefdurchschlag von Romano Guardini an Franz Büchner vom 9. bzw. 19. Oktober 1946 [BSB Ana 342, C 112-6]

Zusammenfassung wird noch erfolgen

Q033

Briefdurchschlag von Romano Guardini an Theodor Steinbüchel vom 9. bzw. 19. Oktober 1946 [BSB Ana 342, C 1-7-13]

Zusammenfassung wird noch erfolgen

Steinbüchel hat das Scheiben an den zuständigen Ministerialrat in der Landesdirektion für Kultus, Erziehung und Kunst, Rupp, weitergegeben, der bezüglich der Ernennungsurkunde und des Ernennungsdatums mit Guardini im Briefverkehr stand. Am 1. November 1946 beantwortete er die Anfrage Guardinis in allen Fragen positiv, auch dass er „ad personam und ohne Fach berufen und daher in der Wahl Ihrer Lehrgegenstände vollkommen frei” sei. Dennoch bedürfe es der „Umreißung” der Lehrgebiete. Schon in einem früheren Schreiben bat Rupp Guardini um einen Formulierungsvorschlag gebeten. Auf Wunsch von Guardini in der Antwort vom 17. Dezember 1946 einigte man sich schließlich auf „Religionsphilosophie und christliche Weltanschauung”.

Der abschließende Briefwechsel mit Johannes Spörl

Am 19. Oktober 1946 teilt Guardini seinem Freund Johannes Spörl seine Entscheidung kurz mit, worauf dieser sowohl mit Bedauern als auch mit Kritik an der Begründung, er sei kein „Fachphilosoph“:

Q034

Brief von Romano Guardini an Johannes Spörl vom 19. Oktober 1946 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern, Nr. 1197]

Zusammenfassung wird noch erstellt.

Q035

Brief von Johannes Spörl an Romano Guardini vom 24. Oktober 1946 [BSB Ana 342, B 4-Sonderkonvolut, Mappe 3]

Zusammenfassung wird noch erstellt.

Eine Nachbetrachtung: Vicente Marreros Besuche bei Guardini und Heidegger

Vicente Marrero Suárez (1922-2000) war im Rahmen des „Deutsches Studienwerk für Ausländer/Alexander-von-Humboldt-Stiftung“ von 1943 bis 1949 Lektor für Spanisch an der Freiburger Universität mit der gleichzeitigen Möglichkeit des Weiterstudiums. Er hörte dabei vor allem Martin Heidegger, Walter Eucken und Hugo Friedrich. 1951 kehrte er nach Spanien zurück und veröffentlichte dort 1952 seine Berichte über die „Besuche“ bei Heidegger und – von Freiburg aus – bei Guardini in Tübingen. Interessanterweise wusste er damals schon von der Anfrage und auch vom richtigen Grund der Ablehnung Guardinis, nach Freiburg zu wechseln und scheint daher mit einem Mitglied des „Professorenkomitees“ darüber gesprochen zu haben:

„Er ist kein Philosoph. Trotzdem wurde er kurz nach dem Ende des letzten Krieges aufgefordert, einen Lehrstuhl zu besetzen: den, der gerade eben von seinem alten Studienkameraden Martin Heidegger geräumt wurde – den Stuhl von Husserl, den der Phänomenologie, den des „Existentialismus", den philosophisch gesehen Wertvollsten in diesem Jahrhundert. An das Professorenkomitee der Universität Freiburg i. Br., das ihn mit allen Ehren besuchte, auch mit der Zustimmung von Heidegger selbst, antwortete: „Er sei kein Philosoph." Er kannte seine eigenen Grenzen und war seiner Meinung nach nicht vorbereitet, Seminare und Unterrichtsstunden zu Hegel, Fichte, Schelling ... mit der Entschlossenheit und Ausdauer zu entwickeln, die ein deutsches Hochschulsemester erfordert. Er lehnte das Angebot ab, erhielt aber von der offiziellen Philosophie diese Ehre, die viele Fachleute der Philosophie so weit entfernt sehen“ [Vicente Marrero Suárez, Figura de Romano Guardini, in: Ateneo, 1952, 4 (15. März), S. 12-13; aufgenommen in: ders., Guardini, Picasso, Heidegger. Tres visitas, Madrid 1959 (Ensayos 8), hier S. 9-20; wohl nachgedruckt unter dem Titel „Visita a Guardini“, in: Indice de artes y letras, Madrid, 12, 1961, Nr. 144 (Januar 1961), S. 7, hier die Einleitung zum Bericht über Guardini, übersetzt durch Helmut Zenz. Siehe dazu auch Franz Niedermayer, Die Unterscheidung des Christlichen. Vicente Marrero, Guardinis spanischer Besucher in Tübingen, in: Deutsche Tagespost, Würzburg, 38, 1985, 21 (15./16. Februar), S. 14].

Auch Guardini selbst hat dies so gesehen, wie seine Antwort auf seine Ehrenpromotion an Dekan Max Müller im Jahr 1954 noch zeigen wird.

Da der durch diese Briefe dokumentierte Vorgang weitestgehend auch schon von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz und Hugo Ott kommentiert worden ist, genügt eine Einordnung in die Universitätsgeschichte Freiburgs an dieser Stelle der Verweis auf ihn [Gerl, Romano Guardini, 1985, a.a.O., S. 330 f.; dies., Geheimnis des Lebendigen, a.a.O., S. 206 f.; Ott, Martin Heidegger und die Universität Freiburg nach 1945, in: Historisches Jahrbuch, 105, 1985, S. 95-128; ders., Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, Frankfurt am Main/New York 1988, Abschnitt „Um die Nachfolge Heideggers“, S. 328-333; ders., Um die Nachfolge Martin Heideggers nach 1945, in: Annemarie Gethmann-Siefert (Hrsg.), Philosophie und Poesie. Otto Pöggeler zum 60. Geburtstag, 1988, S. 37 ff., besonders S. 45-48].

Allein der persönlichere Duktus im Briefwechsel mit Johannes Spörl und die durch den gesamten Text noch eindrücklichere Hartnäckigkeit Franz Büchners mit Berufung auf Clemens Bauer und Oehlkers eröffnen noch einige neue Akzente. Gleichzeitig wird die Intensität des Nebenargumentes – Hauptargument war, dass er Tübingen nach so kurzer Zeit den Kollegen und den Studierenden wegen nicht schon wieder verlassen könne -, dass er kein Fachphilosoph, sondern ein weltanschaulicher Interpret sei, noch weitere Male unterstrichen.

Aus der gesamten Entwicklung bis zu diesem Zeitpunkt wird deutlich, dass Guardini, wenn ihn wohl schon ähnlich früh aus Freiburg ein ähnliches, an Berlin anknüpfendes Angebot erreicht hätte, wie kurz nach Kriegsende über Carlo Schmid aus Tübingen, sich nur sehr schwer zwischen Tübingen und Freiburg entscheiden hätte können. Letztlich hätte er aber aufgrund der größeren Freundeszahl voraussichtlich wohl eher zu Freiburg tendiert. So hatte er sich aber, als ihn im August der Brief Heideggers und dann von Weihnachten an die Anfragen aus der Freiburger Philosophischen Fakultät erreichten, schon früh auf Tübingen festgelegt und stattdessen schon insgeheim auf einen Ruf aus München gewartet.

Dennoch ist es Guardini nicht zu verdenken, dass er allerdings den Abwerbeversuch aus Freiburg auch dazu nutzte, seine wirtschaftliche und wissenschaftliche Situation in Tübingen zu verbessern und sei es nur in der Form einer Schreibmaschine.

Internationale „Württembergische Universitätswochen“ August/September 1947

Bislang unbekannt war die zumindest geplante Beteiligung Guardinis an den von der französischen Militärregierung in Zusammenarbeit mit der Universität Tübingen veranstalteten „Internationalen Universitätswochen“ im Spätsommer 1947. Die Ankündigung weist folgendes aus:

„Die französische Militärregierung veranstaltet in der Zeit vom 6. August bis 9. September unter Mitwirkung der Universität internationale Universitätswochen, zu de 150 französische Studenten, 150 deutsche Studenten und 100 ausländische Studenten eingeladen werden. … Liste der geplanten Vorlesungen … IV. Die moderne Philosophie, besonders der französische und der deutsche Existentialismus, Sartre, Heidegger, Jaspers: Prof. Guardini V. Ethische Grundfragen: Prof. Guardini … X. Interpretation Hölderlin’scher Dichtung in Beziehung zu religionswissenschaftlichen Grundphänomenen, z.B. Erfahrung, Mythos: Prof. Guardini …“[Tübingen: Internationale Universitätswoche, in: Universitas, Stuttgart, 2/II, 1947, S. 748].

Als weitere Mitwirkende wurden angekündigt: Spranger, Schrey, Krüger, Schneider, Weise/Herding, Butenandt.

Diese „Württembergischen Universitätswochen“ haben auch nachweislich stattgefunden. Ob dabei Guardini aber auch diese drei Vorlesungen gehalten hat, ist bislang nicht gesichert. Im Guardini-Archiv sind dazu keine einschlägigen Typoskripte bekannt, die im Falle der Ethik und Hölderlins über das schon Publizierte oder die Vorlesungen hinausgeht. Von seiner Auseinandersetzung mit dem französischen und deutschen Existentialismus – namentlich Sartre, Heidegger, Jaspers – existiert in dieser Konstellation wohl auch kein Entwurf mehr, so dass überhaupt fraglich ist, ob er diese Vorlesung so gehalten hat. Dennoch ist allein schon der Umstand interessant, dass er mit diesem Thema angekündigt wurde. Die Universitätsarchive könnten dazu sicher noch weiteren Aufschluss geben.

Der Briefwechsel bezüglich der Heidegger-Festschrift (1949)

Die Anfrage (Mai 1949)

Guardini gehörte offensichtlich nicht zum Kreis der Erstangefragten für eine Heidegger-Festschrift – Bultmann hatte bereits im Juni 1948 abgesagt, so dass eine erste Runde an An-fragen wohl schon im Frühjahr oder Frühsommer 1948 erfolgte. Aufgrund der Einleitung der Anfrage Gadamers scheint Krüger derjenige gewesen zu sein, der eine Guardini-Beteiligung ins Spiel brachte und diese auch zu vermitteln versuchte. Dabei scheint es von Anfang um eine Beteiligung unter Bedingungen gegangen sein.

Q036

Brief von Hans-Georg Gadamer an Romano Guardini vom 13. Mai 1949 [BSB Ana 342, B 1-1-119]

Zusammenfassung wird noch erstellt

Aufgrund der wohl vorher an Gadamer herangetragenen Bedingungen hat Gadamer gleich diesem ersten Kontakt die Antwortbriefe von Brock und Riezler beigelegt [Vgl. dazu auch Jean Grondin, Hans-Georg Gadamer. Eine Biographie, 1999, S. 302 f.].

Q037

Beigelegter Brief von Riezler an Hans-Georg Gadamer (Abschrift) [BSB Ana 342, B 11/119, ohne Datum]

Zusammenfassung wird noch erstellt

Q038

Beigelegter Brief von Werner Gottfried Brock an Hans-Georg Gadamer (Abschrift) vom 28. April 1949 [BSB Ana 342, B 11/119]

Zusammenfassung wird noch erstellt

Der „Moderator“ der Festschrift: Hans-Georg Gadamer

Hans-Georg Gadamer (1900-2002) hatte sein eigentliches Studium mit einer philosophischen Doktorarbeit über „Das Wesen der Lust nach den platonischen Dialogen“ 1922 in Marburg bei Paul Natorp und Nicolai Hartmann abgeschlossen. Ab 1923 besuchte Gadamer weiter Vorlesungen von Edmund Husserl und Martin Heidegger an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und war während des Sommers auch in Heideggers „Hütte“ in Todtnauberg. Die Begegnung mit Heidegger wurde für Gadamer nach eigenem Bekunden „eine völlige Erschütterung allzu früher Selbstsicherheit“ [Philosophische Lehrjahre, S. 23].

Er wechselte daher zunächst auf den sicheren und „eigenen Boden“ der klassischen Philologie unter Paul Friedländer und machte 1927 sein Staatsexamen für das Höhere Lehramt. 1929 habilitierte sich Gadamer schließlich bei Heidegger und Friedländer in Marburg für Philosophie. Seine Habilitationsschrift ging erneut über platonisches Denken und trug den Titel „Platos dialektische Ethik. Interpretationen zum ‚Philebos’“ (gedruckt 1931).

Mit dem Weggang Heideggers von Marburg nach Freiburg hatte Gadamer keine festen örtlichen Berührungspunkte mehr mit seinem Lehrer, aber natürlich weiterhin engen, vor allem auch brieflichen Kontakt [Hans-Georg Gadamer, Ausgewählte Briefe an Martin Heidegger, 2002; Ausgewählte Briefe Martin Heideggers an Hans-Georg Gadamer, 2006].

Im Anschluss an die Habilitation wirkte Gadamer in Marburg als Privatdozent. Gemeinsam mit Gerhard Krüger teilte er sich die Hilfsassistentenstelle am Marburger Institut. Im August 1933 wurde er dann Mitglied des Nationalsozialistischen Lehrerbundes und unterzeichnete im November 1933 das Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat. Gadamer hat sich das Zustandekommen der Unterschriftenliste – auch für die Unterschriften von Gerhard Krüger und Werner Krauss – selbst folgendermaßen erklärt:

„Es handelt sich um eine Unterschrift, die wahrscheinlich entstanden ist im Frühjahr in Marburg, bei einer Versammlung, in der wir öffentlich gefragt wurden, ob jemand dagegen ist, und wo wir auch nicht den Mut hatten, Ja zu sagen; denn das hätte Emigration bedeutet. Das ist dann als Unterschrift für diesen Aufruf verwertet worden. Gerhard Krüger und Werner Krauss hatten auch unterzeichnet. Krüger war ein Freund von mir, ganz nah mit Bultmann und der Bekennenden Kirche liiert. Krauss war später Mitglied der Roten Kapelle. Ich nehme an, sie haben die per Akklamation gesammelten Unterschriften der Zustimmung für Hitler im November einfach darunter gesetzt. Ich weiß bestimmt, daß ich diese von Heidegger inaugurierte Sache, die aus Sachsen kam, niemals gesehen habe“[Hans-Georg Gadamer im Gespräch mit Dörte von Westernhagen. „… die wirklichen Nazis hatten doch gar kein Interesse an uns“, in: Das Argument, 32, 1990, S. 548].

1934 legte Gadamer dann seine Schrift „Plato und die Dichter“ vor, in der er Platons „Politeia“ auslegte. Die Arbeit gilt einerseits als Durchbruch mit deutlichen Ansätzen der Gadamerschen Hermeneutik, andererseits als Beleg für seine teils unkritische Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus [Teresa Orozco, Platonische Gewalt. Gadamers Hermeneutik der NS-Zeit, Hamburg (2)2004].

Dennoch wurde ihm nach den üblichen sechs Jahren als Privatdozent 1935 der Titel eines nichtbeamteten außerordentlichen Professors verweigert, weil er sich in den universitären oder allgemeinen nationalsozialistischen Gremien zu wenig aktiv beteiligt hatte und daher als „indifferent“ klassifiziert wurde. Erst 1937 wurde ihm der Titel verliehen. 1939 erhielt er schließlich einen Ruf an die Universität Leipzig als Nachfolger Arnold Gehlens, als ordentlicher Professor und Direktor des Philosophischen Instituts. Von Leipzig aus war er während der Zeit des Zweiten Weltkriegs Mitarbeiter am NS-Projekt „Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften“ beteiligt.

Da Gadamers Verstrickung aufgrund seiner gleichzeitigen Zurückhaltung als gering eingestuft wurde, wurde Gadamer 1945 zunächst Dekan der Philosophischen Fakultät und später bis 1947 Rektor der Universität Leipzig. Aufgrund der politischen Entwicklung in der sowjetischen Besatzungszone bemühte sich Gadamer aktiv um eine Stelle in einer der Westzonen und erklärte am 14. August 1947 seinen Rücktritt vom Rektorat zum 1. Oktober des Jahres, da er zu diesem Tag eine Anstellung an der Universität Frankfurt am Main erhalten hatte. 1948 wurde er dort ordentlicher Professor, folgte aber bereits im Jahr darauf einer Berufung an die Universität Heidelberg als Nachfolger von Karl Jaspers.

Aus den autobiographischen von und biographischen Studien über Gadamer ist aber nicht ersichtlich, wann er mit Guardini erstmals persönlich zusammentraf. Auch bei Guardinis wenigen Aufenthalten in Marburg, dürfte es zu keinem solchen Treffen gekommen sein, auch nicht beim von Löwith berichteten, aufsehenerregenden Vortrag Guardinis über Pascal im Dezember 1933. So kam es wohl zu einem intensiveren, für Gadamer vermutlich wenig erfreulichen Austausch tatsächlich erst im Zuge von Gadamers redaktioneller und herausgeberischer Tätigkeit für die Heidegger-Festschrift „Anteile“. Nach Helmut Kuhns Rückkehr aus dem amerikanischen Exil begründeten die beiden zusammen 1953 die Zeitschrift „Philosophische Rundschau“. Im zweiten Jahrgang 1954/55 rezensierte Hans-Georg Gadamer darin in einer sehr ausführlichen und kritischen Weise Guardinis Rilke-Buch [Hans-Georg Gadamer, Rezension zu: Guardini, Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins, in: Philosophische Rundschau, Tübingen, 2, 1954/55, 1-2, S. 82-92, hier S. 91f.].

Ein wichtiger Gesprächspartner Guardinis: Gerhard Krüger

Für die Beteiligung Guardinis an der Heidegger-Festschrift spielt also Gerhard Krüger (1902-1972) eine entscheidende Rolle. Er ist bislang nur kurz als Schüler Heideggers, der in Tübingen den Zuschlag für den Lehrstuhl für Systematische Philosophie erhalten hat, in Erscheinung getreten. Allerdings würde man seiner Person nicht gerecht, wenn man ihn – wie bisher üblich – nur als Tübinger Kollegenfreund Guardinis nach dem Zweiten Weltkrieg vorstellen würde. Denn eine erste Begegnung der beiden fand bereits im Mai 1939 in Marburg statt und seit dieser Zeit existiert auch ein Briefwechsel, der dann durch die gemeinsame Zeit in Tübingen zu einer Freundschaft und infolgedessen auch zur brieflichen Anrede mit „Lieber Freund“ führt. Gerhard Krüger hatte ab 1920 Philosophie, Evangelische Theologie und Geschichte in Jena, Tübingen und vor allem Marburg studiert. Dabei hörte er in Marburg auch schon während des Studiums bei Martin Heidegger. Seine Promotion schloss er dort aber 1925 bei Nicolai Hartmann ab. Nach der Habilitation 1929 – diesmal bei Heidegger mit der Arbeit „Philosophie und Moral in der Kantischen Kritik“ – wirkte er zunächst noch als Privatdozent in Marburg. Dabei hat es nach Ablauf des Stipendiums der Notgemeinschaft 1931 zwei Jahre gedauert, bis man ihm wieder einen besoldeten Lehrauftrag für die Grenzgebiete zwischen Philosophie und Theologie verschaffen konnte, so dass er sich bis dahin gemeinsam mit Gadamer die Hilfsassistentenstelle des Marburger Seminars teilte [Vgl. Christian Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, 2015, S. 817-823, hier S. 819 unter Verweis auf UAMs, PA Krüger sowie StAM 305a, acc. 1976/19, Nr. 3517 und GStA, Rep. 75Va, Sek. 12, Tit. IV, Nr. 3, Bd. V, Bl. 138 f., 284, 365-66 sowie auf Gadamer, a.a.O, 1977]. Wie Heidegger hatte auch Krüger sich in Marburg mit Rudolf Bultmann befreundet, der zuvor dort auch schon sein Lehrer war.

Krüger gehörte ebenfalls seit August 1933 zum Nationalsozialistischen Lehrerbund und stand im November 1933 – zusammen mit Heidegger und Gadamer – auf der Unterzeichnerliste des „Bekenntnisses der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“. Es gibt bislang – anders als von Gadamer – keine spätere Stellungnahme Krügers zu diesem Vorgang.

[Dabei kann nicht genug betont werden, wie es immer wieder passiert, den Philosophen Gerhard Krüger nicht mit jenem Gerhard Krüger (1908-1994) zu verwechseln, der schon ab 1928 ein hochrangiger nationalsozialistischer Studentenführer und Parteiaktivist war und auch noch nach 1945 mehrere rechtsradikale Parteien (Deutsche Reichspartei, Sozialistische Reichspartei) mitbegründet hat.]

In einem 2015 veröffentlichten Brief vom 20. Juni 1934 an Hans-Georg Gadamer berichtete Krüger von seiner Teilnahme an der Rede Franz von Papens am 17. Juni beim Universitätsbund in der Marburger Universität, bei der er offen die Politik der Gleichschaltung und des Terrors kritisierte. Krüger wertete dieses „weltpolitische Ereignis“ als „erstaunliche, nichts verschweigende Kritik, eine Bombe. Angesichts der hochoffiziellen Wasserstrahler ist es mir rätselhaft, was das zu bedeuten hat. Die Studentenschaft hat offiziell „tiefverletzt“ an den Führer telegraphiert, die einzelnen haben in großer Zahl Beifall geklatscht“ [Ulrich von Bülow, Gadamers Leipziger Karton, in: Geschichte der Germanistik, Heft 27/28, 2005, S. 67-84, hier S. 76]. Diese Rede Papens gilt gemeinhin als eine der auslösenden Faktoren für die zwei Wochen später durchgeführte Mordaktion im Zusammenhang mit dem sogenannten „Röhm-Putsch“.

Aufgrund seiner Nähe zur Bekennenden Kirche verzögerte sich Krügers Ernennung zum außerordentlichen Professor an der Universität Marburg bis 1938 und war selbst dann noch unter den Nationalsozialisten höchst umstritten. Allein sein Kampf gegen den Cartesianismus wurde gewürdigt. Der erste Antrag der Fakultät Ende 1935 wurde abgelehnt, da „gerade die Vertreter der Philosophie“ „restlos in der Ideenwelt des Nationalsozialismus aufgegangen sein“ sollten und „sich auch für dieselbe stets einsetzen können“ sollten. Krüger habe sich „in dieser Hinsicht noch nicht genügend ausgewiesen“[Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, a.a.O., S. 819 unter Verweis auf UAM, PA Krüger, Stellungnahme der Dozentenschaft Marburg v. 18.9.1935 für Rektor]. Sogar als sich Rektor Baur für Krügers Ernennung ausgesprochen hatte, führte dies nicht zu einem Einlenken der Parteistellen, zumal Alfred Baeumler, Ernst Krieck und Ferdinand Weinhandl in ihren Gutachten ihn zwar für „qualifiziert“ hielten. Weinhandl lehnte Krüger aber in einem Gutachten von 1935 als unselbständigen Heidegger-Adepten ab, bei dem es zudem so scheine, „daß er zu den Leuten gehört, für die sich 1933 tatsächlich nichts ereignet hat“ [Ebd., S. 819 unter Verweis auf BAZ/DH, ZB/2 1978 A 5, REM-Pa Krüger, Bl. 16-16r; Weinhandl an REM v. 25.12.1935]. Baeumler wollte 1937 einer Ernennung nur zustimmen, wenn garantiert sei, dass Krüger aufgrund der fehlenden weltanschaulichen Haltung nicht zum Ordinarius aufrücken könne. Gleichzeitig warnte er aber vor der Ernennung, weil er „in die Philosophie Kants theologische Vorstellungen“ hineintrage, so dass er Krüger trotz seiner wissenschaftlichen Sorgfalt nicht als „Lehrer einer künftigen deutschen Philosophen-Generation“ sehe [Ebd., S. 820, unter Verweis auf BAZ/DH, ZB/2 1978 A 5, REM-PA Krüger Bl. 63-64; Baeumler an REM (Mattiat) v. 14.8.1937]. Von den Gutachtern sprachen sich zunächst im Mai 1935 nur Heyse und später auch August Faust und Erich Jaensch für Krügers Ernennung aus [Ebd., S. 820 unter Verweis auf BAZ/DH, ZB/2 1978 A 5, REM-PA Krüger, Bl. 13, Heyse an REM v. 23.5.1935].

Anders als bisher bekannt führte Guardini aber mit Krüger und seiner Frau bereits ab 1939 einen durchaus umfangreichen langjährigen Schriftwechsel bis kurz vor Krügers Tod. Die Briefe Guardinis an Krüger sind mittlerweile im Archiv der Universitätsbibliothek Tübingen gut einsehbar [Archiv der Universitätsbibliothek Tübingen, Nachlässe, Signatur Mn 13] und beginnen mit der schriftlichen Zusage eines ersten Besuches Guardinis bei Krüger in Marburg im Mai. Der Grund des Besuchs geht aber aus dem Brief nicht hervor. Bei diesem Besuch am 18. Mai erhält Guardini von Krüger ein handschriftlich gewidmetes und mit diesem Datum versehenes Exemplar seines in diesem Jahr veröffentlichten Buches „Einsicht und Leidenschaft. Das Wesen des platonischen Denkens“, das sich heute noch in der Guardini-Bibliothek im Schloß Suresnes in München befindet [Guardini-Bibliothek gb 4290].

Zu Beginn des Krieges wurde Krüger für die Reichswehr mobilisiert, diente zunächst als einfacher Soldat an der Front „Siegfried“ an der Saar, konnte dann aber Anfang 1940 wieder nach Marburg zurückkehren und wurde auch vom Kriegsdienst zurückgestellt [Vgl. Brief von Guardini vom 29. Februar 1940 unter Berufung auf Hilde Herrmann]. Im August 1940 schreibt Guardini in einem Brief davon, dass er von Hilde Herrmann gehört habe, „daß eine Berufung nach Münster erörtert wird“ und dass er sich freuen würde, wenn sie zustande käme [Vgl. Brief von Guardini vom 8. August 1940 unter Berufung auf Hilde Herrmann].

Tatsächlich kam diese auch zum Wintersemester 1940/41 zustande, allerdings aufgrund seiner Einberufung weitestgehend ohne aktive Ausübung. Krüger wurde in Münster immerhin Nachfolger von Peter Wust als ordentlicher Professor der Philosophie. Dieser Vorgang wird in der Sekundärliteratur sehr ambivalent beschrieben, manche sprechen von „Zwangsversetzung“, andere von einem „längst verdienten ersten Ruf“[Ingeborg Schnack, Marburger Gelehrte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, 1977, S. 299-305, hier S. 304]. Wohl handelte es sich um eine mit Nachdruck und Wahlmöglichkeit versehene Berufung [Vgl. zur Berufung Krügers nach Münster den Abschnitt in Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, a.a.O.; außerdem Ulrich Schneider, Widerstand und Verfolgung an der Marburger Universität 1933-1945, in: Dieter Kramer/Christina Vanja (Hrsg.), Universität und demokratische Bewegung, Marburg 1977, S. 219 ff., zu Gerhard Krüger S. 233 und Anmerkungen; darin der Bericht von Lisa Abendroth geb. Hörmayer, die spätere Frau von Wolfgang Abendroth, S. 244, dass sich einige Marburger Studenten an den Dozentenbund gewandt hätten, um sich für Krügers Verbleib in Marburg einzusetzen]. Denn nur drei Wochen nach dem Tod Wusts war bereits Ende April 1940 das Wiederbesetzungsverfahren eingeleitet worden. Ausschlaggebend hatte sich der zukünftige Kollegen Heinrich Scholz, Professor für Logik, für die Berufung Gerhard Krügers als Philosophiehistoriker stark gemacht, der anders als der Münsteraner Rektor Mevius keinen Verfechter nationalsozialistischer Weltanschauung nach Münster holen wollte. Scholz, Behnke, Trier und der Dekan Kratzer gaben auch ein Minderheiten-Votum gegen den von der Berufungskommission ins Spiel gebrachten Konkurrenten Hermann Glockner ein, womit man aber erst im Senat Erfolg hatte. Da der Freiburger Georg Stieler aufgrund seines Alters abgelehnt wurde, blieb nur Krüger übrig.

Noch 1940 wurde er vom Militärdienst entlassen, um nach Münster gehen zu können. Die offizielle Ernennung zum ordentlichen Professor erfolgte wohl im Dezember 1940.

Dabei ist noch zu erwähnen, dass Romano Guardini mit Heinrich Scholz schon in dessen Kieler Zeit freundschaftlich verbunden war, was sich auch im Beitrag von Scholz in der Festschrift zum 50. Geburtstag Guardini 1935 ausdrückte. Heinrich Scholz war 1919 nach Kiel berufen worden und dann 1928 nach Münster gewechselt.

1941 wurde Krüger vom Sicherheitsdienst des Reichsführers-SS weiterhin als „Liberaler“ geführt, der zudem an seiner „starken Bindung an die Bekennende Kirche“ festhielt:

„Politisch wird Krüger für farblos gehalten. Er verkörpert den Typ des heute seltener werdenden Gelehrten, die sich von politischen Gegenwartsfragen fern hält und ein abgeschlossenes Gelehrtendasein führt. Er hat bisher in keiner Form zum Ausdruck gebracht, wie er zur heutigen Staatsauffassung steht. Aus diesem Grund hält man Krüger, wenn vielleicht auch einsatzbereit, so politisch doch nicht für einsatzfähig“[Zitiert nach Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, a.a.O., S. 823, der sich auf BAP, REM 49.01, Nr. 12444, Bl. 59; SD-Einschätzung ca. 1941/42 sowie UAMs, PA Krüger, Gauleitung Kur-Hessen an Kurator Münster durch Gauleitung Westfalen-Nord v. 17.4.1941 beruft].

Zumindest seine Frau Erna Krüger war Ende November 1942 Teilnehmerin an einem der ersten drei Leipziger Vorträge über die „Vorschule des Betens“. (Brief vom 22. Dezember 1942). Im April 1943 wurde Gerhard Krüger wieder eingezogen und diente zunächst vormittags in Münster als Dolmetscher in einer Kaserne, nachmittags wirkte er weiterhin als Philosophieprofessor. Im September 1943 ist er bei Militärbefehlshaber in Frankreich, Carl Heinrich von Stülpnagel, mit Sitz in Paris, aufgrund seiner guten Französischkenntnisse als Interpret beschäftigt [Fabrice Paradis Béland, Présentation zu: Gerhard Krüger, Le critère de la critique kantienne, in: Laval théologique et philosophiques, 63, 2007, 1 (Februar 2007), S. 51-85, hier S. 52]. Dabei kam er in Paris unter anderem mit Ernst Jünger in Kontakt, in dessen Tagebüchern sich sein Name findet [Schnack, a.a.O., S. 304], und der selbst zum Kreis um Stülpnagel und Speidel („Georgsrunde“) gehörte. Außerdem traf er Gabriel Marcel und Henri Corbin.

1944 verließ Krüger Paris wohl noch vor dem Kampf um die Stadt und der Kapitulation und war nach Deutschland zurückgekehrt, ohne in Gefangenschaft zu geraten. Inwieweit Krüger zuvor – wie auch Ernst Jünger – von den Umsturzplänen etwas mitbekommen hat oder davon, dass Stülpnagel und dessen engster Mitarbeiter Caesar von Hofacker wegen Beteiligung am Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 tags darauf festgenommen und am 30. August 1944 zum Tode verurteilt, ist bislang noch nicht viel bekannt. Stülpnagel wurde noch am selben Tag, Hofacker am 20. Dezember 1944 hingerichtet. Hans Speidel wurde später verhaftet, entging einer Verurteilung, blieb aber weiter verhaftet und entging kurz vor Kriegsende den Erschießungsaktionen der SS. Am 1. Oktober 1944 schrieb Krüger aus Bad Ems einen Brief an Hans-Georg Gadamer, in dem von einem Aufenthalt in Münster im Rahmen einer Dienstreise berichtete, bei dem er gerade zurechtgekommen sei, „um zwei Brände im Hause mitzulöschen und den übrigen Angriff, der uns zum Glück nicht schwer getroffen hat, mitzuerleben. […] Als ich in Mstr war, kamen die ersten Luftlandungen in Holland“[Ulrich von Bülow, Gadamers Leipziger Karton, in: Geschichte der Germanistik 27./28. Mitteilungen, 2005, S. 83].

1946 folgte er dann dem oben bereits dargestellten Ruf nach Tübingen. Laut einem Brief von Spörl an Guardini aus dem Jahr 1946 wollte Krüger für eine dann nicht realisierte „Festgabe“ über den „Unterschied des historischen und des platonischen Sokrates“ schreiben [Vgl. BSB Ana 342, B 4-3-168 Brief von Johannes Spörl an Romano Guardini vom 13. Mai 1946]. In Tübingen engagierte Krüger sich ab 1948 in besonderem Maße für das von Guardini mitbegründete Leibniz-Kolleg [Vgl. hierzu u.a. Gerhard Krüger, Das Leibnizkolleg der Universität Tübingen. Ein Erfahrungsbericht, Tübingen 1949].

Gerade in den gemeinsamen Tübinger Jahren von 1946 bis 1948 ist zwischen Guardini und Krüger eine sehr persönliche Freundschaft gewachsen, in der aber Heidegger – außer im Zusammenhang mit der Festschrift von 1950 – kein großes Thema mehr gewesen zu sein scheint. Zumindest findet sich nichts dazu im besagten Briefwechsel. Inhaltlich wird aber bei Guardini in seinen späten Werken mehr als deutlich, dass er in der Platon-Interpretation und insbesondere in Bezug auf die der platonischen Ideenlehre deutlich näher bei Krüger als bei Heidegger steht, und Krüger wiederum näher bei Guardinis Sokrates-Interpretation als bei Heideggers Platonkritik. 1952 wechselte Krüger dann als Nachfolger Gadamers, der den Lehrstuhl von Karl Jaspers in Heidelberg übernahm, nach Frankfurt/Main, wo er bis zu seiner Emeritierung 1956 einen Lehrstuhl für Geschichte der Philosophie, Geschichtsphilosophie und Metaphysik innehatte. Im Frühjahr 1953 – nach anderen Angaben Ende 1952 – erlitt Krüger einen sehr schweren Schlaganfall, so dass er schließlich die Lehre aufgeben musste.

Kurz zuvor hatte er sich noch intensiv mit Guardinis „Das Ende der Neuzeit“ auseinandergesetzt, in dem er auch auf seine eigene Abhandlung „Martin Heidegger und der Humanismus“ verweist.

„So wie man heute nach der Zukunft fragt, so wie man sie heute als geschichtliche Zukunft meint, setzt man voraus, daß die Geschichtlichkeit (also die Wandelbarkeit) zu unserem Wesen gehört; und die Konsequenz des historischen Bewußtseins drängt gerade die radikalsten heutigen Denker dazu, zu sagen, daß die Geschichtlichkeit unser Wesen überhaupt ausmache, daß unser Wesen in ihr aufgehe [24: So in der Gegenwart vor allem Heidegger. Vgl. zur Diskussion meine Abhandlung „Martin Heidegger und der Humanismus“. Theol. Rundschau 1950, Heft 2]“[Gerhard Krüger, Unsere geschichtliche Zukunft. Zur Zeitdeutung Romano Guardinis, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Stuttgart, 4, 1953, S. 193-219, S. 199; auch in: Clemens Münster u.a., Unsere geschichtliche Zukunft. Ein Gespräch über „Das Ende der Neuzeit“ zwischen Clemens Münster, Walter Dirks, Gerhard Krüger und Romano Guardini, Würzburg 1953, S. 53-94, hier S. 92].

Diese Studie zu Heideggers Werk, die außer in der „Theologischen Rundschau“ im Jahr zuvor auch schon in den „Studia Philosophica“ erschienen war, stellt eine umfassende Kritik von Heideggers Humanismus- und Platonkritik dar [Gerhard Krüger, Martin Heidegger und der Humanismus, in: Studia Philosophica, Basel, 9, 1949, S. 93-129, auch in: Theologische Rundschau, Tübingen, 18, 1950, 2, S. 148-178].. Es würde hier zu weit führen, darauf noch weiter einzugehen, zumal es bei Krüger auch keine unmittelbaren Bezüge zu Guardinis Werken gibt, auch nicht zu Guardinis „Der Tod des Sokrates“.

Die Aufarbeitung der inhaltlichen und biographischen Stellung Gerhard Krügers zwischen seinem Lehrer Martin Heidegger und seinem Freund Romano Guardini wird, wie auch die Biographie Krügers und der Briefwechsel zwischen Guardini und Krüger, eine wichtige Aufgabe der kommenden Jahre sein.

Der briefliche Austausch zwischen Krüger, Gadamer und Guardini (Mai/Juni 1949)

Gerhard Krüger schreibt nun am 18. Mai 1949 einen ersten Brief an Guardini in der Festschrift-Angelegenheit und eröffnet den Reigen eines intensiven Austausch- und Klärungsprozesses. Das Vorausgehende ist entweder in der persönlichen Begegnung besprochen worden oder aber verlorengegangen.

Q039

Brief von Gerhard Krüger an Romano Guardini vom 18. Mai 1949 [BSB Ana 342, B 4-Sonderkonvolut, Mappe 3]

Zusammenfassung wird noch erstellt

Q040

Brief von Hans-Georg Gadamer an Romano Guardini vom 21. Mai 1949 [BSB Ana 342, B 11/119]

Zusammenfassung wird noch erstellt

Q041

Brief von Gerhard Krüger an Romano Guardini vom 26. Mai 1949 [BSB Ana 342, B 4-Sonderkonvolut, Mappe 3]

Zusammenfassung wird noch erstellt

Q042

Briefdurchschlag von Romano Guardini an Hans-Georg Gadamer vom 30. Mai 1949 [BSB Ana 342, B 11/119]

Zusammenfassung wird noch erstellt

Q043

Brief von Hans-Georg Gadamer an Romano Guardini vom Juni 1949 [BSB Ana 342, B 22/02-24]

Zusammenfassung wird noch erstellt

Die Abgabe des Beitrags (Dezember 1949)

Q044

Briefdurchschlag von Romano Guardini an Hans-Georg Gadamer vom 28. Dezember 1949 [BSB Ana 342, B 22/02-24]

Zusammenfassung wird noch erstellt.

Die Titelfrage (Januar/Februar 1950)

Q045

Briefdurchschlag von Hans-Georg Gadamer an Romano Guardini vom 20. Januar 1950 [BSB Ana 342, B 22/02-24

Zusammenfassung wird noch erstellt.

Q046

Briefdurchschlag von Romano Guardini an Gerhard Krüger vom 23. Februar 1950 [BSB Ana 342, B 22/02-24, Original in Krüger-Nachlass, Archiv der Universitätsbibliothek Tübingen Mn 13-908]

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Q047

Brief von Gerhard Krüger an Romano Guardini vom 27. Februar 1950 [BSB Ana 342, B 22/02-24]

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Der Brief scheint zügig angekommen zu sein, denn bereits am nächsten Tag, am 28. Februar 1950, schreibt Guardini zustimmend an Krüger zurück. Der Brief ist aber wohl erst am 3. März 1950 angekommen.

Q048

Briefauszug von Romano Guardini an Gerhard Krüger vom 28. Februar 1950 [Archiv der Universitätsbibliothek Tübingen Mn 13-908]

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Auch der Brief an Gadamer datiert noch mit dem 28. Februar 1950.

Q049

Briefdurchschlag von Romano Guardini an Hans-Georg Gadamer vom 28. Februar 1950 [BSB Ana 342, B 22/02-24]

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Das Ergebnis und die zwei weiteren Festschriften

Am Ende umfasste die von Gadamer moderierte Festschrift insgesamt zehn Beiträge: Von Kollegen und Freunden:

  1. Walter F. Otto (* 1874): Die Zeit und das Sein. Unphilosophische Betrachtungen, S. 7-28;
  2. Romano Guardini (* 1885): Leib und Leiblichkeit in Dantes „Göttlicher Komödie“, S. 154-177;
  3. Ernst Jünger (* 1895): Über die Linie, S. 245-284;
  4. Friedrich Georg Jünger (* 1898): Die Wildnis, S. 235-244;
  5. Erik Wolf (* 1902): ΑΝΗΡΔΙΚΑΙΟΣ, S. 80-105;

Von Schülern und Schüler-Schülern:

  1. Karl Löwith (* 1897), Habilitation bei Martin Heidegger 1928 in Marburg: Weltgeschich-te und Heilsgeschehen, S. 106-153;
  2. Hans-Georg Gadamer (* 1900), Habilitation bei Martin Heidegger 1929 in Marburg: Zur Vorgeschichte der Metaphysik, S. 51-79;
  3. Walter Bröcker (* 1902), Heidegger-Assistent (1933-1940): Der Mythos vom Baum der Erkenntnis, S. 29-50;
  4. Gerhard Krüger (* 1902), Schüler Heideggers: Über Kants Lehre von der Zeit, S. 154-177;
  5. Karl Heinz Volkmann-Schluck (* 1914), Schüler Gadamers: Zur Gottesfrage bei Nietzsche, S. 212-234;

Neu gegenüber der Liste vom Juni 1949 war Friedrich Georg Jünger. Zurückgezogen hatten hingegen: Fritz Schalk (* 1902) und Wilhelm Szilasi. Letzterer wollte sich ursprünglich an beiden Festschriften beteiligen, dieses Vorhaben dann aber wohl aufgegeben. Das parallele Unternehmen erschien rechtzeitig zum Geburtstag unter dem Titel „Martin Heideggers Einfluß auf die Wissenschaften. Aus Anlaß seines 60. Geburtstages verfaßt“ (Bern 1949).

Beim Herausgeber der zweiten Festschrift handelt es sich um Wilhelm Szilasi (1889-1966), der zunächst 1918/19 Professor in Budapest war, dann zu Edmund Husserl nach Freiburg wechselte und dort auch bei Heidegger hörte [Zoltán Szalai, Im Schatten Heideggers. Einführung zu Leben und Werk von Wilhelm Szilasi, Freiburg i. Br./München 2016] . Nach einem – aufgrund seiner jüdischen Abstammung notwendigen – Aufenthalt in der Schweiz während des Dritten Reiches, kam er nach 1945 wieder nach Freiburg zurück und übernahm 1947 die Vertretung des suspendierten Martin Heidegger.

Im Jahr nach der Übergabe der Festschrift 1949 kam es im Frühjahr zu einem so starken Zerwürfnis zwischen Szilasi und Heidegger, dass sogar universitäre Vermittlung notwendig wurde [Ott, 1985, a.a.O., S. 121].

Dies mag zum einen noch mit dem von Max Müller beschriebenen Bericht Eugen Finks vor dem Senat über Szilasis Verhalten auf dem ersten Internationalen Philosophenkongress im argentinischen Mendoza vom 30. März bis 9. April 1949 zu tun haben, wo sich Szilasi selbst bereits zu einem Zeitpunkt als Nachfolger Heideggers präsentiert hatte, als er noch temporärer Vertreter ohne Recht, die Bezeichnung „Professor“ führen zu dürfen, gewesen sei [Müller/Vossenkuhl, Auseinandersetzung als Versöhnung, a.a.O., S. 258].

Heidegger und seine Frau hatten aus Sicht Szilasis „bei Kollegen und außerhalb Bemerkungen über das Verhalten und die Bedeutung von Herrn Szilasi in seiner „Heideggers Sache““ verbreitet, „die den Tatsachen widersprächen“[Ott, 1985, a.a.O., S. 121.. Dabei ging es wesentlich auch um die Gerüchte in der Professorenschaft, Szilasi strebe Heideggers Nachfolge an. Man fand im Frühjahr eine Art Kompromiß, Heidegger begegnete Szilasi aber weiterhin ablehnend, was bereits im Juli 1950 zum neuerlichen Eklat führte. Der damalige Leiter des „Studium Generale“, Guy van Kerckhoven, berichtete dazu: „Am 3. Juli 1950 veranstaltete das Studium Generale, das damals unter meiner Leitung stand, erstmals ein Colloquium mit Heidegger in Todtnauberg. Dies war überhaupt die erste, offizielle wissenschaftliche mit Heidegger geführte Universitätsveranstaltung. […] Die drei Oberseminare von Eugen Fink, Max Müller und Bernhard Welte veranstalteten sie. Da auf ausdrücklichen Wunsch Heideggers Prof. Wilhelm Szilasi und sein Seminar nicht dazu gebeten worden war, wollte die Universität dieses 1. Treffen offizieller Art verbieten.“ Daraufhin hatte sich der Leiter des Studium Generale mit Heidegger geeinigt, das Ansinnen des Rektors und Dekans zurückzuweisen, da eine andere Stelle der Universität dem Leiter des Studium Generale nicht weisungsbefugt sei [Guy van Kerckhoven, Nachwort des Herausgebers, in: Martin Heidegger, Colloquium über Dialektik, in: Hegel-Studien, 25, 90, S. 34-40, hier S. 37 f.].

Die Beiträger der zweiten Festschrift waren:

  1. Ludwig Binswanger (* 1881): Die Bedeutung der Daseinsanalytik Martin Heideggers für das Selbstverständnis der Psychiatrie, S. 58-72;
  2. Wilhelm Szilasi (* 1889), Lehrstuhlvertreter Heideggers: Interpretation und Geschichte der Philosophie, S. 73-87;
  3. Carlos Astrada (* 1894), argentinischer Heidegger-Schüler: Über die Möglichkeit einer existenzial – geschichtlichen Praxis, S. 165-171;
  4. Kurt Bauch (* 1897): Die Kunstgeschichte und die heutige Philosophie, S. 88-93;
  5. Wolfgang Schadewaldt (* 1900): Odysseus – Abenteuer. Aus einer gesprächsweisen homerischen Improvisation über Irrfahrer – Angelegenheiten, S. 94-121;
  6. Robert Heiß (* 1903), Freiburg: Psychologismus, Psychologie und Hermeneutik, S. 22-36;
  7. Hans Kunz (* 1904): Die Bedeutung der Daseinsanalytik Martin Heideggers für die Psychologie und die philosophische Anthropologie, S. 37-57;
  8. Erich Ruprecht (*1906): Heideggers Bedeutung für die Literaturwissenschaft, S. 122-144;
  9. Emil Staiger (* 1908), Zürich: Zu Klopstock „Der Zürchersee“, S. 145-164;
  10. Heinz-Horst Schrey (* 1911), Professor für Systematische Theologie in Tübingen: Die Bedeutung der Philosophie Martin Heideggers für die Theologie, S. 9-21;
  11. Carl Friedrich von Weizsäcker (* 1912): Beziehungen der theoretischen Physik zum Denken Heideggers, 172-174.

Wenn man beide Festschriften zusammenschaut, fällt auf, dass die „katholischen“ Heidegger-Schüler und Freunden fehlen: Heinrich Ochsner (* 1891), Heinrich Auer (* 1894), Johannes Baptist Lotz SJ (* 1903), Eugen Seiterich (* 1903), Gustav Siewerth (* 1903), Karl Rahner SJ (* 1904), Eugen Fink (* 1905), Wilhelm Weischedel (* 1905), Max Müller (* 1906), Bernard Welte (* 1906), von den anderen Schülern und Kollegen neben den bekannten Absagen von Werner Gottfried Brock (* 1901), Heidegger-Assistent (1931-1933), Karl Jaspers (* 1883) und Kurt Riezler (* 1882) noch Rudolf Bultmann (* 1884), Rudolf Stadelmann (* 1902) und Ernesto Grassi (* 1902). Für die katholischen Freunde und Schüler muss allerdings berücksichtigt werden, dass Max Müller den ersten Band „Symposion. Jahrbuch für Philosophie“ von 1948 ausdrücklich Martin Heidegger zum 60. Geburtstag widmete. Max Müller selbst war „Leiter“ dieser Ausgabe, die 1949 erschien und nahm im Vorwort „die Widmung dieses Jahrbuches zu Martin Heideggers 60. Geburtstag“ vor und inhaltlich Bezug auf Heideggers Wort „Anwesung“ [Max Müller, Vorwort, in: Symposion. Jahrbuch für Philosophie, Bd. 1, 1948 (erschienen 1949), S. 3 und S. 8]. Das Herausgebergremium bestand aus Hedwig Conrad-Martius, Eugen Fink, Viktor E. von Gebsattel, Johannes Baptist Lotz, Simon Moser, Max Müller, Heinrich Ochsner, Gustav Siewerth, Theodor Steinbüchel +, Bernhard Welte und Erik Wolf. Darin erschienen folgende Beiträge:

  1. Gustav Siewerth: Die Apriorität der menschlichen Erkenntnis nach Thomas von Aquin“;
  2. Erik Wolf: Der Ursprung des abendländischen Rechtsgedankens bei Anaximander und Heraklit;
  3. Willi Stadler: Was ist Friede?;
  4. Robert Heiß: Hegel und Marx;
  5. Wolfgang Struve: Die neuzeitliche Metaphysik der Subjektivität. Interpretationen zu Kierkegaard und Nietzsche;
  6. Walter Rehm: Rilke und die Duse.

Rudolf Bultmann war hingegen von Gadamer angefragt worden, hatte aber in einem Brief vom 18. Juni 1948 mit folgender Begründung abgesagt:

„Ich fühle mich soweit solidarisch mit meinen jüdischen Freunden, daß ich mich kaum entschließen kann, an einer öffentlichen Ehrung für H. teilzunehmen, bevor er in irgend einer Form zum Ausdruck gebracht hat, daß er sich von seinem früheren Verhalten distanziert, gerade sofern es die Juden angeht“[Brief in DLA Marbach, zitiert nach: Konrad Hammann, Rudolf Bultmann und seine Zeit. Biographische und theologische Konstellationen, 2016, S. 56, Fußnote 84].

Bultmann hatte bereits 1933 nach der Rektoratsrede brieflich bei Heidegger protestiert, ihm allerdings die Freundschaft nicht aufgekündigt [Vgl. Brief vom 27. Januar 1935: „Lieber Freund!“, in: Bultmann/Heidegger, Briefwechsel. 1925-1975, a.a.O., S. 197].

Briefwechsel bezüglich Heideggers Emeritierung (1949)

War in der Festschrift-Angelegenheit die Vergangenheit Martin Heideggers als Freiburger Rektor im Dritten Reich nicht direkt thematisiert worden, sondern nur als Grund für die gestellten Bedingungen an die Form und an das Einverständnis bzw. die Beteiligung seiner jüdischen Schüler gegenwärtig war, wurde das Thema im Briefwechsel mit Max Müller erstmals direkt angesprochen. Dieser Briefwechsel ist sowohl in der Heidegger- wie auch der Guardini-Forschung schon seit längerem bekannt und einzelne Briefe daraus sind auch bereits veröffentlicht. Max Müller wollte von Romano Guardini eine Empfehlung für Heideggers Emeritierung und Veröffentlichungsmöglichkeiten erhalten. Dies war von Müllers Wunsch geprägt, insbesondere auch die finanziell prekäre Situation der Familie Heidegger zu verbessern. Max Müller konstatierte gleich zu Beginn des Briefes: „Sein verfehlter politischer Einsatz in den Jahren 1933 und 1934 ist ja bekannt“ und etwas später, dass die Fakultät das Ergebnis des Bereinigungsausschusses anerkenne und der Auffassung sei, dass Heidegger der Universität durch sein Verhalten „schweren Schaden zugefügt“ habe.

Q050

Brief von Max Müller an Romano Guardini vom 11. Juni 1949 [BSB Ana 342, B 12/138]

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Die Reaktion Guardinis zeigt, dass ihm Heideggers „verfehlter politischer Einsatz“ 1933/34 und die daraus erwachsenen Schäden weitaus weniger bekannt und schon gar nicht bewusst war, als Müller es voraussetzt. Gerade damit brachte Müller Guardini in eine schwierige Situation. Allein schon Guardinis Schwierigkeiten bei der Verfassung des Antwortbriefes, der mehrere Anläufe kennt und auch einiges an Zeit brauchte, zeigen das Dilemma an, in dem sich Guardini befand. Er sprach dies aber sofort offen an:

Q051

Briefentwurf von Romano Guardini an Max Müller (nach dem 11. Juni 1949) [BSB Ana 342, B 4-Sonderkonvolut, Mappe 1]

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Auch der nachfolgende Entwurf ist noch von zahlreichen handschriftlichen Korrekturen betroffen und ist so nicht abgeschickt worden. In diesem Brief ist insbesondere Guardinis Einschätzung wichtig, dass Martin Heidegger kein Briefeschreiber sei, und seine Feststellung, dass ein persönlicher Austausch über diese Dinge mit ihm nicht stattgefunden habe. Dies hat er in den später abgeschickten Brief nicht aufgenommen, ist aber wichtig, um Guardinis Schwierigkeiten mit dem Anliegen Max Müllers besser zu verstehen. Während im abgeschickten Brief vom 1. Juli vor allem die Frage der fehlenden Kompetenz und Zuständigkeit und des fehlenden Auftrags von Martin Heidegger selbst in den Vordergrund rückt, wird hier deutlich, dass er sich auch unwohl damit fühlt, „entlastend“ Stellung nehmen zu sollen, ohne aus erster Hand wirklich etwas über die Vorgänge von 1933/34 zu wissen, zumal wenn die Fakultät selbst von einem „schwerem Schaden“ spricht, den Heidegger der Universität mit seinem damaligen Verhalten zugefügt habe:

Q052

Briefentwurf von Romano Guardini an Max Müller vom 18. Juni 1949 [BSB Ana 342, B 4-Sonderkonvolut, Mappe 1]

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Abgeschickt hat er schließlich am 1. Juli 1949 den folgenden Brief:

Q053

Briefdurchschlag von Romano Guardini an Max Müller vom 1. Juli 1949 [BSB Ana 342, B 12/138; Abschrift im Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1246; auszugsweise veröffentlicht bei Hugo Ott, 1985, jetzt vollständig in: Heidegger-Jahrbuch, Band 4: Heidegger und der Nationalsozialismus I, 2009 und bei Gerl-Falkovitz, 2019]

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Nachdem Guardini fast drei Wochen für die Antwort gebraucht hat, überkreuzt sich sein Brief vom 1. Juli mit einer Nachfrage von Max Müller am 4. Juli 1949:

Q054

Brief von Max Müller an Romano Guardini vom 4. Juli 1949 [BSB Ana 342, B 12/138]

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Nachdem Max Müller den Brief Guardinis vom 1. Juli dann aber erhalten hatte, hakte er am 13. Juli 1949 noch einmal nach, ob man Guardinis Brief nicht doch zumindest ausschnittsweise zitieren dürfte, um Existenzsicherung und Aufhebung des Lehrverbots für Heidegger erreichen zu können.

Q055

Brief von Max Müller an Guardini vom 13. Juli 1949 [BSB Ana 342, B 4-Sonderkonvolut, Mappe 1; Abschrift in Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1246, veröffentlicht bei Gerl-Falkovitz, 2019]

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Q056

Briefdurchschlag von Romano Guardini an Max Müller vom 26. Juli 1949 [BSB Ana 342, B 12/138; Abschrift in Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1246, bereits veröffentlicht in: Gerl-Falkovitz, 2019]

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Q057

Auszug aus einem Brief von Romano Guardini an Johannes Spörl vom 30. Juli 1949 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1246]

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In diesem Fall dürfte Guardini von seiner eigenen „Zwangslage“, entgegenkommen zu müssen, sprechen, nicht von der für Heidegger entstandenen Lage. Faktisch hatte ihn nämlich Heidegger, anders als viele andere nach 1945, selbst nie um eine Stellungnahme oder ein Gutachten gebeten. Bislang gibt es keine Anzeichen, dass der Vorgang noch weiter gegangen wäre. Auch ein Dankbrief Müllers auf die Zustimmung Guardinis vom 26. Juli 1949 hin, ist bislang im Guardini-Nachlass oder als Entwurf im Müller-Nachlass nicht aufgefunden worden.

Romano Guardini, die Bayerische Akademie der Schönen Künste und Heideggers Vortrag „Das Ding“ in München

Guardinis Aufnahme in die Bayerische Akademie der Schönen Künste (1948) und seine ersten Kontakte zu Graf Podewils

Am 18. Mai 1948 teilte der erste Generalsekretär der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, Alfred Jacob, Guardini brieflich mit, dass das Wählergremium ihn in seiner Sitzung vom 11. Mai 1948 als weiteres ordentliches Mitglied der Akademie gewählt hat [BSB Ana 342, B 23/01-03]. Der erste bis jetzt bekannte Brief Guardinis an den Grafen von Podewils war einer an ihn als neuem Generalsekretär der Akademie. Am 26. Juli 1949 bot Guardini darin nämlich seinen Rücktritt an, wegen der Unmöglichkeit, an den Sitzungen der Akademie teilzunehmen [BSB Ana 342, B 23/01-03]. Bislang ist kein vor 1949 liegender Kontakt zwischen den Podewils und Guardini bekannt. Vermutlich haben sie sich also erst über die Akademie kennengelernt. Da der Graf von Podewils in den fünfziger Jahren eine zentrale Stellung für Guardinis Verhältnis zu Martin Heidegger einnimmt, müssen wir uns zunächst ihm zuwenden.

Exkurs: Clemens und Sophie Dorothee von Podewils

Der Journalist und Schriftsteller Graf Clemens von Podewils (1905-1978), von Haus aus seit 1927 promovierter Rechtswissenschaftler, wirkte von 1932 bis 1934 als Presseattaché an der deutschen Botschaft in Brüssel, zog sich dann aber als Gutsbesitzer auf Schloss Schweißing bei Mies in Westböhmen zurück. Von 1939 an war Podewils als Kriegsberichterstatter in Russland, Italien und Frankreich unterwegs und geriet 1944 in englische Kriegsgefangenschaft, aus der er 1946 zurückkehrte. 1949 hatte er das Amt des Generalsekretärs der Bayerischen Akademie der Schönen Künste zunächst unter dem Präsidenten Wilhelm Hausenstein (1948-1953), dann unter dem Präsidenten Emil Preetorius (1953-1968) übernommen. Seine Ehefrau war die Lyrikerin Sophie Dorothee geb. Freiin von Hirschberg, von deren Bücher es in der Guardini-Bibliothek einige handschriftlich gewidmete Exemplare ab 1951 gibt, seine Tochter ist die Autorin Barbara von Wulffen (1936-2021).

Podewils hatte während der Besatzungszeit zunächst Ernst Jünger in Paris persönlich kennengelernt, nachdem zuvor wohl schon seine Frau mit dem Schriftsteller brieflichen Kontakt hatte. Podewils gehörte in Paris jedenfalls 1941 zur „Georgsrunde“ um Hans Speidel und Ernst Jünger. Das Ehepaar knüpfte wohl vermittelt durch Ernst Jünger noch in den frühen 1940er Jahren erste Kontakte zu dessen Bruder Friedrich Georg Jünger, der das Ehepaar im November 1943 auf Gut Schweißing besuchte. Nach dem Krieg siedelten sich die Podewils in Hirschberg am Haarsee, dem Stammsitz der Familie von Sophie Dorothee von Podewils an. Wann Sophie Dorothee von Podewils den ersten Kontakt zu Martin Heidegger herstellte, ist aus der Sekundärliteratur noch nicht genau zu klären, mitunter ist von Anfang der vierziger, dann aber von nach 1945 die Rede [Vgl. dazu Daniel Morat, Techniken der Verschwiegenheit. Esoterische Gesprächskommunikation nach 1945 bei Ernst und Friedrich Jünger, Carl Schmitt und Martin Heidegger, in: Moritz Föllmer (Hg.), Sehn-sucht nach Nähe. Interpersonale Kommunikation in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert, Stuttgart 2004, S. 157-174, hier S. 171; und ders., Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Hei-degger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger, 1920-1960, 2007, hier S. 353 f. Zu dieser Pariser „Georgsrunde“ vgl. Hans Speidel, Aus unserer Zeit. Erinnerungen, 1977, S. 112].

Spätestens ab der zweiten Jahreshälfte 1949 waren sowohl die Brüder Jünger als auch Martin Heidegger regelmäßig zu Gast am Haarsee sowie in Allreuthe über dem Bodensee und Schloss Walchen in Oberösterreich, Besitzungen von Prinz Albrecht von Schaumburg-Lippe, der mit der Schwester von Sophie Dorothee von Podewils verheiratet war.

Aufgrund eines Briefes von Georg Britting wissen wir, dass auch Guardini bereits 1949 bei einem Treffen bei den Podewils dabei war. Dieser war in einer ähnlichen Konstellation aber auch schon zuvor im August 1949 mit Guardini zusammengetroffen. So fügte er einem Brief vom 24. August 1949 an seinen Freund Georg Jung handschriftlich hinzu:

„Vor ein paar Tagen hatten wir eine schöne Abendsitzung: Guardini, Stefan Andres, Ernst Jünger und ich. Mit vielem Wein und vielem Gespräch“[Briefe von Georg Britting an Georg Jung 1943 bis 1963, 2005, S. 116, Brief Nr. 88 vom 24. August 1949].

Im einem der darauffolgenden Briefe vom 20. September 1949 heißt es dann:

„ich war schon wieder bei den podewils auch penzoldt war da, der zweck war friedrich georg jünger kennen zu lernen, eine sozusagen bäuerliche ausgabe seines bruders ernst. fast gefiel er mir besser als sein bruder. ganz ruhig, wenig redend und viel trinkend. sie müssen uns für eine rechte saufgesellschaft halten! ist auch was dran! […] Graf und Gräfin Podewils (beide dichten, von ihr erschien bei suhrkamp ein roman) mit den brüdern jünger befreundet, waren die gastgeber des abends, von dem ich ihnen schrieb. andern tags fuhr jünger zu ihnen auf ihr gut im oberbayerischen, wo auch f.g.jünger schon oft war, und ich war schon oft eingeladen, aber bis jetzt fand ich die zeit nicht. es war ein hocharistokratischer abend, an die vier gräfinnen und ein graf arnim, der mit ernst jünger in paris war, waren noch da. auch dr. ritter von schramm, ein alter bekannter von mir. ernst jünger sieht aus wie ein spanier, mit dunkler haut, und spricht schnarrend-hannoveranisch wie ein gardeleutnant. macht einen schüchtern-arroganten eindruck. guardini, leise sprechend, sass still in der ecke. ein rokokosaal mit alten möbeln, zuerst wiski, dann vielen und guten wein. die zahlreichen gräfinnen boten ununterbrochen platten mit guten brötern an. stefan andres, der seit 37 in positano lebt, halbjüdische frau, deswegen, ein stämmiger moselaner, erzählte von italien, dem einzug der alliierten dort, höchst amüsant. mit guardini unterhielt ich mich über raabe, über den er in der „vision“ einen langen aufsatz schrieb. über boccaccio, den er liebt. er, guardini, ist in verona geboren. zu einem richtigen, guten gespräch kam es nicht, oder erst spät. zu viel leute. als der wein langsam zu ende zu gehen schien, gegen ein uhr, sassen andres, jünger und ich allein am mitteltisch, man respektierte uns, man trank nicht mehr, um uns den wein zu lassen, und wir leerten noch ein paar flaschen. jünger macht einen bedeutenden eindruck. ich las grad seine „strahlungen“. andres ist ein grosser freund meines hamlet. er schrieb mir vor jahren drüber. er sagte, das buch sei für ihn richtungweisend gewesen, und er habe unendlich an ihm gelernt. ob und wie weit jünger mich kennt, weiss ich nicht. das ist ja unter autoren wichtig. nicht aus eitelkeit. er mag raabe und keller nicht, sagte er. da war guardini schon weg, er ist pfarrer und darf nach mitternacht nichts mehr essen und trinken. wegen messe lesen. da muss man nüchtern sein. 3,4 leute bloss wär ergiebiger gewesen"[Briefe von Georg Britting an Georg Jung 1943 bis 1963, 2005, S. 118 f., Brief Nr. 91 vom 20. September 1949].

Weitere Widmung (1949): Meister Eckhart und die Dinge

Q058

Widmung Heideggers an Guardini (1949) [Guardini-Bibliothek gb 4043]

Am 7. November 1949 schenkte Heidegger, versehen mit einer handschriftlichen Widmung, Guardini sein Prosastück “Der Feldweg” (1949).

Die Widmung lautet: "Romano Guardini Mit herzlichem Gruß Martin Heidegger Fg. 7. XI. 49"

Ob das angegebene Datum für Heidegger und/oder Guardini irgendeine nähere Bedeutung hat oder nur aufgrund des Sendedatums besteht, konnte bislang nicht ermittelt werden. „Der Feldweg“ kann hier aber durchaus in den Zusammenhang mit dem Vortrag „Das Ding“ gestellt werden. Die Brücke dazu bildet „der alte Lese- und Lebemeister Eckehardt“. Er ist der einzige Denker, der im Text „Der Feldweg“ von 1949 Erwähnung findet und zitiert wird:

„Das Einfache verwahrt das Rätsel des Bleibenden und des Großen. Unvermittelt kehrt es bei den Menschen ein und braucht doch ein langes Gedeihen. Im Unscheinbaren des immer Selben verbirgt es seinen Segen. Die Weite aller gewachsenen Dinge, die um den Feldweg verweilen, spendet Welt. Im Ungesprochenen ihrer Sprache ist, wie der alte Lese- und Lebemeister Eckehardt sagt, Gott erst Gott“[Martin Heidegger, Der Feldweg, in: ders., Aus der Erfahrung des Denkens. 1910-1976, Gesamtausgabe, Bd. 13, Teil 1, S. 87-90, hier S. 89].

Und ein solches Zitat von Meister Eckhart findet sich auch in „Das Ding“ von 1950:

„Demgemäß gebraucht der Meister Eckhart das Wort dinc sowohl für Gott als auch für die Seele. Gott ist ihm das „hoechste und oberste dinc“. Die Seele ist ein „groz dinc“. Damit will dieser Meister des Denkens keineswegs sagen, Gott und die Seele seien dergleichen wie ein Felsblock: ein stofflicher Gegensatnd; dinc ist hier der vorischtige und enthaltsame Name für etwas, das überhaupt ist. So sagt der Meister Eckhart nach einem Wort des Dionysius Areopagita: diu minne ist der natur, daz si den menschen wandelt in die dinc, die er minnet“[Heidegger, Das Ding, in: ders., Vorträge und Aufsätze, (11)2009, S. 169].

Meister Eckhart hat für das Werk Heideggers wohl eine ähnlich entscheidende Stellung und Bedeutung wie Dante für das Werk Guardinis, worauf wir zum Abschluss noch einmal zurückkommen werden.

Das Vorfeld des Münchner Vortrags über „Das Ding“

Wann aus diesen ersten, informellen Akademie-Treffen heraus die Idee geboren wurde, Martin Heidegger in der Akademie über „Das Ding“ einen Vortrag halten zu lassen, ist noch nicht ganz rekonstruiert, lediglich dass Podewils Heidegger spätestens Mitte April 1950 für einen Vortrag Anfang Juni gewonnen hatte, wissen wir durch Petzet:

„[…], in der zweiten Aprilhälfte, erreichte mich in Icking ein Anruf des Grafen Clemens Podewils, des Generalsekretärs der nach dem Kriege in München gegründeten Bayerischen Akademie der Schönen Künste, deren Präsident Emil Preetorius war. Podewils teilte mir mit, daß man Heidegger für einen Vortrag vor der Akademie Anfang Juni gewonnen habe; nun würde er gern wegen der Einzelheiten sich mit mir besprechen, da ich – wie er erfahren habe – Heidegger so gut kenne“[Petzet/Heidegger, Auf einen Stern zugehen, a.a.O., S. 74. Zu diesem Zeitpunkt war aber noch Wilhelm Hausenstein Präsident].

Den Vortrag selbst hatte Heidegger bereits als Teil eines Vortragszyklus in Bremen (Dezember 1949) und auf der Bühlerhöhe (März 1950) gehalten.

Nachdem kurz vor der Tagung von Seiten ein Telegramm des Direktoriums der Akademie an Heidegger ging, in dem es um einen Vortragsstil – im Nachhinein stellte sich heraus, dass es sich hier um einen Übertragungsfehler handelte und es „Vortragstitel“ heißen sollte – und einen zur Akademie passenden, also auf die „Schönen Künste“ Bezug nehmenden Untertitel ging. Der aufgrund zeitgleicher Schwierigkeiten hochsensibilisierte Heidegger hörte aus dem missverständlichen Telegramm sofort Maßregelungen heraus, die ihn zusätzlich zu der sich ankündigenden, politischen und publizistischen Aufregung – angefangen vom Kultusminister Alois Hundhammer, der Heidegger innerhalb einer Landtagsdebatte als „als einstigen Steigbügelhalter des Naziregimes“ betitelte und seinerseits die Akademie maßregelte, Heidegger sprechen zu lassen, bis hin zu einschlägigen Presseartikeln. So schrieb Heidegger am 24. Mai 1950 an Petzet:

„Das Maß wird nun langsam voll. Am 24. V. bekam ich nach Meßkirch ein Telegramm, das Direktorium der Akademie wünsche einen Vortragsstil und außerdem einen Untertitel zum Thema, der der Akademie entspreche. Ich habe jetzt den Vortrag unwiderruflich abgesagt. Ich glaube nicht, daß Graf P. mit der Sache zu tun hat. Aber ich habe vor einem Vierteljahr unter Verzicht auf Honorar den Vortrag genau formuliert „Über das Ding“ zugesagt. Jetzt wünscht man vierzehn Tage vor dem Vortrag noch Besonderes. Man traut mir, von allem Übrigen dieses Gebarens abgesehen, es nicht einmal zu, etwas für diese Akademie vielleicht sehr Wesentliches vorzutragen. So etwas ist mir während der ganzen Hitler-Zeit nicht vorgekommen. Ich bedauere das Ganze tief; all dieses, was zum übrigen hier kommt, schmerzt sehr“[Petzet/Heidegger, Auf einen Stern zugehen, a.a.O., S. 77. Mit Direktorium dürfte der damalige Direktor der literarischen Abteilung Wilhelm Dieß gemeint sein. Der Präsident war damals Wilhelm Hausenstein und nicht, wie Petzet sich abermals vertut, Preetorius].

Allerdings konnten ihn die eigentlichen Freunde – und in diesem Fall vor allem die Gräfin von Podewils – umstimmen:

„Es war vor allem der Freundeskreis des Hauses Podewils, wo er ein lebendiges Echo fand. Da war der Graf selbst, mit dem Heidegger bald Freundschaft schloss, waren die Mitglieder der Akademie, Dichter, Künstler, Schriftsteller, Musiker und Sprachforscher, darunter Carl Orff, Ernst Jünger, Friedrich Georg Jünger, Richard Harder, Ilse Aichinger, Günther Eich, Preetorius, Guardini, Georgiades, von Weizsäcker und Heisenberg. Der Fernsehdirektor Clemens Münster verschaffte Heidegger nähere Einsicht in die Bereiche von Rundfunk und Fernsehen, die ihn im Zusammenhang mit der Erhellung der Technik interessierten“[Ebd., S. 79].

Heideggers eigener Bericht an Hannah Arendt (1950)

Der Vortrag selbst verlief dann den Berichten zufolge erstaunlich ruhig ab. Heidegger schrieb am 27. Juni 1950 an Hannah Arendt von seinem Münchner Vortrag über das Ding sowie über die folgenden Gespräche und erwähnt dabei auch Guardini:

„Freiburg i.B., 27. Juni 50. Hannah, Dein lieber Brief blieb lange ohne Antwort, wenigstens die geschriebene. Der Vortrag über das Ding war am 6. Juni in München; ich bin da etwas in die Höhle des bayerischen Löwen geraten, der im Unterschied zu den sonstigen Löwen ein schwarzes und außerdem ein sehr dickes Fell hat. Mit den überzähligen Sinnen spür-te ich so-gleich das Uneinheitliche und Beleidigte der Atmosphäre; zum Glück war auf meine besondere Bitte die Jugend mit da. Am Abend war im kleinsten Kreis ein gutes Gespräch; ich saß zwischen Guardini und Orff, gegenüber Max Pulver, der sich noch lebhaft an ein Gespräch in Zürich 1935 erinnerte. Man verursacht einige Wir-bel, weckt diesen und jenen. Aber das Bedrückendste ist, daß nur wenige davon etwas ahnen, daß das Denken ein sehr strenges Handwerk ist, auch dann, wenn man die Werkstatthände und was dazu gehört nicht mit vorzeigt“[Hannah Arendt/Martin Heidegger, Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse, hrsg. von Ursula Ludz, 1998, S. 111].

Exkurs: Hannah Arendt (1906-1975) als frühe und späte „Hörerin“ von Guardini und Heidegger

Hannah Arendt war nach einem Schulverweis, vermittelt durch ihre Mutter, nach Berlin gekommen und noch im Wintersemester 1923/24 als Gasthörerin an die dortige Universität gelangt. Dabei geriet sie in die Vorlesungen Guardinis und ist dadurch nach eigenem Bekunden mit den Gedanken des dänischen Philosophen und Theologen Kierkegaard bekannt geworden. Dabei handelt es sich aber wohl um beiläufige Erwähnungen, da Guardini erst im Sommer 1925 explizit zu Kierkegaard, und zwar über „Christentum und Kultur im Anschluss an die Problemstellung Sören Kierkegaards“ gelesen hat. Die Themen der Vorlesungen im Wintersemester 1923/24 lauteten „Gott und die Welt“ und „Das Problem des Konkreten und die Lehre vom Reiche Gottes“. Vom ersten Thema liegt mittlerweile eine studentische, wohl stark zusammenfassende Mitschrift von Ursula Kolberg vor [Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz (Hrsg.), Lauterkeit des Blicks. Unbekannte Materialien zu Guardini, Heiligenkreuz 2013, S. S. 134-163]. Laut dieser Mitschrift hat Guardini dabei zumindest auf Kierkegaards Erörterungen über das Prophetentum verwiesen [Ebd., S. 140]. Auch bei der zweiten Thematik gäbe es Möglichkeiten dies im Blick auf seine Gegensatzlehre und auf seine beginnende Auseinandersetzung mit Sokrates zum Beispiel mit Kierkegaards Schrift „Über den Begriff der Ironie. Mit ständiger Rücksicht auf Sokrates“ in Verbindung zu bringen [Sören Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie. Mit ständiger Rücksicht auf Sokrates, 1961]. Die Arendt-Biographin Elisabeth Young-Bruehl resümiert dazu:

„In Guardinis Vorlesung war sie mit dem dänischen Philosophen und Theologen Kierkegaard bekannt geworden und von dessen Werk so fasziniert, daß sie beschlossen hatte, im Hauptfach Theologie zu belegen. Sie blieb jedoch kritisch gegenüber jeder Form dogmatischer Theologie – und zwar nicht, weil sie keine Christin war, sondern weil der Dogmatismus Kierkegaard nicht entsprach“[Elisabeth Young-Bruehl, Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit. Erweiterte Ausgabe mit neuem Vorwort, 2016].

Zuvor hatte schon Friedrich Georg Friedmann 1985 in seiner Arendt-Biographie dazu geschrieben:

„Darauf ging sie nach Berlin, wo sie als Gasthörerin an der Universität Vorlesungen in klassischer Philologie und Theologie belegte und für kurze Zeit unter den Einfluß von Romano Guardini kam. Guardini machte sie mit den Schriften Søren Kierkegaards bekannt, der ihrer jugendlichen Rebellion eine existenzphilosophische Grundlage gab“[Friedrich Georg Friedmann, Hannah Arendt: eine deutsche Jüdin im Zeitalter des Totalitarismus, 1985, S. 16].

Nach dem Ablegen eines externen Abiturs ging Arendt zum Wintersemester 1924/25 nach Marburg, um bei Heidegger Philosophie zu studieren [Im Januar 1925 begann ein fünfzig Jahre lang andauernder Briefwechsel zwischen Arendt und Heidegger, der mittlerweile publiziert ist: Hannah Arendt/Martin Heidegger, Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse, hrsg. von Ursula Ludz, 1998]. Nachdem Heidegger sich in die Studentin Arendt verliebt hatte, dauerte die daraus erwachsene „Affäre“ über ein Jahr lang. Nach ihrer Trennung ging sie, anders als Heidegger ihr empfohlen hatte, nicht gleich zu Edmund Husserl nach Freiburg, sondern wechselte zum Sommersemester 1926 zunächst zu Karl Jaspers nach Heidelberg. Erst im Wintersemester 1926/27 wechselte sie für ein Semester zu Husserl nach Freiburg, kehrte anschließend aber wieder nach Heidelberg zurück [Für die Studienabfolge siehe zuverlässig erst Arendt/Heidegger, Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse, a.a.O., S. 278. Vorher weichen die Bezüge von Jahr und Studienort sehr stark voneinander ab]. Bei Jaspers wurde Hannah Arendt schließlich im November 1928 mit einer Arbeit über den Liebesbegriff von Augustinus promoviert, die Arbeit erschien erstmals gedruckt 1929. Ob – wie mitunter vermutet wird [So zum Beispiel Eugen Biser in seiner Rezension zur Friedmann-Biographie, in: Stimmen der Zeit, 204, 1986, S. 859] – auch diese Arbeit noch unter dem Eindruck von Guardinis Berliner Vorlesungen konzipiert wurde, geht aus den bisherigen autobiographischen oder biographischen Forschungen nicht zweifelsfrei hervor. Guardini hatte bis zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht einschlägig über Augustinus publiziert, so dass er in der Arbeit selbst auch nicht herangezogen wurde. Die Frage würde sich klären, wenn man mit Sicherheit sagen könnte, ab und bis wann genau und was Hannah Arendt bei Guardini in Berlin gehört hat. Immerhin hatte Guardini laut Vorlesungsverzeichnis im Sommersemester 1924 und im Wintersemester 1924/25 über „Augustins religiöses Weltbild und dessen Bedeutung für die Gegenwart“ gelesen. So könnte sie im Sommersemester noch die erste Augustinus-Vorlesung gehört haben.

Hannah Arendt hat sich auch noch in den fünfziger Jahren mit Guardini verbunden gefühlt und von einigen seiner Arbeiten Kenntnis genommen. Im Rahmen einer Reise im Jahr 1952 war ihr erster Zwischenstopp München. Dort besuchte sie die Ethik-Vorlesung Guardinis und kommt dabei allerdings in einem Brief an Heinrich Blücher zu einem gemischten Urteil:

„War bei Guardini im Kolleg, ebenfalls mindestens 1200 Menschen, stehend, liegend, sich drängend. Er liest irgendwie über Ethik; Moralphilosophie auf dem höchsten Niveau und ganz unzulänglich“[Hannah Arendt/Heinrich Blücher, Briefe 1936-1968, hrsg. von Lotte Köhler, 1996, S. 270].

Außerdem verweist Sie in der Publikation eines Vortrags „Religion and Politics“ einer Summer School Conference an der Harvard University im Juli 1953 in einer Fußnote ausdrücklich auf Guardini:

„Ich stimme durchaus mit Romano Guardini überein, der jüngst festgestellt hat, die Säkularität der Welt, die Tatsache, daß unsere tägliche öffentliche Existenz „ohne Bewußtsein von einer göttlichen Macht“ ist, impliziere nicht, daß die einzelnen Menschen zunehmend „unreligiös“ werden, sondern daß „das öffentliche Bewußtsein sich von religiösen Kategorien immer weiter entfernt“, auch wenn ich seine Schlußfolgerung, daß Religion, wo immer sie existiert, „sich in die >innere Welt< zurückzieht“, nicht teile. Ich zitiere aus Commonweal 58, Heft 13, 3. Juli 1953, S. 323 f., wo ausführliche Exzerpte eines gerade in The Dublin Review, London, Nr. 459 (First Quarten 1953), über „The Jewish Problem Reflexions an Responsibility“ erschienenen Artikels nachgedruckt wurden“' [Hannah Arendt, Religion and Politics, in: Confluence, 2, 1953, Heft 3 (September), S. 105-126 (Vortrag einer Summer School Conference an der Harvard University vom 20. bis 22. Juli 1953); deutsch: Religion und Politik, auch in: dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft, München/Zürich, (3)2000, S. 305-324, zu Romano Guardini siehe S. 309, Fußnote 13. Laut einer Anmerkung zur deutschen Übersetzung handelt sich dabei um eine Übersetzung von Romano Guardini, „Verantwortung – Gedanken zur jüdischen Frage: Eine Universitätsrede“, in: Hochland 44, 1951-1952, S. 481-493, verbunden mit dem Hinweis, dass die englische und deutsche Fassung dieser Rede Guardinis an der von Arendt zitierten Stelle in der Aussage voneinander abweichen]

Eine zentrale Auseinandersetzung mit der Existenzphilosophie von Heidegger und Jaspers findet sich in ihrem zuerst 1946 in Englisch, dann 1948 in Deutsch erschienenen Aufsatz „Was ist Existenz-Philosophie?“ [Hannah Arendt, What ist Existenz Philosophy?, in: Partisan Review, 18, Winter 1946, S. 35-56; dann in: dies., Sechs Essays, 1948]. Im Februar und März 1950 hatte Arendt Heidegger in Freiburg nach über zwanzig Jahren wiedergesehen. Dies hier noch näher zu entfalten, ist nicht notwendig, da diese inhaltlichen Auseinandersetzungen und biographischen Begegnungen Arendts mit Heidegger in keinem unmittelbaren Bezug zu Guardini stehen. Erwähnenswert ist dagegen, dass jüngst in der Arendt-Forschung darauf hingewiesen wird, dass Arendt die englische Übersetzung von „Das Ende der Neuzeit“ (The end oft he modern age) gelesen und dieses Theorem übernommen habe. In „After Utopia“ (1957) nennt sie dieses Buch, reiht es allerdings unter die Literatur des „christlichen Fatalismus“ in der Tradition De Maistres ein. In ihrem philosophischen Hauptwerk dagegen, 1958 im Englischen unter dem Titel „The Human Condition“, 1960 im Deutschen – von ihr selbst übersetzt – unter dem Titel „Vita activa oder Vom tätigen Leben“ heißt es in der Einleitung:

„Die Neuzeit hat im siebzehnten Jahrhundert damit begonnen, theoretisch die Arbeit zu verherrlichen, und sie hat zu Beginn unseres Jahrhunderts damit geendet, die Gesellschaft im Ganzen in eine Arbeitsgesellschaft zu verwandeln. […] So reicht der historische Horizont des Buches nicht weiter als bis zum Ende der Neuzeit. Die Neuzeit und die moderne Welt sind nicht dasselbe“[Hannah Arendt: Vita activa – oder – Vom tätigen Leben, München 2002, S. 12 und S. 14].

1960 verweist sie in einer Antwort auf Michael Polanyi darauf, dass die Stimmung und die Theorie in seinem Essay „Jenseits des Nihilismus“ wohl erstmals von Ernst Jünger in „Jenseits des Nullpunkts“ und von Romano Guardini in „Ende der Neuzeit“ beschrieben worden sei [Hannah Arendt: Challenges to Traditional Ethics. A Response to Michael Polanyi, in: Hannah Arendt Papers, Manuscript Division, Library of Congress, Washington, D. C.. Arendt hat diese Antwort 1960 auf der wissenschaftlichen Konferenz „Philosophy and Religion in Their Relation to the Democratic Way of Life in 1960“ gegeben].

Weitere Erinnerungen an Heideggers Vortrag über „Das Ding“

Der Jesuit Johannes B. Lotz erinnerte sich 1977 mehr an das nachfolgende Gespräch im Hause Mangoldts als an den Vortrag selbst:

„In München bin ich Heidegger begegnet, als er 1950 seinen Vortrag über ‚Das Ding’ hielt; der Saal des Prinz-Carl-Palais konnte die aufmerksamen Zuhörer kaum fassen. Damals lernte ich den Grafen Clemens Podewils kennen, der mir seitdem freundschaftlich verbunden blieb. Nach dem Vortrag fand sich ein kleiner Kreis von etwa ein Dutzend Personen bei Frau Ulla von Mangoldt in der Kaulbachstraße zu einem Gespräch mit Heidegger zusammen, das sich meiner Erinnerung nach hauptsächlich um „das Geviert“* drehte und bei dem Romano Guardini eine hervorragende Rolle spielte“ [*also über die Gestaltung der logischen Struktur nach Heidegger][Johannes B. Lotz, Im Gespräch, in: Günter Neske (Hrsg.), Erinnerung an Heidegger, 1977, S. 159].

Und von Georg Britting wissen wir aus einem Brief an seinen Freund Georg Jung vom 13. Juni 1950, dass er sowohl beim Vortrag Heideggers über „Das Ding“ als auch beim nachfolgenden Treffen dabei war:

„hier ist unsrer akademie wegen ein sturm im wasserglas, oder, besser, ein pechkessel läuft über. wir liessen martin heidegger lesen. ich war in der vorlesung. gar nicht so schwer und schwierig wie ich dachte. er sprach „über das ding“, er geht vom wort aus, vom wörterbuch sagen seine gegner, deren er viele hat, besonders unter den „soliden“ philosophieprofessoren. es war eine erregende stunde. hernach trafen sich ein paar leute mit ihm, guardini, ein jesuit, orff, der komponist, ich sollte dringend dabei sein, ging aber nicht, weil ich den abend schon wetzlar versprochen hatte. bei heidegger mischen sich, in seiner vorlesung wenigstens, der dichter und der philosoph, wie bei den alten. der schluss seines vortrags war fast eine ode. die herren der universität schäumten, und heissen ihn einen scharlatan. die lesung war überfüllt, bis von wien kamen leute. aber nun gehts los, in der presse, er sei ein alter nazi (ist er), heut noch verboten (ist er), jugendverführer, der die studenten zu nazis machte, und in der tonart. im stadtrat interpellierte ein stadtvater zornig, wieso so ein mann konnte ans pult gerufen werden. gleichzeitig hier in der „neuen zeitung“ ein scharfer angriff auf friedrich georg jünger, der ein nazi sei; und ausgerechnet der habe einen preis der akademie bekommen! der sturm wird noch stärker werden, nehme ich an. wir akademiker treffen uns morgen, was zu tun. vielleicht fängt auch das kultusministerium zu toben an. wiederkehr der nazis, lautet die formel der entrüstung. es ist ein affentheater. in seinen wirkungen aber vielleicht nicht zu unterschätzen“[Briefe von Georg Britting an Georg Jung 1943 bis 1963, 2005, S. 143, Brief Nr. 115 vom 13. Juni 1950].

Der „Wortcharakter der Dinge“ bei Guardini

Von Guardini selbst kennen wir bislang keine direkte Bezugnahme auf diesen Vortrag, allerdings sind Guardinis Briefe aus diesem Jahr noch nicht vollständig ausgewertet. Höchstens der nachfolgende Briefwechsel von 1950/51 zwischen Guardini und Heidegger selbst kann als indirekte Bezugnahme gesehen werden. Allerdings beschäftigt sich Guardini selbst schon länger mit dem „Wortcharakter der Dinge“. Diesen Titel trägt bereits 1939 im „Person“-Teil des Buches „Welt und Person“ der vierte Abschnitt des Kapitels „Der personale Bezug“.

Aber auch in seinen 1998 posthum veröffentlichten Vorlesungen zu „Dantes Göttlicher Komödie“ schreibt Guardini:

„Der Mensch, der in dieser Welt steht, hat ein Auge für diesen Charakter der Welt. ER vermag Symbol zu sehen und Epiphanie zu erfahren. Er hat ein Ohr für den Wortcharakter der Dinge. Die Kontemplation aber, deren Bedeutung als Element des mittelalterlichen Daseins gar nicht hoch genug veranschlagt werden kann, enthält als wichtiges Moment die Realisation der objektiven Hinführung, welche von der Welt zu Gott geht. […] Das ist Mittelalter: Ergriffenwerden des lebendigen Menschen – nicht nur des Verstandes – durch die religiöse Sinnfülle und Bewegungsmacht der Welt“[Romano Guardini, Dantes Göttliche Komödie, Mainz 1998, S. 382].

Briefwechsel zwischen Guardini und Heidegger nach dem Erscheinen der Heidegger-Festschrift (1950)

Guardini schrieb am 10. September 1950 einen Brief, kurz vor seiner Abreise nach Verona und Isola Vicentina. Darin berichtet er Heidegger vom Erscheinen der Psalmenübersetzung und von den geplanten Arbeiten an den Ethik-Vorlesungen:

Q059

Brief von Romano Guardini an Martin Heidegger vom 10. September 1950 [Nachlass Martin Heidegger, von Arnulf Heidegger gefunden]

Zusammenfassung wird noch erstellt.

Martin Heidegger beantwortet diesen Brief am 18. Dezember 1950 und dankt Guardini für seinen Beitrag zur mittlerweile erschienenen Festschrift.

Q060

Brief von Martin Heidegger an Romano Guardini vom 18. Dezember 1950 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern, Nr. 878]

Zusammenfassung wird noch erstellt.

Den Vorschlag Heideggers, den Begriff „Ausdruck“ künftig wegzulassen, ging Romano Guardini in der Folgezeit allerdings nicht ein. Allein für das Wintersemester 1954/1955 kündigte er eine Lehrveranstaltung zum Thema „Ausdruck, Symbol, Sprache“ an [Universität München. Personal- und Vorlesungsverzeichnis für das Wintersemester 1954-1955, München 1954, S. 132]. Von dieser Veranstaltung konnten bislang aber keine Typoskripte oder andere Hinterlassenschaften gefunden werden. Aber auch in seinen späteren Werk ist nicht erkennbar, dass Guardini auf die Begriffe „Ausdruck“ oder „Ausdrucksverhältnis“ verzichtet hättet.

Q061

Karte von Romano Guardini an Martin Heidegger aus Isola Vicentina vom 30. März 1951 [Nachlass Martin Heidegger, von Arnulf Heidegger gefunden]

Zusammenfassung wird noch erstellt.

Q062

Karte von Martin Heidegger an Romano Guardini vom 19. Mai 1951 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern, Nr. 882]

Zusammenfassung wird noch erstellt.

Der hier von Guardini gebrauchte Ausdruck "Philosophie der Grammatik" ist ein vor allem von Nietzsche in die Philosophie eingeführter Begriff [Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, Erstes Hauptstück: Von den Vorurtheilen der Philosophen, Absatz 20]. Wilhelm Köller hat in seiner 2016 erschienenen, sehr aufschlussreichen Darstellung "Philosophie der Grammatik: Vom Sinn grammatischen Wissens" auch sehr viele Verweise auf Heideggers Verhältnis zur "Grammatik" gegeben und auf dessen tatsächlich unternommenen Versuch, die Grammatik von der "vielfach bedingten und beschränkten Logik" zu trennen. Zu verweisen ist an dieser Stelle auch an Egon Viettas Äußerung in seiner Studie "Die Seinsfrage bei Martin Heidegger" von 1950:

"Heidegger spricht sogar von der „Aufgabe der Befreiung der Grammatik von der Logik“. Denn in der Sprache spricht nicht das Subjekt, das seine logischen Kategorien mittels der Grammatik der Sprache aufzwingen will, sondern „ist“ Dasein: was das bedeutet, wird sich erst später herausstellen"[Egon Vietta, Seinsfrage bei Martin Heidegger, 1950, S. 73].

Vietta bezieht sich hier auf "Sein und Zeit", da Heidegger sich darin schon dieser Aufgabe der Befreiung gewidmet habe:

"Die Aufgabe einer Befreiung der Grammatik von der Logik bedarf vorgängig eines positiven Verständnisses der apriorischen Grundstruktur von Rede überhaupt als Existenzial und kann nicht nachträglich durch Verbesserungen und Ergänzungen des Überlieferten durchgeführt werden"[Martin Heidegger, Sein und Zeit, 1977, S. 220].

Neu ist an diesem Austausch zwischen Guardini und Heidegger allerdings, dass auch Guardini sich mit einer "Grammatik" als philosophischer Frage auseinandersetzt. Dies könnte also ebenfalls im Zusammenhang mit Heideggers Münchner Vortrag über "Das Ding" im Sommer 1950 stehen und dem Wunsch Guardinis, Heideggers Sprache besser zu verstehen, wenn dieser zum Beispiel über das Ding sagt:

„Das Ding dingt Welt. Das Ding verweilt das Geviert. Das Ding dingt Welt. Jedes Ding verweilt das Geviert in ein je Weiliges von Einfalt der Welt. Wenn wir das Ding in seinem Dingen aus der weltenden Welt wesen lassen, denken wir an das Ding als das Ding“[Heidegger, Das Ding, in: Gestalt und Gedanke, Band 1, a.a.O., S. 146].

Ende oder Vollendung der Neuzeit?

Heidegger liest Guardinis „Ende der Neuzeit“ (1951/52)

Aus einer Erinnerung von Ernst Vogt für das Wintersemester 1951/52 geht hervor, dass Heidegger Guardinis „Das Ende der Neuzeit“ selbst gelesen hat:

„So beschlossen einige Freunde und ich, ihn [Heidegger] zu einem Vortrag nach Tübingen einzuladen. Wir fuhren also nach Freiburg … und begaben uns zum Zähringer Rötebuckweg 47 … An der Haustüre wurde uns bedeutet, Heidegger sei an einer Bronchitis erkrankt und könne uns nicht empfangen. Aber die gütige, mütterlich wirkende Elfride Heidegger hatte Mitleid mit den aus Tübingen unerwartet hereingeschneiten Besuchern, die ihre Mission so dringlich machten, und ließ uns zu ihrem Manne vor. Heidegger empfing uns, mit roter Zipfelmütze zu Bette liegend (Assoziationen an den kranken Hölderlin und an Mörikes ‚Feuerreiter’ stellten sich ein), auf dem Nachttisch Romano Guardinis kürzlich erschienene Schrift ‚Das Ende der Neuzeit’, mit größter Freundlichkeit, stellte jedoch, als wir unser Anliegen vorgetragen hatten, die mehr als berechtigte Frage, ob unser Plan denn mit Schadewaldt abgesprochen sei. Wir sahen uns betreten an und mußten gestehen, daß wir daran überhaupt nicht gedacht hatten. Das holten wir jedoch sogleich nach unserer Rückkehr nach, und ein oder zwei Semester später … hat Heidegger tatsächlich auf Einladung von Schadewaldt in Tübingen gesprochen“[Ernst Vogt, Studium in Tübingen 1951/52, in: Erich Lamberz (Hrsg.), Literatur der Antike und Philologie der Neuzeit, 2013, S. 572. Ernst Vogt (1930-2017) hat von 1950 bis 1956 Klassische Philologie, Philosophie, Archäologie, Alte Geschichte, Papyrologie und Sprachwissenschaft an den Universitäten Bonn, Tübingen und Athen studiert, in diesem Wintersemester aber in Tübingen. Ab 1967 wirkte er als Professor für klassische Philologie in Mannheim und ab 1975 bis 1999 in München.].

In dem Teil der Heidegger-Bibliothek, der m Deutschen Literaturarchiv in Marburg, befindet sich dieses Studienexemplar mit zahlreichen Anstreichungen und Eintragungen.

„Vollendung der Neuzeit“ versus „Ende der Neuzeit“

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Heidegger just in diesem Wintersemester 1951/52 das Thema „Ende der Neuzeit“ in seinen Vorlesungen „Was heißt denken?“ mehrfach aufgreift und dabei Guardinis Rede vom „Ende der Neuzeit“ explizit ablehnt:

„Nietzsches Denken enthält doch nicht nur die übertriebenen Ansichten eines Ausnahmemenschen. In diesem Denken kommt das zu seiner Sprache, was ist, genauer das, was erst noch sein wird. Denn die „Neuzeit“ ist noch keineswegs zu Ende. Sie tritt vielmehr gerade erst in den Beginn ihrer vermutlich langwierigen Vollendung. Und Nietzsches Denken? Es gehört zum Bedenklichen, daß es noch nicht gefunden ist. Es gehört zum Bedenklichsten, daß wir nicht im geringsten vorbereitet sind, das Gefundene wahrhaft zu verlieren, statt es nur zu übergehen und zu umgehen. Dieses Umgehen vollzieht sich oft in einer harmlosen Form, nämlich dadurch, daß man eine Gesamtdarstellung der Philosophie Nietzsches vorlegt. Als ob es eine Darstellung gäbe, die nicht notwendig bis in den hintersten Winkel schon Auslegung sein müßte. Als ob es eine Auslegung geben könnte, die daran vorbeikäme, eine Stellungnahme zu sein oder gar durch den Ansatz bereits eine unausgesprochene Ablehnung und Widerlegung. Aber ein Denker läßt sich niemals dadurch überwinden, daß man ihn widerlegt und eine Widerlegungsliteratur um ihn aufstapelt“[Martin Heidegger, Was heißt denken?, 1971, S. 23].

Weiter philosophiert Heidegger:

„Es ist jenes Vor-Stellen, das den metaphysischen Grund des Weltalters ausmacht, das man die Neuzeit nennt, die jetzt nicht zu Ende geht, sondern gerade erst beginnt, in insofern das in ihr waltende Sein erst jetzt in das vorgesehene Ganze des Seienden sich entfaltet“[Ebd., S. 31].

Dass es sich in dieser Frage für Heidegger nicht nur um einen „äußerlichen“ Bezeichnungsunterschied, sondern um eine wesentliche Differenz zu Guardinis „Ende der Neuzeit“ als Kennzeichnung des jetzigen Zeitalters:

„Das Denken ist das Vorläufigste alles vorläufigen Tuns des Menschen in der Epoche, da die europäische Neuzeit allererst beginnt, sich auf dem Erdball zu entfallen und zu vollenden. Im übrigen ist es keine bloß äußerliche Frage der Bezeichnung, ob man das jetzige Zeitalter als das Ende der Neuzeit ansieht oder ob man erkennt, daß heute der vielleicht langwierige Prozeß der Vollendung der Neuzeit erst einsetzt“ [Ebd., S. 161].

Auch in seinem Buch „Der Satz vom Grund“ (1957) schreibt Heidegger klar und deutlich: „Die Neuzeit ist nicht zu Ende“:

„Daß in einem solchen Zeitalter die Kunst zur gegenstandslosen wird, bezeugt ihre geschichtliche Rechtmäßigkeit und dies vor allem dann, wenn die gegenstandslose Kunst selber begreift, daß ihre Hervorbringungen keine Werke mehr sein können, sondern etwas, wofür noch das gemäße Wort fehlt. Daß es die Kunstausstellungen modernen Stils gibt, hat mehr mit dem großmächtigen Satz vom Grund, vom zuzustellenden Grund zu tun, als wir zunächst meinen. Die Neuzeit ist nicht zu Ende. Sie beginnt erst ihre Vollendung, insofern sie sich auf die vollständige Zustellbarkeit vor allem, was ist und sein kann, einrichtet“[Martin Heidegger, Der Satz vom Grund, 1957, S. 41; Ausgabe 1971, S. 66.].

Und in den als „Anhang“ 1990 publizierten handschriftlichen Überlegungen Heideggers zu den Nietzsche-Vorlesungen, steht in der überarbeiteten „zweiten Fassung der Wiederholung“ des Abschnitts „Nietzsche. Zum Verhältnis von Denken und Dichten“ aus der Vorlesung „Denken und Dichten“ im Rahmen seiner „Einleitung in die Philosophie“. Diese Vorlesung hatte Heidegger für das Wintersemester 1944/45 angekündigt und begonnen, musste aber aufgrund einer Weisung der NSDAP Mitte November 1944 nach der zweiten Stunde abgebrochen werden. Wann Heidegger die Überarbeitung vorgenommen hat, konnte von mir noch nicht ermittelt werden. Ich gehe aber davon aus, dass sie erst Anfang/Mitte der fünfziger Jahre erfolgte:

„Das 20. Jahrhundert, in dem sich vermutlich das Zeitalter der Neuzeit vollendet, nicht etwa endet, kann nur, ja muß sogar deshalb das Zeitalter der Technik sein, weil diese das anfängliche und daher lang verhüllte Geschick der Neuzeit überhaupt ist“[Martin Heidegger, Nietzsches Metaphysik. Einleitung in die Philosophie. Denken und Dichten, Gesamtausgabe Band 50, 1990, Teil 2, S. 149].

Zur Genese von Guardinis Theorem vom „Ende der Neuzeit“ (1911-1948)

Guardini spricht schon lange vor 1950 von „nach-neuzeitlichen“ Phänomenen, die er schließlich in seinen Büchern „Das Ende der Neuzeit“ (1950) und „Die Macht“ (1951) lediglich umfassender beschreibt. Erstmals 1911 zieht er in seinem anonym erschienenen Rezensionsaufsatz „Das Interesse der deutschen Bildung an der Kultur der Renaissance“ zum Beispiel den Vergleich zwischen dem bevorstehenden „neuen“ Mittelalter zu den Übergangsepochen der „Renaissance“ und des „Hellenismus und des römischen Kaisertums oder der Renaissance“:

„Es gibt aber eine andere Zeit, die uns wirklich verwandt ist, die des Hellenismus und des römischen Kaisertums. Auch sie hatte ein Freiwerden aller individuellen Kräfte und Momente, eine Einstellung der Aufmerksamkeit auf das Ich erlebt. Auch sie war zersplittert, skeptisch und gefangen in dies Ich. Auf sie aber folgte nach langem Ringen eine Periode, die in ihrer Art das hatte, was wir heute suchen, das Mittelalter, jene Jahrhunderte gewaltiger Leistungen, gewaltiger Einheiten. Das Mittelalter ist die modernste Zeit, mehr, es ist unsere Zukunft. Wie aus der zersetzten hellenistisch-römischen Kultur, durch den Eintritt des Christentums und Germanentums das Mittelalter wurde, das Schauspiel, scheint mir, könnte uns Weisheit lehren, denn unsere Aufgabe ist, ein neues ‚Mittelalter’ zu schaffen. Das braucht niemanden zu erschrecken; nicht zurück zum vergangenen, sondern vorwärts zu ‚unserem Mittelalter’ Solls gehen. Vom Entstehen des ersten aber können wir lernen, die Welt wieder nicht mit den kleinen, verschleierten Augen unserer Subjektivität, sondern mit dem Blick der Dinge selbst, Gottes, zu sehen. Könnten uns wieder nach der Enge und Ängstlichkeit der ‚kritischen’ Zeit die große, so tiefschauende Naivität des objektiven Auges, die Kraft der großen ungebrochenen Bejahung erringen, sie für viele verlorenen Ideale der Heiligkeit, der Wahrheit, der Herrlichkeit des Reiches Gottes wiederfinden“[Romano Guardini, Das Interesse der deutschen Bildung an der Kultur der Renaissance, in: ders., Wurzeln eines großen Lebenswerks, Band 1, 2000, S. 18].

In seinem Brief an Heinrich Kahlefeld, den Herausgeber der Sammlung „Unterscheidung des Christlichen“ von 1935, schreibt Guardini mehr als deutlich von der „endenden Neuzeit“:

„Auf jeden Fall hoffe ich, daß der Titel, den das Buch trägt, zu Recht besteht. Es handelt sich hier wirklich um die „Unterscheidung des Christlichen". Um einen Beitrag also zu jener Arbeit, die uns die endende Neuzeit hinterlassen hat und die Gegenwart mit immer größerer Gewalt aufzwingt: die christlichen Begriffe von all den An-Ähnlichungen, Abschwächungen und Überdeckungen, Fehlleitungen und Verzerrungen zu befreien, die sie seit dem Beginn der Neuzeit erfahren haben. Jene christliche Kultur, die im Mittelalter grundgelegt wurde, löst sich erst heute endgültig auf. Der Wille zu nicht-christlichem Dasein und Werk, der im Lauf der letzten Jahrhunderte immer wieder durchgedrungen ist, wird erst jetzt zu einer offenen Macht im europäischen Gesamtdasein. Geistige Entscheidungen, die schon im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert dem Anspruch der Offenbarung gegenüber gefallen sind, kommen nun voll zu Wort und Tat. So beginnt im christlichen Bewußtsein eine doppelte Bewegung: Es sucht die Wurzeln, um sich des Eigentlichen und Echten zu vergewissern; andererseits beginnt es die umgehenden Worte und Gestalten zu prüfen, und all den Zerstörungen entgegenzutreten, die aus der Säkularisation des abendländischen Daseins entspringen“[Romano Guardini, Vorwort (1935), in: ders., Unterscheidung des Christlichen, Band 1: Aus dem Bereich der Philosophie, Mainz (3)1994, S. 13 f.].

Insofern verwundert es auch nicht mehr, wenn er in seinem anthropologischen Buch „Welt und Person“ – erarbeitet Anfang der dreißiger Jahre, veröffentlicht 1939 – dies noch deutlicher ausführt:

„In den Begriffen der Natur, des Subjekts und der Kultur drückt sich jene Verpflichtung aus, welche die Neuzeit entdeckt und auf sich genommen hat: zur Redlichkeit und Sachgerechtigkeit. Sie entschloß sich, die Welt als Wirklichkeit zu nehmen und sie nicht durch den unmittelbaren Übergang ins Absolute zu verdünnen. Sie wurde inne, daß diese Welt dem Menschen in einer zugleich großen und erschreckenden Weise in die Hand gegeben ist, und machte sich bereit, den Sinn dieser Verantwortung nicht durch den Rückgriff auf das Religiöse abzuschwächen, sondern sie selbst als religiöse Aufgabe zu verstehen. Die neuzeitliche Wissenschaft mit ihrer Unerbittlichkeit; die Technik mit ihrer Genauigkeit und Kühnheit; der spezifisch neuzeitliche Geist der Welteroberung, Planung und Gestaltung sind echte Fortschritte. Nicht in dem oberflächlichen Sinn, daß die durch sie charakterisierte Geschichtsepoche ohne weiteres besser wäre als die voraufgehende. Hier von ‚Besser’ oder ‚Schlechter’ zu reden, ist ein zweifelhaftes Ding – ganz abgesehen davon, daß jeder Gewinn an einer Stelle mit Verlust an einer anderen bezahlt wird und wir heute, da die Neuzeit zu Ende geht, immer schärfer sehen, wieviel der Übergang zu ihr gekostet hat. Was eine Epoche der Geschichte gegenüber der anderen rechtfertigt, ist nicht, daß sie besser, sondern daß sie an der Zeit ist. Insofern ist sie auch gut und ein Fortschritt. Die in Rede stehenden Begriffe drücken dieses an der Zeit gewesene Neue aus. Vielleicht muß man sogar sagen, auch noch das Falsche an ihnen hänge irgendwie mit der neuzeitlichen Lebens- und Werkleistung zusammen. Wenn ein solches Werk der Erkenntnis, Beherrschung und Gestaltung vollbracht werden sollte, wie es tatsächlich vollbracht worden ist, mußte vielleicht wirklich in irgend einer Weise eine derart leidenschaftliche Hinwendung zur Welt vollzogen werden“[Guardini, Welt und Person, a.a.O., S. 26].

In seiner berühmten Pariser Rede „Auf der Suche nach dem Frieden“ ist sich Guardini 1948 schließlich voll bewusst, welche Rolle die Entstehung der „Masse“ in der Nach-Neuzeit haben wird:

„Ganz deutlich treten die Phänomene erst in dem Maße hervor, wie die Masse entsteht. Aus dem gegliederten Volke wird nun eine Vielzahl von Menschenatomen; aus dem Staat eine Apparatur, in welcher diese Masse von Atomen zur Aktion gelangt. Nun können die dargelegten Tendenzen ihre ganze Wirkung tun: es entsteht der nach-neuzeitliche totale Staat und mit ihm der nach-neuzeitliche Krieg – jener, mit dem wir Heutigen es zu tun haben“[Romano Guardini, Auf der Suche nach dem Frieden, zuerst in: Hochland, 41, 1948; in: ders., Sorge um den Menschen, Band 2, Mainz (2)1989, S. 7-28, hier S. 12].

Im Zusammenhang mit derartigen „nach-neuzeitlichen“ Fragen um Krieg und Frieden kommt Guardini nun direkt auf die Angst des nach-neuzeitlichen Menschen zu sprechen und steht damit mitten in den „Gedanken der Existentialphilosophie“:

„Es würde tief in das Wesen der geschichtlichen Epochen einführen, wenn man fragte, worin die Angst des primitiven Menschen bestand, von ihr unterschieden die des antiken, des mittelalterlichen, des neuzeitlichen. Die des nach-neuzeitlichen Menschen entspringt daraus, daß die ungeheuerliche Macht, welche er in Händen hält, sich aus der Ordnung gelöst hat; daß sie, im Letzten und Ganzen, weder verantwortet noch gelenkt ist. Der moderne Krieg aber bildet die heftigste Vergegenwärtigung der drohenden Gefahr. Diese Tatsache empfindet nicht bloß der Philosoph, sondern er sieht nur klarer und spricht deutlicher aus, was die Zeit überhaupt fühlt. Darum reagieren so viele Menschen auf die Gedanken der Existentialphilosophie, auch solche, die gar nicht in der Lage sind, sie intellektuell zu verstehen: ihr Daseinsgefühl antwortet auf die Erfahrung, die ihr zugrunde liegt“[Ebd., S. 22].

Heideggers eigene Rede vom „Ende der Neuzeit“ (1938-1940)

Nun ist aber Guardini keineswegs der Einzige, der vor 1950 die Rede vom „Ende der Neuzeit“ führt. Denn ausgerechnet Heidegger selbst spricht ab Mitte der dreißiger Jahre immer wieder von einem „Ende der Neuzeit“. In den sogenannten „Schwarzen Heften“, genauer in den „Überlegungen IV“, die mit 1934/35 datiert sind, heißt es im 23. Abschnitt:

„Diese zerstörende Verwandlung („Destruktion“) muß aller anderen Auseinandersetzung mit dem Christlichen und Neuzeitlichen und mit dem ersten „Ende“, aber auch mit dem großen Zwischenspiel (Kierkegaard – Nietzsche) voraufgehen – weil hier alles verwurzelt ist“[Martin Heidegger, Überlegungen IV, in: ders., Überlegungen II-VI, Gesamtausgabe, Bd. 94, a.a.O., S. 213].

In seinem zwischen 1938 und 1940 entstandenen Skript „Geschichte des Seyns“, das 1998 in zwei Teilen „1. Die Geschichte des Seyns (1938/40)“ und „2. Koinon aus der Geschichte des Seyns (1939/40)“ herausgebracht wurde[Martin Heidegger, Die Geschichte des Seyns 1. Die Geschichte des Seyns (1938/40) 2. Koinon aus der Geschichte des Seyns (1939/40), Gesamtausgabe, Bd. 69, hrsg. von Peter Trawny, Frankfurt am Main 1998], steht im ersten Teil der 36. Abschnitt direkt unter dem Titel „Das Ende der Neuzeit in der Geschichte des Seyns“:

„36. Das Ende der Neuzeit in der Geschichte des Seyns Das metaphysische Ereignis der Vollendung der Neuzeit ist die Ermächtigung des ‚Kommunismus’ zur geschichtlichen Verfassung des Zeitalters der vollendeten Sinnlosigkeit. Nach dem in ‚Sein und Zeit’ gedachten Begriff des Sinnes meint dieses Wort den Entwurfsbereich der Entwerfung des Seins auf seine Wahrheit. Und ‚Wahrheit’ bedeutet die entbergende Freigabe des Seins in das Gelichtete seiner Wesung. Sinn-losigkeit meint daher die Wahrheitslosigkeit: das Ausbleiben der Lichtung des Seins. Sobald dies sich ereignet und das ‚Sein’ gleichwohl wie sonst genannt wird, übernimmt es die Rolle des fraglosen allgemeinsten Wortes für das Allgemeinste und Leerste, das an die unanschauliche äußerste Grenze des Verstellbaren hinausgeschoben ist. Das Sein des Seienden, in jeglichem Verhalten, Sagen und Schweigen des Menschen zwar ständig gemeint, hat auf eine Lichtung und Bestimmung seiner selbst verzichtet“[Ebd., S. 37].

Auch in den „Beilagen zu: Koinon“ – aus den Aufzeichnungen „Die Geschichte des Seyns“ kommt dieses Theorem vor, wobei Heidegger es hier allerdings äußerst problematisch mit der „Rassenpflege“ als „notwendiger Maßnahme“ verknüpft:

„Die Rassenpflege ist eine notwendige Maßnahme, zu der das Ende der Neuzeit drängt. Ihr entspricht die schon im Wesen der ‚Kultur‘ vorgezeichnete Einspannung dieser in eine ‚Kulturpolitik‘, die selbst nur Mittel der Machtermächtigung bleibt“[Ebd., S. 223].

In den „Überlegungen VI“, die in das Jahr 1938 datiert werden, stellt er sich im 93. Abschnitt erstmals die Frage, wie ein „neuzeitliches Mittelalter“ aussehen müsste:

„Wie müsste ein neuzeitliches Mittelalter aussehen? Welche Form hätte seine „Scholastik“? In welcher Weise vollzögen sich die konziliarischen-dogmatischen Verdammungen der Sätze | von Denkern, falls es diese gäbe? Welche Gestalt hätten die neuzeitlichen Prälaten und Abbés dieses Mittelalters?“[Martin Heidegger, Überlegungen VI, in: ders., Überlegungen II-VI, Gesamtausgabe, Bd. 94, a.a.O., S. 477].

Irgendwann zwischen 1938 und 1939 geht Heidegger dann von den Formeln „Ende der Neuzeit“ und „neuzeitliches Mittelalter“ ab und verwendet stattdessen die Rede von der „Vollendung der Neuzeit“. Dabei versucht Heidegger Antworten zu finden, was diese „Vollendung der Neuzeit“ kennzeichnet. Dabei kommt er im 115. Abschnitt auf das „Riesige“ als das Hauptkennzeichen dieser Vollendung zu sprechen:

„Das Riesige als das Kennzeichen der „Vollendung“ der Neuzeit. Das Riesige aber ist nichts „Quantitatives“, sondern die Qualität, die das Quantitative als solches, d. h. in seiner End- und Maßlosigkeit schlechthin zum „Quale“ „qualifiziert“. Erst jetzt erreicht alles Zahlenhafte seine Unheimlichkeit, nämlich die des Leeren und Entscheidungslosen. Das Riesige ist der echte Widergott des Großen (vgl. S. 99). Deshalb ist auch das Riesige eine einzigartige Form der geschichtlichen „Größe““[Ebd., S. 487 f.]

Schon am 9. Juni 1938 hatte Heidegger in Freiburg bei seinem Vortrag „Die Zeit des Weltbildes“ von dieser „Vollendung der Neuzeit“ gesprochen. Diesen Vortrag nahm Heidegger dann 1950 mit in die „Holzwege“ auf.

„(11) Denn jetzt vollzieht sich die Einschmelzung des sich vollendenden neuzeitlichen Wesens in das Selbstverständliche. Erst wenn dieses weltanschaulich gesichert ist, wächst der mögliche Nährboden für eine ursprüngliche Fragwürdigkeit des Seins, die den Spielraum der Entscheidung darüber öffnet, ob das Sein noch einmal eines Gottes fähig wird, ob das Wesen der Wahrheit des Seins das Wesen des Menschen anfänglicher in den Anspruch nimmt. Dort, wo die Vollendung der Neuzeit die Rücksichtslosigkeit der ihre eigenen Grösse erlangt, wird allein die zukünftige Geschichte vorbereitet“[Martin Heidegger, Holzwege, Tübingen 1950, hier nach 1977, S. 112: „Die Zeit des Weltbildes“ hier zitiert nach (4)1963 (ursprünglich als Vortrag gehalten in Freiburg am 9. Juni 1938 mit dem Titel „Die Begründung des neuzeitlichen Weltbildes durch die Metaphysik“)]

Ebenfalls aus der Zeit von 1938/39 stammt das posthum veröffentlichte Manuskript „Besinnung“, das im Anschluss an die „Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) entstanden und seit 1997 über die Gesamtausgabe zugänglich ist [Martin Heidegger, Besinnung, Gesamtausgabe, Bd. 66, Teil 3, 1997]. Auch darin finden sich Abschnittsbezeichnungen wie „10. Die Vollendung der Neuzeit“ und „11. Die Kunst im Zeitalter der Vollendung der Neuzeit“. In diesem 10. Abschnitt heißt es:

„Die Vollendung der Neuzeit ist zugleich die Vollendung der metaphysischen – von der unausgesprochenen und ausgesprochenen Metaphysik getragenen – Geschichte des Abendlandes. Genauer: Die Vollendung der Metaphysik bestimmt und trägt den Beginn der Vollendung der Neuzeit. Vollendung besagt hier die uneingeschränkte und daher unverwickelte einfache Ermächtigung des Wesens des Zeitalters. Die Vollendung ist daher nicht die bloße Anstückelung eines noch [26] fehlenden Abschnittes und deshalb auch nicht der Auslauf des im Grunde schon Bekannten. Die Vollendung bringt vielmehr das letzte und höchste BEFREMDLICHE innerhalb des Zeitalters, das mit ihr nicht aufhört, sondern die Wesensherrschaft BEGINNT“[Ebd., S. 25].

Im darauffolgenden Kapitel (11. Abschnitt) führt Heidegger dies im Blick auf die Kunst näher aus:

„Die Kunst vollendet in diesem Zeitalter ihr bisheriges metaphysisches Wesen. Das Zeichen dafür ist das Verschwinden des KunstWERKES, wenngleich nicht der Kunst … Das Geschaffene stellt sich, anders als bisher, ganz in das „Seiende“ – die „Natur“ und die öffentliche „Welt“ – zurück; und dies nicht als Bestandstück, sondern als eine wesentliche Erwirkungsform seiner Machenschaft“[Ebd., S. 30].

In den „Überlegungen XI“ (1938/39), die ordnet Heidegger erneut die „Rassenpflege“ in die Rede von der „Vollendung der Neuzeit“ ein. Im Abschnitt 47 heißt es:

„Warum sollte nicht die Reinigung und Sicherung der Rasse dazu bestimmt sein, einmal eine große Mischung zur Folge zu haben: die mit dem Slaventum (dem Russischen – dem ja der Bolschewismus nur aufgedrängt und nichts Wurzelhaftes ist)? Müßte da nicht der deutsche Geist in seiner höchsten Kühle und Strenge ein echtes Dunkel meistern und zugleich als seinen Wurzelgrund anerkennen? Vermöchte so erst ein Menschentum geschichtlich werden, das einer Gründung der Wahrheit des Seins gewachsen wäre und zu einer Gottfähigkeit berufen? Wie, wenn die politische Vollendung der Neuzeit diese Einigung vorbereiten müßte, zunächst auf vielen Umwegen und in scheinbar äußersten Gegensätzen. Und wie sollte diese Zukunft des Abendlandes – die Allein dem Asiatischen noch einmal gewachsen wäre – nicht am Rande ihrer größten Gefahr entlangschreiten – daß jene Einigung zwischen Germanentum und Russentum nur noch zu einer alleräußersten Steigerung der Vollendung der Neuzeit hinreichte – daß die Unerschöpflichkeit der russischen Erde in die Unwiderstehlichkeit des deutschen Planens und Ordnens aufgenommen und beide einander durch ihre Unübertreffbarkeit in der Schwebe halten müßten und solche Schwebe zum Selbstzweck einer Vollendung des Riesenhaften in der Machenschaft würde. Fälschlicherweise und nur aus dem zurückgebliebenen Standort der Demokratien nennt man die Vollstrecker der Vollendung der Neuzeit zu ihrem höchsten Wesen „Diktatoren“ -; ihre Größe aber besteht darin, daß sie „diktativ“ zu sein vermögen – daß sie die verborgene Notwendigkeit der Machenschaft des Seins erspüren und durch keine Verführung sich aus der Bahn drängen lassen. (Vgl. S. 109)“[Martin Heidegger, Überlegungen VII-XI (Schwarze Hefte 1938/39), Gesamtausgabe, Bd. 95, hrsg. von Peter Trawny, Frankfurt am Main 2014, S. 402-404].

In den „Überlegungen XII“ von 1939 heißt es schließlich im Abschnitt 26:

„Das Äußerste an Verwüstung ist dann vorbereitet, wenn auch dem Nihilismus im wesentlichen Sinne als der dunkelhaften Ahnung des Geheimnisses des Seyns aus der weitesten Entfernung zu ihm, die Möglichkeit eines Durchgangs versagt wird und er nicht in seinem metaphysischen Wesen zum Austrag kommt. Die gleiche Wesensform trennt den Bolschewismus vom russisch-slavischen Volkstum. Dieselbe Wurzel liegt im neuzeitlichen Geschichtswesen der losgelassenen Machenschaft. Die unbedingten Ansprüche dieser erzwingen sich jedesmal die entsprechende Gegnerschaft und steigern die Verkennung der ursprünglichen Zugehörigkeit der Volkstümer. Alles Rassedenken ist neuzeitlich, bewegt sich in der Bahn der Auffassung des Menschen als Subjektum. Im Rassedenken wird der Subjektivismus der Neuzeit durch Einbeziehung der Leiblichkeit in das Subjektum und die vollständige Fassung des Subjektums als Menschentum der Menschenmasse vollendet. Gleichzeitig mit dieser Vollendung, und sie in ihren Dienst zwingend, vollzieht sich die Ermächtigung der Machenschaft in die Unbedingtheit. „Volkstümer“ sind nur Vorbehalte und Machtmittel und Machtzwecke – aber nicht mehr und überhaupt noch nicht Ursprung und Anfang – will sagen: wesend aus der Zugewiesenheit in eine Gründung der Wahrheit des Seyns. Das unerschlossene Geheimnis des Russentums (nicht des Bolschewismus) kann nur als ein solches gewährt und gegründet werden durch ein entsprechend ursprüngliches – alle Metaphysik und Alles christliche Kulturgetriebe hinter sich bringendes – denkerisches Ersagen des Abgrunds des Seyns (Hölderlin, der Vorstifter der Entscheidungen)“[Martin Heidegger, Überlegungen XII-XV (Schwarze Hefte 1939-1941), Gesamtausgabe, Bd. 96, hrsg. von Peter Trawny, Frankfurt am Main 2014, S. 47f, hier S. 48].

Bemerkenswerterweise vollzieht sich nun in diesen Jahren der Wechsel in der Benennung im Gefolge Nietzsches als „letzten Metaphysikers des Abendlandes“[Martin Heidegger, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht als Erkenntnis – Vorlesung SS 1939, Gesamtausgabe, Bd. 47, Frankfurt am Main 1989, S. 8] auch für die (abendländische) Metaphysik und den Nihilismus, wo Heidegger zunächst eher vom „Ende“, dann gleichermaßen von „Ende“ und „Vollendung“ und schließlich fast nur noch von der „Vollendung der Metaphysik“ und von der „Vollendung des Nihilismus“ spricht.

Soweit ich sehe, lehnt Heidegger die Rede vom „Ende“ allerdings erst nach dem Erscheinen von Guardinis Buch „Das Ende der Neuzeit“ ausdrücklich ab. 1939 sah Heidegger dagegen in Nietzsche denjenigen, der das Denken durch die konsequente Vollendung der Metaphysik „in die härteste Schärfe der Entscheidung“[Ebd., S. 5] zwinge, „ob diese Endzeit der Abschluss der abendländischen Geschichte sei oder das Gegenspiel zu einem anderen Anfang“[Ebd., S. 8], obwohl Nietzsche diesen anderen Anfang selbst aber noch nicht eröffnet habe. Zu dieser Deutung von Nietzsches „metaphysischer Grundstellung“ am „Ende“ bzw. in der „Vollendung der Neuzeit“ sind dann im Jahr darauf die Vorlesungen über „Nietzsches Metaphysik“[Vgl. Martin Heidegger, Vorlesung über „Nietzsches Metaphysik“, in: ders., Nietzsches Metaphysik. Einleitung in die Philosophie, Denken und Dichten, Gesamtausgabe, Bd. 50, Frankfurt am Main 1990, S. 3-87] und „Nietzsche. Der europäische Nihilismus“[Martin Heidegger, Nietzsche. Der europäische Nihilismus (Vorlesung II. Trimester 1940), Gesamtausgabe, Bd. 48, Frankfurt am Main 1986] maßgeblich. 1943 folgt schließlich noch sein Text „Nietzsches Wort ‚Gott ist tot’“, die er dann wiederum 1950 in die „Holzwege“ mit aufnimmt und die für Guardini zum Auslöser werden, auch selbst noch einmal intensiver über Existenzialismus und Nihilismus nachzudenken [Heidegger, Nietzsches Wort „Gott ist tot“, 1943, in: ders., Holzwege, Frankfurt 1950; (4)1963, S. 193-246].

Nach 1945 greift Heidegger sein Theorem von der „Vollendung der Neuzeit“ wieder auf und zwar zunächst in einer Weise, die in Bezug auf seine historische Einsichtsfähigkeit sehr nachdenklich macht. So heißt es in den jüngst veröffentlichten „Anmerkungen III“ (1946/47):

„Die Zerstörung Europas ist, wie immer sie verlaufen mag, ob ohne oder mit Rußland, das Werk der Amerikaner. „Hitler“ ist nur der Vorwand. Doch die Amerikaner sind ins ganze gesehen Europäer. Europa zerstört sich selbst. Das entspricht der Subjektivität, in der die Vollendung der Neuzeit metaphysisch existiert“[Martin Heidegger, Anmerkungen III, in: ders., Anmerkungen I-V (Schwarze Hefte 1942-1948), Gesamtausgabe, Bd. 97, Frankfurt am Main 2015, S. 230].

Und wenig später im Text ergänzt er:

„Der viel beredete Gegensatz zwischen Osten und Westen ist nur so lange ein solcher, als beide auf derselben Ebene verharren. Das tun sie nicht nur, sie streben ihr sogar zu. Ihr Streit mag ausgehen wie immer, er bringt keine Entscheidung, weil er aus keiner Entscheidung kommt. Alles bleibt noch im Vollzug der Vollendung der Neu-Zeit“[Ebd., S. 237].

Frühgeschichte der Rede vom „Ende der Neuzeit“

Nun ist die Rede vom „Ende der Neuzeit“ oder von der „Nachneuzeit“ selbst schon keine „Erfindung“ Guardinis oder Heideggers. Sie findet sich nachweislich bereits bei Max Stirner (1806-1856), dem wohl wichtigsten Vor-Denker Nietzsches in Deutschland. Dieser setzte sich 1845 in der Schrift „Der Einzige und sein Eigentum“ mit Bruno Bauer und Feuerbach sowie mit der „bürgerlichen Sittlichkeit“ „in diesem Ende der Neuzeit“ auseinander. Er spricht also am Beginn der Verwendungsgeschichte des Terminus „Neuzeit“, auch schon wieder von einem „Ende“:

„Dem Menschen ist erst ‚wahrhaft wohl’, wenn er auch ‚geistig frei’ ist! Denn der Mensch ist Geist, darum müssen alle Mächte, die ihm, dem Geiste, fremd sind, alle übermenschlichen, himmlischen, unmenschlichen Mächte müssen gestürzt werden, und der Name ‚Mensch’ muss über alle Namen sein. So kehrt in diesem Ende der Neuzeit (Zeit der Neuen) als Hauptsache wieder, was im Anfange derselben Hauptsache gewesen war: die „geistige Freiheit""[Max Stirner, Der Einzige und sein Eigenthum, 1845, S. 171; entspricht: Der Einzige und sein Eigentum, hrsg. von Ahlrich Meyer, Stuttgart 1972, S. 142. In der Guardini-Bibliothek in München (gb 3942) steht davon ein Exemplar mit der handschriftlichen Datumsangabe „Berlin 27.II“, allerdings ohne Jahreszahl].

Im Gefolge Nietzsches findet man zu Beginn der dreißiger Jahre schließlich das Theorem zum einen wieder bei Friedrich Würzbach (1886-1961)[Friedrich Würzbach, Zwei unveröffentlichte Manuskripte aus dem Nachlass. I. Das Bild des Menschen. II. Vom Ende der Neuzeit bis zu den Brücken der Zukunft dargestellt an Hölderlin – Nietzsche – Rilke, Essen 1984, S. 69-119], der 1919 in München Mitbegründer und erster Leiter der Nietzsche-Gesellschaft sowie und ab 1925 Mitherausgeber des „Jahrbuchs der Nietzsche-Gesellschaft“ war. Nach dem zweiten Weltkrieg setzte sich Würzbach sowohl mit Martin Heideggers „Einführung in die Metaphysik“[Friedrich Würzbach, Rezension zu: Heidegger, Einführung in die Metaphysik, in: Welt und Wort, 9, 1954, S. 282] als auch mit Guardini „Die Macht“[Friedrich Würzbach, Rezension zu: Guardini, Die Macht, in: Welt und Wort, Tübingen, 7, 1952, S. 329] auseinander.

Zum anderen wird die Formulierung auch durch den Soziologen Ernst Wilhelm Eschmann (1904-1987)[Vgl. M. Frederik Plöger, Soziologie in totalitären Zeiten. Zu Leben und Werk von Ernst Wilhelm Eschmann (1904-1987), Berlin-Hamburg-Münster 2007] verwendet, der ab 1929 einer der Redakteur der Zeitschrift „Die Tat“ war und darin vor allem unter dem Pseudonym „Leopold Dingräve“ publizierte. 1933 erschien darin ein Artikel mit dem expliziten Titel „Das Ende der Neuzeit“[Leopold Dingräve, Das Ende der Neuzeit, in: Die Tat, 24, 1933, 11, S. 960-967], in dem er den großen Umbruch mit „dem Verlust der Denksicherheit“ durch die Auflösung des Rationalismus, das er als „das letzte große Glaubenssystem Europas“ bezeichnete. Von 1933 an gab Eschmann zusammen mit Wirsing eine Zeitschrift mit dem Titel „Das XX. Jahrhundert“ heraus und war bis 1943 zudem zunächst Dozent, dann Professor für Soziologie an der Universität Berlin.

Kurz vor Herausgabe des Buches hat neben dem schon erwähnten Rudolf Stadelmann auch Herbert Cysarz vom „Ende der Neuzeit“ gesprochen [Herbert Cysarz, Am Ende der Neuzeit, in: ders., Welträtsel im Wort. Studien zur europäischen Dichtung und Philosophie, 1948, S. 311-321]. In seinem Buch „Der Untergang der Neuzeit – und der Aufgang wessen?“ (1953) schreibt er dazu:

„Ich darf noch vorausschicken, daß die Ausdrücke „Ende der Neuzeit“ und „Aufgang des Vierten Äons“ meines Wissens erstmals von mir als Titel gebraucht worden sind, seit Anfang 1948; in den letzten Jahren tauchen sie immer öfter auf, natürlich ohne daß sich allemal von einem Zusammenhang reden läßt, um so öfter von Konvergenz der Beobachtungen und Auslegungen“[Herbert Cysarz, Der Untergang der Neuzeit – und der Aufgang wessen?, 1953, S. 4].

Und 1965 meint Cysarz betonen zu müssen:

„Geschichte ist und tut immer auch das Gegenteil dessen, was nötig wäre. Das steht nicht erst bei Guardini zu lesen („Das Ende der Neuzeit“, 1950), sondern beispielshalber schon bei mir selbst („Am Ende der Neuzeit“, Schlußstück der „Welträtsel im Wort“, 1948) – und zuvor oder später bei Vielen mehr, die diesen Befund weder erstmals entdeckt noch abgeschrieben haben. Der Untergang der Neuzeit wurde manifest mit dem Kriegsbeginn 1914“[Herbert Cysarz, Deutsches Geistesleben der Gegenwart. Sumpf und Festland, 1965, S. 19].

Wie gesehen, irrt Cysarz bereits in der Frage des Titels „Ende der Neuzeit“ im Blick auf Dingräves Aufsatz aus dem Jahr 1933, der Gebrauch des Theorems selbst, ist bereits, wie er richtig anmerkt, viel älter. Allerdings weicht sein Verständnis des „Endes“ als „Untergang der Neuzeit“ diametral sowohl von Guardinis Vorstellung eines folgenden „neuen Mittelalters“ als auch von Heideggers Vorstellung einer „Vollendung der Neuzeit“ ab. Genau hier müsste aber sowohl im Blick auf Untergangsszenarien und Postmoderne-Diskurse genauer hingeschaut werden. Vermutlich gäbe es für eine Verwendung dieses Theorems „vor“ Guardini und Heidegger auch noch zahlreiche weitere Belege. Insgesamt wäre es gerade für die Guardini- und die Heidegger-Forschung eine lohnende Aufgabe, diese Abhängigkeiten, Zusammenhänge, Unterschiede und Widersprüche genauer herauszuarbeiten.

Gemeinsames Thema: Mörike

Q063

Widmung Heideggers an Guardini an Guardini (1951) [Guardini-Bibliothek gb 4049]

In der Guardini-Bibliothek befindet sich als nächstes gewidmetes Buch der 1951 erschienene Dialog zwischen Staiger und Heidegger um Mörikes Gedicht “Auf eine Lampe”[Zu einem Vers von Mörike. Ein Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Emil Staiger, Zürich 1951. Vgl. dazu unter anderem Michael Thomas Taylor, „Überhaupt noch einmal lesen zu lernen“. Emil Staiger und Martin Heidegger, in: Barbara Hahn (Hrsg.), Im Nachvollzug des Geschriebenseins. Theorie der Literatur nach 1945, Würzburg 2007, S. 121-134].

Die Widmung lautet: "Romano Guardini im herzlichen Gedenken Weihnachten 1951 Martin Heidegger"

Guardini verweist in seinem eigenen Vortrag über dieses Gedicht „Auf eine Lampe“ im Jahr 1956 auf Burg Rothenfels just auf dieses Dialog-Buch:

„Im letzten Vers steht aber ein Wort, das die tröstliche Sicherheit fraglich macht. Da heißt es nämlich, was schön ist, „scheine" selig in ihm selbst. An diesem Wort hat sich ein aufschlußreicher Dialog zwischen E. Staiger und M. Heidegger, dem Literaturhistoriker und dem Philosophen entzündet. Nach der Ansicht des ersten meint es, das schöne Ding erwecke den „Anschein", als ruhe es im eigenen Licht. Der zweite hingegen versteht es im Sinn des Leuchtens, so wie man sagt, die Sonne „scheine", und deutet dieses Leuchten auf jenes Offenbar-Werden des Wesens, das im Schön-Sein geschieht. Vielleicht dringt aber durch beide Deutungen noch etwas anderes, Drittes hindurch, das nicht mit Worten ausgesprochen wird, sich aber dem Aufmerksamen, glaube ich, doch zu Gefühl bringt“[Romano Guardini, „Auf eine Lampe“ (Vortrag 1956 auf Burg Rothenfels), in: ders., Sprache – Dichtung – Deutung/Gegenwart und Geheimnis, S. 166-173, hier S. 171].

Guardini nimmt mit seiner eigenen Interpretation daher eine dritte, eine „mittlere“ und vertiefende Position ein.

Es gibt wohl bis heute keine ansprechendere Zusammenschau von Guardini und Heidegger im Blick auf das Kunstwerk „Gedicht“ und das auch noch besonders im Hinblick auf das von Guardini und Heidegger interpretierte Lampengedicht Mörikes als die Arbeiten von Rudolf Nikolaus Maier, wobei darin der Dritte im Bunde, Emil Staiger, leider zu kurz kommt. Maier nimmt aber sowohl auf Heideggers als auch auf Guardinis Mörike-Interpretation Bezug, offenbart ihre denkerische Ähnlichkeit und schließt sich selbst dieser „gemeinsamen“ Linie an:

„Dichtung will nicht den Sinn des Daseins offenbaren oder gar das Rätsel des Lebens lösen, sie will nur Verborgenes sichtbar machen. Heidegger: „Zur Aufgabe steht, das Rätsel zu sehen.“ Indem wir aber das heilig-öffentliche Geheimnis schauen, werden wir unserer höheren Berufung bewußt. Was uns durch das Formantlitz hindurch anblickt, sei es Welt oder Seele, möchte uns in reinere Bezirke geleiten. In jedem bedeutenden Gedicht ist Dante verborgen, der uns bei der Hand nehmen und zur Schau der Rose führen möchte. Jedes echte Gedicht, das aus Weltzuversicht und nicht aus Verzweiflung geboren ist, trägt weihnachtlichen Glanz in sich, der durch die Nächte schimmert. In solchem Sinne spricht Guardini von Verheißung und Heidegger von Epiphanie“[Rudolf Nikolaus Maier, Das Gedicht; über die Natur des Dichterischen und der dichterischen Formen. Betrachtungen für Lehrende und Lernende, 1956, S. 34; vgl. dazu auch ders., Das Symbolische des Gedichts und die Erziehung des symbolischen Sinns, in: Wirkendes Wort, 6, 1956, S. 41-53, hier S. 51; wieder in: Wirkendes Wort. Sammelband 4, 1962, S. 373-385, hier S. 383].

Wenn Mörike nun in dem zwischen Heidegger und Staiger diskutierten Schluss-Vers seines Gedichts aus dem Jahr 1846 sagt: „Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst“[Eduard Mörike, Auf eine Lampe, in: ders., Gesammelte Schriften, Band 1, S. 115], gibt es guten Grund, darin sowohl Heideggers Diktum „Also ist die Kunst: die schaffende Bewahrung der Wahrheit im Werk. Dann ist die Kunst ein Werden und Geschehen der Wahrheit“[Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, in: ders, Holzwege, 1977, a.a.O., S. 59] ausgesprochen zu sehen, als auch Guardinis Auffassung, dass „das Eigentliche hinter der empirischen Wirklichkeit, im Raum der Vorstellung“ liegt:

„Und dorthin muß, von den Zeichen des Sichtbaren gewiesen, der Betrachter vordringen. Er muß jenes Eigentliche aufrufen, es in der inneren Anschauung aufsteigen, durch Geist und Herz lebendig werden lassen“[Guardini, Über das Wesen des Kunstwerks, in: ders, Wurzeln eines großen Lebenswerks, 2002, Bd. 3, S. 255].

Es bleibt fraglich, warum Guardini und Heidegger nach jetzigem Kenntnisstand nicht selbst auf diese gemeinsame Linie in der Deutung des Ursprungs und des Wesens des Kunstwerkes eingegangen sind, obwohl Guardini Heideggers Aufsatz über den Ursprung des Kunstwerkes in den Holzwegen gelesen haben und auch Heidegger das Bändchen Guardinis über das Wesen des Kunstwerks kaum verborgen geblieben sein dürfte; zumal auf diese Gemeinsamkeiten nicht nur gemeinsame Schüler und Freunde wie Wilhelm Weischedel Bezug genommen haben [Wilhelm Weischedel, Die Tiefe im Antlitz der Welt. Entwurf einer Metaphysik der Kunst, 1952], sondern auch Literaturschaffende wie Gottfried Benn, der sich in seiner Rede „Altern als Problem für Künstler“ aus dem Jahr 1954 vom Unbestimmten dieser Rede von der Verheißung bzw. vom „Sich-ins-Werk-setzen der Wahrheit“ kritisch abgrenzt:

„Aber wenn nun Guardini sagt: “Hinter jedem Kunstwerk öffnet es sich gleichsam“ – was öffnet sich denn nun gleichsam, da wir unsererseits doch eher alles zupinseln und verdecken sollen -, oder wenn ein großer Philosoph schreibt, Kunst sei „das Sich-ins-Werk-setzen der Wahrheit“ – welche Wahrheit ist denn das nun wieder – eine Wahrheit aus Skizzen und Entwürfen, aus Manufaktur, oder wird die Wahrheit vielleicht nur erwähnt, um die Initialen der Philosophie zu präsentieren, denn in der Kunst geht es ja nicht um Wahrheit, sondern um Expression. Aber, als letzte Frage, wie verhält es sich mit dieser Expression, die sich vor die Tiefe drängt – ist Ausdruck Schuld? Er könnte es sein“[Gottfried Benn, Altern als Problem für Künstler, 1954, S. 41; dann in: ders., Gesammelte Werke: Essays, Reden, Vorträge, (4)1977, S. 578].

Die Bayerische Akademie der Schönen Künste über „Die Künste im technischen Zeitalter“ (1951-1954)

Die ersten Vorbereitungen (1951/52)

Am 3. Dezember 1951 schrieb Graf von Podewils an Ernst Jünger über seinen Austausch mit Heidegger für ein neues Projekt:

„Ein weiteres, noch nicht ausgegorenes Projekt besteht darin, ein Gespräch oder einen Zyklus über „Kunst und Technik“ von der Akademie aus zu veranstalten. Hierüber bin ich mit Heidegger in Korrespondenz. Er wird vermutlich im Januar zu einer Vorbesprechung nach München kommen, denn die Sache muß thematisch, persönlich und in mancher anderen Hinsicht wohl überlegt und vorbereitet werden, wenn daraus nicht, wie Heidegger selbst sagt, „ein Theater“ statt eines Gesprächs werden soll“[Brief von Clemens von Podewils an Ernst Jünger vom 3. Dezember 1951 (A. Jünger, DLA Marbach), zitiert nach Morat, Von der Tat zur Gelassenheit, a.a.O., S. 471].

Aufgrund einer Äußerung in einem Brief vom 19. Dezember 1951 von Martin Heidegger an Clemens Graf Podewils wissen wir, das Podewils auch Guardini in die Planungen mit einbeziehen wollte, Heidegger dies auch begrüßte, sich aber skeptisch zeigte, ob dies angesichts seiner „Vorsichtigkeit“ gelingen werde:

„Ich bin durchaus dafür, daß Sie Guardini unterrichten; nur weiß ich nicht, wieweit er sich beteiligt, da er mit den Jahren sehr vorsichtig geworden ist. <…> Grüßen Sie Guardini, wenn Sie ihn sprechen“[Zitiert nach Gerl-Falkovitz, Geheimnis des Lebendigen, a.a.O., 2019, S. 207 (Archiv Barbara von Wulffen)].

Dabei ging es wohl um ein bereits geplantes Vorbereitungstreffen Anfang des neuen Jahres, dass dann auch am 12./13. Januar 1952 stattfand. An diesem Tag hält sich Heidegger nämlich zu einem Kolleg und zu Vorbesprechungen für die Akademietagung in München auf. Und auch Guardini hat daran teilgenommen. Denn am Montag, 14. Januar 1952, berichtet Heidegger seiner Frau Elfride von seinem Vortrag im Prinz Carl Palais am Sonntag, 13. Januar:

„Der gestrige Abend ist gut geglückt. Vor allem bin ich erfreut, daß Guardini noch einmal jung geworden ist u. einen neuen Anlauf nimmt. Vielleicht spreche ich ihn. […] Morgen fahren wir alle, Graf u. Gräfin P. nach Haarsee. […] Draußen will ich mit Podewils die Besprechung fortsetzen: vielleicht kann Riezler doch noch kommen“[Martin Heidegger, „Mein liebes Seelchen!“ Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride 1915-1970, 2005, S. 271 f.]

Heidegger schreibt hier in Bezug auf die Fahrt nach Haarsee am Dienstag, 15. Januar, von „allen“, das würde Guardini miteinschließen. Tatsächlich legt auch ein Brief von W. zu Schaumburg Lippe an Friedrich Georg Jünger vom Samstag, 19. Januar 1952, nahe, dass Guardini in Haarsee mit dabei gewesen ist [Angabe nach Morat, Von der Tat zur Gelassenheit, a.a.O., S. 471]. Heidegger wollte sich offensichtlich auch noch einmal am Donnerstag, 17. Januar, mit Guardini treffen, um noch einmal „ausführlich in Ruhe“ mit ihm zu sprechen. Dieses weitere Treffen kam aber nicht zustande, wie Heidegger am 19. Januar an Graf von Podewils schreibt. Stattdessen habe er ebenfalls am 19. Januar einen Brief an Guardini geschrieben.

„Wenn ich am Donnerstag noch einmal mit Guardini hätte ausführlich in Ruhe sprechen können, wäre alles noch fruchtbarer geworden. <…> Da ein weiteres Gespräch mit Guardini nicht zustande kam, habe ich ihm heute ausführlich geschrieben“[Heidegger an Podewils am Samstag, 19. Januar 1952, nach Gerl-Falkovitz, Geheimnis des Lebendigen, a.a.O., S. 207 (Archiv Barbara von Wulffen)].

Der hier genannte Brief Heideggers an Guardini vom 19. Januar 1952 befindet sich im Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern und kann daher hier ebenfalls erstmals abgedruckt werden. Dieser lange Brief ist ein beeindruckendes Zeugnis der Erinnerung an bisherige gemeinsame Wege und ein Ausdruck für Heideggers Hoffnung, das gemeinsame Engagement im Rahmen der Akademie, möge sie „noch einmal auf die Wanderschaft eines gemeinsamen Weges der Seel-Sorge“ führen:

Q064

Brief von Martin Heidegger an Romano Guardini vom 19. Januar 1952 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern, Nr. 879]

Zusammenfassung wird noch erstellt.

Exkurs: Über „Sorge“, „Seel-Sorge“ und „Sorge um den Menschen“

Dieser Brief Heideggers an Guardini mit dem Bezug zu „Sorge“ und „Seel-Sorge“ rechtfertigt nochmals eindrücklich die Titelwahl der zweiten Guardini-Monographie von Helmut Kuhn aus dem Jahr 1987, wenn er die Ursprünge von Guardinis geistiger Entwicklung mit Heideggers Begriff der „Sorge“ in Zusammenhang bringt. Allerdings geht Kuhn kritisch davon aus, dass Heidegger den Weg der „Sorge“ verlassen habe und grenzt daher Heideggers Entwicklung aus Guardinis Weg der „Seel-Sorge“ geradezu aus:

„Der Tiefenstrudel, dem die genannten Strömungen zudrängen, läßt sich kurz und bündig in der Formel von der GESCHICHTLICHKEIT DES DASEINS zusammenfassen. Der Philosoph aber, der von dieser Wahrheit entscheidend ergriffen wurde, war Martin Heidegger. Seinem Versuch, die Wahrheit der Geschichtlichkeit zum System zu gestalten, verdanken wir „Sein und Zeit“ 1. Hälfte – eine großartige aber unvollendete Ruine in monumentalem Stil. Der Verfasser aber, die Trümmerburg hinter sich lassend, ging seines Wegs, um schließlich das Ende der Philosophie für unsere Zeit zu verkünden. Der Weg Guardinis führt in eine andere, in wesentlicher Hinsicht entgegengesetzte Richtung. Doch die Verwandtschaft in aller Gegensätzlichkeit ist unverkennbar, und sie stellt uns vor eine klare Entscheidung. Der Weg nämlich, auf dem wir uns hier wie dort bewegen, heißt Geschichtsphilosophie. Wir lesen Guardini als Philosophen, genauer noch als Geschichtsphilosophen. Auch für ihn erweist sich Geschichtlichkeit als Wesenszug der Menschlichkeit des Menschen. Der Begriff des Daseins ist den Antagonisten gemeinsam. Gewiß, es scheint eine Gewaltsamkeit darin zu liegen, den gläubigen Christen und Priester, dem der Umgang mit dem Worte „Gott“ geläufig war, in die Nähe des Denkers zu rücken, der seinen Zeitgenossen aufs nachdrücklichste das Recht und die Fähigkeit absprach, dieses Wort in den Mund zu nehmen. Dennoch gab es ein verbales Band. Ohne voneinander zu wissen, versuchten beide Philosophen, den ursprünglich von dem platonischen Sokrates stammenden Begriff der Sorge (έπιμέλεια) für das philosophische Gespräch zu gewinnen. Heidegger begann damit in einer seiner frühen Vorlesungen, um schließlich der Sorge ihren bedeutenden und genauen Platz in der begrifflichen Architektur von „Sein und Zeit. Erste Hälfte“ anzuweisen. Dort, in dem 6. Kapitel „Die Sorge als Sein des Daseins“ lesen wir: „‚Theorie’ und ‚Praxis’ sind Seinsmöglichkeiten eines Seienden, dessen Sein als Sorge bestimmt werden muß“ Doch mit der Preisgabe des systematischen Entwurfs von 1927 scheint auch die Sorge aus dem Gesichtsfeld des Philosophen verschwunden zu sein. Bei Guardini hingegen, dem weniger terminologisch interessierten Denker, hat sich die Sorge auf dem Weg über die „Sorge um den Menschen“ ihren Eingang in die geschichtsphilosophische Sprechweise gebahnt, um dort ihren Sitz und Rang zu behaupten. Wir werden sie im Laufe unserer Interpretation noch genauer kennen lernen, und dabei wird sich eine Rechtfertigung des Titels ’Philosoph der Sorge’ ergeben“[Helmut Kuhn, Romano Guardini – Philosoph der Sorge, Sankt Ottilien 1987, S. 18 f.]

Bei dieser späteren Wiederaufnahme des Themas „Die Sorge“ (S. 56-59) kommt Kuhn dann noch einmal auf Heidegger zu sprechen:

„Den Philosophen der Sorge haben wir Guardini genannt. Die Rechtfertigung dieser Titulatur steht noch aus. Zwar wissen wir, daß das entsprechende Wort, die έπιμέλεια, durch Sokrates und Plato zur Würde eines philosophischen Grundwortes erhoben worden ist, vor allem in dem Dialog Phaidon, und wir wissen auch, daß es diese Würde im griechischen Altertum bewahrt, im lateinischen Altertum aber fast ganz verloren hat. die Und wir haben Kenntnis genommen von dem schwerwiegenden Versuch der Wiederherstellung in unserer Zeit. Aber gehört Guardini wirklich zu den Restauratoren, und darf man ihn in dieser Hinsicht an die Seite von Martin Heidegger stellen? Das ist zu bezweifeln. Es dürfte vielmehr so zugegangen sein: Guardini, ergriffen von der Suggestivkraft des Wortes, hat die „Sorge“ seinem philosophischen Denken wie eine Neuigkeit einverleibt. Tatsächlich schreibt er fast nie von Sorge als solcher ohne ihren jeweiligen Gegenstand zu nennen – wie etwa „Sorge um den Menschen“. Man mag die Neigung zur Sorge als einen Charakterzug Guardinis betrachten. Aber nicht als solcher interessiert er uns. Vielmehr ist Sorge bedeutungsvoll für uns als ein Begriff, dessen sich Guardini in dem ihm eigenen Denken und Tun wieder und wieder bedient“[Ebd., S. 56].

Um wieviel näher Guardini und Heidegger sich in der Interpretation des Daseins als Sorge stehen, wird Kuhn nicht bewusst, weil er fast ausschließlich von dem beiden Denkern gemeinsamen Anschluss an Sokrates und bei Heidegger sogar nur von dessen Werk „Sein und Zeit“ ausgeht. Dagegen findet die „Sorge“ einen weiteren gemeinsamen Anhaltspunkt in Hölderlin. Bereits in seinem Beitrag zur Hölderlin-Festschrift von 1943 schreibt Heidegger in der Interpretation der Hymne „Andenken“ zu Hölderlins Versen:

„Die dichtende Freude ist das Wissen davon, daß in allem Freudigen, das schon begegnet, das Freudige grüßt, indem es sich spart. Damit also die sparende Nähe zum Freudigsten gehütet bleibe, muß das dichtende Wort dafür sorgen, daß im Freudigen nicht das übereilt und verloren werde, was aus ihm her grüßt als das Sichsparende. So ist, weil für die Behütung der sich sparenden Nähe des Freudigsten gesorgt werden muß, unter das Freudige die Sorge gekommen. Darum ist die Freude des Dichters in Wahrheit die Sorge des Sängers, dessen Singen das Freudigste als das Gesparte hütet und das Gesuchte in der sparenden Nähe nahe sein läßt. […] Darum gilt für die Sorge des Dichters nur das eine: ohne Furcht vor dem Schein der Gottlosigkeit dem Fehl des Gottes nahe zu bleiben und in der bereiteten Nähe zum Fehl so lange zu harren, bis aus der Nähe zum fehlenden Gott das anfängliche Wort gewährt wird, das den Hohen nennt. […] Der Beruf des Dichters ist die Heimkunft, durch die erst die Heimat. Als das Land der Nähe zum Ursprung bereitet wird. Das Geheimnis der sparenden Nähe zum Freudigsten hüten und es hütend entfalten, das ist die Sorge der Heimkunft. Darum endet die Dichtung in das Wort: „Sorgen, wie diese, muss, gern oder nicht, in der Seele / Tragen ein Sänger und oft, aber die anderen nicht““[Martin Heidegger, Erläuterungen Zu Hölderlins Dichtung, 1963, S. 25-28].

Und in seinen posthum veröffentlichten Vorlesungen zu Hölderlins Hymnus „Andenken“ aus dem Jahr 1942 deutet Heidegger dazu weiter:

„Ja, für ihn wird erst die Langmut in ihrem Wesen offenbar als das, was die lange Zeit des Harrens und des Behaltens des Gewesenen wahrhaft währen und wesen läßt. Diese Inständigkeit in der ursprünglichen Geschichtszeit der wesentlichen Geschichte ist die Sorge. (Der abenteuerliche Mensch kann die Sorge nur als Schwäche und Kümmernis begreifen, da er nur subjektiv und d. h. metaphysisch denkt und angeblich die Härte liebt. Wenn diese versagt, nimmt er die Zuflucht zu irgend einem Rausch und sei diese nur der Blutrausch.) Im Wesensgrund der Sorge „da“ zu sein ist die verborgene Berufung der Wenigen – oder zuerst nur die eines einzigen“[Martin Heidegger, Hölderlins Hymne "Andenken", hrsg. durch Curt Ochwadt, 1982, S. 181].

Diese „Berufung der Wenigen“ oder „des einzigen“ ist hier nicht elitaristisch, sondern wie auch bei Romano Guardini „eschatologisch“ gemeint, wenn Guardini zum Beispiel in dem 1950 erschienenen Buch „Das Ende der Neuzeit“ über die der furchtbare „Einsamkeit im Glauben“ schreibt:

„Wenn wir die eschatologischen Texte der Heiligen Schrift richtig verstehen, werden Vertrauen und Tapferkeit überhaupt den Charakter der Endzeit bilden. Was umgebende christliche Kultur und bestätigende Tradition heißt, wird an Kraft verlieren. Das wird zu jener Gefahr des Ärgernisses gehören, von welcher gesagt ist, daß ihr, »wenn es möglich wäre, auch die Auserwählten erliegen würden« (Mt 24,24). Die Einsamkeit im Glauben wird furchtbar sein. Die Liebe wird aus der allgemeinen Welthaltung verschwinden (Mt 24,12). Sie wird nicht mehr verstanden noch gekonnt sein. Um so kostbarer wird sie werden, wenn sie vom Einsamen zum Einsamen geht; Tapferkeit des Herzens aus der Unmittelbarkeit zur Liebe Gottes, wie sie in Christus kund geworden ist. Vielleicht wird man diese Liebe ganz neu erfahren: die Souveränität ihrer Ursprünglichkeit, ihre Unabhängigkeit von der Welt, das Geheimnis ihres letzten Warum. Vielleicht wird die Liebe eine Innigkeit des Einvernehmens gewinnen, die noch nicht war. Etwas von dem, was in den Schlüsselworten für das Verständnis der Vorsehungsbotschaft Jesu liegt: daß um den Menschen, der Gottes Willen über Sein Reich zu seiner ersten Sorge macht, die Dinge sich wandeln (Mt 6,33)“[Romano Guardini, Das Ende der Neuzeit/Die Macht, 1986, S. 94].

Wenn Guardini zehn Jahre später in seiner Rundfunkrede „Der Glaube in unserer Zeit“ von 1961 [in: ders., Sorge um den Menschen, Band 1, a.a.O., hier S. 109] just – wenn auch am Beispiel der Psalmen – „die Freude am Dasein und die Sorge für es“ in Erinnerung ruft, die sowohl dem „entweltlichten“ Glauben als auch dem auf das bloß Innerliche und „Geistige“ spezialisierten Glauben verloren gegangen seien, scheint dies durchaus auf der Linie des von Heidegger überlieferten Guardini-Beitrags über die „Seel-Sorge“ zu liegen und auch Hölderlins Dichter- und Sänger-Sorge mitzudenken.

In seinem Originalbeitrag „Sorge um den Menschen“ zu dem 1962 erschienenen, gleichnamigen Sammelband, erklärt Guardini den Zusammenhang von dieser Sorge und einer Ethik des Machtgebrauchs, der in der „Regierungskunst der Existenz“ liege. Regieren wird so zur Sorge um die Ordnung des Daseins:

„Wenn das, was wir als geschichtliche Krisen der menschlichen Entwicklung und daher als vorübergehende Schwierigkeiten angesehen haben, in Wahrheit Ankündigungen eines endgültigen Unheils gewesen wären? Davon nämlich, daß das Werk des Menschen durch die Gewalt seiner immanenten Bewegung autonom würde? Anfinge, über den Menschen hinwegzugehen? Und der Mensch Anlaß bekäme, sich vor seinem eigenen Werk zu fürchten? Ich glaube nicht, daß solche Zweifel durch das Urteil abgetan werden können, man sei Pessimist. Vielmehr liegt die Sache doch wohl so, daß der, der sie nicht empfindet, gegen eine Frage stumpf ist, die die Stunde an ihn richtet. Und es scheint Grund für die Sorge zu bestehen, daß das weithin der Fall sei, denn man sieht nicht, daß sich eine ernsthafte Ethik des Machtgebrauchs, eine Kunde von der rechten Herrschaft über die Natur, eine bewußte und wirksame Gegenwehr gegen den Zwang der objektiven Kultur, eine Askese des Kulturbetriebes entwickelte. Überall spürt man den alten, leichtherzigen Optimismus, trotz noch so vieler Malheurs werde schon alles gut werden. Wenn man aber fragt, wer denn dafür sorge, daß das auch geschehe, erhält man in der Regel keine Antwort. […] Es wäre an der Zeit, daß Theorie und Praxis der Pädagogik die Aufgabe angriffen, an der sie bisher vorübergegangen sind, nämlich die Erziehung zum richtigen Umgang mit der Macht; zur Verantwortung des Menschen für das, was er vermag – schon des jungen, vor allem aber des erwachsenen. Wenn ein etwas pathetisches Wort erlaubt ist: Zeit, daß eine Regierungskunst der Existenz ausgebildet würde, die wüßte, daß trotz aller Automationen das Eigentliche, nämlich die Ordnung des Daseins, vom Menschen selbst vollzogen werden muß“[Romano Guardini, Sorge um den Menschen, in: ders., Sorge um den Menschen, Band 1, a.a.O., S. 13].

Guardini scheint bisher der erste und einzige, der diese „neue Pädagogik“ als Ausbildung und Einübung einer geistigen und kulturellen „Regierungskunst der Existenz“ gekennzeichnet hat. Der wesentliche Unterschied zwischen Guardini und Heidegger ist also nicht, wie Kuhn meint, dass dem einen die Sorge gewachsen, dem anderen verloren gegangen sei, sondern dass Guardini Begriff und Inhalt der Sorge wesentlich ethischer und pädagogischer fasste als Heidegger dies im Selbstverständnis seines Philosophierens zulassen konnte.

Weitere Vorbereitungen (1952-1953)

Zurück zu den Vorbereitungen der Akademie-Tagung: Am 24. April 1952 fährt Heidegger wiederum nach München, um seinen Vortrag „Georg Trakl, Eine Erörterung seines Gedichts“ für den Rundfunk aufzunehmen. Am 28. April wiederholte Heidegger dort außerdem seinen Vortrag über Hölderlin mit dem Titel „… dichterisch wohnet der Mensch …“ im kleinen Kreis. Im Anschluss daran gab es eine weitere Aussprache, von der eine Niederschrift mit dem Titel „Kunst und Technik“ existiert [Unter anderem im DLA Marbach: Kunst und Technik. Niederschrift der Aussprache, die am 28. April 1952 im Anschluss an den Vortrag Professor Martin Heideggers "Dichterisch wohnet der Mensch" in München in einem kleinen Kreis stattgefunden hat – A:Heidegger, Martin 1/Schuber/B 56].

Guardini war Ende April 1952 nicht in München. Denn Heidegger schreibt bezüglich Guardini am 28. April 1952 noch aus München an seine Frau Elfride:

„Am 1. Mai soll Guardini zurückkommen. Entweder fahre ich am ersten oder zweiten Mai nach Meßkirch“[Heidegger, „Mein liebes Seelchen!“ Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride 1915-1970, 2005, S. 273].

Offensichtlich wollte also Heidegger am bzw. nach dem 1. Mai mit Guardini noch in München zusammentreffen. Ob dieses Treffen tatsächlich stattgefunden hat, ist nicht bekannt, auch wenn Heidegger seinen Aufenthalt wohl noch einige Tage ausgedehnt hat, um gemeinsam mit Podewils „Urlaub“ zu machen.

Q065

Widmung Heideggers an Guardini (8. Juli 1952) [Guardini-Bibliothek gb 4052]

In der Guardini-Bibliothek befindet sich schließlich ein Sonderdruck von Heideggers Aufsatz „Was heißt denken?“ in der Zeitschrift „Merkur“[Martin Heidegger, Was heißt denken?, in: Merkur, 6, 1952, 7 (Juli 1952)].

Die Widmung lautet: "Romano Guardini Herzlich grüßend 8. Juli 52 Martin Heidegger"

Die nächsten Notizen über vorbereitendende Sitzungen stammen dagegen erst aus dem Frühjahr 1953. Ein Brief im Heidegger-Nachlass vom 13. März 1953 von Clemens Podewils an Heidegger ist diesbezüglich noch nicht ausgewertet [Er befindet sich in Literaturarchiv Marbach: A: Heidegger, Martin 1/Schuber/B 56]. Diese vorbereitenden Sitzungen fanden im März und April statt, wobei die Angaben darüber, wann genau und wie viele Treffen es waren, in den weiteren Berichten differieren. So muss aktuell von Treffen am 5., 11. und/oder 23. März ausgegangen werden [Vgl. dazu: Joseph Bernhart, Zeit-Deutungen: Schriften, Beiträge und bislang unveröffentlichte Vorträge zu Problemen der Politik und Kultur aus den Jahren 1918-1962, hrsg. von Manfred Weitlauff und Thomas Groll, 2007, S. 463 f.; und Morat, Von der Tat zur Gelassenheit, a.a.O. S. 472].

Joseph Bernhart berichtet im Zusammenhang mit einem Vortrag in Altötting im Frühjahr 1953:

„Vergangenen Freitag war ich Teilnehmer an einer Diskussion über die Fragen, die uns hier beschäftigen sollen. Teilnehmer waren auch Romano Guardini und Martin Heidegger. Wenn ich den Ertrag dieses Gespräches vergleiche mit den Gedanken, die ich für den heutigen Abend bereits niedergeschrieben hatte, so sehe ich keinen Grund, an meiner Auffassung der Dinge etwas zu ändern. Im Gegenteil, ich bin darin noch bestärkt worden, freilich auch in der Erkenntnis, daß der ganze Zusammenhang der Fragen ungeheuer verwickelt ist, und daß wir alle samt und sonders zwar sehen, was in diesem Zeitalter der Technik unter uns geschieht, hier in Europa, drüben in Amerika und bereits auch im ganzen Osten, aber noch nicht sehen können, was mit dem Menschen überhaupt geschieht und noch geschehen wird“

In der Sitzung der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, der Joseph Bernhart seit ihrer Gründung 1948 als Mitglied angehört, wurde laut Bernhart am 11. März 1953 beschlossen, am Freitag, 27. März 1953, eine Diskussion über Technik und Kunst zu halten – so die Taschenkalendernotiz Josef Bernharts von diesem Tag. Am Vormittag des 25. März bereitete Bernhart sich auf diese Diskussion vor, die am genannten Tag um 9.30 Uhr begann.

„Teilnehmer auch Guardini und Heidegger. Hauptsächlich wir drei die Sprecher. Heidegger erzählte mir, er habe mich am Augsburger Katholikentag 1910 gehört. Ich kam mit Guardini nicht zur Übereinstimmung“[Notiz vom 27. März 1953, in: Bernhart, Zeit-Deutungen, a.a.O., S. 463 f.].

Auch zu dieser Diskussion gibt es im Heidegger-Nachlass wieder eine Zusammenfassung von Clemens Podewils unter dem Titel „Kunst und Technik [Verschiedenes]“, datiert mit dem Zeitraum vom 27. März bis 22. April 1953 [Literaturarchiv Marbach: A: Heidegger, Martin 1/Schuber/B 56]. Am 24. April 1953 berichtet Heidegger dann in einem Gespräch mit Petzet über eine Reise nach München:

„Frage: wie seine Reise nach München verlaufen sei? Er hat Podewils, Guardini, Ludwig von Ficker gesprochen“[Petzet/ Heidegger, Auf einen Stern zugehen, a.a.O., S. 86].

Zwischen dieser Diskussion und dem Vortrag Heideggers bei Preetorius Anfang August liegt noch ein aufschlussreicher Tagebucheintrag von Guardini vom 14. Juli 1953, nach dem er in diesem Juli das Buch „Zwiespältiges Dasein” von Jakob Hommes (1898-1966) über „Die existenziale Ontologie von Hegel bis Heidegger” las. Guardini hielt das Buch für „eine, wie es scheint, sehr tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem Existentialismus” und kommentierte:

„Ich wusste schon vorher, dass ich mich mit diesem genau beschäftigen müsse; jetzt ist mir das noch deutlicher geworden. Hier liegen die Probleme, die uns sehr nahe gehen. Vielleicht ist die christliche Antwort darauf noch gar nicht gegeben”[Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, a.a.O., S. 173].

Der nächste Tagebucheintrag Guardinis zu Heidegger stammt vom Mittwoch, 5. August 1953, wobei der Vortrag selbst schon – so auch die Niederschrift über die Vorbesprechung im Archiv der Bayerischen Akademie der Schönen Künste – am Tag zuvor am Dienstag, 4. August, um 16 Uhr stattfand:

„Vortrag von M. Heidegger, bei Preetorius, der noch leidend ist, über Wissenschaft und Besinnung. Er versuchte zu zeigen, daß die Neuzeit eine grundandere Vorstellung von Wissenschaft hat als Antike und Mittelalter. Ich habe aber nicht verstanden, worin dieser Unterschied bestehen sollte. – Nachher Verständigung mit denen, die an dem Cyclus über ‚das Schöpferische im technischen Zeitalter’ mitarbeiten sollen. Ich habe Sorgen um das Ganze und vor allem um meinen eigenen Vortrag, der es einleiten soll. Wunderbare ostasiatische Bilder an den Wänden! Wenn man von solchen Schätzen weg muß? Mit Dr. B. [Berlinger] nach Hause gegangen und über die Position Heideggers gesprochen. Sehr schwierig zu verstehen. […]“[Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, a.a.O., S. 179].

Auch bei diesem Zusammentreffen in der Akademie war wieder Georg Britting dabei [Briefe von Georg Britting an Georg Jung 1943 bis 1963, 2005, S. 226: Brief Nr. 207 vom 5. August 1953: „Lieber Jung, […], Gestern hatte ich ein langes Gespräch mit Heidegger, Heisenberg und Guardini.“].

Anfang Oktober 1953 fuhr Guardini dann über Basel und Mailand nach Isola Vicentina, von wo Guardini erst am 10. November 1953, also wenige Tage vor der Tagung, zurückkehrte. Guardini hatte Heidegger noch vor seiner Abreise nach Italien mit dem Datum vom 26. September 1953 aus München einen Brief geschickt, der erst seit kurzem über das DLA Marbach ausgewiesen ist:

Q066

Brief von Romano Guardini an Martin Heidegger vom 26. September 1953 [Deutsches Literaturarchiv Marbach, A: Heidegger, Martin 1/Schuber/B 75 – Zugangsnummer 75.7356,1: Heidegger, Martin: Die Frage nach der Technik. [Prosa. Reden und Vorträge]

Zusammenfassung wird noch erstellt.

Noch nicht ausgewertet ist ein Brief von Clemens Podewils an Martin Heidegger im Heidegger-Nachlass vom 1. Oktober 1953 [Deutsches Literaturarchiv: A:Heidegger, Martin 1/Schuber/B 56]. Kurz darauf ist Heidegger dann für zwei weitere Besprechungstage in Allreuthe. Im Brief an seine Frau Elfride vom 11. Oktober 1953 schreibt er:

„Die zwei Besprechungstage waren sehr befriedigend. Ich wohnte mit Preetorius u. Riezler oberhalb von Altreuthe am Buchenberg in einer sehr netten kleinen Pension. Am zweiten Tag kam noch Ernst Jünger dazu“[Heidegger, „Mein liebes Seelchen!“ Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride 1915-1970, 2005, S. 291].

Er ergänzt zu einem späteren Zeitpunkt im Brief:

„Ich hätte am liebsten die Tagung noch einmal verschoben, damit sie noch sorgfältiger vorbereitet werden könnte u. bei den ‚Künsten’ vor allem auch ein Architekt zu Wort käme. Aber Preetorius wollte keine weitere Verschiebung. So fürchte ich, daß alles etwas auseinander fällt u. vor allem gegen den Schluß hin zu matt wird. Die „Bilanz“ der T. gefiel mir gar nicht. Aber Schroeter war offenbar nicht davon abzubringen. So kann es mancherlei Enttäuschungen geben, sogar bei Heisenberg, womit ich nicht sagen will, daß mein Vortrag ein Glanzstück werde. Er wird eher befremden. Aber es ist bei dem heutigen Dogmatismus schon viel getan, wenn die Menschen in die Fragen gestoßen werden. Friedr. G. [Georg Jünger] war wie ich, aus den selben Gründen wie Du, gegen den „freien Eintritt“. Aber Preetorius bestand auch hier darauf, daß die Akademie hier keine Eintrittsgelder verlangen dürfe. Wie sie dann mit dem Massenandrang, schon bei Guardini fertig wird, ist ihre Sache. Es wird so gehen, wie bei meinen Freiburger Vorlesungen. Po. schreibt, daß auch von Auswärts viele Anmeldungen einliefen“[Ebd., S. 294 f.].

Heidegger schrieb am 23. Oktober 1953 an Guardini einen Brief, in dem er sehr bedauerte, dass man sich nicht doch schon vor Guardinis alljährlicher Italienreise im Schwarzwald getroffen hatte. Dies bezieht sich auf den längeren Kur-Aufenthalt Guardinis in Hausbaden vom 23. August bis zum 18. September 1953.

Q067

Brief von Martin Heidegger an Romano Guardini vom 23. Oktober 1953 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern, Nr. 880]

Zusammenfassung wird noch erstellt

Die Tagung (November 1953)

Vom 16. bis 20. November 1953 fand dann die lange vorbereitete Vortragsreihe „Die Künste im technischen Zeitalter“ statt. Guardini eröffnete am 16. November 1953 mit seinem „Die Situation des Menschen“, am 18. November 1953 sprach Heidegger über „Die Frage nach der Technik mit dem mit dem berühmten Schlusssatz: „Denn das Fragen ist die Frömmigkeit des Denkens.“ Die weiteren Referenten waren. Heisenberg, Preetorius, Friedrich Georg Jünger, Walter Riezler und Manfred Schröter [Zum inhaltlichen Verlauf der Tagung siehe abermals Morat, a.a.O., S. 475-485; außerdem: Joachim Klein, Grenzen des Dialogs – unwissenschaftliche Anmerkungen in unpolemischer Absicht, in: Guardini-Stiftung (Hrsg.), Trigon, Bd. 10, Berlin 2012, S. 71-80].

Über ein Monat nach der Tagung notierte Guardini nach der Lektüre einer Gogarten-Schrift am 27. Dezember 1953 in sein Tagebuch:

„Diese ganze Denkart entmutigt mich. Sie ist mir zu kompliziert. Die meine ist viel einfacher. Einfacher im Grundansatz, trotz aller Komplikationen im Einzelnen. So geht es mir auch mit Heidegger. Ich weiß oft nicht nur nicht, was jeweils gemeint ist, sondern auch, was das Ganze will und soll. (Das habe ich ihm selbst übrigens schon gesagt, daß ich ihn nicht verstehe, weil ich viel einfacher denke. Er war sehr verwundert.)“[Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, a.a.O., S. 215].

Vermutlich gehört in diesem Zusammenhang die spätere Erinnerung von Hans Waltmann, dass Heidegger „in den sechziger Jahren“ – sicher nicht in den sechziger Jahren, es war wohl eher 1953 oder spätestens 1959 – in München einen Vortrag gehalten habe, bei dem auch Guardini anwesend gewesen sei und bei dem das gesamte Publikum Probleme mit der Heideggerschen Sprache gehabt habe:

„Nach dem Vortrag trat Guardini auf Heidegger zu und bat ihn um eine nähere Erläuterung eines bestimmten Passus. Darauf Heidegger: ‚Dass die andern mich nicht verstanden haben, das hab’ ich gemerkt. Aber dass Sie mich jetzt fragen!“[Walter Heist, Gespräche in Bayrischzell. Hans Waltmann erzählt von Romano Guardini, in: Romano Guardini. Der Mensch. Die Wirkung. Begegnung, a.a.O., S. 65].

Die Nachwirkungen

In seinen posthum veröffentlichten Ethik-Vorlesungen der 50er Jahre nimmt Guardini aber dann immerhin auf Heideggers Vortrag Bezug als Beleg für seine These, dass Wissenschaft eben auch als „Bereitstellung von Macht“ und somit „Gefährdung des ganzen Daseins“ missbraucht werden kann:

„Was aber den im mythischen Verhältnis liegenden Grundwiderspruch angeht, von welchem die Rede war, so entdeckt jener, der mit uneingeschränktem Wahrheitswillen in das Phänomen „menschliche Erkenntnis" hineinschaut, in ihm die gleiche Ambivalenz: Wissenschaft als Erkenntnis der Wirklichkeit – zugleich aber als Bereitstellung von Macht samt all der Gefährdung des ganzen Daseins, die daraus kommt; Treue gegen das Wesen des Seienden und dessen Degradation zum bloßen Objekt. In der kommenden Zeit wird diese Problematik mit zerstörender Schärfe herauskommen ... (Vgl. den Akademievortrag Heideggers im SS 1953)“[Guardini, Ethik, a.a.O., S. 1193].

Im Jahr darauf kehrt Guardini bei einer Ansprache bei der Plenarsitzung der Akademie am 12. Juli 1954 auf den Ausgangspunkt der Tagung vom November 1953 zurück, um daraus die Absicht der zukünftigen Tagungen abzuleiten. Dabei äußert Guardini rückwirkend sowohl Bekräftigung als auch Kritik am bisherigen Modus. Denn in den Mappen zur „Bayerischen Akademie der Schönen Künste“ befindet sich mit der Kennzeichnung „R 2 8.7.54“ ein Typoskript, das Guardini für die vier Tage später stattfindende Plenarsitzung vorbereitet hat. Darin bedauert Guardini zwar, dass es nach der Tagung im November 1953 nicht unmittelbar zu einer Evaluation gekommen sei, hält aber den eingeschlagenen Weg weiterhin für richtig und plädiert deshalb für weitere Tagungen dieser Art:

Q068

Zur Absicht der Tagungen der Akademie (1954) [BSB Ana 342, B 23/1-3]

Zusammenfassung wird noch erstellt.

Guardini als Leser von Heideggers „Holzwege“: Stellungnahmen zu Platon und Nietzsche

Am 13. Januar 1954 verweist Guardini ein erstes Mal auf eine Lektüre von Martin Heideggers „Holzwegen”.

„Heidegger zitiert in den ‚Holzwegen’ den Satz eines Philosophen – weiß im Augenblick den Namen nicht –, die ganze europäische Philosophie sei eine Fußnote zu Platon. So ist es auch. Platon ist das Entscheidende. Und jede Auflehnung gegen ‚Platon’ ist Auflehnung gegen das Wesen. Damit beginnt die Verantwortungslosigkeit“[Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, a.a.O., S. 220].

[Mit dem Philosophen ist Alfred North Whitehead (1861-1947) gemeint: „The safest general characterization of the European philosophical tradition is that it consists of a series of footnotes to Plato”; offiziell übersetzt mit „Die sicherste allgemeine Charakterisierung der philosophischen Tradition Europas lautet, daß sie aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon besteht.“ (in: Alfred North Whitehead, Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie (engl. Originaltitel: Process and Reality, 1929), Frankfurt am Main 1979, Teil II, Kapitel 1, Abschnitt 1, S. 91); oft verkürzt zitiert mit: „Alle abendländische Philosophie ist als „Fußnote zu Platon“ zu verstehen. In Heideggers „Holzwege“ konnte ich dieses Zitat aber bislang nicht finden. Auch nicht in anderen Werken (Für Hinweise wäre ich dankbar). Vielleicht hat Guardini aber auch eine Aussage des befreundeten Helmut Kuhn in seinem Aufsatz „Philosophie in Sprachnot“ über Heidegger aus dem Jahr zuvor im Kopf: „A. N. Whitehead hat die abendländische Philosophie als eine Serie von Fußnoten zu Platon bezeichnet. Heidegger schreibt sich den Auftrag zu, sie in einen Kommentar zu den Vorsokratikern zu verwandeln. Aber noch ist, zum Glück für unser Verstehen, diese Verwandlung in den Anfängen.“ (Helmut Kuhn, Philosophie in Sprachnot, in: Merkur, Heft 68, 1953, S. 935-949)].

Dies ergänzt er am 11. März 1954 mit einem Eintrag über den Nihilismus-Begriff Nietzsches bei Heidegger:

„Nun las ich in den ‚Holzwegen’, was Heidegger über Nietzsches Begriff von Nihilismus sagt, und plötzlich wurde mir klar, in wie engem Zusammenhang das zu dem steht, was ich 1928 über den ‚Glauben in der Reflexion’ geschrieben habe. Wie sehr das, was da gemeint ist, mein eigenstes Problem darstellt. Das war so stark, daß ich vom Lesen weg den letzten Abschnitt der Arbeit diktierte“[Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, a.a.O., S. 227].

Mit dem Titel "Glauben in der Reflexion" ist sein ursprünglich 1928 unter dem Titel "Reflektierte Glaube" in den Schildgenossen erschienener Text.[Romano Guardini, Reflektierter Glaube, in: Die Schildgenossen, 8, 1928, 3 (Mai/Juni 1928), S. 216-237; unter dem Titel „Der Glaube in der Reflexion“ eingegangen in: ders., Unterscheidung des Christlichen. II. Aus dem Bereich der Theologie, 1935 und (2)1963; wieder in: ders., Unterscheidung des Christlichen, Band II. Aus dem Bereich der Theologie, (3)1994, S. 11-40]. In diesem Aufsatz hatte Guardini sich, ausgehend und abgrenzend von Buddhas Übung der asketisch-bewussten Aufmerksamkeit auf das Erleben von Lust und Schmerz, die in einer Lösung und Erlösung vom „Wünschenswahn“ und „Daseinswahn“ und der Klarheit des „Nichts mehr ist!“ liege, für die Bejahung jener „Glaubenssituation, die das Newmansche Wort ausdrückt: ‚Glaube heißt, tragfähig sein für Zweifel’“[Ebd., S. 24] ausgesprochen. Er unterschied dabei diesen „zugewiesenen“ echten Glaubenszweifel vom „modernen Glaubenszweifel“:

„Was uns zugewiesen bleibt, ist das Ausharren im Gehorsam jenes Glaubens, dessen ständige Leistung im „Tragen von Zweifel" besteht“[Ebd., S. 41].

Am 23. März 1954 notiert Guardini in sein Tagebuch:

„Am Morgen einen Entwurf für ein Kolleg im Wintersemester diktiert: „Macht und Nihilismus mit einer Stellungnahme zu Nietzsche. Ich werde den Sommer hindurch viel lesen müssen, damit ich in den Ferien nur das Wichtigste zu lesen habe, bes. Fröhliche Wiss., Götzendämmerung, Wille zur Macht. Hoffentlich glückt es. Daraus würde das dritte Bändchen nach ‚Ende der Neuzeit’ und ‚die Macht’”[Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, a.a.O., S. 228. Siehe Guardini-Archiv der Kath. Akademie in Bayern, Nr. 1350, 5/6. Zur Einordnung dieses und anderer noch nicht veröffentlichter Texte Guardinis über Nietzsche siehe die Doktorarbeit von Albrecht Voigt, Wirkliche Göttlichkeit oder göttliche Wirklichkeit? Die Herausforderungen der Gegensatzproblematik in Romano Guardinis latentem Gespräch mit Friedrich Nietzsche, Dresden 2017 sowie seinen Aufsatz: ders., Dionysos gegen den Gekreuzigten. Guardinis Blick auf Nietzsche, in: Jahrbuch für Religionsphilosophie, 14, 2015, S. 189-208 wieder in: Dionysos gegen den Gekreuzigten. Guardinis Blick auf Nietzsche, in: Ambo. Jahrbuch der Hochschule Heiligenkreuz 2018 (Romano Guardini und der christliche Humanismus), 3, 2018, S. 125-142].

Auf diesem, auch mit dem 23. März 1954 datierten, bislang noch unveröffentlichten Gliederungsentwurf mit dem Titel „Die Macht und der Nihilismus“ steht neben dem X. Abschnitt „Die Umwertung der Werte“ in einem handschriftlichen Zusatz auch ein Verweis auf Heideggers „Holzwege“: „Der Wille zur Macht M H „Holzw“, S. 214 ff.“ Der angegebene Abschnitt in Heideggers Text „Nietzsches Wort ‚Gott ist tot’“, 1952 in „Holzwege“ veröffentlicht, beginnt mit den Sätzen:

„Der Wille zur Macht ist daher als dieses erkannte und d.h. gewollte Prinzip zugleich das Prinzip einer neuen Wertsetzung. Sie ist neu, weil sie sich zum ersten Mal aus dem Wissen ihres Prinzips wissentlich vollzieht. Die Wertsetzung ist neu, weil sie sich selbst ihres Prinzips versichert und diese Sicherung zugleich als einen aus ihrem Prinzip gesetzten Wert festhält. Der Wille zur Macht ist aber als das Prinzip der neuen Wertsetzung im Verhältnis zu den bisherigen Werten zugleich das Prinzip der Umwertung aller bisherigen Werte. Weil jedoch die bisherigen obersten Werte aus der Höhe des Übersinnlichen über das Sinnliche herrschten, das Gefüge dieser Herrschaft aber die Metaphysik ist, vollzieht sich mit der Setzung des neuen Prinzips der Umwertung aller Werte die Umkehrung aller Metaphysik. Nietzsche hält diese Umkehrung für die Überwindung der Metaphysik. Allein jede Umkehrung dieser Art bleibt nur die sich selbst blendende Verstrickung in das unkennbar gewordene Selbe“[Heidegger, Nietzsches Wort ‚Gott ist tot’, in: Heidegger, Holzwege, 1952, S. 193-247, hier S. 214 ff.].

Bis dahin hatte Guardini von einer „Umwertung der Werte“ lediglich im Anschluss an Max Scheler gesprochen, und zwar unter Verweis auf eine von Guardini irrtümlich „gleichnamig“ gemachte Publikation, die erstmals 1915 noch unter dem Titel „Zur Rehabilitierung der Tugend“ erschienen war und dann 1919 unter dem Titel „Vom Umsturz der Werte“ neu aufgelegt wurde [Vgl. Guardini, Ethik, a.a.O., S. 1174; Guardini, Das Ende der Neuzeit/Die Macht, a.a.O., 1986, S. 120]. Dabei schätzte Guardini vor allem Schelers Phänomenologie der Demut [Erstmals hat Guardini diesen Text 1920 empfohlen in: Romano Guardini, Neue Jugend und katholischer Geist (1920), in: ders., Wurzeln eines großen Lebenswerks, Band 1, Mainz/Paderborn 2000, S. 307; siehe später auch: Guardini, Das Dantebild der „Göttlichen Komödie“, in: ders., Sprache – Dichtung – Deutung/Gegenwart und Geheimnis, Mainz 1992, S. 132 ff., hier S. 138; und im Abschnitt „Vom Wesen der Tugend“, in: Guardini, Tugenden, (4)1992, S. 11.] In „Der Herr“ hat Guardini dann diese „Umwertung aller Werte“ auf die messianische Botschaft: „Gott ist der Demütig-Liebende“ bezogen [Vgl. Guardini, Der Herr, S. 65, 82, 395, 443]. In seinen Ethik-Vorlesungen der 50er Jahre, die in zwei voneinander abweichenden Fassungen existieren, sprach Guardini dann schließlich erstmals in Bezug auf Nietzsches Subjektivismus von dieser „Umwertung der Werte“:

„Noch weiter geht die Subjektivierung, wenn Nietzsche von einer „Umwertung der Werte" spricht. Danach wäre der Grund des Daseins überhaupt ein Wollen; dieses Wollen würde seiner jeweiligen geschichtlichen Akt-Phase gemäß, jene Werte „setzen"; sie also nicht nur als gültig empfinden, sondern das, was ihm zur Verwirklichung geeignet scheine, zu Werten machen. Mit alledem wird aber der wahre Charakter des Wertes verkannt“[Guardini, Ethik, a.a.O., S. 17. Das andere Mal heißt es – ohne namentlichen Bezug auf Nietzsche: „Noch weiter geht die Subjektivierung, wenn von einer „Umwertung der Werte“ gesprochen wird. Danach wäre der Grund der Geschichte ein Wollen; dieses Wollen würde, der jeweiligen geschichtlichen Phase gemäß, seine Werte „setzen“; sie also nicht nur als gültig empfinden, sondern das, was ihm der Verwirklichung würdig scheint, zum Wert machen ... Mit alledem wird aber der wahre Charakter des Wertes verkannt.“ (S. 1270)].

Ebenfalls in den Ethik-Vorlesungen greift Guardini aus den frühen Überlegungen im Dostojewskij-Buch den Gedanken auf, der Nihilismus mache das „Nichts“ zu einem Gespenst:

„Durch alles das gewinnt „das Nichts“ eine unheimliche psychologische Macht, und es entsteht der Nihilismus in seinen verschiedenen Formen. Was ist aber damit gesagt? Ist dieses Nichts – das ja auch die Negation des Guten, und damit das Böse bedeutet – selbst zu etwas geworden? Dadurch nicht. Sondern es ist Zerstörung; Zerfall der Fähigkeit zu den Akten der Realisation und der Stellungnahme, die ebendamit zur Bannung wird. Das so entstandene Nichts ist das absolute Gespenst“[Romano Guardini, Ethik. Vorlesungen an der Universität München (1950-1962), a.a.O., S. 84].

Im zeitlichen Kontext dazu schreibt er auch in seinem 1953 erstmals erschienenen Text „Annahme seiner selbst“ über das Verhältnis von Endlichkeit, Angst und dem Nichts als Gespenst:

„Die Philosophie der letzten Jahrzehnte sieht in ihr das Selbsterlebnis des endlichen Seins als solchen, das sich durch das Nichts bedrängt fühlt. Sie sei vom Seinsbewußtsein unablösbar, ja mit ihm identisch; Sein heiße In-Angst-sein. Es ist Zeit, daß hier widersprochen wird. Das Endlich-Seiende muß durchaus nicht in Angst, es könnte auch in Mut und Zuversicht existieren. Daß unsere Existenz den Charakter der Angst hat, bildet nicht das Erste, sondern das Zweite; denn die Endlichkeit, die sich hier ängstet, ist an ihrer Angst selber schuld. Sie ist die empörte Endlichkeit, die eben durch ihre Empörung in die Preisgegebenheit geraten ist. Die erste Endlichkeit, der Mensch in seinem Anfang, wußte sich geschaffen und ins Eigensein freigegeben durch Gott, welcher der Wahrhaftige und Gütige ist. Er wußte seine Freiheit im freien Willen Gottes begründet; daraus kam ihm Recht und Macht, ins eigene Dasein vorzugehen. Diese Endlichkeit wurde als Glück, als aller Erfüllung fähige Möglichkeit erlebt. In ihr war nicht Angst, sondern Mut und Vertrauen und Freude. Ihr Ausdruck war das Paradies. Die Angst kam erst, als der Mensch sich dagegen empörte, endlich zu sein; nicht mehr Ebenbild, sondern Urbild, das heißt unendlich-absolut zu sein beanspruchte. Dabei blieb er zwar endlich, verlor aber den Zusammenhang mit seinem Ursprung. Nun verkehrte die Zuversicht sich in Hybris, und der Mut in Furcht. Die Endlichkeit, die vorher als Kostbarkeit erlebt wurde, kam nun als Fragwürdigkeit zu Bewußtsein; die unabmeßbare Weite des Möglichen wurde zur Ortlosigkeit. Bis schließlich die Gottesleugnung der Gegenwart um die eigene Endlichkeit herum die bedrohende Leere schuf, das bis zum Überdruß besprochene Nichts, das Gespenst des geleugneten Gottes. Der in diesem Verhältnis steht, hat allerdings Anlaß zur Angst; aber nicht deswegen, weil sie zum Wesen der Endlichkeit gehörte, sondern weil er, das Erbe der Urschuld vollstreckend, sich zu dem sinnlosen Dasein der bloßen Endlichkeit entschieden hat“[Romano Guardini, Die Annahme seiner selbst, in: Christliche Besinnung, Band 6, 1953; dann als Monographie Würzburg 1960; dann in: ders., Die Annahme seiner selbst/Den Menschen erkennt nur, wer von Gott weiß, Mainz (1., 1-4. Tausend; unveränderter Nachdruck der 5. Auflage bzw. unveränderter Nachdruck der 4., erweiterten Auflage)1987 (Topos Taschenbücher 171); hier zitiert nach ders., Gläubiges Dasein. Drei Meditationen /Die Annahme seiner selbst, Mainz/Paderborn 1993, S. 20 f.]

Noch prägnanter bringt Romano Guardini diese Ansicht dann in seiner 1958 erschienenen Studie „Religion und Offenbarung“ auf den Punkt:

„Von hier aus enthüllt sich der Begriff des radikalen Nichts als eine Verzweiflungsantwort. Sie wirft etwas ins Negative, mythisiert, ja dämonisiert es, was auch positiv, als umfassend und haltend, ordnend und führend erfahren werden kann. Ja erfahren werden soll; denn im Licht der Offenbarung – ahnungsweise aber schon vor dem innersten Lebensgewissen – enthüllt sich jener Druck der Todesmacht, der das Gefühl des Nichts erzeugt, als Trug und Anfechtung, denen die Person zu widerstehen hat. Und die von den Existentialisten beschriebene Angst enthüllt sich als Erlebnis jener Endlichkeit, die sich selbst nicht aus dem Anderen heraus entgegengenommen; sich nicht, antwortend, ins Andere, Göttliche hineingegeben hat. Das Nichts ist die Stelle, welche durch die Leugnung des Göttlichen leer wird: das ‚Gespenst Gottes’; jene Angst aber ist das Grauen vor diesem Gespenst. Die nackte Endlichkeit gibt es nicht. Ihr Begriff ist ein Begriff der Verzweiflung und, vorher, der Empörung. Was es gibt ist, das Umfaßte, Getragene, von ringsher wie von innen heraus Gehaltene – was aber das tut, was umfaßt, trägt, führt, ist das Göttliche. Diese Erfahrung scheint an Bedeutung zu gewinnen. Sie wird sich vielleicht zur stärksten religiösen Erlebnisform unserer Zeit entwickeln. Sie erzeugt nicht Verzweiflung, sondern Vertrauen; nicht Angst, sondern Mut“[Religion und Offenbarung. Erster Band. Seiner Exzellenz, dem Hochwürdigsten Herrn Bischof Dr. Albert Stohr in Verehrung zugeeignet, Würzburg 1958; hier zitiert nach (2)1990, S. 72].

Guardini nimmt noch mehrfach auf diese neue Auseinandersetzung mit dem Existentialismus und dem Nihilismus und den darin zentralen Vorstellungen vom „Nichts“ und von der „nackten Endlichkeit“ in seinem Spätwerk Bezug.

In diesen Kontext von „Platon – Nietzsche – Heidegger“ gehört schließlich auch noch das von Gerl-Falkovitz 2019 aus dem Archiv Mooshausen zugänglich gemachte „Fragment A eines Typoskripts“ zu Nietzsche, in dem Guardini im Blick auf Nietzsche einen Vergleich zwischen Platon und Heidegger zieht. Das Typoskript ist zwar nicht datiert und auch schwer einzuordnen, sei hier aber der Vollständigkeit halber aufgrund des expliziten Heidegger-Verweises in diesem Abschnitt mit aufgeführt:

„Ausgang: P l a t o n: Realität der Idee; des ideell Absoluten. Von dort zum Konkreten, Historischen … Begegnung mit dem Existentiellen; dem vollziehenden Realismus. Loslassen der platonischen absoluten Position; Freischweben. (Heidegger: Interpretation des antiken Denkens rückwärts von hier aus: ist gar nicht idealistisch-absolutistisch. Primär ist das Zusammentreffen mit der Welt; das Sich-Bewegen in der Wirklichkeit. Das Denken davon getragen, und von provisorisch-hypothetischem Charakter; die Neuzeit hat es von jener Bewusstseinshaltung gelöst und absolutiert.)“[Gerl-Falkovitz, Geheimnis des Lebendigen, a.a.O., S. 198 f.].

Max Müller zwischen Guardini und Heidegger – eine Positionierung im Umfeld von Guardinis Freiburger Ehrenpromotion (1954)

Die Ehrenpromotion

Am 16. Januar 1954 hat die Philosophische Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Romano Guardini die Ehrendoktorwürde verliehen. Am 19. Januar 1954 teilt der Dekan Max Müller dies Guardini mit. Dieser Brief enthält bereits erste Begründungen für diese Entscheidung: Guardini sei gleichermaßen ein „Philosoph des „Konkret Lebendigen““, ein „Phänomenologe des christlichen Weltbewusstseins“, ein „Meister der geistesgeschichtlichen Darstellung“ und ein „großer Erzieher der Deutschen Jugendbewegung“.

Q069

Brief von Max Müller an Romano Guardini vom 19. Januar 1954 [BSB Ana 342, C 2/08-03]

Zusammenfassung wird noch erstellt.

Guardini geht in seinem ersten Dank sowohl auf seine geschichtliche Verbindung zu Freiburg, und auf die Versuche nach 1945, ihn nach Freiburg zu berufen, ein und sieht die Ehrung als Bestätigung seines Versuchs, „das so vieldeutige und dennoch wichtige Phänomen der religiös begründeten „Weltanschauung" zu untersuchen.“

Q070

Brief von Romano Guardini an Max Müller vom 27. Januar 1954 [BSB Ana 342, C 2/08-07]

Zusammenfassung wird noch erstellt.

Wie wir aus dem Dankbrief von Romano Guardini an seinen Freund Josef Weiger für dessen Glückwunschtelegramm zur Ehrenpromotion wissen, hatte Johannes Spörl den Titel vermittelt, auch mit dem Hintergrund, dass Romano Guardini seit seiner Berufung nach München der Philosophischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität angehörte:

„Der die Promotion schon vor längerer Zeit in Freiburg angeregt und immer wieder in Erinnerung gebracht hat, war Johannes Spörl. Abgesehen von persönlichen Gründen wollte er, meine Zugehörigkeit zur Münchener philosophischen Fakultät solle auch in dem Punkt komplett werden, daß ich nicht nur den theologischen, sondern den eigentlich vorgeschriebenen philosophischen Doktor hätte. Damit gab es aber Schwierigkeiten. Nicht auf mich bezügliche; wie ich höre, hat kein Mitglied der Freiburger Fakultät Einspruch erhoben. Der Grund war rein formaler Art und mit Gesichtspunkten verknüpft, die eine ganz andere Persönlichkeit betrafen. Dadurch war die Sache blockiert, und es hat allerlei Zeit und Mühe gekostet, bis das geordnet war. So war ich natürlich Johannes sehr verpflichtet. Er aber hielt es für richtig, der Sache auch in unserer Universität Relief zu geben. Mir persönlich ist jeder Aufwand dieser Art unsympathisch. So hätte ich gewünscht, die Dinge wären so schlicht vor sich gegangen wie bei Dir. Je älter ich werde, desto unangenehmer wird mir alles, was ‚Veranstaltung’ heißt. Man wird geizig mit dem Lebensstrom, und möchte ihn nicht in den Sand laufen lassen. Alles, was ich erreichen konnte, war aber nur eine Vereinfachung“[Guardini, Briefe an Josef Weiger, a.a.O., S. 392 f.].

Max Müllers „Primat“ für Romano Guardini

Nach der erfolgten Übergabe der Urkunde in München am 15. Februar 1954 bedankt sich Guardini abermals für die Ehrung:

Q071

Briefdurchschlag von Romano Guardini an Max Müller vom 20. Februar 1954 [BSB Ana 342, C 2/08-27]

Zusammenfassung wird noch erstellt.

Dieses neuerliche Dankschreiben veranlasst nun Max Müller zu einem sehr eindrucksvollen, persönlichen Zeugnis seiner Dankbarkeit für „Führung und Geleit“ von Jugend an und mündet in eine Erzählung über eine Frage Heideggers und seiner Antwort, die seine persönliche Sicht auf seine beiden Lehrer offenbart.

Q072

Brief von Max Müller an Romano Guardini vom 28. Februar 1954 [BSB Ana 342, B 4-Sonderkonvolut, Mappe 3]

Zusammenfassung wird noch erstellt.

Anschließende Würdigungen und gemeinsamer Fußballbesuch

1954 würdigte Max Müller dann auch im Sammelband „Gestalter unserer Zeit. Denker und Deuter im heutigen Europa“ Guardini als „Erzieher und Gewissen der Deutschen“[Max Müller, Romano Guardini, in: Schwerte, Hans/Spengler, Wilhelm (Hgg.), Gestalter unserer Zeit. Denker und Deuter im heutigen Europa. Deutschland, Österreich, Schweiz, Niederlande und Belgien. Skandinavien. Mit einer Einführung von Arnold Bergsträßer, Bd. 1, Oldenburg/Hamburg 1954. S. 65-70, hier S. 65 und 67. Vgl. auch ders., Pädagogen der Jugendbewegung. Pater Ludwig Esch SJ und Romano Guardini, in: Der christliche Sonntag, Freiburg i. Br., 6. Mai 1956] und als „Enthüller und Einüber“ des Spannungsgefüges des Daseins für eine „Generation junger Menschen“, worin „Guardini vielleicht der größte Phänomenologe christlicher Pädagogik und zugleich der größte Pädagoge der Phänomenologie geworden“ sei.

Die Verbundenheit mit Romano Guardini scheint in diesem Jahr so stark gewesen zu sein, dass man allem Anschein gemeinsam ein Spiel der Fußballweltmeisterschaft miterlebt hat. Laut der Erinnerung Odo Marquardts soll es sogar das Endspiel zwischen Ungarn und Deutschland am 4. Juli 1954 im Wankdorf-Stadion gewesen sein:

„Mein Doktorvater Max Müller hat – zusammen mit seinem älteren und verehrten Freund Romano Guardini aus Tübingen – damals im Berner Wankdorf-Stadion leibhaftig gesessen und das Spektakel unmittelbar angeschaut: ich weiß nicht, ich weiß nicht, ob die heutigen filmischen Bemühungen das wiedergeben“[Odo Marquard, Zum fünfzigjährigen Doktorjubiläum, in: Ästhetik und Kommunikation. Beiträge zur politischen Erziehung, 36, 2005, S. 17ff, hier S. 18; dann als ders., Selbstzeugnis 1: Student in Freiburg 1949, 1950 und 1954, in: Eckhard Wirbelauer, Die Freiburger Philosophische Fakultät 1920-1960, Freiburg/München 2006, S. 484; dann wieder als ders., Zum fünfzigjährigen Doktorjubiläum. Rede in Freiburg am 16. Juli 2004, in: ders.: Skepsis in der Moderne. Philosophische Studien, Stuttgart 2007, S. 8-12, hier S. 10. Dass Marquardt hier Guardini noch an der Universität in Tübingen statt in München wähnt, macht die Genauigkeit der Erinnerung fragwürdig.].

Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich, um das gewonnene Endspiel handelt, ist äußerst gering, da Guardini am 4. Juli 1954 um 11 Uhr noch in München in St. Ludwig seine „7. Predigt“ über „Die Apostelgeschichte“ gehalten hat. Da Guardini am 22. Juni 1954 in Freiburg seinen Vortrag „Die Verantwortung des Studenten für die Kultur“ gehalten hat, wäre ein derartiger spontaner Fußballspielbesuch zum Beispiel eher für das Entscheidungsspiel um Platz 2 in der Gruppenphase zwischen Deutschland und der Türkei am 23. Juni 1954 in Zürich wahrscheinlich, das Deutschland mit 7:2 gewonnen hat. Vermutlich könnte man im Nachlass Müller noch weitere Anhaltspunkt für diese Anekdote „aus zweiter Hand“ finden.

Zur Person Max Müllers

An dieser Stelle soll nun jener Max Müller doch noch etwas näher vorgestellt werden, der Guardini 1924 auf Burg Rothenfels kennen- und schätzengelernt hat; der ihn 1949 aber noch aus Verbundenheit zu Heidegger in eine schwierige Lage gebracht hatte.

Max Müller hatte als 17jähriger erste Kontakte zum „Quickborn“, nahm 1924 an der Rothenfelser Werkwoche teil [Max Müller, in: Löscht den Geist nicht aus, 1985, a.a.O., S. 47]. Diese Begegnung veranlasste ihn zunächst für zwei Semester zu Guardini nach Berlin zu gehen. Dabei interessierten ihn nicht allein dessen Lehrangebote, sondern vor allem der „Ernst einer Lebensentscheidung“ [Müller/Vossenkuhl, Auseinandersetzung als Versöhnung, a.a.O., S. 18]. In seiner Erinnerung verglich er Guardini mit dem Sozial- und Großstadtseelsorger Carl Sonnenschein:

„Gegensätze prallten aber damals in Berlin überall aufeinander; auch innerhalb des Katholizismus gab es erregende Spannungen. Der große Mann einer modernen Sozial- und Großstadt – Seelsorge war Carl Sonnenschein. Er hat Romano Guardini als einen „Ästheten“ bezeichnet und ganz und gar abgelehnt; […] Mich hat damals das Künstlerische stärker ergriffen als das Soziale und das Politische; und dessen Repräsentant war in Berlin Romano Guardini“[Müller/Vossenkuhl, Auseinandersetzung als Versöhnung, a.a.O., S. 23].

Nach weiteren Studienaufenthalten in München, wo er vom „Quickborn“ zum „Bund Neudeutschland“ wechselte, und in Paris ging Müller dann zur Promotion nach Freiburg. Diese schloss er im Juli 1930 mit Honecker als erstem und Heidegger als zweitem Gutachter der erst später veröffentlichten Dissertation „Über Grundbegriffe philosophischer Wertlehre“ ab. Im Oktober/November desselben Jahres legte er noch das Lehrer-Staatsexamen ab. Der erste von Martin Heidegger an Max Müller erhaltene Briefe stammt aus diesem Jahr 1930. Insgesamt wurden 2003 89 Briefe und Karten von Martin Heidegger an Max Müller aus den Jahren von 1930 bis 1974 veröffentlicht [Martin Heidegger, Briefe an Max Müller und andere Dokumente, hrsg. von Holger Zaborowski und Anton Bosel, Freiburg i. Br./München 2003]. In ihnen kommt Guardini seltsamerweise nicht vor.

Nach der Promotion wurde Max Müller Assistent Honeckers. Als solcher war er nach eigenem Bekunden beim Pascal-Vortrag Guardinis 1931 zugegen – den er selbst aber 1939 in einem Vortragsentwurf irrtümlich oder versehentlich auf „1930“ datierte. Von 1931/32 bis 1934/35 war Müller außerdem der Schriftleiter der ND-Zeitschrift „Werkblätter“. Max Müller war dann im November 1933 unter Heideggers Rektorat als Leiter der Fachschaft Philosophie abgesetzt worden. „Ausgerechnet ein Katholik als Fachschaftsleiter“ war nicht weiter tragbar [Ebd.??? Hier allerdings mit anachronistischen „Obwohls“ in Bezug auf Müllers Engagement in der SA, seiner erst im Frühjahr 1934 begonnen Mitarbeit in der „Arbeitsgemeinschaft Katholischer Deutscher“ und in Bezug auf seinen 1937 gestellten Antrag um Aufnahme in die NSDAP. Diese Umstände hatten allesamt mit der Absetzung durch Heideggers noch nichts zu tun haben können]. Max Müllers kurzzeitiges, auf Bitte von Erzbischof Gröber hin im Januar 1934 aufgenommenes und nach einem Streit mit den nationalsozialistischen Mitgliedern Brombacher und im April 1934 wieder beendetes Engagement für die „Arbeitsgemeinschaft katholischer Deutscher“ ist bereits durch Remigius Bäumer ausführlich erforscht und durch Müller selbst geschildert worden [Remigius Bäumer, Die ‚Arbeitsgemeinschaft katholischer Deutscher’ im Erzbistum Freiburg. Der Versuch eines ‚Brückenschlags’ zum Nationalsozialismus, in: Freiburger Diözesan-Archiv, 104/36., 1984, S. 281-313; dazu: Müller/Vossenkuhl, Auseinandersetzung als Versöhnung, a.a.O., S. 70 f.; ders., Die „Werkblätter“ 1932-1935. Geschichte einer Zeitschrift im Umbruch von Weimar zum NS-Staat, in: Rolf Eilers (Hrsg.), Löscht den Geist nicht aus. Der Bund Neudeutschland im Dritten Reich. Erlebnisberichte, 1985, S. 46-83, hier S. 66].

Müller benannte in seinem Interview mit Vossenkuhl ein Kapitel „Die Auseinandersetzung mit Martin Heidegger im Freiburger „Färber-Kreis“.

[Der nun schon öfter genannte „Färber-Kreis“ war einer der sogenannten „Freiburger Kreise“, die vor allem mit passivem Widerstand in Verbindung gebracht werden. Er wird so genannt, weil er sich seit den dreißi-ger Jahren in besonderem Maße um den Journalisten, Publizisten und Politiker Karl Färber (1888-1979), innerhalb des Kreises auch „der Fürst“ oder „Onkel“ genannt, sammelte. Neben Färber selbst gehörten dem Kreis außer den bereits genannten – Heinrich Ochsner und Max Müller auch zahlreiche andere im Bezug auf Guardini und/oder Heidegger namhafte Personen an: Reinhold Schneider, der, nachdem er von Berlin aus nach Freiburg in die Mercystraße gezogen war, zum zweiten Mittelpunkt des Kreises wurde, weshalb dieser mitunter auch „Färber-Schneider-Kreis genannt wird; der sich darüber hinaus aber in Berlin gemeinsam mit Guardini in der Una-sancta-Bewegung engagiert hatte und nun über den Kurier Ludwig Winterswyl Manuskripte austauschte, um sie für die Veröffentlichung im Alsatia-Verlag vorzubereiten; der als „Majordomus“ fungierende Guardini-Vertraute Johannes Spörl (genannt „Sporelli“), dann Bernhard Welte, Hans Filbinger, Hubert Seemann („Huse“), Bernhard Pfister (vgl. Müller/Vossenkuhl, Auseinandersetzung als Versöhnung, a.a.O., S. 133), Hubert Armbruster, Konrad Zweigert; zumindest nahestehend die Quickborner Robert Scherer und Walter Dirks sowie Heinrich Höfler und Josef Knecht. Schon allein an dieser Zusammensetzung wird die wechselseitige Beziehung des Kreises sowohl zu Martin Heidegger als auch zu Romano Guardini deutlich.]

Nach eigenem Bekunden wollte er damals ein „pontifex“, ein „Ermöglicher einer Begegnung zwischen dem, was wir damals die „Philosophia perennis“ nannten, und Heidegger sein“ und fand dafür im „Färber-Kreis“ einige Gleichgesinnte, mit denen er ab 1936 einen „philosophischen Zirkel“ unter maßgeblicher Führung von Heinrich Ochsner, Bernhard Welte und ihm selbst bildete [Müller/Vossenkuhl, Auseinandersetzung als Versöhnung, a.a.O., S. 83 f.]. Auch aus Bernhard Weltes autobiographischem Rückblick wissen wir, dass in diesem Kreis das philosophische Denken Heideggers diskutiert wurde.

„Und vor allem kamen ganz neue Denkformen, die es in dieser Form im Abendland noch nicht gegeben hatte. Es kam der Einbruch des Existenzialismus, also in Deutschland das Werk von Karl Jaspers und das Denken Martin Heideggers, meines Landsmannes. Wir haben gerade diese Dinge intensiv diskutiert, vor allem in jenem berühmten Kreis um Karl Färber und Heinrich Ochsner und Max Müller und andere. Und da wurde uns klar, daß eine neue Stunde der Christenheit angebrochen war, auch wenn viele Christen es noch nicht merkten“[Bernhard Welte, Zur Lage der Theologie heute und zur Rolle der Philosophie im Rahmen dieser Situation, in: Bernhard Casper (Hrsg.), Die Angewiesenheit der Theologie auf das philosophische Fragen, München/Zürich 1982, S. 65-71; jetzt in: ders., Zur Vorgehensweise der Theologie und zu ihrer jüngeren Geschichte, Gesammelte Werke, Band IV/3, 2006, S. 273]

Im Habilitationsverfahren Max Müllers spielte Heidegger dann allerdings eine äußerst problematische Rolle. Es geht dabei um die bei Martin Honecker als Habilitation eingereichte Arbeit über „Sein und Geist. Systematische Untersuchungen über Grundproblem und Aufbau mittelalterlicher Ontologie“, die 1940 dann gedruckt erschienen ist. Einige Professoren und Dozenten setzten sich dafür ein, Müller, der als Vertreter des „politischen Katholizismus“ galt, keine Dozentur zu übertragen. Auch Heidegger wurde in dieser Frage um ein Gutachten gebeten. Max Müller berichtet 1988 selbst über die damaligen Umstände bei seinem Habilitationsverfahren:

„Der Prorektor der Universität, Theodor Maunz, zu dem ich bestellt wurde, erklärte mir: „Sie sind verloren. Weil man Sie denunziert hat, ist Heidegger befragt worden, wie es um Ihre politische Gesinnung stehe. Der hat ein Gutachten geschrieben, in dem er Sie menschlich, pädagogisch und philosophisch lobt, aber den Satz schreibt, Sie seien diesem Staat gegenüber negativ eingestellt. Gehen Sie hin! Wenn er diesen einen Satz streicht, nachdem die Habilitation, die Probevorlesung und Ihre Teilnahme am Dozentenlager so außerordentlich gut gegangen sind, wird auch alles weitere gutgehen. Wenn der Satz stehen bleibt, allerdings nicht.“ So ging ich zu Heidegger. Der sagte etwas verlegen: „Ich kann den Satz nicht streichen. Ich bin ja nur nach Ihrer politischen Einstellung gefragt worden. Wenn ich die Auskunft verweigere, ist das für Sie genauso negativ. Deshalb habe ich die Antwort gegeben, die allein der Wahrheit entspricht. Aber ich habe sei eingepackt in eine Hülle verantwortbarer guter Dinge.“ Meine Entgegnung: „Das nützt mir nichts. Der Satz steht da.“ Da meinte Heidegger: „Als Katholik müßten Sie doch wissen, daß man die Wahrheit sagen muß. Infolgedessen kann ich doch den Satz nicht streichen.“ Da entgegnete ich: „Mir ist nicht bewußt, daß man immer und überall die Wahrheit sagen muß. Vielmehr muß der, zu dem man spricht, einen Anspruch auf die Wahrheit haben. Es gibt ja keine undifferenzierte Wahrheitspflicht.“ Heidegger: „Nein, ich halte mich daran, wonach ich gefragt worden bin. Ich kann jetzt nicht mein ganzes Gutachten zurückziehen und sagen, ich mache überhaupt keines, nachdem bekannt ist, daß ich eins an die Universität zur Weiterleitung geliefert habe. Da ist nichts zu machen. Nehmen Sie mir die Sache übel.“ Offenbar wollte er ein schönes Verhältnis zu mir aufrechterhalten. Meine letzten Worte waren: „Es dreht sich nicht ums Übelnehmen, sondern um meine Existenz.“ Tatsächlich bekam ich kurz darauf, weitergeleitet vom Dekan Müller-Blattau, ein Schreiben aus Berlin, daß ich „aus weltanschaulich-politischen Gründen“ für die Universität untragbar sei“[Max Müller, Heidegger – Ein Philosoph und die Politik, in: Günther Neske (Hrsg.), Antwort. Martin Heidegger im Gespräch, 1988, S. 190-220, hier S. 206; ders., in: Martin Heidegger, Briefe an Max Müller und andere Dokumente, hrsg. von Holger Zaborowski, 2003, S. 131].

Es ist durchaus nachvollziehbar, dass ein nachträgliches Verändern oder Zurückziehen des Gutachtens, Max Müller auch nicht mehr geholfen hätte. Warum sich Heidegger allerdings noch 1937 überhaupt dazu verpflichtet fühlte, gegenüber Parteiaktivisten wie Wolfgang Aly ein politisches Urteil über seine Schüler abzugeben, bleibt schwer nachzuvollziehen, wenn man seine oben dargelegte eigene Kampfeshaltung gegenüber dem politischen Katholizismus nicht miteinbezieht. Dabei hatte Müller 1937, um seine Habilitation zu „retten“, sogar noch die Aufnahme in die NSDAP beantragt.

Schließlich bekam Müller durch Erzbischof Gröber eine Stelle am Freiburger Erzbischöflichen Collegium Borromaeum. Während Max Müller dann 1939 einberufen wurde und am „Frankreichfeldzug“ teilnahm, wurde sein Antrag auf NSDAP-Mitgliedschaft 1940 angenommen. Nach dem Feldzug erhielt Müller einen „wehrwirtschaftlichen“ 14monatigen Urlaub als Dozent am Collegium Borromaeum, um die elsässischen Theologen aus Straßburg in Freiburg zu unterrichten [Müller/Vossenkuhl, Auseinandersetzung als Versöhnung, a.a.O., S. 159]. Bei seiner Wiedereinberufung im Februar 1942 handelte es sich um eine Dienstverpflichtung auf eine „u.k.-Stellung“ als Abteilungsleiter im Arbeitsamt Ulm. Durch Heinz Bollinger, seinem Schüler am „Collegium Borromaeum“ sowie Bundesbruder bei den „Neudeutschen“, hat Müller am 24. Januar 1943 – nicht wie mitunter angegeben bereits 1942 – auch Willi Graf in Ulm erstmalig und einmalig getroffen. Kurz nach diesem Treffen wurde Müller im Zusammenhang mit der Weißen Rose, aber auch seiner Mitgliedschaft im Freiburger Färber-Kreis verhaftet und verhört, aber wieder freigelassen [Ebd., S. 130 und 132]. Allerdings war nach diesem „Ulmer Ereignis“ die Dienstverpflichtung am dortigen Arbeitsamt infolge der Aufkündigung der „u.k.-Stellung“ nicht mehr zu halten gewesen und es kam zu einem erneuten Einberufungsbefehl als „Bewährungs-Einsatz“. Dieser konnte aufgrund der Intervention von guten und einflussreichen Freunden in eine Tätigkeit als Personalchef einer Waggon-Fabrik in Posen umgewandelt werden [Ebd., S. 190].

Nach einer Aussprache mit Heidegger bei einem Besuch Max Müllers und Bernhard Weltes auf Heideggers „Hütte“ im Herbst 1947, die neben den persönlichen Belangen auch philosophische Zukunftsfragen beinhaltete, setzte sich Max Müller mehrfach für Martin Heidegger ein, als es um den Erhalt seiner Privatbibliothek oder eben um die Frage seiner Emeritierung ging [Martin Heidegger, Briefe an Max Müller und andere Dokumente, hrsg. von Holger Zaborowski und Anton Bosel, Freiburg i. Br./München 2003, S. 9 ff.].

Max Müllers inhaltliche Auseinandersetzung mit Guardini hatte schon 1932 begonnen, als er Guardini in dem Artikel „Lebenskunde. III. Leitmotive“ aufgenommen hat [Max Müller, (Artikel) Lebenskunde. III. Leitmotive, in: Lexikon der Pädagogik der Gegenwart, Freiburg im Breisgau 1932, Bd. II, Sp. 170]. In den Werkblättern schrieb er unter dem Titel „Überwelt und Welt“ über Romano Guardinis Dostojewskij-Buch „Der Mensch und der Glaube“[Max Müller, Überwelt und Welt, in: Werkblätter, Neudeutschland Älterenbund, Würzburg, 6, 1933, 3/4 (Juni/Juli 1933), S. 84-87]. Es folgt 1935 in der Freiburger Tagespost ein Rezensionsartikel zur Guardini-Festschrift „Christliche Verwirklichung“[Max Müller, Christliche Verwirklichung, in: Tagespost, Freiburg im Breisgau, 14. April 1935]. Schließlich rezensierte er auch Guardinis Aufsatzsammlung „Unterscheidung des Christlichen“[Max Müller (unter Pseudonym Friedrich Max), Unterscheidung des Christlichen, in: Werkblätter, Neudeutschland Älterenbund, Würzburg, 9, 1936/37, S. 222-231, zu Romano Guardini siehe S. 222 f. und S. 230].

1939 hielt Müller am 30. Juni und 5. Juli zwei Vorträge über „Das christliche Menschenbild“ und „Die Weltanschauungen der Neuzeit“ in der Katholischen Studentenseelsorge in Freiburg, die er 1945 veröffentlichte und sie seinen Freunden Karl Färber und Reinhold Schneider in Dankbarkeit gewidmet hat [Max Müller, Das christliche Menschenbild und die Weltanschauungen der Neuzeit. Zwei Vorträge gehalten in der katholischen Studentenseelsorge zu Freiburg im Breisgau am 30. Juni und 5. Juli 1939, 1945]. Dabei nimmt er ausdrücklich auch Bezug auf Guardinis Rede von der „Unterscheidung des Christlichen“:

„Das ergibt jene sonderbare „Transparenz“ alles Weltlichen im Christentum, die wiederum Nietzsche mit der Wertloserklärung des Welthaften aus Unkraft und Ressentiment verwechselte, weil diese Transparenz ethisch-natürlich allein nicht erklärbar ist. Dies zeigt aber nur, daß hier wie auch im vorher angeführten „Satz von der rechten und linken Wange“ Nietzsche den Eigenbereich des Christlichen, und das besagte uns die „Unterscheidung des Christlichen“ (Titel der gesammelten Aufsätze Romano Guardinis), nicht zu sehen vermochte“[Ebd., S. 21].

In diesen Vorträgen nimmt er aber auch schon gleichzeitig Bezug zu Heidegger:

„Sie wissen alle, daß der Nachfolger Husserls auf seinem Freiburger Lehrstuhl, Martin Heidegger, die Überführung der „Phänomenologie“ in die sog. „Existenzphilosophie“ bedeutet und daß bei ihm die philosophische Lehre vom Menschen, vom „Dasein“, wie er sagt, als Fundamentalontologie aller weiteren Metaphysik vorgeordnet ist und in seinem Werk „Sein und Zeit I“ in Angriff genommen. Über das Menschenbild Martin Heideggers zu sprechen, scheint es mir immer noch zu früh und gewagt zu sein“[Ebd., S. 59, siehe nochmaliger Verweis S. 61].

Im Nachlass Max Müllers existiert aus dieser Reihe an Vorträgen aber auch noch der Entwurf eines kurz zuvor, am 14. Juni 1939 stattfindenden Vortrags über Romano Guardini, der zeigt, wie intensiv sich Müller mit dem Werk Guardinis auseinandergesetzt hatte [Universitätsarchiv Freiburg, Nachlass Max Müller, E 3-792]. Max Müller lehnt sich sehr stark an den Person-Begriff Guardinis an [Vgl. später auch: Max Müller, Person und Funktion, in: Hirschberg, Frankfurt am Main/Würzburg, 7, 1954, S. 71-80, zu Romano Guardini siehe S. 72 f.; dann als Münchner Antrittsvorlesung von Anfang 1961: ders., Person und Funktion, in: Philosophisches Jahrbuch, 69, 1961, 2, S. 371-404 (Münchner Antrittsvorlesung Anfang 1961), zu Romano Guardini insbesondere S. 384; neugefasst und erweitert in: Max Müller, Erfahrung und Geschichte. Grundzüge einer Philosophie der Freiheit als transzendentale Erfahrung, Freiburg i. Br. 1971, S. 83 ff., zu Romano Guardini siehe S. 83, 85 und 89]. Außerdem habe er durch Guardini die Einsicht vermittelt bekommen, „dass katholisches Christsein NICHT SYSTEM einer Weltanschauung sei, SONDERN eben GESCHICHTE“. Müller macht gerade den Unterschied zwischen Heidegger und Guardini daran fest, dass Heidegger nicht verstanden habe, dass das Christsein der Kirche eben kein System, „sondern Mitgang in einer Geschichte“ sei[Müller/Vossenkuhl, Auseinandersetzung als Versöhnung, a.a.O., S. 80]. Umgekehrt attestierte Müller später aber ausgerechnet Guardini einen fehlenden „sensus politicus practicus“, also ein fehlendes konkretes politisches Urteil gerade Anfang des Dritten Reiches im Blick auf sein durch Hans-Jörg Oeschger behauptetes Plädoyer Guardinis, angesichts der bolschewistischen Bedrohung Hitler nicht total abzulehnen, verbunden mit der angeblichen Empfehlung, die Quickborn-Jungenschaft in die Hitlerjugend überzuführen [Ebd., S. 68]. Diese Einschätzung mutet angesichts manch eigener Fehlurteile und anfänglicher Kompromisse im Gefolge Gröbers und Heideggers zu Beginn und während des Dritten Reiches etwas seltsam an, zumal Müller selbst mit dem Bund Neudeutschland und den „Werkblättern“ gezwungen war, Kompromisse einzugehen und Anpassungen an das neue „System“ vorzunehmen.

1934 beginnt Max Müller dann auch über Heidegger zu schreiben, so in seinem Aufsatz „Phänomenologie und menschliche Existenz“[Max Müller, Phänomenologie und menschliche Existenz. Ein systematischer Abriß der Entwicklung von Husserl zu Heidegger, in: Tagespost, Freiburg i. Br., 21.2.1934 (Teil I), 22.2.1934 (Teil II), 25.2.1934 (Teil III)] und in seinem Bericht über den Vortrag „Der Ursprung des Kunstwerkes“[Max Müller, Der Ursprung des Kunstwerkes. Vortrag von Prof. Martin Heidegger in der Kunstwissenschaftlichen Gesellschaft Freiburg, in: Tagespost, Freiburg i. Br. vom 17.11.1935; nochmals abgedruckt in: Dichtung und Volkstum, 38, 1937, S. 125-128].

Anton Bösl veröffentlichte 1998 erstmals einen Brief Max Müllers an P. Alois Naber SJ in Rom über Heidegger vom 2. Februar 1947. Darin heißt es:

„Ich kenne Heidegger seit dem Jahre 1928 und bin seitdem in ununterbrochener Fühlung mit ihm. Nur im Jahre 1938, als ein Gutachten von ihm dazu mithalf, dass mir aus weltanschaulichen Propagandagründen die Venia legendi an der Universität entzogen wurde, trat ein Stillstand in unseren Beziehungen ein. Im Jahre 1945 hat er sich dann aber sehr dafür eingesetzt, dass mir der ordentlich-öffentliche Lehrstuhl für Philosophie und Philosophiegeschichte an der Universität übertragen würde, was dann auch im Jahre 1946 geschah“[Anton Bösl, Heideggers philosophische Entwicklung der letzten Jahre. Ein Brief Max Müllers aus dem Jahre 1947, in: Philosophisches Jahrbuch, 105, 1998, S. 363-370; dann auch in: Martin Heidegger, Briefe an Max Müller und andere Dokumente, hrsg. von Holger Zaborowski, 2003, S. 71 f. mit Anmerkungen auf S. 192].

1953 schrieb Müller eine Rezension zu Heideggers „Einführung in die Metaphysik“[Max Müller, Rezension zu: Heidegger, Einführung in die Metaphysik, in: Universitas, 9, 1954, S. 301-304 und 409-413], 1957 einen allgemeinen Artikel über „Die Philosophie in Freiburg“[Max Müller, Die Philosophie in Freiburg, in: Geist und Leben der Hochschule, Freiburg i. Br. 1957], im Jahr darauf ein „Nachwort: Gespräch mit Heidegger?“[In: Max Müller, Existenzphilosophie im geistigen Leben der Gegenwart, Heidelberg (2., erw.)1958]; 1959 schließlich eine Würdigung Heideggers zum 70. Geburtstag unter dem Titel „Die Philosophie Martin Heideggers im Horizonte der Gegenwart“[Max Müller, Die Philosophie Martin Heideggers im Horizonte der Gegenwart. Zum 70. Geburtstag des Freiburger Denkers, in: Badische Zeitung, 26./27.9.1959], dazu die „Ansprache anläßlich der Feier der Überreichung der Ehrenbürgerurkunde der Stadt Meßkirch an Martin Heidegger zu dessen 70. Geburtstag im Namen der ehemaligen Schüler“[Max Müller, in: Martin Heidegger. 26. September 1959, o.O. und o.J. (1959)]. Auch zum 75. Geburtstag erscheint ein Artikel unter dem Titel „Das Denken wird zum Danken“[Max Müller, Das Denken wird zum Danken. Martin Heidegger zum 75. Geburtstag, in: Badische Zeitung, 26./27.9.1964]. 1971 folgt sein im Jahr zuvor gehaltener Vortrag „Vollendung, Ende und Anfang – philosophische Reflexionen im Hinblick auf Martin Heidegger“[Siehe ders., Hans-Georg Gadamer/Emil Staiger (Hrsg.), Hegel, Hölderlin, Heidegger, Karlsruhe 1971; abermals gedruckt Freiburg 2006]. Nach dem Tod Heideggers verfasste Müller 1982 noch in den „Badischen Biographien“ den Artikel über Heidegger[Max Müller, Heidegger, Martin, in: Badische Biographien, Neue Folge, Band 1, Stuttgart 1982, S. 162-168] und 1991 einen Aufsatz „Metaphysik und Geschichte im Denken Martin Heideggers“[Max Müller, Metaphysik und Geschichte im Denken Martin Heideggers, in: Philosophisches Jahrbuch, 98, 1991, S. 225-232], 1993 über „Macht und Gewalt. Ein Versuch über „Herkunft und Zukunft in der ‚Frömmigkeit des Denkens’ im Hinblick auf Martin Heidegger“[Max Müller, Macht und Gewalt. Ein Versuch über „Herkunft und Zukunft in der ‚Frömmigkeit des Denkens´ im Hinblick auf Martin Heidegger, in: Hans-Helmuth Gander (Hrsg.), Europa und die Philosophie, Frankfurt am Main 1993, S. 225-244] und 1994 über „Phänomenologie, Ontologie und Scholastik“[Max Müller, Phänomenologie, Ontologie und Scholastik, in: Otto Pöggeler (Hrsg.), Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines Werks, Weinheim (3., erg.)1994, S. 78-94].

Max Müller und Johannes Spörl können daher wohl als zwei entscheidende, wenn auch keineswegs die einzigen „Schlüsselfiguren“ in der Beziehung von Romano Guardini und Martin Heidegger angesehen werden, zumal beide selbst wiederum über den „Färberkreis“ und auch sonst freundschaftlich verbunden sind. Dies wurde bislang nicht in ausreichendem Maße gesehen und sollte in Zukunft noch vertieft herausgearbeitet werden, zum Beispiel dadurch, dass man einen eventuell noch existierenden Briefwechsel zwischen Müller und Spörl nach Spuren zu Guardini und Heidegger untersucht.

Weitere Widmungen und Briefe (1954-1957)

Q073

Widmung Heideggers an Guardini 22. Juni 1954 [Guardini-Bibliothek gb 4044]

Datiert in Freiburg am „22. Juni 1954“ schenkt Heidegger Guardini sein neues Buch „Was heißt denken?“ (Tübingen 1954).

Die Widmung lautet: "Für Romano Guardini Mit herzlichen Wünschen Martin Heidegger Freiburg iBr. d. 22. Juni 1954."

An diesem 22. Juni 1954 hält Guardini in Freiburg vor der Studentenschaft seinen Vortrag „Die Verantwortung des Studenten für die Kultur“, was darauf schließen lässt, dass Heidegger zugegen war oder Guardini zumindest im Rahmen dieser Veranstaltung getroffen hat. Als nächstes folgt dann im darauffolgenden Februar der obligatorische Geburtstagsgruß von Heidegger an Guardini.

Q074

Brief von Martin Heidegger an Romano Guardini vom 15. Februar 1955 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern, Nr. 875]

Zusammenfassung wird noch erstellt.

Da die von Johannes Spörl schon unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg begonnene Planung für eine Festschrift auch 1955 nicht zum Ziel führte, konnte Heidegger sich natürlich auch nirgends beteiligen.

Q075

Widmung Heideggers an Guardini zum 70. Geburtstag (1955) [Guardini-Bibliothek gb 4056]

Das im Geburtstagsbrief genannte Buch „Vorträge und Aufsätze“ (Pfullingen 1954) steht mit Widmung in der Guardini-Bibliothek.

Die Widmung lautet: "Für Romano Guardini zum siebzigsten Geburtstag mit verehrungsvollen Grüßen Martin Heidegger"

Das Buch enthält Vorträge und Aufsätze aus den Jahren 1936 bis 1954, darunter auch den Akademievortrag „Das Ding“ von 1950.

Q076

Widmung Heideggers an Guardini (1956) [Guardini-Bibliothek gb 4054]

Martin Heideggers zu Weihnachten 1956 gewidmetes „Gespräch mit Hebel beim „Schatzkästlein“ zum Hebeltag 1956“[Aus der Schriftenreihe des Hebelbundes Sitz Lörrach e.V. Nr. 4] hat bei Guardini keinen Niederschlag gefunden. Guardini hat sich weder vor noch nach diesem Geschenk mit Hebel beschäftigt.

Die Widmung lautet: "Für Romano Guardini Mit herzlichem Weihnachtsgruß Dez. 56. Martin Heidegger"

Q077

Widmung Heideggers an Guardini (1957) [Guardini-Bibliothek gb 4059]

Im Jahr darauf hat Heidegger dann Guardini zu Weihnachten sein Buch „Identität und Differenz“ (Pfullingen 1957) übermittelt. Auch hier kann festgehalten werden, dass Guardini darauf keinen Bezug nimmt.

Die Widmung lautet: "Für Romano Guardini mit herzlichen Weihnachtsgrüßen Martin Heidegger Dez. 57"

Die Akademie-Tagung über „Die Sprache“ (1958/59)

Sicherlich wären durch intensivere Studien im Archiv der Bayerischen Akademie der Schönen Künste für die Vorbereitung und Durchführung der Tagung und die Beteiligung Guardinis und Heideggers an der Akademie-Tagung über „Die Sprache“ noch weitere Hinweise zu finden. Hier sollen aber zumindest einmal die Dinge gesammelt zugänglich gemacht werden, die bereits vorliegen oder im Nachlass von Romano Guardini dazu aufgefunden werden konnten.

Vorbereitungen

In seinem Tagebucheintrag vom 2. März 1958 berichtet Guardini von einer am Tag zuvor bei Podewils stattfindenden „Probe-Vorlesung“ Heideggers für die Herbst-Vortragsreihe. Im Tagebucheintrag vom Sonntag, 2. März 1958 steht:

„Gestern Nachmittag hat Heidegger bei Graf Podewils ein Stück aus einem Kolleg vorgelesen. Es sollte eine Probe dessen sein, was er bei der Vortragsreihe der Akademie der Schönen Künste im Herbst sagen will. Es ist mühsam, ihm zu folgen. Man möchte alle fünf Sätze innehalten und nachdenken. Auch wie er immer aus einem Wortbild ins andere geht, macht müde, und man weiß manchmal nicht, was und ob überhaupt etwas gesagt ist. Der ziemlich große Kreis saß, glaube ich, recht hilflos da. […]“[Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, a.a.O., S. 259 f.].

Aufgrund anderer Zeugnisse stammt der mit 4. März 1958 datierte Tagebucheintrag wohl vom Vortag. Denn der genannte Besuch Heideggers bei Guardini fand am 2. März, die Besprechung im Prinz-Karl-Palais mit Heidegger, Georgiades, Podewils und Guardini am 3. März statt.

„Gestern Abend war Heidegger hier. Wir haben zusammen zu Abend gegessen und über manches gesprochen. Es war sehr freundlich. Wir stehen jetzt auf Du. Seit dem Jahre 1912 oder 13 kennen wir uns, von Freiburg her. Heute Morgen Besprechung im Prinz-Karl-Palais: Heidegger, Georgiades, Podewils und ich. (Wimmer saß bald hier, bald dort und machte Skizzen von H., den er portraitiert.) Wir haben den Plan für die Herbsttagung durchgesprochen. Sie kann sehr schön werden, wenn sie gelingt. Preetorius soll begrüßen, dann: Buber; Weizsäcker und Burckhardt; Heidegger; W.F. Otto und Georgiades; ich“[Ebd., S. 260].

Aus dem Eintrag geht auch hervor, dass man erst im Frühjahr 1958 damit beginnt, sich zu „duzen“. Es war im akademischen Bereich noch für das ganze 20. Jahrhundert nicht ungewöhnlich, sich durchaus freundschaftlich zu „Siezen“, umso eindrücklicher, wenn dies noch im hohen Alter von über 70 Jahren noch geändert wird.

Aufgrund dieser Reihung dürfte sich auch die Angabe in der Buber-Werkausgabe, daß es am 1. März 1958 eine Vorbesprechung mit Georgiades, Guardini, Heidegger und Podewils gekommen sei, an der Martin Buber nicht teilnehmen konnte, nicht auf den 1., sondern auf den 3. März beziehen.

„Zu einer zweiten Vorbesprechung mit Theodor Georgiades, Romano Guardini, Martin Heidegger und Clemens Podewils kam es am 1. März 1958. Buber, der sich zu diesem Zeitpunkt in den Vereinigten Staaten aufhielt, konnte selbst nicht teilnehmen, regte aber die der Tagung folgende ‚Aussprache im kleinen Kreis’ an“[Martin Buber, Werkausgabe: Sprachphilosophische Schriften, 2001, S. 179 (Kommentar des Herausgebers)].

Q078

Brief von Romano Guardini an Martin Buber vom 11. März 1958 [BSB Ana 342, B 23/01-03-17]

Bisher in dem Ordner Guardinis zur „Akademie der Schönen Künste“ übersehen wurde ein Brief von Guardini an Martin Buber vom 11. März 1958, der sich unmittelbar auf diese Tagung bezieht:

Zusammenfassung wird noch erfolgen.

Ob und wie Buber auf diesen Verschiebungswunsch auf den November eingegangen ist, ist bislang nicht bekannt. Dem obigen Kommentar in der Buber-Werkausgabe zufolge fand die nächste, dritte Vorbesprechung am 24. Juni 1958 wiederum in München statt, dieses Mal auch mit Buber, Weizsäcker, Podewils sowie dem Berliner Akademievorsitzenden:

„Am 24. Juni 1958 fand in München eine dritte Vorbesprechung statt, an der Buber, Georgiades, Heidegger, Guardini, Weizsäcker sowie Emil Preetorius, Podewils und der Vorsitzende der Berliner Akademie teilnahmen“[Buber, Werkausgabe: Sprachphilosophische Schriften, ebd., 1, S. 179 f.].

[Mit "Vorsitzender der Berliner Akademie" ist wohl deren Präsident Hans Scharoun gemeint. Der Architekt Scharoun hatte den Philosophen Heidegger am 5. August 1951 im Rahmen des Zweiten Darmstädter Gesprächs, bei dem Heidegger den Vortrag „Bauen Wohnen Denken“ hielt, kennen- und schätzengelernt. Heidegger wurde zu Scharouns architekturphilosophischem Stichwortgeber und er sorgte bald nach seiner Wahl zum Präsidenten der Berliner Akademie auch für die Aufnahme Heideggers als Mitglied. Vgl. Gerd de Bruyn, Fisch und Frosch oder Die Selbstkritik der Moderne. Ein architekturtheoretischer Essay, Basel 2001, S. 100 und öfters. De Bruyn verweist auch auf den umfangreichen Briefwechsel mit Heidegger im Scharoun-Archiv der Berliner Akademie der Künste.]

Im weiteren Verlauf kam es zu unvorhergesehenen Ereignissen, zum einen zu einer Absage Martin Bubers im Sommer 1958 aufgrund des überraschenden Todes seiner Frau am 11. August 1958, zum anderen zum Tod Walter F. Ottos am 23. September 1958.

Q079

Briefauszug von Clemens Graf Podewils an Romano Guardini vom 8. Oktober 1958 [BSB Ana 342, B 23/01-03]

Podewils berichtete Guardini daraufhin in einem Brief nach Isola Vicentina von einem geplanten Treffen mit Heidegger nach dem 14. Oktober. Dabei war Podewils bewusst, dass Guardini noch bis Ende Oktober in Italien sein würde und er daher an der Besprechung wohl nicht teilnehmen könnte. Daher fragt Podewils, inwieweit er ihm Unterlagen nach Italien schicken soll:

Zusammenfassung wird noch erstellt.

Aufgrund einer Weihnachtspostkarte von Heidegger an Guardini wissen wir, dass Guardini ihm – vermutlich durch einen Überbringer – zu Weihnachten ein Buchgeschenk gemacht hatte, wofür Heidegger auf die Schnelle keine Gegengabe beibringen konnte.

Q080

Postkarte Martin Heideggers an Romano Guardini vom 23. Dezember 1958 [BSB Ana 342, B 4-Sonderkonvolut, Mappe 1]

Zusammenfassung wird noch erstellt.

Tagungen über „Die Sprache“ in München und Berlin im Januar 1959

Nun fand schließlich vom 19. bis 23. Januar 1959 in der Aula der Universität München und vom 26. bis 30. Januar 1959 im Ernst-Reuter-Haus in Berlin die Vortragsreihe „Die Sprache“ statt. Der Vortrag Guardinis ging über „Die religiöse Sprache“. Martin Heideggers Beitrag trug den Titel „Der Weg zur Sprache“. Die anderen Beiträger waren: Carl Friedrich von Weizsäcker („Sprache als Information“); Friedrich Georg Jünger („Wort und Zeichen“); Thrasybulos Georgiades („Sprache als Rhythmus“) und – zumindest in München am 14. Februar 1959 verlesen durch Ernesto Grassi – Walter F. Otto („Der Mythos als Sprache“[Veröffentlicht mit dem Titel „Sprache als Mythos“, in: Gestalt und Gedanke, Band 5: Die Sprache, Darmstadt 1959]). Bislang ist nicht bekannt, dass Heidegger oder Guardini später auf diese sprachphilosophischen Beiträge des jeweils anderen eingegangen wären.

Nachwirkungen der Tagung von 1959

Wie schon nach der ersten Tagung kam es nun aber auch nach dem zweiten Durchlauf zu einer internen „Manöverkritik“ Romano Guardinis für die zukünftige Arbeit der Akademie:

Q081

Brief von Romano Guardini an den Präsidenten der Akademie der Schönen Künste Herrn Prof. Dr. Emil Preetorius vom 24. Januar 1959 [BSB Ana 342, B 23/01-03-25]

Offensichtlich war Preetorius von dieser Rückmeldung so beeindruckt, dass er Guardini ein-lud, beim nächsten Jour fixe am 17. März 1959 „im Anschluß an die vergangene Tagung kurz über einige Gesichtspunkte für die kommende Arbeit der Akademie zu sprechen.“

Q082

Typoskript „Über die neue Aufgabe der Akademie“ (R 4 vom 16. März 1959) [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern, Nr. 806 und BSB 23-01-03-27]

Zusammenfassung wird noch erstellt.

Weitere Widmungen Heideggers an Guardini (1959/60)

Q083

Widmung Heideggers an Guardini (wohl 1959) [Guardini-Bibliothek gb 4058]

Der Meßkirchener Vortrag über „Gelassenheit“ anlässlich der Feier zum 175. Geburtstag des Komponisten Conradin Kreutzer am 30. Oktober 1955 wurde 1959 erstmals veröffentlicht. Heidegger hat den Text daher wohl 1959 oder etwas später an Guardini verschenkt.

Die Widmung lautet: "Für Romano Guardini Herzlichen Dank Martin Heidegger"

Wenn Guardini die Schrift nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern auch gelesen hat, wird er darin durchaus zustimmend Sätze gefunden haben wie:

„Die Gelassenheit zu den Dingen und die Offenheit für das Geheimnis gehören zusammen. Sie gewähren uns die Möglichkeit, uns auf eine ganz andere Weise in der Welt aufzuhalten. Sie versprechen uns einen neuen Grund und Boden, auf dem wir innerhalb der technischen Welt, und ungefährdet durch sie, stehen und bestehen können“[Martin Heidegger, Gelassenheit, (Nachdruck)2004, S. 24. Vgl. dazu: Andreas Nießeler, Vom Ethos der Gelassenheit. Zu Heideggers Bedeutung für die Pädagogik, Würzburg 1995 (Diss. 1994)].

Auch wird Guardini Heideggers Verwurzelung des Begriffs „Gelassenheit“ bei Meister Eckhart nicht verborgen geblieben sein [Heidegger, Gelassenheit, a.a.O., 34]. Guardini selbst hat nur wenig auf Meister Eckhart Bezug genommen, ihn aber wohl gekannt und auch seine Bedeutung für die Tugend der Gelassenheit. So schreibt er schon in einem frühen Brief an Josef Weiger vom 12. Februar 1913:

„“Von gründlicher Gelassenheit in Gottes Hand“ sprachen die alten Meister. Es ist die Tugend, die jene lernen müssen, die Gott dunkle, harte, ungewisse Wege führt, sie ist schwer; aber ich meine, wenn jemand, könnet ihr sie lernen. Jedes Leben hat seine Tugend, seinen verborgenen Sinn. Vielleicht ist das der des euren: froh zu werden im Leid; vertrauend in der Ungewißheit“[Guardini, Briefe an Josef Weiger, a.a.O., S. 75].

Und immerhin hat Guardini, was – wie bei vielen seiner Übersetzungstätigkeiten – etwas in Vergessenheit geraten ist, 1928 für die Schildgenossen „Drei Kapitel aus Eckarts Reden der Unterscheidung“ aus dem Mittelhochdeutschen übersetzt [Romano Guardini (Übersetzer aus dem Mittelhochdeutschen): Drei Kapitel aus Eckarts Reden der Unterscheidung [aus: Ernst Diederichs (Hrsg.), Meister Eckharts Reden der Unterscheidung, Bonn 1913, Kapitel 3-5], in: Die Schildgenossen, 8, 1928, 3 (Mai/Juni 1928), S. 241-243] - und auch daraus zitiert.

„Wenn Eckhart in seinen Reden der Unterscheidung sagt: "Nicht gedenke Heiligkeit zu setzen auf ein Tun; man soll Heiligkeit setzen auf ein Sein. Denn die Werke sind es nicht, die uns heiligen, sondern wir sollen die Werke heiligen" -- so gilt das auch für das Denken: Du erkennst, soweit du bist!“[Romano Guardini, Eine Denkergestalt des hohen Mittelalters: Bonaventura (1930), in: ders., Unterscheidung des Christlichen – Band 3: Gestalten, Mainz (3)1995, S. 22].

Guardini zählte Meister Eckhart zu jener mystischen Richtung, die den Wurzelgrund für den religiösen Individualismus der Neuzeit bildeten. Denn nach der „alten benediktinischen Mystik“ und der Mystik der Augustiner und Zisterzienser folgte die franziskanische und dominikanische Frömmigkeit:

„Dann bricht die affektive franziskanische und zugleich die ebenso gemüthafte wie spekulative dominikanische Frömmigkeit durch und wirken sich in einer Fülle von originalen Persönlichkeiten aus: Franziskus, Elisabeth, Jacopone; Eckhart, Seuse, Katharina von Siena. Beide Strömungen befruchten das theologisch-philosophische Denken, bereiten aber auch den Wurzelgrund, aus dem sich der religiöse Individualismus der Neuzeit bilden wird“[Romano Guardini, Dantes Göttliche Komödie, a.a.O., S. 7].

Q084

Widmung Heideggers an Guardini (November 1959) [Guardini-Bibliothek gb 4057)

Im November 1959 schenkt Heidegger Guardini eine von ihm handschriftlich gewidmete Ausgabe des in diesem Jahr erschienenen Sammelbandes „Unterwegs zur Sprache“ (Pfullingen 1959), in dem sich auch der Akademie-Vortrag vom Januar findet.

Die Widmung lautet: "Für Romano Guardini Herzlich grüßend Martin Heidegger Nov. 59"

Wenn Guardini in diesem Band gelesen hat, wird ihm sicher auch Heideggers bereits angeführte Erinnerung an den gemeinsam gehörten Freiburger Dogmatiker Carl Braig nicht verborgen geblieben sein.

Q085

Widmung Heideggers an Guardini (1959/60) [Guardini-Bibliothek gb 4055a]

Martin Heidegger wurde zu seinem 70. Geburtstag am 26. September 1959 das Ehrenbürgerrecht verliehen. Bald nach dem Festakt am 27. September 1959 kam ein kleines Heft mit den Reden heraus, die an diesem Tag gehalten worden waren. Davon stehen in der Guardini-Bibliothek zwei Exemplare, einmal mit handschriftlicher Widmung von Heidegger, einmal mit derjenigen von Max Müller, dem Laudator des Tages. Auch Bernhard Welte hielt eine Ansprache.

Die Widmung ist wieder sehr knapp und allgemein gehalten: "Herzlich grüßend Martin Heidegger"

Martin Heidegger verstand dieses Ehrenbürgerrecht als bergende und bewahrende Aufgabe:

„Der Ehrenbürger ist bestimmt, in diesem Falle besonders, das Ehrwürdige und zu Ehrende zu bewahren: vom Heimatlichen im Sinne des Vertrauten bis zum Unheimlichen, heute zumal, worin sich das Denken bewegen muß. Bergen aber auch und bewahren dasjenige, woher einer stammt, woraus er gewachsen ist und wohin er gehört“[Martin Heidegger, Dank an die Heimatstadt Meßkirch, in: Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, 1910-1976, 2000, S. 558-561, hier S. 558].

Nach Bezugnahmen auf die größte griechische Dichterin, auf die Mondrakete, auf Nietzsche, der im großen Denker einen Menschen „von der Art eines Bogens mit der größten Spannung“ sehe, und auf Hölderlin, der er für „den Dichter“ schlechthin halte, kommt Heidegger auch noch auf das „Bichtlinger Sträßle“ zu sprechen, das für ihn „Der Feldweg“ geworden sei. Er dankt schließlich „in dem Sinne, daß Einer und Jeder auf seine Weise sich dem verdankt, dem er geeignet ist.“ Gerade der Bezug zum Meßkirchner Feldweg wird für Guardini, vorausgesetzt er hat die Dankesrede von Heidegger gelesen, einen Kontext bilden, wenn ihm Heidegger 1966 schließlich das „Bild vom Meßkircher Feldweg“ als Postkarte zusenden wird.

Q086

Zweitexemplar mit Widmung von Max Müller (1960) [Guardini-Bibliothek gb 4055b]

Das Zweitexemplar mit Widmung von Max Müller erhielt Guardini aber erst am 1. Dezember 1960.

Müllers Widmung lautet: „Dem hochverehrten, lieben Herrn Kollegen Romano Guardini in dankbarer Ergebenheit München, 1. 12. 60 Max Müller cf. Beitrag S. 23-28“

Müller, der Heidegger bei seiner Laudatio mit „Lieber und verehrter „Meister“ Heidegger“ ansprach, erläuterte diese Anrede: warum die Anrede „Lehrer“ nicht genüge und Heidegger ein „Meister“ im Sinne eines „Zauberers“ sei, der die Schüler mit dem „Herzblut echten Fragens“ nicht nur „verzaubert“, sondern „gestellt“ habe:

„So waren und sind Sie ein Meister, aber wollten keine Jünger, sondern Lehrlinge, die sich in das gegenwärtige Geschick einüben sollten, um irgendwann wieder Meister zu werden […]“[Max Müller, Ansprache in Meßkirch (1959), in: Heidegger, Briefe an Max Müller und andere Dokumente, a.a.O., S. 94].

Eine Eloge, die er wohl in ähnlicher Weise auf Guardini gehalten hätte, wenn er sich über seine ersten Berliner Semester hinaus in die Lehre des „Meisters Guardini“ begeben hätte. Wie gesehen haben der gemeinsame Bekannte, der Beuroner Benediktiner Willibrord Verkade, schon 1921 und jüngst 2018 auch Papst Franziskus Guardini so tituliert [Papst Franziskus/Dominique Wolton, Dio è un poeta; deutsche Übersetzung: "Mit Frieden gewinnt man alles". Im Gespräch mit Dominique Wolton über Politik und Gesellschaft, 2019, S. 27 f.].

Q087

Widmung Heideggers an Guardini (um 1960) [Guardini-Bibliothek gb 4060]

Außerdem steht noch ein Sonderdruck von Martin Heideggers Beitrag „Hegel und die Griechen“ zur Festschrift Hans-Georg Gadamers im Jahr 1960 [Martin Heidegger, Hegel und die Griechen. Sonderdruck aus: Die Gegenwart der Griechen im neueren Denken. Festschrift für Hans-Georg Gadamer zum 60. Geburtstag, Tübingen 1960], ebenfalls mit kurzem Gruß, in Guardinis Bibliothek: "Mit herzlichem Dank und Gruß Martin Heidegger"

Zwei späte Bezugnahmen Guardinis auf Heidegger (1958 bis 1961)

In der 1976 posthum veröffentlichten Fassung der Vorlesungen über „Die Existenz des Christen“ aus den Jahren 1958 bis 1961 nennt Guardini Heidegger – neben Jaspers, Sartre und Camus – als jene, die „die Frage nach der (christlichen) Existenz“ nach dem „Verstummen“ in der Zeit des Positivismus – in der Nachfolge Sören Kierkegaards – wieder geweckt hätten.

„Sie wissen, daß die Frage nach der Existenz überhaupt erst vor rund hundert Jahren durch Sören Kierkegaard zum ersten Mal gegen die Spekulationen Hegels gestellt wurde – bezeichnenderweise eingehüllt in die Frage nach der christlichen Existenz. In der darauf folgenden Zeit des Positivismus mit seiner triumphierenden Eroberung der Wirklichkeit ist die Frage wieder verstummt; es hat der schweren Erschütterung aller überkommenen Sicherheit durch die großen Kriege und die mit ihnen zusammenhängenden soziologischen und kulturellen Umwälzungen bedurft, um sie wieder zu wecken – denken wir an die Namen wie Heidegger, Jaspers, Sartre, Camus. Es ist eine Frage, die allen besonderen Fragen nach dem Inhalt von Leben und Welt vorausliegt und für gewöhnlich durch das Interesse an den Dingen, Vorgängen, Tätigkeiten des Lebens überdeckt wird; die Frage nämlich, in welcher Weise der Mensch überhaupt „da sei“. Es bedarf einer Besinnung, um sie zu empfinden – zu welcher Besinnung sich der Mensch in der Regel erst gedrängt fühlt, wenn die Selbstverständlichkeit des täglichen Tuns und Geschehens gestört wird. Es sind das die Krisenzeiten des persönlichen Lebens. Nach der positiven Seite hin die Stunden hohen Lebens: Schicksal wirkender Begegnungen, gelingenden Schaffens, innerer Gipfelung. Nach der negativen Seite hin Stunden des Tiefstands, der Schwäche, der Gefährdung, des Überdrusses, der Sinnentleerung ... Darin wird deutlich, daß da zu sein, zu existieren, nicht jenes Einfach-Eindeutige ist, als das es im Alltag erscheint: die Tatsache also, daß man eben da ist, statt nicht zu sein, in den Registern der Verwaltungen steht, seine Stelle im Zusammenhang der Berufsarbeit hat usw., sondern jenes, das diesem allen zugrunde liegt, und, wenn empfunden, einer genaueren Besinnung durchaus wert ist. Ich muß Sie also um Ihr Mitgehen bitten. Diese Fragen werden erst deutlich, wenn man sich in sie hineingibt. Geschieht das nicht, dann erscheinen sie überflüssig, sinnlos, ja lächerlich. Wenn der alte Satz wahr ist, daß der Schritt zum Lächerlichen um so kürzer ist, je größer der Gegenstand, um den es sich handelt, dann gilt er ganz besonders von diesen Grundfragen“[Romano Guardini, Die Existenz des Christen, (2)1977, S. 426].

1961 bringt Guardini in seinem Text „Das Phänomen der religiösen Erfahrung“ insbesondere „das Ergriffenwerden durch die Tatsache, daß überhaupt etwas ist, anstatt daß nichts wäre“, noch einmal namentlich mit Heidegger – neben Jaspers, Sarte, Camus und dieses Mal auch noch Marcel – in Verbindung:

„Dem durchschnittlichen, in den Konventionen der Gesellschaft lebenden Menschen ist die Tatsache seines Existierens das einfachhin Gegebene, das ihn nur dann stärker berührt, wenn es empirisch in Frage gestellt wird. Der tiefer Empfindende erfährt es anders. Denken wir etwa an die Problematik, die einen großen Teil der heutigen Philosophie bestimmt. Zwischen Heidegger, Jaspers, Sartre, Camus, Gabriel Marcel bestehen tiefe Unterschiede; eines aber ist ihnen gemeinsam: das Ergriffenwerden durch die Tatsache, daß überhaupt etwas ist, anstatt daß nichts wäre. Die Tatsache, daß er selbst ist, obwohl er auch nicht sein, daß er so ist, obwohl er auch anders sein könnte. Sein Seinserlebnis enthält Elemente, die ebensowenig abgewiesen wie wirklich verstanden werden können: Ortlosigkeit, Ungewißheit, Bedrohtheit, Angst, Ekel usf. Sie bringen ihm die nicht auszudenkende Paradoxie der Tatsache zu Bewußtsein, daß das für ihn Grundlegende, sein Dasein, durch und durch unselbstverständlich ist. Von dorther bekommt das Philosophieren unserer Zeit jenen erregenden Charakter, der es von der früheren ruhigen Betrachtung der Dinge unterscheidet“[Romano Guardini, Das Phänomen der religiösen Erfahrung (1961), in: Wurzeln eines großen Lebenswerkes, Band 4, 2003, S. 375].

Wahlvorschlag Guardinis für Akademie der Schönen Künste – Februar 1961

Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz hat bereits 1985 erstmals auf einen Vorgang aufmerksam gemacht, der zu einer Spannung, ja zu einem „gewissen Zerwürfnis” zwischen Guardini und einigen anderen Mitgliedern der Literarischen Abteilung der Bayerischen Akademie der Schönen Künste geführt hat[Gerl, Romano Guardini, 1985, a.a.O., S. 359]. Nachdem sie bereits damals und auch wieder 2019 aus einzelnen Briefen und Typoskripten zu diesem Vorgang zitiert hat, werden die betreffenden Dokumente hier nun vollständig wiedergegeben.

Daraus wird zunächst deutlich, dass, wenn nicht gar die Initiative, zumindest aber die vorbereitende Aktivität dem Austausch Guardinis mit Graf Podewils entspringt. Hintergrund ist dabei wohl, dass die Berliner Akademie der Schönen Künste Heidegger bereits 1957 als Mitglied aufgenommen hatte, was Podewils und Guardini nach der Berliner „Ausgabe“ der Tagung über „Die Sprache“ vom 26. bis 30. Januar 1959 im Ernst-Reuter-Haus in Berlin bewusst geworden ist, insbesondere auch im Blick auf das Engagement Heideggers seit 1950 für die Münchener Akademie.

Q088

Begleitbrief von Clemens Graf Podewils an Romano Guardini vom 6. Februar 1961 [BSB Ana 342, B 23/01-03]

Zusammenfassung wird noch erstellt.

Guardini nahm später in abgewandelter Form das Beispiel Platons in seine Formulierung auf, ließ den „politischen Schiffbruch“ Dantes oder auch den aktuellen Namen „Bert Brecht“ hingegen weg. Guardini wird auch Podewils Information über die „neunmonatige“ Rekto-ratszeit übernehmen. Podewils ging offensichtlich von einem vollzogenen Rücktritt Heideg-gers im Februar 1934 aus, faktisch war Heidegger aber ja von Mai 1933 bis April 1934 im Amt.

Q089

Kalendereintrag Guardinis vom 8. Februar 1961 [BSB Ana 342, C 115-1]

Der unveröffentlichte Kalender 1961 vermerkt zum „Mi 8.2.“ bei den „Notizen“ die Sitzung der Literarischen Abteilung der Akademie, verknüpft mit der "Absicht", einen entsprechenden Antrag zu entwickeln, Heidegger zum Mitglied zu wählen.

Aus dem noch am selben Tag datierten „Vorschlag für die Zuwahl“ geht hervor, dass man diese Zuwahl vor allem als Dank der Akademie für die Beteiligung Heideggers an Vortragsreihen der Akademie verstanden wissen wollte. Dabei fällt auf, dass Guardini wohl davon ausgeht, dass Heidegger erst nach der Tagung von 1959 die Mitgliedschaft in der Berliner Akademie der Schönen Künste angeboten worden ist. Diese war aber bereits 1957 vollzogen worden.

Q090

Vorschlag für die Zuwahl, datiert vom 8. Februar 1961 [BSB Ana 342, B 23/01-03; Auszug bereits veröffentlicht bei Gerl-Falkovitz, 1985 und 2019]

Zusammenfassung wird noch erstellt.

Nun wurde die in dieser Sitzung vom 8. Februar 1961 entwickelte „Absicht“ anhand des ausgearbeiteten Antrags („Vorschlags“) Guardinis diskutiert. Der Verlauf dieser Sitzung war für Guardini so brisant, dass er am Tag darauf eine Art eigenes Protokoll bzw. eigenen Aktenvermerk verfasste und sogar in eine redaktionelle Form „R 1“ brachte.

Q091

Entwurf zur Sitzung der literarischen Abteilung (April 1961) [BSB Ana 342, B 23/01-03-37]

Zusammenfassung wird noch erstellt.

[Curt Hohoff (1913-2010) war von 1956 bis 1965 Direktor der Abteilung Literatur der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Hohoff hatte 1936 an der Universität Münster mit einer Arbeit über Komik und Humor bei Heinrich von Kleist promoviert und anschließend vor allem für die katholische Zeitschrift „Hochland“ und die Literaturzeitschrift „Das Innere Reich“ publiziert, bevor er von 1939 bis 1945 Soldat der Wehrmacht war. Seit 1949 lebte er in München als freier Schriftsteller. Curt Hohoff, der in Berlin Guardinis Vorlesungen besucht und in München regelmäßig die Predigten in St. Ludwig hörte, hat sich seit 1953 in zahlreichen Rezensionen und Würdigungen mit dem Werk und der Person Romano Guardinis auseinandergesetzt. Exemplarisch sei hier verwiesen auf Curt Hohoff, Romano Guardini. Zum Tode des Theologen und Schriftstellers, in: Rheinischer Merkur, Köln/Koblenz, 1968, 41, 11. Oktober, S. 16; wiederabgedruckt in: Helmut Zenz (Hg.), Deuter der christlichen Existenz. Nachrufe – Erinnerungen – Würdigungen. Romano Guardini zum 50. Todestag. Mit einer aktuellen Würdigung von Hans Maier, Mainz 2018, S. 75-78. Bezüglich Heidegger ist immer noch lesenswert sein Bericht über Heideggers Vortrag von 1950, siehe: Curt Hohoff, Martin Heidegger in München, in: Die Zeit, 1950, Nr. 24 vom 15. Juni 1950.]

[Der vielseitige und autodidaktische Künstler Rudolf Alexander Schröder (1878-1962) wandte sich 1931 ganz der Schriftstellerei zu. Während des Dritten Reiches wurde durch die Nationalsozialisten einerseits Schröders deutschnationale Dichtung aus der Zeit des Ersten Weltkriegs in Nazi-Blättern nachgedruckt, seine aktuelle Schriftstellerei aber massiv eingeschränkt. Ende 1935 zog er von Bremen nach Oberbayern und verstand dies später als Schritt in die innere Emigration. 1938 hat er allerdings die vom Bremer Senat verliehene Plakette für Kunst und Wissenschaft entgegengenommen, die er aber als Ehrung seiner Vaterstadt ohne politischen Anspruch auf seine Person verstanden hat, was ihm später aber als Ambivalenz ausgelegt wurde. Zusammen mit Otto von Taube, Albrecht Goes, Jochen Klepper, August Winnig, Werner Bergengruen, Reinhold Schneider und Joseph Wittig gehörte auch Schröder zum Berliner „Eckart-Kreis“ um den gleichnamigen Verlag. In Oberbayern engagierte er sich in der Bekennenden Kirche und wurde 1942 in Rosenheim als Lektor (Laienprediger) aktiv. 1941 erhielt er durch die Nationalsozialisten Vortragsverbot. Nach 1945 wurde ihm schließlich 1946 als politisch Unbelasteter die Leitung der Bremer Kunsthalle übertragen, die er bis 1950 innehatte.]

[Erich Kästner (1899-1974) war als Schriftsteller und Publizist während der Weimarer Republik neben seinen Kinderbüchern „Emil und die Detektive“ (1929), „Pünktchen und Anton“ (1931) und „Das fliegende Klassenzimmer“ (1933) vor allem auch durch gesellschaftskritische und antimilitaristische Gedichte, Glossen und Essays bekannt geworden. Obwohl zwei seiner Werke am 10. Mai 1933 von Goebbels als „undeutsch“ diffamiert und infolgedessen öffentlich verbrannt wurden, war Kästner in Deutschland geblieben, litt aber unter starken Repressionen. Nach 1945 hat er als Präsident des westdeutschen P.E.N.-Zentrums (1951-1962) und als Pazifist, Remilitarisierungs- und Atomwaffengegner in den fünfziger und sechziger Jahren mehrmals gegen die Politik der Regierung Adenauer Stellung bezogen. An dieser Stelle ist festzuhalten, dass es sich beim langjährigen Briefpartner Martin Heideggers nicht wie mitunter versehentlich in Sekundärliteratur angegeben um Erich Kästner, sondern um den mit Erich Kästner nicht verwandten Schriftsteller und Bibliothekar Erhart Kästner (1904-1974) handelt.]

[Es handelt sich um den Germanisten Hanns Braun (1893-1966), der seit seiner Promotion über „Grillparzers Verhältnis zu Shakespeare“ im Jahr 1916 in München, bis 1943 als Journalist und Theaterkritiker bei der „Münchner Zeitung“. Im Frühling 1944 erhielt er Schreibverbot. Nach 1945 arbeitete er wieder für verschiedene Zeitungen als Theaterkritiker und wurde 1949 zudem Honorarprofessor für Theaterkritik an der Universität München, 1954 schließlich ebendort außerordentlicher Professor für Zeitungswissenschaft.]

[Otto Freiherr von Taube (1879-1973) arbeitete seit 1910 als freier Schriftsteller und übersetzte Texte Calderon, Franziskus von Assisi, William Blake, Stendhal, D´ Annunzio und Nikolai Leskow ins Deutsche. Ursprünglich DNVP-Mitglied trat der mit Gregor Strasser befreundete Baron nach dem Kapp-Putsch aus der DNVP aus und schrieb in der Zeitschrift „Der Türmer“ über seinen „Anschluß an die Nationalsozialisten“ (Otto von Taube, Mein Anschluß an die Nationalsozialisten, in: Der Türmer, 25, 1923, S. 184 f.), sagte sich aber bereits nach dem Hitlerputsch wieder von den Nationalsozialisten und ihrer Deutschtümelei los. Während der Zeit des Nationalsozialismus hatte er seine zweibändige „Geschichte unseres Volkes“ (1938 und 1942) veröffentlicht, gehörte zum Berliner „Eckart-Kreis“ um den gleichnamigen Verlag, stand im Kontakt mit Adam von Trott zu Solz und Reinhold Schneider und versteckte 1943 ein jüdisches Kind in seiner Familie. Vgl. zu Taube unter anderem Claudia Mosbach, Die Ohnmacht der Verzweiflung. „Innere Emigration“ am Beispiel Otto von Taubes, in: Frank-Lothar Kroll (Hg.), Wort und Dichtung als Zufluchtsstätte in schwerer Zeit, Berlin 1996, S. 55-74.]

Das für Guardini aufgrund seines eigenen Verständnisses von „politischen Religionen“ und deren jeweilige „Heilsbringer“ im Nationalsozialismus und im Kommunismus persönlich unerträgliche Missverhältnis zwischen der Ablehnung des NSDAP-Mitgliedes Heidegger als Mitglied und der Zuwahl des KPI-Mitgliedes Quasimodo als korrespondierendes Mitglied ist historisch-objektiv natürlich nur schwer miteinander zu vergleichen.

Der italienische Lyriker Salvatore Quasimodo (1901-1968) hatte zwei Jahre zuvor den Nobelpreis für Literatur erhalten. Er hatte neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit in den dreißiger Jahren vor allem als Theaterkritiker und Journalist für die Zeitschrift „Il Tempo“ gearbeitet und war 1941 zum Professor für Literaturgeschichte an das Konservatorium Mailand berufen worden. Dort hatte er sich während des Zweiten Weltkriegs den Kommunisten angenähert und sich in ihren Reihen am Widerstandskampf gegen das faschistische Italien unter Mussolini beteiligt. Im Oktober 1945 wurde er Mitglied in der Kommunistischen Partei Italiens, ebenso wie sein Schwager, der ebenfalls zuvor im antifaschistischen Widerstand aktive Schriftsteller Elio Vittorini (1908-1966), der seit 1927 mit Quasimodos Schwester Rosa verheiratet war und nach dem Krieg eine Zeit lang die Mailänder Ausgabe des Parteiorgans „L’ Unita“ leitete. Ohne Frage blieb Quasimodo ein dem italienischen Kommunismus nahestehender „uomo della Sinistra“. Offensichtlich war er zum Zeitpunkt des Literaturnobelpreises auch noch, wenn auch nicht mehr aktives Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens. Und auch bis zu seinem Tod wurde nichts von einem Austritt bekannt. In vielen Zeitschriften wurde damals diskutiert, dass Quasimodo 1957 „auf peinliche Weise den Sputnik“ der kommunistischen Mailänder Zeitung „Unità“ besungen habe, indem er dessen Abschießen als Weiterführung der Schöpfungsgeschichte Gottes stilisierte; dass er mehrfach die Sowjetunion bereist habe, dort auch „Kritik an der starren Kulturpolitik geübt“ habe[Quasimodo, in: blätter & bilder, 1, 1959; Entspannung aus Schweden, in: Der Spiegel, 13, 1959, 45 (3. November 1959)], aber eben keine Kritik an den verübten „Unmenschlichkeiten“, die für Guardinis Einschätzung im Vordergrund hätten stehen müssen.

Ob Quasimodo durch seine Aktivitäten, wie Guardini offensichtlich mutmaßt, tatsächlich auch „die Unmenschlichkeiten im Osten“ gedeckt hat, bleibt dennoch zu hinterfragen, passt aber zu Guardinis sowohl klar anti-nationalsozialistischer als auch klar anti-kommunistischer Haltung über 1945 hinaus, wenn es um die „Deckung“ oder „Verharmlosung“ von Unmenschlichkeiten totalitaristischer Systeme jeder Art geht, solange diese aktuell passiert sind oder aber frühere Aussagen und Haltungen nicht wirklich „bereut“ wurden. Daher ist Guardinis Betroffenheit von Heideggers „tatsächlich sehr schlimmen“ Äußerungen, die Dr. Kästner vorgelesen hat, ebenso ernst zu nehmen wie sein Hinweis, dass „im Zusammenhang damit“ keine „Verbrechen geschehen seien“. Ebenso ist seine Zurückweisung von Kästners Antwort, dass bereits „die geäußerten Worte“ „ein Verbrechen“ seien, unter diesem Gesichtspunkt zu sehen. Erich Kästner hatte den von ihm selbst am 8. April 1961 verlesenen Satz Heideggers aus der Rede vom November 1933 an die Studierenden im Übrigen schon einige Jahre vorher verwendet, zunächst in einer Ansprache „Über das Verbrennen von Büchern“ auf der PEN-Tagung am 10. Mai 1958 in Hamburg, die zeitgleich zur Tagung in der „Süddeutschen Zeitung“ abgedruckt wurde [Erich Kästner, Über das Verbrennen von Büchern. Ansprache auf der Hamburger PEN-Tagung am 10. Mai 1958, in: Süddeutsche Zeitung, Samstag/Sonntag 10./11. Mai 1958] und eine große Resonanz weit über Deutschland hinaus hatte. Diesen Vortrag hat er im Jahr darauf dann auch in seine „Gesammelten Schriften“ unter den „Vermischten Beiträgen“ aufgenommen:

„Es war Mord und Selbstmord in einem. Das geistige Deutschland brachte sich und den deutschen Geist um, und der Arrangeur, auch und gerade er, war, wie er das zu formulieren pflegte, ein Arbeiter der „Stirn“. Es war nicht nur Mord und nicht nur Selbstmord, es war Mord als Inzest, es war, mathematisch gesagt, Massenmord und Selbstmord hoch drei. Nun blieb zu tun nichts mehr übrig. Dieses „Nichts nichtete“ dann, im November des gleichen Jahres, in seiner Rektoratsrede vor den Freiburger Studenten „der größte deutsche Philosoph unseres Jahrhunderts“, auch er der Schüler eines jüdischen Gelehrten, als er sagte: „Nicht Lehrsätze und ‚Ideen’ seien die Regeln eures Seins. Der Führer selbst und allein ist die heutige und künftige Wirklichkeit und ihr Gesetz.“ Ob der bedeutende Mann, als er „euer Sein“ sagte, Sein mit i oder mit y ausgesprochen hat, weiß ich nicht. Möge er der größte Philosoph unseres glorreichen Jahrhunderts sein oder seyn und bleiben! Ich glaube und ich hoffe, daß ihm, eines Tages im Pantheon, Sokrates und Seneca, Spinoza und Kant nicht die Hand geben werden“[Erich Kästner, Gesammelte Schriften, Band 5: Vermischte Beiträge, 1959, hier S. 575 f. Der hier verwandte Begriff „Rektoratsrede“ hat in der Sekundärliteratur mitunter dazu geführt, die eigentlich als „Rektoratsrede“ bei der Übernahme des Amtes in den November zu „verlegen“ oder aber den von Kästner zitierten Satz aus der November-Rede in die Rektoratsrede „vorzuziehen“.].

Im Anschluss an diese Passage stellte er mit Eduard Spranger, Alfred Weber und Carl von Ossietzky drei von ihm verehrte Gegen-Beispiele von Gelehrten vor, die wie er selbst in Deutschland geblieben seien, um so für die Nationalsozialisten „unbequemer“ zu sein.

Erich Kästner war daher über den Vorschlag Guardinis schon bei der Sitzung am 8. Februar äußerst aufgebracht und er hatte wohl damals schon das von ihm verwendete Zitat eingebracht. Denn am 15. Februar 1961 schrieb er an Curt Hohoff:

„Zunächst einmal habe ich das Bedürfnis, mich bei Ihnen, und insofern bei allen Mitgliedern, die neulich anwesend waren, wegen einer nicht gerade stubenreinen und akademiereifen Redewendung zu entschuldigen, die mir im Eifer unterlief. Außerdem bitte ich Sie schon heute, in der kommenden Aussprache vor den Zuwahlen das von mir ungenau wiedergegebene Zitat im Wortlaut zu verlesen, Martin Heidegger hat, als Rektor der Universität, im November 1933 vor der Studentenschaft erklärt: „Nicht Lehrsätze und ‚Ideen’ seien die Regeln eures Seins. Der Führer selbst und allein ist die heutige und künftige Wirklichkeit und ihr Gesetz.“ (Aus „Das Dritte Reich und seine Denker. Dokumente.“ Im arani-Verlag, Berlin-Grunewald, 1959.) Ich möchte verhüten, daß das eine oder andere Mitglied des Kollegiums nach dem Wahlgang bekennen müßte, den Passus nicht gekannt zu haben. Die Kollegen kennen mich hoffentlich gut genug, um zu wissen, daß mich keine bedauerlichen Motive zu dem Antrag bewogen haben“[Der Brief findet sich in: Erich Kästner, Dieses Na ja!, wenn man das nicht hätte“. Ausgewählte Briefe von 1909 bis 1972, hrsg. von Sven Hanuschek, 2003, S. 396].

Offensichtlich war Guardini aber von diesen heftigen Gegenreaktionen völlig überrascht worden, allerdings vor allem auch deshalb, weil Guardini seit seiner Aussage gegenüber Max Müller im Jahr 1949, Martin Heidegger sei „kein Briefschreiber, und ein persönlicher Austausch über diese Dinge“ habe „nicht stattgefunden“, offenbar keine Veranlassung sah, sich näher mit Heideggers Reden und Tun im Dritten Reich zu beschäftigen oder es zum Gegenstand der seither stattgefundenen brieflichen und persönlichen Begegnung mit Heidegger zu machen. Daher muss man Guardinis ad hoc zur Sprache gebrachte und dann in seinem Aktenvermerk dokumentierte Rede von einer „Art Infektion“, die von fremdher angeflogen kam, aber nicht „wirklich zu ihm gehörte“, an dieser Stelle doch stark relativieren, gerade auch im Blick auf Heideggers eigene politische Verortung vor 1933, als er die Demokratie der Weimarer Republik und die liberalen Demokratien Europas bereits ebenso ablehnte, wie er es dann in den besagten Nietzsche-Vorlesungen unter Berufung auf Nietzsche wiederholte, nämlich als den „geschichtlichen Tod Europas“, als „Heraufkunft des Pöbels“ und als „Abart des Nihilismus“(GA 43, S. 193). Gerade wenn man Heideggers eigene Philosophie ernst nehmen will, sollte man ihn nicht „zum welt- und politikfremden Denker“ stilisieren, „der blindlings in etwas, das er nicht zu übersehen vermochte, hineingestolpert ist“ 7Manfred Weinberg, Hitlers Hände. Martin Heidegger und die Euthanasie, in: Ulrich Bröckling/Benjamin Bühler/Marcus Hahn/Matthias Schöning/Manfred Weinberg (Hgg.), Disziplinen des Lebens. Zwischen Anthropologie, Literatur und Politik, Tübingen 2004, S. 297-324, hier S. 305, Fußnote 31].

Unbeschadet von dieser sehr heftigen Auseinandersetzung zwischen Guardini und Kästner bleibt Guardini sich in zweierlei Hinsicht in seiner grundsätzlichen Haltung treu: zum einen niemanden durch Indiskretionen über vorläufig getroffene „Urteile“ Kränkungen zuzufügen, zum anderen dass es für die Aufarbeitung der Vergangenheit aber auch einer Verantwortungsübernahme durch die Beschuldigten bedarf, die durchaus im Sinne des katholischen Buß- und Versöhnungsverständnisses Bekenntnis, Reue und Wiedergutmachung beinhalten muss [Vgl. Romano Guardini, Verantwortung. Gedanken zur jüdischen Frage, in: Hochland, München, 44, 1951/52, 6 (August 1952), S. 481-493 (Rede am 23. Mai 1952 vor der Tübinger Studentenschaft anläßlich der sog. Ölbaumspende); als Monographie München (1.-10. Tausend)1952].

Offensichtlich sind nämlich Guardini und Podewils nach dieser Sitzung dem Vorschlag Dr. Brauns nachgegangen, weitere Stellungnahmen beizubringen. Mit einem nicht datierten Schreiben lässt Podewils Guardini schließlich eine Anlage zukommen. Die darin enthaltenen Angaben stammten demnach „von Heideggers Bruder Fritz in Messkirch, der Stillschweigen wahrt und ganz besonders auch Martin nichts von der Anfrage sagen wird.” Die ursprüngliche Anlage wurde von Guardini mit handschriftlichen Eintragungen versehen. Die Vorlage für diese Anlage könnte sich noch im Nachlass von Fritz Heidegger befinden, was aber noch nicht überprüft werden konnte.

Q092

Zusammenfassung über Angaben von Fritz Heidegger (1961) [BSB Ana 342, B 23/01-03-36]

Zusammenfassung wird noch erstellt.

Der von Kästner inkriminierte Satz (siehe unten) steht unter dem Titel "Zum Semesterbeginn" bereits im Universitätsführer des Wintersemesters 1933/34 und mit „Anfang Oktober“ datiert [in: Martin Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, Gesamtausgabe, Bd. 16, a.a.O., S. 184 f.]. Ob sie als Rede zum Semesterbeginn im November in Freiburg auch gehalten wurde, oder nur Beitrag für den Universitätsführer geschrieben wurde, ist noch immer nicht zu Ende geklärt.

In der am 16. November 1933 in Leipzig gehaltenen Rede, die auch das Bekenntnis zu Hitler einleitete und die bald darauf mit allen Unterschriften und den anderen Reden in vier Sprachen übersetzt (englisch, italienisch, französisch und spanisch) erschienen ist, stehen durchaus ähnlich problematische Sätze über die „nationalsozialistische Revolution“ [Siehe: Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat, o.O., o.J. (1933), S. 13 f., jetzt als Ansprache am 11. November 1933 in Leipzig, in: ders., Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, Gesamtausgabe, Bd. 16, a.a.O., S. 190-192].

Die beiden Schlusssätze dieser ZUsmmenfassung wurden von Guardini handschriftlich eingeklammert.

Erhalten ist schließlich als nächstes und letztes Dokument dieses Vorgangs auch ein Brief-entwurf mit weiteren handschriftlichen Eintragungen. Ob Guardini diese Stellungnahme in korrigierter Form tatsächlich abgesandt hat, müsste noch im Archiv der Bayerischen Akademie der Schönen Künste überprüft werden.

Q093

Briefentwurf von Romano Guardini vom 18. Mai 1961 [BSB Ana 342, B 23/01-03-40]

Zusammenfassung wird noch erstellt.

Die aus der Zusammenfassung der Äußerungen von Fritz Heidegger durch Podewils übernommene Aussage „Nach dem November 1933 gibt es keine pro-nazistische Äusserung Heideggers“ würde heute auch von Historikern so nicht mehr bestätigt werden können. Umgekehrt kann man heute gerade aus historischer Sicht auch nicht mehr so tun, wie wenn Heidegger Äußerungen in der Intensität der Rektoratszeit auch später noch getätigt oder bestätigt hat.

Die Diskussion über die Haltung Heideggers zum Nationalsozialismus in der Zeit von April 1934 bis Mai 1945 hat nach der Veröffentlichung der sogenannten „Schwarzen Hefte“ mit „Überlegungen“ nochmals neue Herausforderungen gestellt bekommen. Die von Fritz Heidegger als offen anti-nationalsozialistisch und anti-rassistisch angeführten „Nietzsche-Vorlesungen“ werden in der Forschung ebenfalls noch sehr ambivalent bewertet.

Unbestritten ist allerdings, dass Heidegger von den Nationalsozialisten in diesen Jahren zunehmend kritisch beurteilt, beobachtet und beargwöhnt wurde, dass er aber in seiner nach seinem Rücktritt vom Rektorenamt wieder eingenommenen Rolle als „Luxuspferd“ der Philosophischen Fakultät keinerlei persönliche Nachteile hatte. Umgekehrt hat Heidegger aber die akademischen Karrieren von deutlich regimekritischeren Persönlichkeiten, sogar, wie gesehen, in den Reihen seiner eigenen Schüler, auch nach seiner Rektoratszeit noch nachweislich durch von ihm abgegebene Gutachten nachteilig beeinflusst.

Hier ist nicht der Ort, um diese Diskussionen um Heidegger in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste weiterzuführen oder zu bewerten, sondern lediglich darauf hinzuweisen, dass Guardini hierzu keinerlei eigene Nachforschungen – auch nicht in Bezug auf eventuell schon vorliegende eigene Äußerungen Heideggers – angestellt oder das Gespräch mit Martin Heidegger gesucht hat, sondern sich in seinem eigenen Urteil allein auf das von Fritz Heidegger und Graf Podewils Berichtete stützt. Er bekam dazu auch aus seinem persönlichen Umfeld – allen voran von Johannes Spörl oder Max Müller – dazu nach bisherigem Kenntnisstand keine näheren bzw. weiteren Informationen. Heidegger wurde schließlich erst im Jahr nach dem Tod Guardinis in die Abteilung Literatur zugewählt, gemeinsam mit Karl Dedecius, Werner Heisenberg und Peter Huchel. Angesichts der aus dem Nachlass Guardinis und den bisherigen Veröffentlichungen gewonnenen Erkenntnisse wäre es durchaus noch lohnend, auch im Archiv der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und im Nachlass von Clemens von Podewils die damaligen Vorgänge weiter zu erforschen.

Zu spät veröffentlichte Erklärungen und Eingeständnisse

Guardini wäre die Argumentation in der Sache sicherlich viel einfacher gefallen, wenn zu diesem Zeitpunkt bereits die entsprechenden Dokumente veröffentlicht gewesen wären, die Heidegger selbst zum Beispiel 1945 für die Bereinigungskommission verfasste, ganz unabhängig von der Frage, ob Heidegger sich darin in einigen Dingen widerspricht, die ein oder andere Begebenheit „verklärt“ oder in manchen Punkten noch kein ausreichendes Verantwortungsbewusstsein für seine damaligen Haltungen, Äußerungen und Aktivitäten entwickelt hatte.

In seinem Antrag auf die Wiedereinstellung in die Lehrtätigkeit (Reintegrierung) vom 4. November 1945 an den Rektor gibt Heidegger sehr weitgehende Antworten auf sein Verhalten während der Rektoratszeit. Zunächst betonte Heidegger darin, dass er sich im April 1933 auf Drängen aus Kreisen der Kollegenschaft, insbesondere auch auf die dringende Bitte seines Amtsvorgängers von Möllendorf zur Wahl gestellt hat und vom Plenum der Universität einstimmig zum Rektor (bei aus Heideggers Sicht zwei Enthaltungen) gewählt wurde – tatsächlich erhielt er 52 von 56 Stimmen bei 3 Enthaltungen und einer Stimme für von Möllendorf.

„Vorher hatte ich ein akademisches Amt weder angestrebt noch bekleidet. Ich gehörte auch nie einer politischen Partei an und hatte vor allem keinerlei Beziehungen, weder persönliche noch sachliche, zu der NSDAP und zu Regierungsstellen. Ich habe das Rektoramt einzig im Interesse der Universität übernommen. Aber ich war damals allerdings auch der Überzeugung, daß durch die selbständige Mitarbeit der Geistigen viele wesentlichen Ansätze der „Nationalsozialistischen Bewegung“ vertieft und gewandelt werden könnten, um die Bewegung so in den Stand zu setzen, in ihrer Weise mitzuhelfen, die verwirrte Lage Europas und die Krisis des abendländischen Geistes zu überwinden. […] Weil auch der in freier Wahl bekundete Wille der überragenden Mehrheit des deutschen Volkes damals eine Aufbauarbeit im Sinne der nationalsozialistischen Bewegung bejahte, hielt ich es für nötig und für möglich, auch im Bereich der Universität daran mitzuarbeiten, der allgemeinen Wirrnis und der Bedrohung des Abendlandes in einer geschlossenen und wirksamen Weise zu begegnen“ [Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, Gesamtausgabe, Bd. 16, a.a.O., S. 397 f.]

Hier wäre ein erster und ernster Kritikpunkt am Demokratieverständnis Heideggers anzusetzen, denn in den Reichstagswahlen von 1932 und sogar noch im März 1933 hatten die Nationalsozialisten keine „überragende Mehrheit“, sondern gingen daraus lediglich als relativ stärkste Partei mit 37,3 % (31. Juli 1932), 33,1 % (6. November 1932) und 43,9 % (5. März 1933) hervor. Die Wahl vom März 1933 nach der Machtergreifung auch nach dem Ende des Dritten Reiches noch als „freie Wahl“ zu bezeichnen, war bereits 1945 nicht mehr nachvollziehbar, und wäre es auch für Guardini, der vor 1933 selbst Zentrumsmitglied war [Angabe Guardinis in: Fragebogen der Militärbesetzung über Guardinis Tätigkeiten zur NS-Zeit (Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 1195/2)], nicht gewesen.

Heideggers Eintritt in die Partei sei auf Wunsch des Ministers nach „längerer Überlegung“ erfolgt, unter der ausdrücklichen und von der Kreisleitung akzeptierten Bedingung, daß Heidegger weder während noch nach der Amtszeit als Rektor ein Parteiamt übernehmen müsste [Ebd., S. 401]. Nach seinem Rücktritt habe er seine „Stellung zur Partei … auch in Äußerlichkeiten sichtbar werden lassen“, insofern er „weder die Parteiversammlungen besuchte, noch das Parteiabzeichen trug“ und auch seine Vorlesungen und Vorträge nicht „mit dem sogenannten deutschen Gruß begann“ [Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, Gesamtausgabe, Bd. 16, a.a.O., S. 404].

Bezüglich der von Fritz Heidegger genannten Nietzsche-Vorlesungen schrieb Heidegger selbst bereits 1945:

„Seit dem Jahre 1936 ging ich durch die Reihe der bis 1943 fortgesetzten Nietzsche-Vorlesungen und Nietzsche-Vorträge noch deutlicher in die Auseinandersetzung und in den geistigen Widerstand. Zwar darf Nietzsche niemals mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt werden, das verbietet – vom Grundsätzlichen abgesehen – schon Nietzsches Stellung gegen den Antisemitismus und sein positives Verhältnis zu Rußland. Aber auf einem höheren Niveau ist die Auseinandersetzung mit Nietzsches Metaphysik die Auseinandersetzung mit dem Nihilismus, als dessen eine politische Erscheinungsform sich der Faschismus immer deutlicher herausstellte“[Ebd., S. 402].

Daß Heidegger in diesen Nietzsche-Vorlesungen, wie oben bereits herausgestellt, nicht nur auf Distanz zum faschistischen bzw. nationalsozialistischen Nihilismus, Technizismus und Rassismus ging, sondern weiterhin auch die „liberale“ Demokratie des westlichen Europas abgelehnt hatte, wird hier von Heidegger selbst im Nachhinein ausgeblendet. Die Überwindung der Weimarer Republik als bloß formaler Mehrheits- und Massendemokratie war 1932 und 1933 allerdings ein tatsächlich mehrheitlicher „Volkswille“, da im Juli die gegen die Weimarer Verfassung stehenden Parteien NSDAP und KPD zusammen 51,6 % (31. Juli 1932), 50 % (6. November 1932) und auch in nicht mehr freier Wahl am 5. März 1933, bei der aber die KPD immerhin noch 12,3 % erhielt. Zusammen hatten also 56,2 % der Wählgänger die Weimarer Republik „abgewählt“. Sehr eindrücklich heißt es dann in Heideggers „Erläuterungen und Grundsätzliches“ gegenüber dem Vorsitzenden des politischen Bereinigungsausschusses der Universität vom 15. Dezember 1945:

„Ich stand schon 1933/34 in derselben Opposition gegen die nationalsozialistische Weltanschauungslehre, war damals aber des Glaubens, daß die Bewegung geistig in andere Bahnen gelenkt werden könne und hielt diesen Versuch vereinbar mit den sozialen und allgemein politischen Tendenzen der Bewegung. Ich glaubte, Hitler werde, nachdem er 1933 in der Verantwortung für das ganze Volk stand, über die Partei und ihre Doktrin hinauswachsen und alles würde sich auf den Boden einer Erneuerung und Sammlung zu einer abendländischen Verantwortung zusammenfinden. Dieser Glaube war ein Irrtum, den ich aus den Vorgängen des 30. Juni 1934 erkannte. Er hatte mich aber 1933/34 in die Zwischenstellung gebracht, daß ich das Soziale und Nationale (nicht nationalistische) bejahte und die geistige und metaphysische Grundlegung durch den Biologismus der Parteidoktrin verneinte, weil das Soziale und Nationale, wie ich es sah, nicht wesensmäßig an die biologisch-rassische Weltanschauungslehre geknüpft war“[Martin Heidegger, Erläuterungen und Grundsätzliches (15. Dezember 1945), erstmals auszugsweise (mit zwei Fehlern) bei Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, a.a.O., S. 312; erstmals vollständig als Abdruck einer Abschrift (mit 17 Fehlern) bei Bernd Martin, Martin Heidegger und das ‚Dritte Reich’, 1989, S. 207-211 (UAF B 34/51), schließlich in: Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges (1910-1976), Gesamtausgabe, Bd. 16, a.a.O., S. 409-415, hier S. 414].

Noch ausführlicher und grundsätzlicher hat Heidegger die Zeit des Rektorates und des Dritten Reiches in seinem Text „Tatsachen und Gedanken“ von 1945 dargestellt. Darin erklärt er vor allem den „Sinn“ seiner Rektoratsrede mit dem „Gott ist tot“-Zitat Nietzsches, die seine Wirkung bei den anwesenden führenden Nationalsozialisten auch nicht verfehlte. So habe Kultusminister Wacker die Ausführungen als „eine Art ‚Privatnationalsozialsmus’, der die Perspektiven des Parteiprogramms umgehe“ bezeichnet, der zudem „nicht auf dem Rassegedanken aufgebaut“ sei und die nationalsozialistische Idee einer „politischen Wissenschaft“ zurückweise [Martin Heidegger, Tatsachen und Gedanken (1945), in: ders., Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges (1910-1976), Gesamtausgabe, Bd. 16, a.a.O., S. 382]. Außerdem habe man Heidegger im Ministerium kurz nach der Rektoratsfeier bedeutet:

„1. daß künftig die Anwesenheit des Erzbischofs bei solchen Feiern nicht erwünscht sei; 2. daß meine nach der Rektoratsfeier gehaltene Tischrede insofern eine Entgleisung darstelle, als ich überflüssigerweise den Kollegen Sauer aus der theologischen Fakultät eigens hervorgehoben und betont habe, was ich ihm für meine wissenschaftliche akademische Ausbildung verdanke“[Ebd.]

In diesem Text findet sich dann eben auch jener Abschnitt über das „Kesseltreiben, das sich auch auf meine Vorlesungen erstreckte“, und durch den auf Heidegger angesetzten SD-Spitzel Dr. Hancke offengelegt worden sei, als dieser sich Heidegger gegenüber offenbarte. Dabei habe man von Seiten der Gestapo insbesondere auch die Zusammenarbeit mit den Jesuiten kritisch beobachtet habe.

Erst 1966 hat sich Heidegger - nach einem Spiegel-Aufsatz „Heidegger – Mitternacht einer Weltnacht“[In: Der Spiegel, Nr. 7, 1966, S. 111 ff.] - dazu entschieden, zum ersten Mal öffentlich in einem Leserbrief vom 22. Februar 1966 eine Richtigstellung zu verlangen:

„1. Es ist unwahr, daß ich während meines Rektorats (Ende April 1933 bis Februar 1934) meinem Lehrer Husserl in irgendeiner Form das Betreten der Universität verboten habe. 2. Es ist unwahr, daß 1933 von meiner Seite die Beziehungen zu Husserl und Jaspers abgebrochen wurden. 3. Es ist unwahr, daß Prof. Ritter als einziges Mitglied des Lehrkörpers der Universität am Begräbnis Husserls teilnahm, und es ist ebenso unwahr, daß sich Prof. Ritter im Jahre 1952 gegen meine Emeritierung stellte. 4. Die im Bild S. 113 vermerkte Kundgebung fand nicht 1934, sondern Herbst 1933 statt. 5. Ich verzichte auf eine Stellungnahme zu belangloseren unrichtigen Angaben“[In: Der Spiegel, Nr. 11, 1966 vom 7. März 1966].

Diese Äußerung veranlasste die Spiegel-Redaktion, Heidegger um ein Interviewgespräch zu bitten. Tatsächlich kam es zur Aufzeichnung des Gesprächs am 23. September 1966, das zwischen Martin Heidegger mit Rudolf Augstein, Georg Wolff, Heinrich Wiegand Petzet geführt wurde. Anwesend war außerdem der Protokollführer Steinbrecher sowie ein Techniker und eine Fotografin. Der Text wurde von Heidegger einer langen Nachbearbeitung unterzogen. Gedruckt wurde es erstmals am 31. Mai 1976 (Spiegel, 30, 1976, Nr. 2). Dabei weicht die von Heidegger genehmigte authentische Fassung von der Spiegel-Druckfassung in einigen Punkten ab. Die genehmigte Fassung erschien erstmals 1988 in „Antwort – Martin Heidegger im Gespräch“[Günther Neske/Emil Kettering (Hrsg.), Antwort – Martin Heidegger im Gespräch, a.a.O., S. 81-111].

Gegenüber den Spiegel-Redakteuren musste Heidegger 1966 auch zu dem von Kästner inkriminierten Satz Stellung nehmen:

„Diese Sätze stehen nicht in der Rektoratsrede, sondern nur in der lokalen Freiburger Studentenzeitung, zu Beginn des Wintersemesters 1933/34. Als ich das Rektorat übernahm, war ich mir darüber klar, daß ich ohne Kompromisse nicht durchkäme. Die angeführten Sätze würde ich heute nicht mehr schreiben. Dergleichen habe ich schon 1934 nicht mehr gesagt. Aber ich würde heute noch und heute entschiedener denn je die Rede von der „Selbstbehauptung der deutschen Universität“ wiederholen, freilich ohne Bezugnahme auf den Nationalismus. An die Stelle des „Volkes“ ist die Gesellschaft getreten. Indes wäre die Rede heute ebenso in den Wind gesprochen wie damals.“

Offensichtlich hat er, anders als von Kästner und anderen vermutet, nicht in einer seiner Novemberreden gebraucht, sondern „nur“ in besagtem „Universitätsführer“ verwendet. Ob sie im Sinne eines „Kompromisses“ notwendig waren, ist äußerst fraglich, muss aber an dieser Stelle nicht abschließend beurteilt werden. Die von Heidegger eingebrachte Nuancierung ist aber angesichts zahlreicher in Umlauf gebrachter Un- und Halbwahrheiten über Heidegger verständlich. Auch hier muss aber wieder hinterfragt werden, warum sich Heidegger dazu nicht früher öffentlich positioniert hatte.

Festschrift für Romano Guardini zum 80. Geburtstag

Es ist verwunderlich, warum Martin Heidegger nicht zu den Beiträgern für die nach 1935 zweite in Deutschland erschienene Festschrift für Romano Guardini zu seinem 80. Geburtstag 1965 gehörte. Allerdings war Heidegger von Karl Forster durchaus angefragt worden, hat aber mit Verweis auf eine Grundsatzentscheidung abgesagt.

Q094

Briefdurchschlag von Karl Forster an Martin Heidegger vom 12. Dezember 1963 [Archiv der Katholischen Akademie in Bayern – Ordner: Festschrift für Romano Guardini]

Zusammenfassung wird noch erstellt.

Q095

Brief von Martin Heidegger an Karl Forster vom 15. Dezember 1963 [Archiv der Katholischen Akademie in Bayern – Ordner: Festschrift für Romano Guardini]

Zusammenfassung wird noch erstellt.

Vorschlag für die Zuwahl Heideggers zum Orden „Pour le mérite“ (Frühjahr 1964)

All die oben genannten Informationen über Heidegger standen Guardini 1961 also noch nicht zur Verfügung. Davon, dass Guardini die 1961 gemachten Aussagen aber nicht nur als „Gefälligkeit“ Podewils oder Heidegger gegenüber ansah, sondern von ihnen persönlich überzeugt war und es wohl bis zu seinem Tod auch blieb, zeugt der Umstand, dass Guardini drei Jahre später abermals für eine öffentliche Würdigung Heideggers eintrat und erneut mit der Begründung, dass für eine Beurteilung von Heidegger nicht allein „die so lange zurückliegenden und seitdem ja doch von ihm selbst desavouierten Dinge“ maßgebend sein dürften.

Nach dem Tod Eduard Sprangers – er war am 17. September 1963 gestorben – wurde Guardini von Ordenskanzler Percy Ernst Schramm in einem Brief vom 4. Februar 1964 um Rat bezüglich eines Vorschlags Erich Kaufmanns für die Zuwahl zum Orden gebeten. Der Jurist Erich Kaufmann (1880-1972) – selbst jüdischer Herkunft, nach der Reichspogromnacht 1938 geflohen und 1946 nach Deutschland zurückgekehrt – hatte gegen den Vorschlag, Karl Jaspers zuzuwählen, Bedenken erhoben, „daß Jaspers sich irgendwie gegen Deutschland ausgesprochen haben soll“.

[Kaufmann zielt hier mit seiner Kritik an Jaspers wohl noch auf den 1961 erschienenen Sammelband „Freiheit und Wiedervereinigung“. Dieses Buch, für das Willy Brandt ein Vorwort schrieb, war erschienen, nachdem er in einem Fernsehinterview mit Thilo Koch mit seiner These „Freiheit geht vor Wiedervereinigung“ vertreten hatte und im Anschluss daran von einigen sogar als „Vaterlandsverräter“ und „Handlanger des Kommunismus“ beschimpft worden war. Jaspers trat dafür ein, einen eigenen Staat in der DDR zu akzeptieren, wenn dadurch auch für diesen Teil Deutschlands die Freiheit hergestellt werden könnte. Erich Kaufmann vertrat als Rechtsberater der Adenauer-Regierung gerade in der Frage der Wiedervereinigung bzw. der Anerkennungsfrage eine klar konträre Position dazu, die in der These gipfelt, daß jegliche Initiative zur friedlichen Wiedervereinigung Deutschlands auf dem Verhandlungswege mit der Sowjetunion mit der Konsequenz einer „de-facto-Anerkennung“ der DDR oder aber eines „militärisch neutralisierten Staates“ ein Verstoß gegen das Grundgesetz sei, und daher einen eigenen „Konföderationsplan“ für die Bundesregierung ausgearbeitet hatte. Vgl. Erich Kaufmann, Die These von den zwei deutschen „Teilstaaten“ oder „Teilvölkern“, Bulletin 1955, 17; ders./Fritz Münch/Ekkehart Stein, Gibt es zwei deutsche Staaten?“ – Drei Beiträge zur Rechtslage Deutschlands, hrsg. vom Auswärtigen Amt, Bonn 1963.]

Kaufmann selbst habe dann Heidegger vorgeschlagen, womit der Orden aus Sicht Schramms aber „in Teufelsküche“ käme. Guardini antwortete – vermutlich für Schramm überraschend -, indem er sich den Vorschlag Kaufmanns zu eigen machte:

Q096

Brief von Romano Guardini an Percy Ernst Schramm vom 27.02.1964 [BSB Ana 342, B 23/06-3]

Schramm gab in seiner Antwort vom 3. März 1964 zu bedenken, dass eine Wahl Heideggers „nach außen hin eine Absage an Jaspers“ bedeuten würde, was im In- und Ausland gegen den Orden „ausgespielt“ werden würde. Natürlich habe Heidegger angesichts der drei vergangenen Jahrzehnte ein „Anrecht“ darauf, „auch nach dem beurteilt zu werden, was er seit 1945 schrieb und sprach.“ Ihm sei klar, der Orden werde „auf die Dauer nicht um ihn herumkommen, weil er eine so starke philosophische Potenz ist.“ Dennoch empfiehlt er „zunächst doch Jaspers hinzuzuwählen“, auch wenn dessen Gesundheitszustand wohl eine Aktivität verhindern würde. Später könne man dann Heidegger hinzuwählen und „dann kann niemand etwas sagen.“ Trotz dieser Einschätzung fragt Schramm Guardini abschließend um seine Meinung zu diesen Überlegungen, die Guardini auch in dem nachfolgenden Brief äußert, indem er seinen Vorschlag, Heidegger zuzuwählen, erneuert.

Q097

Brief von Romano Guardini an Percy Ernst Schramm vom 14.03.1964 [BSB Ana 342, B 23/06-3]

In der Tagesordnung wurden für die „Ersatzwahl Spranger“ Karl Jaspers oder Martin Heidegger oder Hugo Friedrich als Kandidaten aufgeführt. [Der bereits früher schon einmal zurückgestellte Vorschlag, den Romanisten Hugo Friedrich (1904-1978) zuzuwählen, sollte bei der Tagung allerdings nur für den Fall wieder aufgenommen werden, dass sowohl der Vorschlag Jaspers als auch der Vorschlag Heidegger keine Mehrheit gefunden hätten.]

Guardini sagte die Teilnahme an der Bonner Tagung am 19. Mai 1964 ab, hatte aber brieflich gewählt. In den Vorschlägen für die vorzunehmenden Wahlen heißt es, dass bei den Zustimmungen bzw. Ablehnungen im Vorfeld „sowohl philosophische als auch politische Argumente zur Sprache“ kamen. Daher bat Schramm die Mitglieder darum, „sich bereits vor der Reise nach Bonn über den von ihm zu fassenden Entschluß klarzuwerden.“ Bei der Sitzung sollte dann zunächst über die Zuwahl von Karl Jaspers abgestimmt werden. Sollte dieser die erforderliche Stimmenzahl erreichen, erübrige sich eine Abstimmung über Martin Heidegger, so dass diese „bis zum Freiwerden eines weiteren Platzes in der geistesgeschichtlichen Sektion“ zurückgestellt werde. Wenn der Vorschlag Jaspers hingegen nicht die erforderliche Stimmenzahl erreiche, wollte Schramm den Vorschlag Heidegger zur Abstimmung bringen.

Auf der Tagung zugewählt wurde dann aber nach längerer Diskussion mit großer Mehrheit Karl Jaspers und dieser daher auch am 9. Juli 1964 aufgenommen. In einem weiteren Brief an Guardini schrieb dazu der Ordenskanzler Schramm, dass man „lange hin und her geredet“ habe, wobei er auch Guardinis Briefe, „soweit zur Sache gerichtet, verlesen“ habe. In der Diskussion seien gegen Heidegger „so schwere persönliche Bedenken“ aufgetaucht, daß man den Vorschlag „zunächst einmal“ zurückstellte und zuerst über Jaspers abstimmte, der „fast mit allen anwesenden Stimmen gewählt wurde“. Schramm betonte abschließend die „sehr, sehr gute Beratung: alles mit Würde und mit Sachlichkeit” [BSB Ana 342, B 23/06-3].

Als Nachfolger auf den nach Guardinis Tod freigewordenen Platz wurde im Übrigen Rudolf Bultmann gewählt und im Juni 1969 in den Orden aufgenommen [Vgl. Telegramm an Rudolf Bultmann von Percy Ernst Schramm vom 4. Juni 1969. Die Übergabe des Ordenszeichens erfolgte am 26. Juni 1969 (Nachlass Bultmann Nr. 3076, laut: Harry Wassmann/Jakob Matthias Osthof/Anna-Elisabeth Bruckhaus, Rudolf Bultmann (1884-1976). Nachlassverzeichnis, 2001, S. 278)].

Über das Verhältnis des „Vorlaufens zum Tod“ zur „blanken Diesseitigkeit“

Abraham a Santa Claras Anstoß für Heideggers „Vorlaufen zum Tod“

Q098

Widmung Heideggers an Guardini wohl Weihnachten 1963 [Guardini-Bibliothek Nr. 4061]

In der Guardini-Bibliothek steht auch Martin Heideggers Schrift „Kants These über das Sein“, versehen mit handschriftlichen Weihnachtsgrüßen: "Für Romano Guardini mit herzlichen Weihnachtsgrüßen Martin Heidegger"

Diese ist 1963 erschienen. Daher ist anzunehmen, dass die Grüße zu Weihnachten 1963 geschrieben wurden.

Denn für das Folgejahr steht als Weihnachtsgeschenk wohl Heideggers Vortrag „Über Abraham a Santa Clara“ in der Guardini-Bibliothek. Diesen Vortrag hielt Heidegger am 2. Mai 1964 beim Meßkirchner Schultreffen. Er wurde noch im selben Jahr ebenfalls in Meßkirch ohne Jahresangabe herausgegeben. Es handelt sich bei der Widmung daher mit hoher Wahrscheinlichkeit um einen Weihnachtsgruß von 1964.

Q099

Widmung Heideggers an Guardini (Weihnachten 1964) [Guardini-Bibliothek gb 4042]

Aufgrund der Formulierung ist zu schließen, dass Guardini auch Heidegger Weihnachtswünsche übermittelt hatte, vermutlich mit dem für dieses Jahr vorgesehenen Privatdruck. In Heideggers Geschenkt steht jedenfalls: „die Weihnachtswünsche erwidernd und herzlich dankend Martin Heidegger“.

In gewisser Weise schloss sich mit dieser Rede über Abraham a Santa Clara ein weiterer Kreis, der bis in die Freiburger Studentenzeit zurückreicht. Denn schon als zwanzigjähriger Theologiestudent hatte Martin Heidegger der Feier zum zweihundertsten Todestag von Abraham a Santa Clara präsidiert und bei der Enthüllung des Denkmals in Kreenheinstetten im August 1910 eine Ansprache gehalten [„Mein liebes Seelchen!“. Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride 1915-1970, a.a.O., 2005, S. 351]. Der Augustinerpater Abraham a Santa Clara, bürgerlich Johann Ulrich Megerle bzw. Megerlin (1644-1709) war am 2. Juli 1644 in Kreenrheinstetten bei Meßkirch geboren worden und gilt als einer der bedeutendsten deutschen katholischen Prediger und Poeten der Barockzeit.

Helmuth Vetter hat in einem Aufsatz über „Heideggers Denken im Lichte mystischer Überlieferung“ von 1991 darauf aufmerksam gemacht, „welchen ‚entscheidenden Gedanken’“ Heidegger bei seinem Landsmann gefunden hat.

„Gleichzeitig fällt so etwas wie ein Licht aus mystischem Erbe auf das Vorlaufen zum Tod. Dieses ist, wie nunmehr gezeigt, nicht die trotzige Versteifung auf die Individualität des autonomen Subjekts, sondern vielmehr ein Abstandnehmen von dieser. Die Phänomene unter dem Gesichtspunkt ihrer Brauchbarkeit zu nehmen heißt, sie den Eigeninteressen zu unterstellen. Sich von diesem Eigenen – das gerade nicht die Eigentlichkeit ist – abzukehren, gehört zum Umkehrcharakter der mystischen Existenz. Das Freiwerden von den Eigeninteressen und somit Eigentlichwerden versteht nun die Mystik als „Absterben". Meister Eckhart hat dies als „zunichte werden" um willen des Lebens gefaßt. Abraham spricht schlicht von einem Sterben Der doppelten Bedeutung von verlassen als „Abschied nehmen“ und „sich auf etwas verlassen“ entspricht sein Wort: „ ... ich verlasse gern dasjenige, auf das sich niemand verlassen kann.“ (Zitiert in MH 54) In seiner Rede über Abraham a Santa Clara fügt Heidegger diesem Zitat jenes andere an, von dem er sagt, Abraham habe hier „einen entscheidenden Gedanken“ hingestellt: „Wer stirbt, ehe er stirbt, der stirbt nicht, wenn er stirbt.“ Heidegger erläutert dies mit dem Satz: „Wer sich von Dingen löst, bevor der Tod kommt, der hört nicht auf, zu sein, wenn es zu Ende geht.“ (MH 54 f.)“ [Helmuth Vetter, Heideggers Denken im Lichte mystischer Überlieferung – Hermeneutische Beobachtungen, in: Elenor Jain/Reinhard Margreiter (Hrsg.), Probleme philosophischer Mystik. Festschrift für Karl Albert zum siebzigsten Geburtstag, 1991, S. 307-322, hier S. 320].

In einer gewissen Weise geht hier also Heidegger zurück zu seinen frühen Deutungen des Todes und des Daseins zum Tode, so wie er es in seiner im Sommer 1925 in Marburg gehaltenen Vorlesung über die „Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs“ im Abschnitt „Die Freilegung der Zeit selbst“ getan hat [Martin Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (Marburger Vorlesung Sommersemester 1925), in: ders., Vorlesungen 1923-1944, Gesamtausgabe, Bd. 20, Frankfurt am Main 1979, S. 424-442, zum „Vorlaufen zum Tod“ S. 440 f.].

Auch mit diesem Geschenk lässt Heidegger also Guardini an seiner Rück-Wendung zu den Anfängen seines Denkens während der gemeinsamen Zeit der Denk- und Weggemeinschaft in Freiburg teilhaben.

Der Weg in die „blanke Diesseitigkeit“

In einer von Guardini gewollten Mitschrift eines Telefongesprächs vom 23. Juli 1964 mit Werner Dettloff heißt es unter dem Abschnitt „Glaube an Gott und Trinität“, dass die monotheistische Vorstellung der „Gottesentwicklung“, so wie auch Heidegger sie im Anschluss an Hegel vertrete, in die atheistische Vorstellung einer „blanken Diesseitigkeit“ münde. Diese sehr Heidegger-kritische Äußerung in dieser späten Zeit mag manchen angesichts seines persönlichen Einsatzes für seine Rehabilitierung als philosophische Potenz verwundern, passt aber zur grundsätzlichen Einschätzung über die Verbindungen zwischen Hegels Gottesvorstellung und der atheistischen Vorstellungen im modernen Existenzialismus.

Q100

Gesprächsnotiz von Werner Dettloff (Juli 1964) [Privat-Nachlass]

Zusammenfassung wird noch erstellt.

Hier kehrt Guardini also zu seinem Ausgangspunkt in der Auseinandersetzung mit Nietzsche und Heidegger in seinem Dostojewskij-Buch von 1932 zurück, wo er im Kapitel „Die Endlichkeit und das Nichts“ im Anschluss an die „Parallele“, „die zwischen der Gestalt Kirilloffs und dem Vorstellungskreis von Nietzsches Zarathustra“ bestehe, geschrieben hat:

„Sie ist so tief und vollständig, geht so bis in letzte Intentionen, daß Dostojewskijs Schöpfung einen förmlichen Kommentar, eine gestaltmäßige Verdeutlichung der Philosophie, besser Heilsbotschaft des Zarathustra bildet. Der Grundgedanke, daß es nicht etwa ‚Gott’ nicht gebe, sondern daß er zum Erlöschen gebracht werden müsse, damit der Mensch leben könne; die Selbstbefreiung von Angst und Ressentiment durch den Willen zur bloßen Endlichkeit und Diesseitigkeit; der Kampf gegen den inneren Willen zur Qual; das Bewußtsein von der Potentialität des Menschen, und von der in ihm wartenden Möglichkeit zu einem neuen Wesen; die Definition dieses Wesens als eines physisch höheren, ontisch verwandelten, wobei der Mensch die Prärogativen Gottes an sich nehmen werde; der Gedanke, der Schritt müsse durch Grauen und Untergang gehen, und in eine Existenz von einer für uns Jetzige furchtbaren Freiheit und Freude führen ... das alles, hervorgehend aus dem Grundgefühl, die Stunde des Endlichen sei da, in einem ungeheuren, religiösen, zugleich aber durchaus innerweltlich-realen Sinne – diese Überzeugung ist beiden gemeinsam. Und beidemal handelt es sich nicht etwa um zufällige Stimmungen und unkontrollierte Gefühle, sondern um eine klar anzugebende Existenzsituation, die sich in einer eindeutigen Haltung auswirkt, und in einem bestimmten Begriffsgefüge ausgedrückt werden kann“ [Romano Guardini, Religiöse Gestalten in Dostojewskijs Werk, (7)1989, S. 210 f.].

Heideggers Glückwünsche zum 80. Geburtstag

Es kommt nahezu einer „Offenbarung“ gleich, wenn Heidegger seinem „lieben Guardini“ zu dessen 80. Geburtstag erinnernd ins gemeinsame Stammbuch schreibt, dass „heute selbstverständlich geworden“ sei, was von beiden zwischen 1912 und 1930 noch „in strenger Bemühung gewagt“ werden musste, und dass gerade durch dieses Selbstverständlich-Nehmen „der Sinn für das Geheimnisvolle der Überlieferung“ verkümmere:

Q101

Brief von Martin Heidegger an Romano Guardini vom 13. Februar 1965 [Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 881]

Zusammenfassung wird noch erstellt.

Diesem Festgruß lag Heideggers Deutung von Adalbert Stifters "Eisgeschichte" bei [Martin Heidegger, Adalbert Stifters Eisgeschichte, in: Wirkendes Wort, 1964, S. 23-38. Vgl. dazu: Isolde Schiffermüller, Buchstäblichkeit und Bildlichkeit bei Adalbert Stifter. Dekonstruktive Lektüren, 1996, 2. Kapitel: Eisgeschichte. Stifter mit Heidegger, S. 51 ff.].

Auch in der zum Schluss des Briefes vollzogenen „Verehrung und Würdigung des dichterischen Geistes“ im gedachten und gesprochenen Werk Guardinis ist doch weit mehr ausgedrückt als nur ein floskelhafter Geburtstagsgruß. Heidegger hatte seine Interpretation von Stifters „Eisgeschichte“ im Januar 1964 als Beitrag zur Reihe „Wirkendes Wort“ bei Radio Zürich geschrieben und gesprochen. Darin heißt es an zentraler Stelle:

„Die Kräfte und Gesetze, auf die der Dichter zeigt, sind selber noch ein Zeichen. Denn sie zeigen in jenes ganz Unsichtbare, jedoch allem zuvor alles Bestimmende, dem der Mensch aus dem Grunde seines Daseins entsprechen muß, wenn er auf dieser Erde soll wohnen können. Das dichtende Wort zeigt in die Tiefe dieses Grundes. Stifter nennt es das Große. […] Das Zeigen des wahrhaft Großen im Kleinen, das Zeigen in das Unsichtbare, und zwar durch das Augenfällige und durch das Tägliche der Menschenwelt hindurch, das Hörenlassen des Ungesprochenen im Gesprochenen – dieses Sagen ist das Wirkende im Wort des Dichters Adalbert Stifter“[Martin Heidegger, Adalbert Stifters „Eisgeschichte“, in: ders., Aus der Erfahrung des Denkens. 1910-1976, Gesamtausgabe, Bd. 13, Teil 1, Frankfurt am Main 2002, S. 197].

Bei Heidegger bildet diese Verbindung von „Geheimnis der Überlieferung“ und „Heimat“ eine Klammer zwischen dem Denken des Theologiestudenten und des späten Heidegger. So kann man mit Recht darauf verweisen [Axel Beelmann, Heimat als Daseinsmetapher. Weltanschauliche Elemente im Denken des Theologiestudenten Martin Heidegger, 1994, S. 34], dass Heidegger von Anfang an die Gefährdung der Heimat und den drohenden „Heimatverlust“ durch das verrechnende Wesen der Technik als „Movens“ seines Denkens verspürte. So verwundert es auch nicht, dass er im zeitlichen Zusammenhang geführten Interview mit der Spiegel-Redaktion von 1966 davon spricht:

„Nach unserer menschlichen Erfahrung und Geschichte, soweit ich jedenfalls orientiert bin, weiß ich, daß alles Große nur daraus entstanden ist, daß der Mensch eine Heimat hatte und in einer Überlieferung verwurzelt war. Die heutige Literatur zum Beispiel ist weitgehend destruktiv“[Martin Heidegger, Spiegel-Gespräch mit Martin Heidegger (23. September 1966), in: ders., Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges (1910-1976), Gesamtausgabe, Bd. 16, hrsg. von Hermann Heidegger, Frankfurt am Main 2000, S. 652 ff., hier S. 670]

Nach einer Weile des Nachfragens über das Verhältnis von Destruktivismus und Nihilismus und von Technik und Heimat und die Möglichkeiten des Philosophierens gibt Heidegger seinen Interviewern schließlich eine zutiefst religiöse Antwort:

„Wenn ich kurz und vielleicht etwa massiv, aber aus langer Besinnung antworten darf: Die Philosophie wird keine unmittelbare Veränderung des jetzigen Weltzustandes bewirken können. Dies gilt nicht nur von der Philosophie, sondern von allem bloß menschlichen Sinnen und Trachten. Nur noch Gott kann uns retten. Die einzige Möglichkeit einer Rettung sehe ich darin, im Denken und Dichten eine Bereitschaft vorzubereiten für die Erscheinung des Gottes oder für die Abwesenheit Gottes im Untergang; daß wir nicht, grob gesagt, „verrecken“, sondern wenn wir untergehen, im Angesicht des abwesenden Gottes untergehen“[Ebd., S. 671].

Guardini jedenfalls dürfte dieses Geschenk und sein „Inhalt“ erst recht gefreut haben, ist doch Adalbert Stifter für ihn neben Mörike wohl der Dichter des „mündigen“, des mündig gewordenen Menschen so wie Reuter und Raabe die Dichter des Heranwachsens in der Jugend und Hölderlin, Rilke und Dostojewskij die Dichter seines ringenden Schaffens mit den und dem „Großen“ gewesen sind. Seine eigene Wertschätzung für Stifter drückt Guardini in seinen Ethik-Vorlesungen der 50er Jahre mit den Worten aus:

„Es gibt einen Dichter, der zwar nicht zu den größten gehört, aber einen besonderen Rang der Wahrheit und Lauterkeit hat: Adalbert Stifter. Sein Werk ist im wesentlichen diesen Werten des Charakters, der Treue zu sich selbst und zum Werk, der Dauer in Gründung, Fortführung, Reifung gewidmet“[Abschnitt „Der mündige Mensch“ in „Die Lebensalter“, sowohl in: Romano Guardini, Ethik, Mainz 1993, S. 634; als auch in ders., Gläubiges Dasein/Die Annahme seiner selbst, Mainz 1993, S. 146, Anmerkung 5].

Die letzte Kontakte zwischen 1966 bis 1968

Die beiden letzten, bislang bekannten Kontakte zwischen Heidegger und Guardini lassen sich an zwei Postkarten Heideggers an Guardini festmachen, die vom 22. Dezember 1966 und vom 1. Januar 1968 stammen. In der letzteren bedankt sich Heidegger ausdrücklich für die vorausgegangenen Weihnachtsgrüße von Guardini. Auffallend ist, dass Heidegger 1966 kurzzeitig trotz der Anrede „Lieber Freund“ ins „Siezen“ zurückfällt, 1968 aber wieder mit „Dein Martin Heidegger“ unterschreibt. Die letzte, nicht gelaufene und wohl in ein Buchgeschenk eingelegte Postkarte erinnert ausdrücklich, wenn auch nur sehr allgemein an das „alte Freiburg“.

Q102

Postkarte Martin Heideggers an Romano Guardini vom 22. Dezember 1966 [BSB Ana 342, B 4-Sonderkonvolut, Mappe 1]

Zusammenfassung wird noch erstellt.

Q103

Postkarte von Martin Heidegger an Romano Guardini vom 1. Januar 1968 [BSB Ana 342, B 4-Sonderkonvolut, Mappe 1]

Zusammenfassung wird noch erstellt.

Heidegger über Guardini im Seminar in Zähringen 1973

Heidegger hat nach Guardinis Tod – nach jetzigem Kenntnisstand – nur noch ein einziges Mal ausdrücklich auf ihn Bezug genommen: in einem Seminar in Zähringen im Jahr 1973. Aus einer Mitschrift von Heideggers Gedanken geht hervor, dass er dabei Guardinis Sichtweise kritisiert hat, das griechische Denken sei gegenüber dem neuzeitlichen Denken „objektiver“:

„So sprach Romano Guardini, wie Heidegger berichtet, wo er die Besonderheit des griechischen Denkens zu sagen versucht, von einem ‚objektiveren’ Denken als es das neuzeitliche Denken ist. Der Begriff der ‚Objektivität’ kann aber das griechische Denken in keiner Weise kennzeichnen. Zunächst gibt es im Griechischen tatsächlich kein Wort, um Gegenstand – ‚Objekt’ – zu sagen. Für das griechische Denken gibt es den Gegenstand nicht, sondern: das von sich her Anwesende. Auf die Frage, ob man nicht trotz allem Gegenstand in dem letztgenannten Sinn verstehen könnte, antwortet Heidegger, daß das nicht möglich ist, denn der Gegenstand wird durch die Vorstellung konstituiert. Die Vorstellung nämlich, die in bezug auf den Gegenstand das Frühere ist, setzt den Gegenstand sich gegenüber, so daß der Gegenstand nie zuerst von sich aus anwesen kann. Demnach ist es durchaus notwendig, den Bereich des Bewußtseins und der ihm zugehörigen Vorstellung zu verlassen, will man nachdenken können, was die Griechen gedacht haben“[Martin Heidegger, Vier Seminare. Le Thor 1966, 1968, 1969, Zähringen 1973, S. 124].

Allerdings konnte eine zu dieser Aussage passende Stelle im Werk Guardinis, wo er diesen Vergleich an „Objektivität“ zwischen griechischem und neuzeitlichem Denken ausdrücklich zieht, bislang nicht identifiziert werden. Am ehesten könnte hier an Formulierungen Guardinis gedacht werden, wie er sie in „Welt und Person“ über die Sicht der Welt als objektiv Geordnetes bei den Griechen und Römern im Vergleich zur Sicht der Welt als objektiv Gestaltloses macht; allerdings nur wenn man dabei davon ausgeht, dass Guardini die Objektivität der Ordnung als „Fertig-Gegebenes“ wirklich höher einschätzt als die der Gestaltlosigkeit als „Ständig-Werdendes“ und wenn man gleichzeitig Guardinis eigene Position dabei als polare Spannungseinheit von „Immer Aufleuchten“ und „Werden“ versteht:

„Das Erlebnis der Welt-Mächtigkeit bricht in der Renaissance durch [24: Shakespeare ist der Dichter, dessen Werk die Mächtigkeit der Welt überwältigend offenbart. Bei keinem sonst ist sie so groß, so süß und so furchtbar.] und steigert sich dann immer mehr […]. Freilich darf nicht vergessen werden, daß ihm in der gleichen Neuzeit auch sein Gegenspiel erwächst: die Skepsis, die Entwirklichung, die Unfähigkeit, Unbedingtes zu erleben; alles das, was nach Nietzsche auf den Nihilismus zugeht. Die Welthaftigkeit des Seienden kann nach verschiedenem Schema gesehen werden. Die Griechen haben sie als objektiven Kosmos aufgefaßt, worin alles in sich selbst gestaltet ist: durch die Wesensformen des Seins und Wirkens, Entelechie und Telos; durch die Idee und die auf sie zustrebende Geistesbewegung, den Eros; durch die im Sein selbst waltende Vernunft und die Ordnung des Weltverlaufs, Nous und Heimarmene. Das Bewußtsein siegreicher Gestaltungskraft, das die Griechen durch Weisheit und Kunst auszudrücken suchten, haben die Römer durch Staat und Recht bezeugt. Auch für sie war die Welt ein objektiv Geordnetes, in das der Mensch sich mit seinem besonderen Wesen einfügen sollte... Die Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts hat sie gern als etwas objektiv Gestaltloses gesehen, in das erst der Mensch Ordnung bringt: der Geist, indem er es denkend formt, wie im Idealismus Kants; der Wille, indem er es, soweit seine Macht reicht, zur Welt gestaltet, wie in der Machtphilosophie Nietzsches... Die Welt kann aber auch so erfahren werden, daß ihr Eigentliches erst in der Begegnung mit den Dingen und Menschen herauskommt. Dann ist zwar schon in den Dingen wie auch im Innern des Menschen Ordnung. Diese reicht aber nicht hin, um die Welt im eigentlichen Sinne zu begründen; die entsteht erst im Raum der Begegnung. »Welt« ist also hier kein Fertig-Gegebenes, sondern etwas, was immerfort aufleuchtet, wird. Diese Auffassung scheint uns die richtige“[Guardini, Welt und Person, a.a.O., S. 77 f.].

Heideggers Rückgriff auf die „Heimat“ als Vorgriff auf den „letzten Gott“

So erstaunt es abschließend doch etwas, dass Heidegger nach diesem lebenslangen und auch keineswegs nur „latenten“ Gespräch bis 1968 seinen „lieben Freund“ und dessen Werk in seinen eigenen letzten, fast noch acht Lebensjahren geradezu zu „vergessen“ scheint. Umso verwunderlicher ist dies, weil er in einem seiner letzten Texte unter dem Titel „Der Fehl heiliger Namen“ (1974) am Beispiel des gemeinsam so geschätzten und gedeuteten Hölderlin die grundsätzlichen Fragen nach der Dichtung in der Zeit des „Fehlens“ noch einmal aufgreift und dabei das „Erblicken des Wegcharakters des Denkens“ an den Schluss setzt:

„Gewiß – das Erblicken des Wegcharakters des Denkens fällt der heute herrschenden Gewohnheit des Vorstellens schwer. Denn der Wegcharakter des Denkens ist allzu einfach und darum unzugangbar für das herrschende, in eine Unzahl von Methoden verstrickte „Denken“. Schon allein die Herrschaft der Dialektik jeglicher Art verstellt den Weg zum Wesen des Weges. Doch solange uns der Wegblick dafür versagt ist, daß und wie auch im Entzug und im Vorenthalt eine eigene Weise des Anwesens waltet, solange bleiben wir blind und unbetroffen vom bedrängenden Anwesen, das dem Fehl eignet, der den Namen des Heiligen und mit ihm dieses selbst in sich birgt, und jedoch verbirgt. Nur ein Aufenthalt in der offenen Gegend, aus der her der Fehl anwest, gewährt die Möglichkeit eines Einblickens in das, was heute ist, indem es fehlt“ (Martin Heidegger, Der Fehl heiliger Namen, in: ders., Aus der Erfahrung des Denkens, Gesamtausgabe, Bd. 13, S. 231-235).

Hatte er nicht 1952 genau dies auch Guardini gegenüber ausgedrückt, als er in einem Brief nach einem fruchtbaren Abendgespräch von der neuerlichen „Wanderschaft eines gemeinsamen Weges der Seel-Sorge“ gesprochen hat?

Angesichts der auch in den letzten Briefen und Postkarten Heideggers an Guardini durchscheinende „Sehnsucht“ nach „Geborgenheit im Letzten“, nach dem „Ankommen“ nach langem Weg, erhält Bernhard Weltes Erinnerung an ein letztes Gespräch am 14. Januar 1976, kurz vor seinem Tod, eine neue Bestätigung und Geltung:

„Das Thema der Heimat und der heimatlichen Menschen erhob sich für ihn mit erneuter Eindringlichkeit, als der Tod neu in den Horizont seines Denkens trat. Das „Vorlaufen zum Tod“ hatte er ja schon lange geübt und auch schon lange vom Tod als dem „Gebirg des Seins“ gesprochen. Aber ungefähr um die Zeit jenes Besuches ist der Tod neu und vielleicht wieder anders in den Horizont seines Denkens getreten. Es gibt von diesem Vorgang eine Reihe unscheinbarer Zeichen. Heidegger bereitete bedächtig und planmäßig seine Beisetzung vor, als noch niemand wußte, wann sie sein werde. Diese neue Erfahrung des Todes brachte eine neue Nähe zur Heimat. Darum wollte er dort und nirgends anders begraben sein. Und in diesen Zusammenhang gehört auch, daß er mich, seinen heimatlichen Landsmann, bat, an seinem Grabe zu sprechen. Jenes Gespräch im Wink der winkenden Heimat und im Schatten des auf neue Weise sich nahenden Todes kam auch bald und wie von selbst auf die religiöse Dimension. Nicht nur, weil ich in meiner Abhandlung, die den Anlaß jenes Gespräches bildete, die religiöse Dimension im Denken Heideggers deutlich zu machen versucht habe. Auch nicht nur, weil er von mir ohnehin ein religiöses Wort an seinem Grabe erwarten konnte. Das alles kam zusammen, aber auch diese merkwürdige Stunde selber und was sie umfaßte schien das Thema nahe zu legen. Wir sprachen auch über die Vorlesung, die ich damals hielt, es war eine Vorlesung über Meister Eckart, und so wieder ein religiöser Kontext. Mit Meister Eckhart war Heidegger auch seit langem vertraut. So fragte er im Laufe jenes Gespräches mit einer bedächtigen und ihres Weges sicheren Frage nach der Abgeschiedenheit im Sinne des Meisters Eckhart. Das Thema hatte eine verborgene Aktualität in dieser merkwürdigen Stunde. Es schwebte auch der eckhartische Gedanke im Raum, daß Gott dem Nichts gleich sei. Diese eckhartischen Gedanken waren nun in den Zusammenhang des Heimatlichen der Heimat und auch in den Zusammenhang der Nähe des Todes gerückt, so bildete die Stunde den Bereich, in dem auf eine besondere Art Himmel und Erde zusammengehörten, Sterbliche und Unsterbliche. Das Gesammelte des Gevierts lebte in der abendlichen Stunde und war versammelt um den, dem der Tod schon winkte" [Bernhard Welte, Erinnerung an ein spätes Gespräch. Suchen und Finden, in: Günther Neske (Hrsg.), Erinnerung an Martin Heidegger, 1977, S. 249 ff., hier S. 251; auch aufgenommen in: Martin Heidegger/Bernhard Welte, Briefe und Begegnungen, hrsg. von Alfred Denker, 2003, S. 149; und in: Bernhard Welte, Denken in Begegnung mit den Denkern, 2007, S. 210. Ähnlich erinnert sich Bernhard Welte in seiner Vorbemerkung, in: ders., Meister Eckhart. Gedanken zu seinen Gedanken, Freiburg i. Br. 1979: „Am 14. Januar 1976 hatte ich ein längeres Gespräch mit Martin Heidegger. Es war wenige Monate vor seinem Tod am 26. Mai 1976. Der nahe Tod winkte spürbar in das Gespräch herein. Wir sprachen dabei vor allem und eindringlich über die Sache des Meister Eckhart.“].

Diese Erinnerung Weltes führte Max Müller im Jahr 1994 zu einer Deutung der Gestalt des späten Heideggers, die so prägnant ist, dass auch sie hier noch angeführt sein soll [Max Müller/Wilhelm Vossenkuhl, Auseinandersetzung als Versöhnung, 1994, S. 109 f.]:

„Martin Heidegger hat jäh und schroff bei dem, was wir „Glauben“ nannten, diesen Dialog abgebrochen. Das Warum dieses Abbruchs mag biographisch erhellbar sein, ich würde es unter den Schutz der personalen Intimität und der unantastbaren Würde stellen, die auch der Historiker achten sollte, der Journalist allerdings aber vielleicht NICHT in gleicher Weise achten muß. Der Denker erfährt im Denken auch das Göttliche und bedenkt es auch. So ist wirkliches Denken religiös und auch fromm. Dies konzediert auch Heidegger und spricht ja ausdrücklich von der Frömmigkeit des Denkens“. Aber mit“ Glauben“ hat dies für ihn direkt nichts zu tun. Dies zeigt, wie er hier das Glaubensverständnis gewollt auf der doxologischen Ebene festbindet, auf der er in Hinsicht des Glaubens verharrt, wobei dies Verharren nicht der Grund seiner Ungläubigkeit ist, sondern die Folge seiner Stellung gegen die den Glauben verkündende Kirche, die den Glauben als „ihren“ Glauben und für Heidegger auch als „ihren“ Besitz verkündet.“

Nun macht Müller den „Unterschied des frommen oder religiösen Denkens vom Glauben, wie ihn Heidegger versteht“, an Heideggers Wunsch nach einem kirchlich-katholischen Begräbnis fest, dessen Möglichkeit und Wirklichkeit er aber angesichts des „nahen Todes“ mit Bernhard Welte besprechen wollte:

„Heidegger, der „fromm“ war, aber den Glauben der Kirche nicht mehr teilte, brauchte nun die Institution, die er in ihrer Funktion als Vermittlerin des Glaubens nicht mehr anerkennen konnte. Warum brauchte er sie? Es war sicher NICHT „Folklore“, wie ein nächster Angehöriger von ihm es meint, was ihn zum Wunsch der kirchlichen Beisetzung gebracht hat. Es war der Bezug zur „Heimat“, zu dem als integrierendem Bestandteil bisher diese Religion gehört hatte. „Heimat“ beim späten Heidegger ist aber nichts [109] Gemütsmäßiges, nicht einfach vorhandenes Milieu; sie ist die stete Aufgabe, in der radikalen Ungeborgenheit des Menschen je neu Bergung zu ermöglichen. Bergung des Menschen aber geschieht im Sein; die je neue Gestalt geschichtlicher Geborgenheit im Sein: das ist „Heimat“. Sie ist also ein anderer Name für das bergende Sein. Die neue geschichtliche Bergung aber fehlt uns heutigen, modernen Menschen völlig. Der „Fehl“ des Gottes und der „Fehl“ der Heimat sind parallel und analog. Da „Heimat“ nicht mehr „west“, da sie in ihrer uns heute notwendigen Gestalt sich „entzogen“ hat, muß in diesem „Interim“, in dem wir uns befinden, Gewesenes im Rückgriff jenes ersetzen, was wir nicht entbehren können und doch nicht mehr haben. Dieser Rückgriff muß echt an die Stelle des Vorgriffs auf den „letzten Gott“ treten, dessen „Wirken“ noch keine Gestalt annehmen will.“

Heidegger wurde mit dieser Haltung – so Max Müller – weder ein „Konvertit“, der nun angesichts des nahen Todes ein vorheriges „Renegat“-Sein um-wenden will. Da Heidegger niemals ein „Renegat“ gewesen sei, gab es jetzt auch keinen Grund für ein „Konvertit“-Sein. Vielmehr gelte bei Heidegger:

„Er blieb in seiner Frömmigkeit auf der Suche nach einer Gestalt der „heutigen“ Präsenz des Göttlichen. Dabei verwarf er (manchmal sogar in Gehässigkeit) geschichtliche Gestalten („Glaubensgestalten“) kirchlicher Form und fand doch keine andere Gestalt, die diese Frömmigkeit nicht erstickt oder pervertiert hätte. Und da ohne Gestalt die Erfahrung des Göttlichen diffus wird und verfließt, so ist im „Interim“, das für ihn ein „Advent“ war, die Krise zwischen Ehrfurcht – Zuneigung und Widerwillen – Abneigung nicht lösbar. Das Resultat war (als Resultat auch des Welte-Gespräches) jener positive „Kompromiß“ des Bleibens in dem, was nicht bleiben wird, aber vorläufig, „Bleibe“ bietet in der Zeit, wo der letzte Gott noch nicht da ist; an die Stelle des „Vor-Laufs“ ist hier also die „Vorläufigkeit“ getreten als Eingeständnis, daß wir in unserer radikalen Endlichkeit nicht uns geben können, was als reine Gabe uns bestimmt sein wird, wenn es auch heute noch erst sich uns ansagt.“

Dies war zumindest für Max Müller die Erklärung für Heideggers „letzten Willen und Entschluß“. Tatsächlich ist „Heimat“ somit einer der zentralen Begriffe des späten Heidegger, ihre Gefährdung und die notwendige Besinnung auf sie sein abschließendes Thema. Sogar seine letzte schriftliche Äußerung kurz vor seinem Tod, das Grußwort zur Meßkircher Ehrenbürgerfeier 1976 von Bernhard Welte, schließt mit diesem Gedanken. Nach dem Andenken an Erzbischof Dr. Conrad Gröber, dessen Gestalt für Heidegger und Welte „je verschiedener Zeit und auf je verschiedene Weise bestimmend“ geworden und gewesen sei, lud Heidegger die Teilnehmenden zu einem einmütigen „besinnlichen Geist“ ein:

„Denn es bedarf der Besinnung, ob und wie im Zeitalter der technisierten gleichförmigen Weltzivilisation noch Heimat sein kann“[Martin Heidegger, Grußwort (1976), in: ders., Aus der Erfahrung des Denkens. 1910-1976, Gesamtausgabe, Bd. 13, Teil 1, hrsg. von Hermann Heidegger, Frankfurt am Main 2002, S. 243].

Am 28. Mai 1976 wurde dieses Grußwort bei der nach der Beerdigung Heideggers am gleichen Tag stattfindenden Verleihung der Ehrenbürgerschaft an Bernhard Welte verlesen. Wenige Stunden zuvor hatte Welte auf Wunsch Heideggers die Grabrede bei seiner Beerdigung gehalten und dabei die Frage nach dem Verhältnis des Christentums zum Denkweg Heideggers ausdrücklich thematisiert:

„Ist es der Sache angemessen, Martin Heidegger christlich zu beerdigen? Ist es der Botschaft des Christentums angemessen, ist es dem Denkweg Heideggers angemessen? Er jedenfalls hat es gewünscht. Er hat auch sonst seine Verbindung zur Gemeinschaft der Glaubenden nie unterbrochen. Er ist freilich seinen eigenen Weg gegangen, und er hat ihn wohl gehen müssen, seinem Geheiß folgend, und man wird diesen Weg nicht ohne weiteres einen christlichen im üblichen Sinn des Wortes nennen können. Aber es war der Weg des vielleicht größten Suchenden dieses Jahrhunderts. Er suchte wartend und auf die Botschaft horchend den göttlichen Gott und seinen Glanz. Er suchte ihn auch in der Predigt Jesu. So darf man wohl über dem Grab dieses großen Suchers die Worte des Trostes des Evangeliums sprechen und die Gebete des Psalms ‚De profundis’, und das größte der Gebete, jenes, das Jesus uns gelehrt hat“[Hier zitiert nach: Alfred Denker/Elsbeth Büchin (Hrsg.), Martin Heidegger und seine Heimat, 2005, S. 20].

So bleibt am Ende nur Guardinis – gerade auch im Sterben und in der Trauer oft herangezogene – Zitat aus „Die letzten Dinge“ aus dem Jahr 1940:

„So ist der Tod das letzte Wagnis, an Christi Hand, in die große Verheißung hinüber. In all der Bedrängnis und Zerstörung, in all der Hilflosigkeit und Qual, die das Sterben bedeuten kann, ist das Sterben Christi enthalten – das aber ist die uns zugewendete Seite jenes Ganzen, dessen andere Seite Auferstehung heißt“[Romano Guardini, Die letzten Dinge (1940), Mainz 1989, S. 32].

Fazit

Somit kommen wir zum Ende dieser Gegenüber-Stellung. Es war letztlich nicht Aufgabe dieses Beitrags, dabei selber Stellung zu beziehen, ob und wie weit bestimmte Einschätzungen gegenüber Guardini und Heidegger bzw. ihrem gemeinsamen Weg abschließend zutreffen. Es ging lediglich darum aus vorwiegend historischer, biographischer und werkbiographischer Sicht die wichtigsten Schnittpunkte im Leben und im Werk der beiden Denker aufzuzeigen, um von dort ausgehend auch an die Punkte zu gelangen, von der aus die „Nachwelt“ sich den beiden Denkern annähern kann, ohne sie nur als „zeitlose“ „Steinbrüche“ oder „Stichwortgeber“ für die eigenen Positionen zu nehmen oder aber sie nur als „historische“, „überholte“, mehr oder weniger „erfüllte“ letztlich aber verstorbene Denker zu „behandeln“. Gleich, ob wir nun mit Guardini immer noch in der „Nach-Neuzeit“ unser „neues Mittelalter“ auf dem Weg zur „neuen Neuzeit“ suchen oder mit Heidegger über die fortdauernden Konsequenzen einer „Vollendung der Neuzeit“ nachdenken, gilt es, das verheißungsvolle „Faszinosum“, das ihrem Denken auch heute noch innewohnt, neu bewusst zu machen. Dass dabei immerhin über hundert archivalische Quellen neu oder wieder herangezogen und mit zahlreichen bereits publizierten Funden abgeglichen werden konnten, zeigt dass es sich in ihrer freundschaftlichen Beziehung keineswegs nur um ein „latentes“ Gespräch handelte, sondern die beiden Denker stärker und lebenslang aufeinander bezogen waren, als man dies bisher und gemeinhin angenommen hat.