Restaurativer Integralismus

Aus Romano-Guardini-Handbuch
Version vom 30. April 2023, 13:59 Uhr von Helmut Zenz (Diskussion | Beiträge)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)

Restaurativer Integralismus (Autor: Helmut Zenz)

Es gibt vielfache Zeugnisse, dass Guardini sowohl gegen eine Restauration als auch gegen Integralismus und erst recht gegen einen restaurativen Integralismus war.

Beispiele

  • Kritik sowohl am Integralismus als auch am Naturalismus:
    • Briefe an Josef Weiger 1908-1962, S. 160 f.: 53. Brief vom 28.03.1915, Freiburg: "Nun sieh: mir scheint, das Wesen des Integralismus besteht darin, daß er diese indirekte Religiosität eigentlich ablehnt, und das ganze Leben direkt religiös haben will. Wenn der eine oder andere Mensch für sich das tut, mags ihm unbenommen sein, wenn ich auch glaube, daß der gesunde Mensch kaum dazu kommt. Allein der Integr. will daraus ein System machen für alle, sogar für die öffentlichen Einrichtungen des kirchlichen Lebens. Es gelingt ihm ja nicht, nicht einmal bei einigen; die Natur schafft sich ihr Recht. Aber er versuchts immer wieder, und darin liegt der Druck, das Ungesunde seiner Wirkung. An sich, als psychol. Typus, hat er soviel Recht wie sein Gegenteil, solange er sich in den Grenzen hält und die Unterschiede respektiert. Er bedeutet dann den Versuch Gott und das Übernatürliche energisch ins volle Leben hineinzustellen, aus ihm die Dominante von allem zu machen. Allein er wird zum Unheil, sobald er sich ausschließlich durchsetzen will. - Und mir kommts nun vor, als ob die Fragen: Dogma und Vernunft; Autorität und Selbständigkeit; Liturgie und individuelles relig. Leben; Kirche und Staat... im Grunde nur Teilfragen jener obigen seien. Überall steht sich gegenüber: direkte, positive, durchgehende Bestimmung des individuell-sozialen Lebens durch das Objektive, Autoritäre, Religiöse; indirekte, negative d.h. erst am Ende die Ergebnisse am Objektiven prüfende Beziehung jenes Lebens zum Objektiv-Autoritären. Und hier wie stets im Lebendigen heißt die Lösung nicht: Entweder-Oder, sondern organische Verbindung. Sie ist im Grunde eine Sache des Maßes, des Gefühls für die Grenzen, für lebendiges Gleichgewicht. In diesem Zusammenhang ging mir auch recht der Begriff der discretio*429 auf. Discretio ist eben die Kunst, ehrfürchtig und behutsam die Faktoren des Lebendigen in fruchtbare Beziehung zu setzen."
    • Gedanken über das Verhältnis von Christentum und Kultur (1926), in: Unterscheidung des Christlichen - Band 1: Aus dem Bereich der Philosophie,
      • S. 180 f., Anmerkung 13: "Es gehört zum tiefsten Wesen echter Religion, die relative Eigenständigkeit der natürlichen Seins- und Wertbereiche anzuerkennen; sie also nicht im unmittelbaren religiösen Verhältnis aufgehen zu lassen, und so alles zu unmittelbarer Religion zu machen. Das ist "Integralismus", und seinem letzten Grunde nach unfromm - ganz abgesehen von den zerstörenden Konsequenzen. Gewiß steht alles in der Sinnbeziehung auf Gott und Gottes Ehre. Aber es gibt den direkten Weg dorthin und den indirekten. Der direkte ordnet z.B. die philosophische Erkenntnis der theologischen unter, ancilla theologiae im guten Sinne des Wortes. So dient sie Gott. Der andere faßt sie rein in sich und sucht in Lauterkeit ihren inneren Forderungen zu genügen. Das Religiöse steht hier in der Gesinnung des Denkenden; darin, daß er am Ende vom Glauben eine Kritik entgegennehmen, und das als widersprechend Erwiesene vom Glauben her aufgeben wird - ohne sich aber dadurch in der eigentlich philosophischen Arbeit etwas schenken zu lassen, die nötigenfalls im "non liquet" stehenbleibt. Auch das bedeutet Dienst Gottes; denn es heißt, ihn anerkennen und anbeten, wenn die Wesensgebiete seiner Schöpfung, hier der Sachprobleme und des Denkens, geachtet werden. Es ist immer eine schlechte und im tiefsten ihrer selbst unsichere Gläubigkeit, hier vom unmittelbar Religiösen her Gewalt zu üben. Alle Gewaltsamkeit kommt aus Furcht, auch in Dingen des Glaubens."
      • S. 198 f.: "Echte Übernatur kann im religiösen Bewußtsein - nicht an sich; an sich ist sie souverän - nur dann rein gewahrt werden, wenn zugleich rein gewahrt wird die Natur, und zwar in ihrer relativen Eigenständigkeit. Erst dann stehen die Ordnungen sauber gegeneinander; erst dann ist lebendiger Unterschied; erst dann wird die Haltung echten Glaubens möglich. Nur wenn das klare Gefühl für die natürliche Gegebenheit des Schöpfer-Gottes gewahrt bleibt, bleibt das christliche Gefühl für das Geheimnis des geoffenbarten Dreieinigen Gottes wach. Das gilt Kierkegaard gegenüber. Das gilt aber auch jedem Integralismus gegenüber. Es gibt einen Supranaturalismus - in der Geschichte ist er oft aufgetreten und wird heute wieder lebendig - der ist in Wahrheit nichts als die psychologische Antivalenz des Naturalismus, und jederzeit fähig, dahin umzuschlagen."
  • Kritik an der Restauration und Reaktion der Romantiker:
    • Erscheinung und Wesen der Romantik (1948), in: Wurzeln eines großen Lebenswerks, Bd. 3, S. 363 f.: "Ein anderes Beispiel. Viele Romantiker neigen in ihrer politischen Haltung zur Reaktion. Sie denken sich das Dasein hierarchisch geordnet; so müssen die Scheitelpunkte des Baues fest sein. Das heißt aber, daß die Autorität ausschlaggebende Bedeutung gewinnt. Die Romantiker haben auch ein ausgesprochenes Gefühl für den sinntragenden Zusammenhang des Geschichtlichen, die Tradition; ebenso wie für den geordneten Fortgang der Gewalt von einer Generation zur anderen, die Legitimität. Sie wünschen die Ordnung der Gegenwart verankert zu sehen in der Vergangenheit – diese nicht nur als das mehr oder weniger lang Vorausgegangene, sondern als den absoluten Vorausgang, als das Ur-Einst verstanden. So empfinden sie die Autorität als mythisch begründet. Sie kennen das Geheimnis der Krone, und die Erbfolge ist ihnen Übertragung religiöser Gewähr für das Heil des Volkes. Diese Haltung hat denn auch eine ganze politische Epoche, nämlich die Restauration bestimmt. So läge es nahe, zu sagen, Romantik sei Autoritarismus und Traditionalismus einfachhin. Sie lösche das Recht des Individuums zugunsten der objektiven Gewalten und das der Gegenwart zugunsten der mythisch geheiligten Vergangenheit aus. Daran wäre vieles wahr. Die gleichen Romantiker haben aber auch die gegenteilige Haltung vertreten, und wir könnten sie ebensogut als die ewigen Revolutionäre definieren. Wer hat sich weniger an die Ordnung gehalten als sie? Wer hat in beständiger Auflehnung gegen das Bestehende gelebt, wenn nicht sie? So haben sie ja doch z.B. bei jeder Gelegenheit gegen den traditionsgebundenen, bürgerlichen Menschen opponiert. Sie haben Unruhe gestiftet, wo immer sie hingekommen sind. Sie waren Individualisten reinsten Wassers, die jetzt in schwärmerischen Gemeinschaftserlebnissen aufgingen, Meister der Freundschaft, Virtuosen jeder Verbundenheit, um dann wieder alles aufzulösen und ihrer Wege zu gehen – die Geschichte ihrer Ehen, Freundschaften und Geisteskreise bezeugt es."
    • Ethik, 1993, S. 564: "So war es denn auch die Romantik, welche diesen, den Mythos - im Unterschied zur klassizistischen Mythologie - wieder zu Gesicht bekommen hat. Aus ihrer Opposition ist etwas sehr Wichtiges entstanden: das Erwachen des geschichtlichen Sinnes. Andererseits freilich auch eine Fremdheit gegenüber der eigenen und der sich vorbereitenden modernen Zeit; ein Konservatismus, der Unheil genug gestiftet hat - denken wir etwa an die Politik der Restauration, die ja von dieser Gesinnung getragen und zu einem guten Teil schuld war, daß Deutschland keine echte politische Form gefunden hat. Ein solcher Regreß in das Vergangene ist immer wieder möglich. Wer ihn vollzieht, geht von der eigenen Zeit innerlich weg; und es kommt ganz auf die innere Echtheit seines Schrittes und die Art seines Verantwortungsbewußtseins an, ob er damit nicht in Wahrheit Verrat an den gestellten Aufgaben begeht ... Der falsche Konservatismus, für welchen "Hergebracht" identisch ist mit "Gut" - "Neu" mit "Schlecht", und "Änderung" mit "Zerstörung«."
  • Kritik an der Restauration der Studentenverbindungen:
    • Stationen und Rückblicke / Berichte über mein Leben:
      • S. 206: München, Fr. 20.11.53: "Heute Nachmittag Fakultätssitzung. Unter anderem die Frage der Verbindungen, besonders der schlagenden. Pfeiffer sprach, gut und geradeaus. Auf seine Aufforderung hin auch ich – das erste Mal seit meiner Zugehörigkeit zur Fakultät! Herausgekommen ist nicht viel. Die Sache ist ziemlich trostlos. Der Widerstand gegen die Restauration wird sich verlaufen, und auch hierin werden die Dinge werden, wie sie waren – d.h. eben deshalb schlimmer, als sie waren, denn die zwölf Jahre, der Krieg und der Nachkrieg liegen dazwischen. Man hat nichts gelernt und fühlt nicht die Kraft zum neuen Beginn."
      • S. 211: "Heute in St. Ludwig waren viele Mützen zu sehen. Wie ich höre, ist in Bonn entschieden worden, das Farbentragen sei erlaubt. Jetzt kommt wieder eins nach dem anderen. Restauration in allem. Nichts ist gelernt worden."

Fehldeutungen

Dennoch wird heute versucht, sein "konservativ mit Blick nach vorn", umzudeuten. Prominente Beispiele:

Europa für Christus!

  • Anfang 2006 wird unter dem Namen "Europa für Christus" ein Observatorium zur Überwachung der Christianophobie gegründet, mit dem Ziel, den Christen Mut zu geben und ihnen zu helfen, die Entwicklung Europas zu beeinflussen.
  • Gründer sind die österreichischen Katholiken Martin Kugler und seine Frau Gudrun Kugler-Lang
  • Die zugehörige Webseite ist https://www.europe4christ.net, die aber wohl seit 2014 nur noch wenig Veränderung erfährt. Sie wurde von Gudrun Kugler-Lang initiert.
  • Martin Kugler sagte 2006 zur Gründung, dass das Projekt „einerseits die Christen daran erinnern will, dass unser Kontinent so eng mit dem Evangelium verbunden ist, dass eine Zukunft ohne Christus und ohne die christlichen Werte undenkbar wäre. Andererseits wollen wir auch den Christen helfen, aus ihrem doppelten Ghetto herauszukommen: zuerst aus jenem, der durch die Gleichgültigkeit und den Mangel an Hoffnung an Politik und Kultur geschaffen wurde, danach aus dem Getto, das durch die Außenwelt aufgedrängt wurde. (...) Im Namen einer gänzlich falschen Idee der Toleranz beobachtet man diese letzten Jahre eine Intoleranz, die immer mehr gegenüber den christlichen Überzeugungen verallgemeinert wurde, die man ohne Form von Prozess als fundamentalistisch anprangert." „Langfristig wird dies Europa helfen freier zu sein, die Demokratie besser zu sichern und die Gesellschaft und die Gesetzgebung von der zwingenden Notwendigkeit des Schutzes der Würde der Person zu überzeugen. Wir wollen den Europäern sagen, dass, wenn sie den geistigen und konkreten Sinn der Kommunion der Heiligen wiederentdecken, viele Sachen in Europa sich ändern werden."
  • Gudrun Kugler-Lang schreibt über den von der Initiative verwendeten Begriff der Christianophobie: „Der Begriff beinhaltet auch anti-christliche Voreingenommenheit und manifestiert sich in der schrittweisen Marginalisierung von Menschen mit christlichen Überzeugungen." Dabei beruft man sich auf die Kritik des europäischen Laizismus durch den jüdischen Völkerrechts-Professor Joseph Weiler oder den russisch-orthodoxen Bischof Hilarion Alfeyev
  • Die Gründung fand mit Unterstützung der deutschen Sektion des Vereins "Hilfe für die Kirche in Not" statt. Auch einige europäische Bischöfe wie Kardinal Schönborn (Wien), Kardinal Meisner (Köln) und Erzbischof Dziwisz (Krakau) unterstützten bisher die Initiative.
  • Aktuell ist Dr. Eduard Habsburg-Lothringen Vorsitzender des „Europa für Christus!“ e.V.
  • Problematik: Neben der Einladung, täglich für ein von christlichen Werten imprägniertes Europa ein "Vater unser" zu beten, und der Sensibilisierung z. B. durch Verbreitung des "Ictus"-Zeichens, erschien anfangs ein monatlicher Informationsbrief ("Europa-Brief", bis 2014) über aktuelle Themen und mit prominenten Autoren (Rocco Buttiglione, Otto von Habsburg, Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz).
  • Von Kritikern wird darauf hingewiesen, Gerl-Falkovitz sei "Schülerin von Romano Guardini". Guardini erscheint dabei als Vorkämpfer eines römisch-katholischen Europas auf der Basis der Wiederherstellung der Werte des mittelalterlichen „Sacrum Imperiums". Es ist unklar, ob diese Zusammenschreibung vom Kritiker R. Mondelaers (Humanistischer Pressedienst, 10. November 2008, https://hpd.de/node/5710) stammt, oder ob er sich dabei auf einen Text des Netzwerks bezieht. Tendenziell gehen die Texte des Netzwerks durchaus in diese Richtung. Und genau hier scheiden sich dann die Geister, denn - abgesehen davon, dass Gerl-Falkovitz nie Schülerin, sondern Biographin Guardinis war: Guardini war nie ein Vorkämpfer eines römisch-katholischen Europas. Und er dachte auch nicht an eine bloße "Wiederherstellung der Werte des mittelalterlichen "Sacrum Imperiums"".