Gegensätze

Aus Romano-Guardini-Handbuch
Version vom 29. August 2024, 14:18 Uhr von Helmut Zenz (Diskussion | Beiträge) (→‎Spannungseinheit)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)

Guardini kennt Gegensätze im Verhältnis von Gegensatzpaaren, die er in Gegensatzreihen und Gegensatzkreuzungen miteinander in Beziehung stehen.

Spannungseinheit

Guardini sieht für jedes Gegensatzpaar die Notwendigkeit, die Polarität in einer Spannungseinheit auszuhalten. Ausdrücklich unterscheidet er somit die Spannungseinheit von der Synthese oder einer Koinzidenz.

Kategoriale und transzendentale Gegensätze

Guardini unterscheidet dabei "oberste" kategoriale Gegensatzpaaren von "obersten" transzendentalen Gegensatzpaaren. Innerhalb der kategorialen Gegensatzpaare trifft Guardini außerdem die Unterscheidung zwischen intraempirischen und transempirischen Gegensatzpaaren.

Gegensatzreihe

Guardini bildet zwei Reihen:

intraempirische kategoriale Gegensatzpaare
  • Akt und Bau
    • Dynamik und Statik
  • Fülle und Form
  • Einzelheit und Ganzheit
transempirische kategoriale Gegensatzpaare
  • Produktion und Disposition
  • Ursprünglichkeit und Regel
  • Immanenz und Transzendenz
transzendentale Gegensatzpaare
  • Ähnlichkeit und Besonderung
  • Zusammenhang und Gliederung

Spannungseinheit

Jeder Pol kann für ein anderes Gegensatzpaar die Funktion der Spannungseinheit einnehmen. Entscheidend ist dabei lediglich, dass die Spannungseinheit für Guardini auf einer anderen Ebene eigenständig ist und die Wirkung der beiden anderen Polen in sich aufnimmt, ohne die Pole selbst aufzuheben. Dadurch kann es die Spannung der Pole aufrechterhalten. Dieses eigenständige Sein "auf anderer Ebene" als Spannungseinheit ist ein "Mehr", aber nicht im überordnenden Sinne, sondern aufgrund der gleichen Charakteristik eine gleichzeitig "andere", "zusätzliche" Rolle, Aufgabe, Funktion.

Der Primat eines über den anderen Gegensatz

Guardini kennt dabei innerhalb eines Gegensatzpaares auch einen Primat. Er entwickelt dieses Merkmal erstmals am "Primat des Logos über das Ethos". Dabei handelt es sich ausdrücklich um keinen absoluten, sondern um einen relativen Primat (Vorrang), also keinen Vorrang der Würde, des Wertes oder der Bedeutung, sondern lediglich einen Vorrang des Anfangs oder der Ordnung. Beschrieben hat er dies vor allem in seiner Schrift Vom Geist der Liturgie am Beispiel des Primats des Logos über das Ethos.

Probleme in der Übersetzung

Ein großes Problem bei Guardini-Übersetzungen ist es, dass in der Regel nicht die Rückübersetzbarkeit überprüft wird. Dies wird mitunter umso skuriler und verfremdender, wenn eine Übersetzung ins Englische nicht aus dem Deutschen direkt, sondern über das Italienische erfolgt.

  • 1a) Akt
    • italienisch: atto, mitunter auch fälschlich "attività" (Aktivität/Tätigkeit)
    • englisch: act
  • 1b) Bau
    • italienisch: fälschlich mit "struttura" wiedergegeben, die Bedeutung von Bau ist aber nicht "Struktur", sondern ist im Italienischen mit "costruzione" oder noch genauer mit "edificio" richtig übersetzt.
    • englisch: fälschlich mit "structure" wiedergegeben, die Bedeutung von Bau ist aber nicht "Struktur", sondern ist im Englischen mit "construction" oder noch genauer mit "building" richtig übersetzt.
  • 2a) Fülle
    • italienisch: pienezza, Sommavilla ergänzt pienezza informa, mitunter wird auch fälschlich mit "abbondanza" (Überfluß) "informe" (Unform, Unförmigkeit, Formlosigkeit) übersetzt.
    • englisch: fullness, mitunter wird auch nicht so treffend mit "abundence" (Überfluß) oder auch fälschlich "formlessness" (Formlosigkeit) übersetzt.
  • 2b) Form
    • italienisch: forma
    • englisch: form
  • 3a) Einzelheit
    • italienisch: singularità, nicht ganz treffend findet man auch "individualità", "partialità", "differenziazione", "particolarità"
    • englisch: singularity, nicht ganz treffend findet man auch individuality, partiality, differentiation, particularity
  • 3b) Ganzheit
    • italienisch: fälschlich mit "totalità" wiedergegeben, die Bedeutung von Ganzheit ist aber nicht "Totalität", sondern ist im Italienischen mit "tutto" richtig übersetzt.
    • englisch: whole, mitunter findet man nicht so treffend "entirety", oder wohl aus dem Italienischen übernommen fälschlich "totality"
  • 4a) Produktion
    • italienisch: produzione
    • englisch: production
  • 4b) Disposition:
    • italienisch: disposizione, bei der englischen Übersetzung von Borghesi heißt es fälschlich "provisione"
    • englisch: disposition
  • 5a) Ursprünglichkeit
    • italienisch: originalità
    • englisch: originality, mitunter finden sich auch "origination" (Herkunft, Entstehung) und fälschlich "spontaneity", da im Deutschen "Spontaneität" nicht gleich "Ursprünglichkeit" ist.
  • 5b) Regel
    • italienisch: regola, mitunter findet sich auch fälschlich "regulazione" oder "regularità", da im Deutschen "Regulierung" und Regularität nicht gleich Regel ist.
    • englisch: rule, mitunter findet sich auch fäschlich "regulation" oder "regularity", das im Deutschen "Regulierung" und "Regularität" nicht gleich Regel ist.
  • 6a) Immanenz
    • italienisch: immanenza
    • englisch: immanence, nicht nachvollziehbarer Weise findet sich mitunter auch die Übersetzung mit "Interiority", was im Deutschen aber nicht Immanenz, sondern Innerlichkeit bedeutet.
  • 6b) Transzendenz
    • italienisch: traszendenza
    • englisch: transcendence
  • 7a) Ähnlichkeit
    • italienisch: similarità, fälschlich mit affinità (Affinität) wiedergegeben;
    • englisch: similarity, fälschlich mit affinity (Affinität) oder "relatedness" (Verwandtschaft) wiedergegeben; in der deutschen Rückübersetzung der italienischen Borghesi-Übersetzung wird schließlich tatsächlich "Verwandtschaft" angegeben. Aber: "Ähnlichkeit" ist im Deutschen nicht gleich "Verwandtschaft"!
  • 7b) Besonderung
    • italienisch: pecularità, nicht ganz treffend mit "particularità" (Partikularität) oder "specialità" (Spezialität), "distinzione" (Abweichung, Unterscheidung), "differenza" (Unterschied), "differenziazione" (Unterscheidung)
    • englisch: pecularity, nicht ganz treffend mit "particularity" (Partikularität) oder "speciality" (Spezialität), "distinction" (Abweichung, Unterscheidung), difference (Unterschied), "differentiation" (Unterscheidung)
  • 8a) Zusammenhang
    • italienisch: am ehesten correlazione (Korrelation), contesto (Kontext), connezione (Verbindung) im Italienischen aufgrund der später von Guardini selbst gebildeten Verbindung mit "Einheit" allein mit "unità" (Einheit) wiedergegeben
    • englisch: am ehesten correlation (Korrelation), context (Kontext), connection (Verbindung) oder connectedness (Verbundenheit); im englischen fälschlich mit "unity" (Einheit) wiedergegeben; in der deutschen Rückübersetzung der italienischen Borghesi-Übersetzung wird schließlich tatsächlich nur noch "Einheit" angegeben. Aber: Zusammenhang ist im Deutschen nicht gleich Einheit!
  • 8b) Gliederung
    • italienisch: am ehesten subdivisione; der von Guardini in der Ausführung an Stelle von "Gliederung" gebrauchte Begriff "Mannigfaltigkeit" (Vielfalt) wird mit im Italienischen mit "moltiplicità" (Vielzahl) wiedergegeben, besser wäre aber diversità (Verschiedenheit/Vielfalt); im Italienischen findet man für Gliederung fälschlich auch "pluralità" (Pluralität) oder "singularità" (Einzigartigkeit);
    • englisch: am ehesten subdivision (Teilung); urpsrünglich "limbation" von "limb" Glied; der von Guardini in der Ausführung an Stelle von "Gliederung" gebrauchte Begriff "Mannigfaltigkeit" (Vielfalt) wird im Englischen mit "multiplicity" (Vielzahl), besser wäre aber "diversity" (Verschiedenheit/Vielfalt) wiedergegeben; im Englischen findet man für Gliederung fälschlich auch "plurality" (Pluralität) oder "singularity" (Einzigartigkeit); in der deutschen Rückübersetzung der italienischen Borghesi-Übersetzung wird schließlich tatsächlich nur noch "Vielheit" angegeben. Aber: Gliederung ist im Deutschen nicht gleich Vielheit!

Missverständnisse

Papst Franziskus hat im Anschluss an Romano Guardinis Gegensatzlehre vier Handlungsprinzipien bzw. -linien entwickelt, die er für den Aufbau geschwisterlicher, gerechter und friedlicher Gesellschaften vorgeschlagen hat:

  1. "Die Zeit ist mehr wert als der Raum"; "Il tempo è superiore allo spazio"; "Time is greater than space";
  2. "Die Einheit wiegt mehr als der Konflikt"; "L’unità prevale sul conflitto"; "Unity prevails over conflict";
  3. "Die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee"; "La realtà è più importante dell’idea"; "Realities are more important than ideas" (das Englische geht hier unnötigerweise in den Plural);
  4. "Das Ganze ist dem Teil übergeordnet." "Il tutto è superiore alla parte"; "The whole is greater than the part";

Zu bemängeln ist in den einzelnen Sprachausgaben die nicht stringente Übersetzung von "è superiore" (ist höher), die im Englischen mit "greater" (was aber "größer" meint), im Deutschen mal mit "mehr wert" und mal mit "übergeordnet" wiedergegeben wird; zu bemängeln ist außerdem die Vermischung von "mehr wiegen" mit "überwiegen".

Obwohl hier Papst Franziskus selbst hier nicht von Gegensätzen oder Polaritäten spricht und die Begriffe in einem Über- bzw. Unterordnungsverhältnis sieht ("mehr wert sein", "mehr wiegen", "wichtiger sein", "übergeordnet sein"), gibt es einige Interpretatoren, die Zeit und Raum, Einheit und Konflikt, Wirklichkeit und Idee, das Ganze und das Teil als polare Gegensätze (im Sinne Guardinis) deuten. Das Problem ergibt sich dann aber bei der Suche nach der Spannungseinheit. Dies wird besonders deutlich an der SpannungsEINHEIT von EINHEIT und Konflikt.

Gemäß Guardinis Gegensatzlehre können diese Begriffspaare von Papst Franziskus aber keine sich ergänzenden Gegensätze bzw. komplementäre Polaritäten sein, wenn sie sich durch ein "mehr" an Wert und Bedeutung ausdrücken, was einem absoluten Primat gleichkäme, und nicht nur als relativer Primat des Anfangs oder der Ordnung. Im Grunde werden hier von Papst Franziskus jeweils eine Spannungseinheit und einer der von ihr umspannten beiden Pole benannt. Vollständig müssten diese Gleichungen jeweils heißen:

  1. Die Gegensätze "Punkt" und "Raum" werden von der Spannungseinheit "Zeit" zusammengehalten, denn es gilt den richtigen Zeitpunkt (Beginn) als auch den richtigen Zeitraum (ausreichende Dauer) zu finden;
  2. Die Gegensätze "Kooperation" (Zusammenarbeit) und "Konflikt" (Auseinandersetzung) werden von der Spannungseinheit "Einheit" zusammengehalten, denn es gilt die Einheit sowohl in der Kooperation als auch im Konflikt aufrechtzuerhalten;
  3. Die Gegensätze "Idee" und "Werk" werden von der Spannungseinheit "Wirklichkeit" zusammen gehalten, denn die Wirklichkeitserkenntnis und die Wirklichkeitsgestalt bedingen einander;
  4. Die Gegensätze "Teil" (Fragment, Glied) und "Summe (Zusammenhang)" werden von der Spannungseinheit "Ganzheit" zusammengehalten, denn die Ganzheit ist einerseits im Teil (Fragment, Glied) enthalten, aber eben nur perspektivisch, während derjenige, die Teile nur zu einer "Summe" zusammenschließt, letztlich zwar einen Zusammenhangs erkennen kann, aber nicht das Ganze, das mehr ist als die Summe bzw. der Zusammenhang seiner Teile.

. Warum Papst Franziskus den Punkt, die Kooperation, das Werk und den Zusammenhang der Glieder "vernachlässigt", wird meines Erachtens in der Kennzeichnung von Raum, Konflikt, Idee und Teil nicht als Gegensatzpol zum jeweilig "höheren" Begriff, sondern klar sagt, dass es sich bei den gebildeten Sätze um Handlungsprinzipien oder -linien handelt. Tatsächlich ist es in der Handlung selbst "wichtiger",

  1. dass man sich genügend Zeit (Zeitraum) nimmt und weniger wichtig, am richtigen Ort (Raum) zur richtigen Zeit zu beginnen; denn Beginnen leichter ist als Vollenden;
  2. dass man sich im Konflikt der Einheit gewahr bleibt, was schwerer ist, als wenn man sich schon in der Kooperation befindet; zumal jede noch so gut gemeinte Kooperation nicht zur Einheit führt, wenn die Bereitschaft fehlt, Konflikte richtig auszutragen;
  3. weil sich der Mensch, was "Wirklichkeit" angeht, in der konkreten Verwirklichung gerne in einen Aktivismus und Technizismus flüchtet, der glaubt, ohne eine mühsame Klärung der zugrundeliegenden Ideen auskommen zu können;
  4. weil der Mensch die "Ganzheit" ohnehin gerne als großen, groben Zusammenhang darstellt und dabei die Liebe zum feinen Teil (Detail) außer Acht lässt.

Wenn Franziskus, wie aufgrund seiner intensiven Beschäftigung mit Guardini anzunehmen ist, die Gegensatzlehre Guardinis in ihrer Gestalt wahrgenommen hat, lag es ihm wohl fern, mit seinen vier Handlungsrichtlinien polare Gegensätze zu beschreiben, sondern wichtige handlungsleitende Begriffe so in Beziehung zu setzen, dass die Prioritäten in den Blick kommen, die dann als Spannungseinheiten die jeweiligen polaren Gegensätze auch wirklich in Spannung halten können.