Die Kirche erwacht in den Seelen
Anfang der zwanziger Jahre hat Romano Guardini im Rahmen seiner Phänomenologie der Kirche ("Vom Sinn der Kirche") eine seither vielfach aufgegriffene Formel gebraucht: "Ein religiöser Vorgang von unabsehbarer Tragweite hat eingesetzt: Die Kirche erwacht in den Seelen.“
Der Bezug
Er setzt damit einen katholischen Kontrapunkt zu einem im Umfeld des freideutsch-jugendbewegten und expressionistisch geprägten Aufbruchs im "Jahr der Seele" (Stefan George), im Rahmen dessen der Künstler Franz Marc die Formel "Die Mystik erwacht in den Seelen" geprägt hatte.
Der Kontext
Der Kontext des am Anfang stehenden "Paukenschlags" lautet: "Ein religiöser Vorgang von unabsehbarer Tragweite hat eingesetzt: Die Kirche erwacht in den Seelen. Das will recht verstanden sein. Vorhanden war sie stets, und allezeit hat sie für den Glaubenden Entscheidendes bedeutet. Er hat ihre Lehre aufgenommen und ihre Weisungen befolgt; ihr starkes Sein war ihm Halt und Zuversicht. Als aber die individualistische Entwickelung seit dem ausgehenden Mittelalter eine gewisse Höhe erreicht hatte, wurde die Kirche nicht mehr als Inhalt des eigentlichen religiösen Lebens empfunden. Der Gläubige lebte wohl in der Kirche und war von ihr geführt; er lebte aber immer weniger die Kirche. Das eigentliche religiöse Leben neigte immer mehr in den Bereich des Persönlichen. So wurde die Kirche als Grenzwert dieses Bereiches empfunden, vielleicht sogar als ein diesem Bereich Entgegengesetztes. Auf jeden Fall als ein Etwas, das dem Persönlichen und damit dem eigentlich Religiösen Schranken zog. Und je nach der Gesinnung des Einzelnen erschien diese objektive Regelung wohltätig, oder unvermeidlich, oder drückend" (Vom Sinn der Kirche/Die Kirche des Herrn, 1990, S. 19).
In einem seiner "Berichte über mein Leben" - entstanden in Mooshausen in den Jahren 1943 bis 1945 - erläutert er im Abstand von 35 Jahren dazu: "In der entscheidenden Zeit meines Lebens habe ich erkannt, daß die Kirche keine geistliche Aufsicht ist, der man möglichst viel Raum für das eigene Leben abzugewinnen sucht, sonst wäre ich meiner Wege gegangen. Es ist mir vielmehr klar geworden, daß sie das wesenhafte dritte Element in der Ordnung der Offenbarung verkörpert. Der Herr hat gesagt: »niemand kennt den Vater als der Sohn, und wem es der Sohn will offenbaren«. Der Sohn aber, Christus, steht nicht irgendwo im geschichtlichen Raum, sondern der Heilige Geist ist gesandt, uns »in alle Wahrheit einzuführen«. Das ist so wesentlich, daß wir nach den Worten des Apostels ohne Ihn nicht einmal das Bekenntniswort »Herr Jesus« zu sprechen vermögen. Der Geist wirkt aber nicht als freiströmende spirituelle Macht, sondern von einer geschichtlichen Instanz her, nämlich der Kirche. Das ist die Ordnung: Zum Vater kommt man nur durch Christus; Christus aber sieht man richtig nur in dem vom Heiligen Geist geordneten Raum der Kirche. Wie kann also derjenige, dem es um die Wahrheit zu tun ist, ein Privatunternehmen auftun wollen? Wäre das nicht lächerlich? Er wird die Kirche im Gegenteil so tief als möglich in sich aufnehmen. Es war daher nicht zufällig, daß die erste Schrift, mit der ich in die Fragen der Zeit eingriff, die »Vom Geist der Liturgie« war, welche den Gedanken des objektiv geordneten kirchlichen Gebetslebens entwickelte; und die zweite die »Vom Sinn der Kirche«, die mit dem Satz anfängt: »ein religiöser Vorgang von unabsehbarer Tragweite hat eingesetzt: die Kirche erwacht in den Seelen«. Allerdings ist Kirche nicht identisch mit einem einzelnen Teil ihrer Hierarchie, oder mit einer theologischen Schule, oder mit einer traditionellen Praxis. Sie ist mehr als das, und jedem Einzelmoment gegenüber ist der Rückgriff auf ihre Totalität und ihr Wesen offen. Ich weiß, das muß mit Vorsicht gesagt und getan werden, denn die Autorität wird aktuell im Konkreten, und der Gehorsam muß vor diesem geleistet werden. Trotzdem gibt es auch das unmittelbare Verhältnis zur Kirche in der Fülle ihres Wesens, und von ihm her wird es möglich, »in Zuversicht«, wie Paulus sagt, voranzugehen, wenn Einsicht und innerer Auftrag es fordern. Ich darf sagen, daß es mir immer um die Kirche zu tun war, auch wenn ich, um ihr zu dienen, allein gegangen bin" (Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, 1995, S. 113 f.).
Die Problematik
Guardini beschreibt also einen innerhalb der katholischen Lebensbewegung Vorgang, der die Kirche nicht mehr nur als äußerliche Autoritätsanstalt, sondern als innerliche Freiheitsinstanz wahrnimmt. Dies hat aber nichts mit dem soziologischen oder ästhetischen Zugehörigkeitsgefühl zu einer weltlichen Gemeinschaft neben anderen zu tun, sondern ist - wie auch andere "Größen", zum Beispiel "Europa" - eine Frage der Gesinnung und der Haltung. Guardini spricht also von der "Kirche in uns".
Gerade in letzten Jahren nimmt aber ein resignativer Verweis auf diesen Aphorismus wieder zu - wie auch schon in den fünfziger und nachkonziliaren Jahren, meist in sehr konservativen Kreisen. Dabei wird Guardinis Ausspruch als nicht eingetroffene, ja in ihr Gegenteil verkehrte, zu euphorische Prophetie gewertet, weil die geistliche Erneuerung der gesamten Kirche angeblich nicht gegriffen habe und die Entkirchlichung nicht gestoppt werden konnte. Dann verweist man in diesen konservativen Kreisen auf die Kirchenaustrittszahlen, auf die Säkularisierung und Politisierung des Verbandskatholizismus, auf den abnehmenden kirchlichen Gehorsam und die fehlende Treue zum Papst.
Man übersieht dabei, dass auch gerade noch nach dem Ersten Weltkrieg die geistliche Situation der katholischen Kirche alles andere als "rosig" war und gerade auch unter den katholischen Jugendlichen und den katholischen Akademikern außerkirchliche esoterische, freideutsche und expressionistische Kreise interessanter waren. Die Aussage und Auffassung spricht im damaligen Kontext also gerade nicht von einer kirchlichen charismatischen Erneuerung oder einer höheren Identifikation mit der römisch-katholischen Kirche als soziologische Größe, auch hat sie nichts mit einer größeren Konversionsbewegung zu tun - die es ja tatsächlich gab, die Guardini auch in den zwanziger Jahren begleitete, aber deutlich vorsichtiger sah als die Konvertiten wie Hildebrand, Stein, Ball, Haecker & Co selbst. Schon gar nicht aber war sie Ausdruck eines nach 1919 wieder zunehmenden katholisch-kirchlichen Triumphalismus oder Machiavellismus, Integralismus oder Klerikalismus, und auch nicht einer "katholischen Restauration", wie sie im damaligen religiösen und politischen Rechtskatholizismus aufkamen (Martin Spahn, Franz von Papen, usw.). Die von solchen Vorstellungen getragenen real-existierenden Kirchen, die noch im Ersten Weltkrieg als "Nationalkirchen" auf protestantischer wie katholischer Seite Krieg gegeneinander führten, hatten auch in der beginnenden Weimarer Republik kein Bild abgegeben, das Guardinis Diktum in diesem Sinne erklären hätte können.
Es wird heute oft nicht mehr wahrgenommen, dass Guardinis Antwort eben gleichermaßen mit Franz Marcs Rede vom Erwachen der Mystik in der Seele korrespondierte und Guardini damit die einseitige Betonung der Mystik im zeitgenössischen Expressionismus der Kunst-, Kultur- und Jugendbewegung "katholisch" - im ursprünglichen, nicht im konfessionalistischen Sinne - einholen und korrigieren wollte. Guardini hat bereits 1916 in seinem Aufsatz über die Bedeutung des Dogmas der Trinität für das Gemeinschaftsleben klar gesagt, der dreifaltige Gott, Christus als wahrer Mensch und wahrer Gott sei die einzige Gewähr dafür, dass "in uns" ein "heiliger Ring" um unsere Person liegt, den niemand zerstören darf, den nicht einmal der Mensch selbst aufgeben darf. Wenn als "Würde", "Freiheit" und "Autonomie" der Person für Guardini unabwendbar notwendig "in uns erwacht" ist, zeigt er mit seinem Diktum vom Erwachen der Kirche in der Seele an, dass zu dieser Innerlichkeit und Einsamkeit auch wahre Gemeinsamkeit, wahre Gemeinschaft, wahre Kirche und wahrer Staat gehören. Beides Vorstellungen entwickelte er bereits 1916 in seinem Aufsatz "Zum Begriff der sittlichen Freiheit", eben seiner Vorstellung einer Polarität von "Oben" (Hoheit und Autorität) und "Innen" (Freiheit und Selbstgehörigkeit) im Rahmen seiner Gegensatzlehre entwickelt wurde. Diese Vorstellung ist auch bereits mit seiner schon 1916 geäußerten Auffassung, dass jegliche sinnvolle Rede von Persönlichkeit und Gemeinschaft im trinitarischen Dogma als "Spurbild" grundgelegt - im Aufsatz "Die Bedeutung des Dogmas vom dreieinigen Gott für das sittliche Leben der Gemeinschaft" - oder wie er es dann in der Anfang der zwanziger Jahre überarbeiteten und 1925 neu erschienenen Gegensatzlehre ausdrückt: "Einzelpersonen und Gemeinschaftsknüpfung sind selbst unvollkommene endlich-geschöpfliche Eben-Bildung des eigentlichen, des göttlichen Personal-Verhältnisses, wie es sich in Christus offenbart, und durch die Kirche im Dogma von der Einheit der göttlichen Natur und Dreiheit der heiligsten Personen gefaßt wird." (Der Gegensatz, (4)1998, S. 114)
Die Aussage gehört außerdem mit seiner Vorstellung auch vom "Staat in uns" (Briefe über Selbstbildung) zusammen. Sie ist äquivalent mit der Aussage von der "Kirche in uns". So wie in der Theonomie Gottes sowohl das "Oben" der Offenbarung und des Dogmas uns in gottgestifteten und gottgewollter Kirche und ebensolchem Staat entgegentritt, so sind diese auch in unserem "Innen" grundgelegt. Dass die Aussage in die damals Anfang der zwanziger Jahre aufflammende Diskussion um die Kirche als Rechts- und Machtkirche einerseits (unter anderen Carl Schmitt, Hans Barion) und als Gerechtigkeits- und Liebeskirche andererseits (unter anderen Ernst Michel, Joseph Wittig) hineingehört, in die Diskussion um Selbst- und Fremdzuschreibungen der Kirche als "complexio oppositorum" oder "coincidentia oppositorum", sieht heute ebenfalls kaum mehr jemand. In diesen Auseinandersetzungen wird aus Sicht Guardinis die Heteronomie- und Autonomie-Diskussion auf einer falschen Ebene und unter falschen Polaritäten geführt, nämlich unter eine Kirche "von außen" versus eine Kirche "von innen" und einer Kirche "von oben" versus einer Kirche "von unten" - vgl. dazu vor allem auch den 1920 erschienenen Aufsatz "Universalität und Synkretismus", in dem er sich mit Friedrich Heiler auseinandersetzt. An diesen Kirche missverstehenden Kategorisierungen hat sich bekanntlich auch bis heute nicht viel geändert, wenn man sich allein die Redeweisen von "Amtskirche" versus "Volkskirche"/"Basiskirche" anschaut.
Genau darin hält Guardini seine Polarität von "Oben und Innen" gegenüber den Polaritäten "Innen und Außen" und "Oben und Unten" überlegen und gerade deshalb wäre es für ihn auch Unfug, wenn einer Kirche "von oben" (die lediglich eine Kirche "von außen" meint und absurderweise "Amtskirche" genannt wird) eine Kirche "von unten" entgegengestellt wird. Wer "unten" und "außen" einander gegenüberstellt, gibt Kirche und Staat, aber auch die Würde der Person automatisch dem Säkularismus und der Verweltlichung preis. Und ebenso absurd ist es, die real-existierende(n) Kirche(n), auch die römisch-katholische (Guardinis Begriff "katholisch" seiner Weltanschauungslehre entspricht bekanntlich dem griechischen "katholikos") so mit der Seele zu verknüpfen, dass wenn sich Gläubige von diesen äußerlichen Erscheinungen zunehmend distanzieren, automatisch auch gleich "die" Kirche "in den Seelen" stirbt. Die Verfremdung und Entkontextualisierung des Aphorismus geschieht bis in höchste Kirchenkreise hinein und macht also selbst vor Gegenüberstellungen nicht halt, die Guardini so nie gemacht hätte, auch eine Gegenüberstellung des Satzes "Die Kirche erwacht in den Seelen" und des Satzes "Die Kirche stirbt in vielen Seelen". Dabei wird weder der Nachweis geführt, dass die Kirche, von der Guardini Anfang der zwanziger Jahre sprach, in den Seelen der Menschen von heute "stirbt", noch, wenn schon angeblich eine "Kirche" in den Seelen stirbt, welche "Kirche" das ist.
Guardini sieht hingegen eine lebendig-konkrete Polarität und THEONOME Spannungseinheit einer offenbarungstheologisch begründeten, aber nicht exoterischen "Kirche von oben" und mystisch-spirituell begründeten, aber nicht esoterischen "Kirche von innen". In dieser Spannungseinheit stehen echte Heteronomie (Guardini spricht später von Allonomie) und echter Autonomie notwendig aufeinander bezogen gegenüber. Extreme Autonomie führt in subjektivistische Esoterik (pluralistischer Anarchismus), extreme Heteronomie in objektivistische Exoterik (integralistischer Absolutismus).
Es ist also vor allem eine philosophisch-phänomenologische und katholisch-weltanschauliche Aussage und keine charismatisch-evangelisierende oder soziologisch-manifestierende Äußerung. Und als solche ist sie weder als damals prophetische und aus heutiger Sicht unerfüllte Hoffnung noch als (kirchen-)politische Fehleinschätzung zu werten, sondern ist auch eine heute für die "Nach-Neuzeit" noch gültige Aussage. Denn im von Guardini gemeinten Sinne ist gerade auch heute noch die "in der Seele erwachte" Kirche "von innen" das unter den Gläubigen vorherrschende Kirchenbild. Dass heute - wie damals - die "Kirche von oben", die Guardini gleichermaßen betonte, nicht mehr gegenwärtig ist und nur noch als "Kirche von außen" empfunden wird, stellt die eigentliche Gefahr für die katholische Kirche als lebendig-konkrete Einheit dar, zumal die Wahrnehmung im säkularen und medialen Umfeld als Organisation "von außen" ja noch mehr zunimmt und somit die "Kirche von innen" bei den Gläubigen ein weiteres Mal - ein erstes Mal geschah dies im Zuge der "New Age"-Bewegung - ins bloß Esoterische abzudriften droht, und dies im Übrigen sowohl innerkirchlich und am Rande der Kirche, als auch bei bereits durch Austritt außerhalb der Institution stehenden katholisch getauften Christen.
Guardini hat damals versucht, die Attraktivität außerkirchlicher Freiheits- und Gemeinschaftsbewegungen ("Sehnsucht nach Gemeinschaft" hat Alois Baumgartner seine Studie darüber genannt) innerhalb der verschiedenen expressionistischen Bewegungen seiner Zeit gerade auch für katholische Jugendliche, Werktätige, Studenten und Akademiker so in die Kirche hineinzunehmen, dass eine Spannungseinheit "zwischen weltaufgeschlossener Weltbewältigung und weltverschließender Weltüberwindung" (Przywara, 1924) entstehen konnte. Bereits Ende der zwanziger Jahre haben bestimmte Kreise im deutschen Katholizismus Guardinis Versuch gegenüber den eigenen missionarisch-katechistisch-integralen Evangelisierungsmodellen als gescheitert angesehen. Guardini hatte aber gar keine Evangelisierungsabsichten und schon gar keine integralistischen. Guardinis Anliegen ging allein auf die Implementierung der Selbst-Bildung - Bildung dabei verstanden als Entdecken des eigenen Bildes in sich. Er hatte also Anfang der zwanziger Jahre das Gefühl, dass in katholischen (im umfassenden Sinne) Menschen, insbesondere in jugend- und liturgiebewegten Kreisen, das Bewusstsein gestiegen ist, dass ebenso wie die Würde der Person auch die Würde von Kirche und Staat in unserem Innersten von Gott her grundgelegt ist.
Beispiele für falsche Kontextualisierungen
- Bischof Ipolt am 4. September 2022: „Immer wieder spricht Papst Franziskus von der neuen Evangelisierung“ - https://www.kath.net/news/79410: "Vor 100 Jahren, im Jahre 1922 nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs, hat der bekannte Priester und theologische Lehrer Romano Guardini den Satz geprägt: „Ein religiöser Vorgang von unabsehbarer Tragweite hat eingesetzt: Die Kirche erwacht in den Seelen.“ Das war eine Zeit des Aufbruchs – Zeit der Jugendbewegung, der liturgische Bewegung usw. Einen solchen Satz würde wohl so heute niemand wiederholen! Angesichts der vielen negativen Nachrichten in den Medien über unsere Kirche sind wir heute manchmal eher beschämt, zur Kirche zu gehören."