Krise
Krise ist für Guardini die Umbruchsphase von alter Gestalt zu neuer Gestalt, in der beide Gestalten kämpfen, die erste ums Überleben, die zweite um durchzubrechen. Dabei genügt es nicht nur, das Beunruhigende und Verstörte zu sehen, sondern es auf den Kernpunkt der Auseinandersetzung zurückzuführen. Die Fehlentwicklung der alten Gestalt muss bereits so stark ans Licht getreten sein, dass sie in diesem Kernpunkt erkannt und somit mit der Überwindung begonnen werden kann. Solange bei der Realisierung der bisherigen Gestalt alles "glatt" geht, wenn auch auf Kosten der Konkretheit und Lebendigkeit im Vollzug, sehen erste "Wächter" Beunruhigendes und Verstörendes. Es kommt aber noch nicht zur Krise. Erst wenn im Bereich des eigentlichen Vollzugs, die bisherige Gestalt nicht mehr in lebendiger Weise realisiert werden kann, tritt die Krise ein. Sollte ein Verlebendigung, eine Erneuerung oder eine Metanoia nicht gelingen, bedeutet dies aber nach Guardini ausdrücklich nicht, dass die bisherige Gestalt (Epoche, usw.) als solche schon "Abfall" oder "Verfall" sei. Für Christen liegt ein Ausweg aus der jeweiligen Krise nach Guardini in der Rückbesinnung auf das in der Offenbarung grundgelegte Bild vom Menschen und somit die "Wiederentdeckung des `ganzen´ Menschen".
Die persönliche Glaubens- und Lebenskrise Guardinis im Jahr 1905
wird noch ausgeführt (siehe einstweilen das Kapitel III [Student in der Krise: Hochschuldidaktik - Die Stadt und die Studenten - Die religiöse Krise - Das Ehepaar Schleußner], in: Berichte über mein Leben, in: Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, S. 63-67)
Liturgische Krise
Guardini erinnert sich dabei an einen seiner ersten Verwendungen des Begriffs gegenüber Abt Ildefons Herwegen von Maria Laach: "Im Anschluß an vorausgegangene Überlegungen meinte ich, ein Zeichen dafür, daß die liturgische Arbeit ins Lebendige gehe, werde die "liturgische Krise" sein, und Abt Herwegen stimmte nachdenklich zu. Solange die liturgischen Handlungen nur objektiv "zelebriert", die Texte nur lesend "persolviert" werden, geht alles glatt, weil nichts in den Bereich des eigentlichen religiösen Vollzugs kommt. Sobald aber der Vorgang den Ernst des Gebetes gewinnt, zeigt sich, was in lebendiger Weise nicht mehr realisiert werden kann."
Epochale Krisen
- Renaissance: Übergang vom Spät-Mittelalter zur Früh-Neuzeit
- Renaissance der Renaissance: Übergang von der Spät-Neuzeit zur Nach-Neuzeit (zukünftiges Mittelalter)
Zitate
- "»Krise« bedeutet aber immer Entscheidung zwischen negativen und positiven Möglichkeiten, und die wesentliche Frage besteht darin, wie diese Entscheidung fällt. Entsteht angesichts dieser Krise der Eindruck, daß die Gefahren des Negativen, des Unrechts und der Zerstörung aufs höchste ansteigen, so ist das nur dem Grade, nicht dem Wesen nach etwas Neues. Sie liegen im Menschen einfachhin, nicht nur in dem der kommenden Zeit; und die richtige Stellungnahme kann nur die sein, die gegebene Situation anzunehmen und sie, gestützt auf die reinsten Kräfte des Geistes und der Gnade, von innen heraus zu bewältigen. Sollte das mißlingen, dann bedeutet das nicht, unsere Epoche sei als solche schon Abfall und Verfall, sondern es wird offenbar, daß der Mensch zu jeder Zeit im Abfall und Verfall steht und der Erlösung bedarf, was aber in bestimmten Zeiten und durch bestimmte Umstände mehr verhüllt sein kann als in anderen." (Das Ende der Neuzeit/Die Macht, S. 136 f.)
- »Am Wort ›Krise‹ ist großer Verbrauch. […] Nur muss man das Wort in seinem vollen Sinn nehmen. Dann meint es nämlich ein Doppeltes: Einmal, dass die Dinge nicht mehr stimmen, der Zustand auf ein Unheil zugeht. Andererseits aber auch, dass darin schon lang wirkende Fehler ans Licht treten; sie also erkannt werden können und mit der Überwindung begonnen werden kann.« (Romano Guardini, Ethik, S. 1041)
- »›Krise‹ aber bedeutet in diesem Zusammenhang, daß der heutige Mensch leichter im Stande ist als der frühere, diesen Sachverhalt zu erkennen. Bis an den ersten Krieg heran war die Sicherheit des autonom gesetzten Daseins so groß; das Hochgefühl der vollbrachten Leistungen so stark; die Empfindung, überall in unendlichen Möglichkeiten zu stehen, so elementar, daß immer nur Einzelne gesehen haben, die Dinge seien in einem entscheidenden Sinn in Unordnung: Burckhardt, Nietzsche, Marx. Sie haben das Beunruhigende und Verstörte gesehen, es aber nicht auf den Kernpunkt zurückgeführt.« (Romano Guardini, Ethik, S. 1077)
- »Wir erinnern uns, worin das Wesen jener besonderen Beunruhigungen bestand, die wir mit dem Wort "Krise" bezeichnet haben. Während eine Lebensgestalt noch in Kraft war, aber ausgelebt wurde, drängte eine andere vor und brachte sich zur Geltung. Die Abfolge der Phasen geht ja nicht so vor sich, daß die eine mit glattem Schnitt zu Ende ginge, während die nächste als Ganzes neu ansetzte. Diese bereitet sich vielmehr schon früher vor, als sie zur Herrschaft gelangt, ebenso wie die zu Ende gehende länger in Gestalt und Wirkung bleibt, als ihre Maßgeblichkeit dauert. Anderseits geht der Übergang aber auch nicht so vor sich, daß die erste Lebensphase sich allmählich in die folgende umwandelte, sondern jede der beiden behauptet sich als Gestalt. Daher muß die neue sich im Bereich der alten durchsetzen, und ruft eben jene Spannungen und Durchkreuzungen hervor, die wir als Krise bezeichnen.« (Romano Guardini, Die Lebensalter, in: Gläubiges Dasein / Die Annahme seiner selbst, S. 160)
Kritik der Kritik
- Joachim Reber schreibt: "Statt des Ausdrucks "Beunruhigung" verwendet Guardini häufig den stärkeren Begriff "Krise"." (Die Welt des Christen, 1999, S. 89). Dagegen ist einzuwenden, dass Guardini die Begriffe sehr wohl unterscheidet und somit unterschiedlichen Situationen zuordnet. Die Wahrnehmung des Beunruhigenden bedeutet bei Guardini noch nicht automatisch oder zwangsläufig die Konstatierung einer "Krise"-Situation.