Henry Kissinger

Aus Romano-Guardini-Handbuch

Henry Alfred Kissinger (1923-2023) war ein US-amerikanischer Politikwissenschaftler und ehemaliger Politiker der Republikanischen Partei.

Biographie

  • deutsch-jüdische Eltern
  • Kindheit und Jugend in Fürth
  • 1938 Emigration mit den Eltern in die Vereinigten Staaten von Amerika. Er lebte zunächst in New York City, im damals deutsch-jüdisch geprägten Ortsteil Washington Heights von Manhattan.
  • Schulzeit auf der George Washington High School.
  • 19. Juni 1943 amerikanische Staatsbürgerschaft, nachdem er im selben Jahr zum Militärdienst eingezogen worden war. Im Ausbildungslager Camp Claiborne (Louisiana) lernte er den ebenfalls aus Deutschland emigrierten Juristen und Politologen Fritz G. A. Kraemer kennen, der ihn nachhaltig sein Denken beeinflusst habe. Der Zweite Weltkrieg brachte beide 1944 als Soldaten nach Deutschland zurück.
  • Nach Kriegsende blieb Kissinger in Deutschland und arbeitete zunächst von Mitte 1945 bis April 1946 in der amerikanischen Besatzungszone beim Counter Intelligence Corps in Bensheim (Hessen), dann war er als Dozent für die „European Command Intelligence School“ in Oberursel (Taunus) und/oder Oberammergau. Theoretisch könnte Kissinger in dieser Zeit Guardini kennengelernt oder zumindest als führende geistige Persönlichkeit wahrgenommen haben.
  • 1947 Rückkehr in die Vereinigten Staaten.
  • 1947 Studium der Politikwissenschaft am Harvard College
  • 1950 BA Degree Summa Cum Laude am Harvard College
  • 1952 und 1954 PhD Degrees an der Harvard University mit einer Dissertation unter dem Titel „A World Restored: Metternich, Castlereagh and the Problem of Peace 1812-1822“ (dt. „Großmachtdiplomatie. Von der Staatskunst Castlereaghs und Metternichs, Düsseldorf 1962), die große Beachtung fand.
  • 1954 (zum Zeitpunkt des Briefes von Guardini): Leitung der Sommeruniversität "Harvard International Seminar" an der Harvard University (bis 1971). Er gehörte dabei der Fakultät an, sowohl im Department of Government als auch im Center for International Affairs.
  • 1954 Arbeit über die Frage nach der militärischen Herausforderung der USA durch die Sowjetunion („Nuclear Weapons and Foreign Policy“; dt. „Kernwaffen und auswärtige Politik“, München 1959)
  • 1957-1960 Associate Direktor des Centers for International Affairs, als solcher Berater des New Yorker Gouverneurs Nelson Rockefeller
  • 1958-1971 Direktor des Harvard Defense Studies Program, ab 1962 als Professor, davon bis 1965 mit vollem, dann mit reduziertem Lehrdeputat, 1969-1971 mit überwiegenden Abwesenheiten; in dieser Funktion aber bereits Berater der amerikanischen Präsidenten Kennedy und Johnson in außenpolitischen, Sicherheits- und Abrüstungsfragen.
  • 1969-1975 Assistant to the President for National Security Affairs (Leiter des nationalen Sicherheitsrates unter Präsident Richard Nixon).
  • 1973-1977 56. Secretary of State of the United States (Außenminister der Vereinigten Staaten),zunächst noch unter Nixon, dann unter Präsident Gerald Rudolph Ford
  • 1973 Friedensnobelpreis gemeinsam mit dem vietnamesischen Politiker Le Duc Tho für ihre gemeinsamen Friedensbemühungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Vietnam. Die beiden hatten ein Waffenstillstands- und Abzugsabkommen für Nordvietnam ausgehandelt.
  • 1977-1981 Direktor der amerikanischen Denkfabrik „Council on Foreign Relations“
  • 1982 Ruhestand, in diesem aber Tätigkeit für die eigene Beratungsfirma „Kissinger Associates“.

Romano Guardini und Henry Kissinger

1954 schreibt Guardini außerdem einen "Brief eines Deutschen an einen Amerikaner", nämlich an den frisch promovierten Dr. phil. Heinz Alfred Kissinger, genannt Henry Kissinger.

Historischer Kontext

Das Typoskript R2 auf R3 trägt das Datum vom 9. Februar 1954. Offensichtlich hatte Kissinger schließlich aufgrund des anvisierten Erscheinungstermins am 16. Februar 1954 einen weiteren Brief an Guardini betreffend des Beitrages geschrieben (Bayerische Staatsbibliothek Ana 342, B21/02-019-1). Denn Guardini schrieb am 23. März 1954 sowohl an Kissinger als auch an Hans Egon Holthusen, der wohl eine vermittelnde Rolle hatte, eine Absage (B21/02-019-2 und B21/02-019-3). Daher hatte er den Beitrag zwar wohl angefangen, aber noch nicht für "druckreif" erachtet und eventuell später an George N. Shuster geschickt. Er wurde aber wohl weder in Deutschland noch in den Vereinigten Staaten gedruckt.

Die Vermutung von Felix Messerschmid, der Brief Guardinis an Kissinger "Über Loyalität" sei wohl "aus der in der damaligen Lage gebotenen politischen Diskretion vom Verfasser nicht veröffentlicht" worden (Felix Messerschmid (Hrsg.): Manuskripte aus dem Nachlaß, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Stuttgart, 21, 1970, S. 709) hinfällig, da der Beitrag vermutlich gar nicht an Henry Kissinger abgeschickt wurde.

Messerschmid selbst äußerte sich am 31. Januar 1973 noch einmal gegenüber Prof. Schäfers (BSB, B 4-2-39) genauer. Offensichtlich hatte er selbst nach der Veröffentlichung noch weitere Informationen bekommen. Demnach habe dem mit Guardini bekannten, fast befreundeten Hochkommissar für die amerikanische Besatzungszone in München, George N. Shuster viel daran gelegen, "seinen amerikanischen Landsleuten etwas von deutscher Mentalität begreiflich zu machen." Daher habe er Henry Kissinger, der nach der Kapitulation öfter in Bayern eingesetzt war, dazu veranlaßt, "Guardini um eine Darstellung dieser oder ähnlicher Thematik zu bitten." Messerschmid betont, dass der Brief nur in Amerika veröffentlicht werden sollte, und es ihm und der Sekretärin Guardinis auch 1973 noch nicht gelungen sei, "festzustellen, ob und wo das geschehen ist." Messerschmid hatte zwar einen Briefwechsel von 1954 zwar in die Bayerische Staatsbibliothek abgegeben, aber zuvor offensichtlich nicht gelesen, da er auch im Nachlass "keine Anhaltspunkte dafür" gefunden habe. Auch seine Nachforschungen in Amerika selbst blieben ohne Ergebnis. Guardini habe ihm aber erzählt, "daß Mr. Shuster für den Brief sehr dankbar war. Guardini hatte den Eindruck, er habe dazu geholfen, daß die Amerikaner deutsches Bewußtsein besser verstanden."

Allerdings könnte es auch sein, dass er aus zeitlichen Gründen zwar in die Hände von Shuster und vielleicht auch Kissinger gelangte, aber nicht gedruckt wurde. Denn das 1952 von Kissinger begründete vierteljährliche Magazin „Confluence“ (Walter Isaacson: Kissinger. A Biography, New York u.a. 1992, Four: Harvard. The Ambitious Student, 1947-1955, S. 59) enthielt eine Reihe von Artikel über Loyalität, die wiederum ihren Ursprung in einem schriftlichen „Symposium on the ethics of loyalty“ zu haben scheinen (siehe: https://books.google.de/books?id=YOMdAAAAMAAJ). Dazu tragen in mehrere Nummern des Jahrgangs 1954 aufgeteilt aus dem deutschen Sprachraum Ernst Jünger, Karl Jaspers, Ernst von Salamon, Carl J. Friedrich und Hans Rothfels bei.

  • Ernst Jünger („The retreat into the forest“, in: Confluence, 3, 1954, S. 127-142)
  • Richard Crossman (“The ethics of loyalty”, in: Confluence, 3, 1954, S. 143-154)
  • Sidney Hook (“Security and freedom”, in: Confluence, 3, 1954, S. 155-)
  • Karl Jaspers (“The fight against totalitarism”, in: Confluence, 3, 1954, S. 251-266)
  • Enzo Enriques Agnotelli („Is loyalty national or universal“, in: Confluence, 3, 1954, S. 267-279)
  • Raymond Aron („On treason“, in: Confluence, 3, 1954, S.280-294)
  • Ernst von Salomon (“The silent revolt”, in: Confluence, 3, 1954, S. 295-306)
  • Carl. J. Friedrich („Loyalty and authoriy“, in: Confluence, 3, 1954, S. 307-316)
  • William H. Whyte, Jr. (“Individualism in suburbia”, in: Confluence, 3, 1954, S. 317-329)
  • Robert K. Carr („Congressional Investigating Committees and the control of subversive activity“, in: Confluence, 3, 1954, S. 330-341)
  • Russell Kirk („Conformity and legislative committees, in: Confluence, 3, 1954, S. 342-354
  • Hans Rothfels (“Psychological and moral problems of the german opposition to Hitler”, in: Confluence, 3, 1954, S. 423)
  • Jules Monnerot (“Intellectual nihilism and the crisis of authority”, in: Conflulence, 3, 1954, S. 434-445)
  • Bernard Crick (“Can there be an american totalitarianism?”, in: Confluence, 3, 1954, S. 446-462)
  • Albert A. Mavrinac (“Congressional investigation”, in: Confluence, 3, 1954, S. 463-479)
  • Reinhold Niebuhr („The ethics of loyalty (A summery)“, in: Confluence, 3, 1954, Dezember, S. 480-489)

Da die Beiträge ja auch noch übersetzt werden mussten und im Laufe des Jahres 1954 alle erscheinen sollten (und die anderen auch erschienen sind), wäre Guardinis Beitrag einfach zu spät gekommen. Jedenfalls wurde der Beitrag, trotz der Kritik eines Leserbriefes an der Abwesenheit des christlichen Standpunkts (siehe Confluence, 4, 1955, S. 119), nicht in der Zeitschrift "Confluence" gedruckt.

Bislang konnten auch für die Zeit nach 1954 keine weiteren Kontakte zu Romano Guardini aufgefunden werden.

1970 Posthume Veröffentlichung

Messerschmid hat es dann in der von ihm mitverantworteten Zeitschrift Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 1970 posthum drucken lassen:

Inhalt

Zugrunde liegt also eine Anfrage Kissingers, "wie wir in Deutschland das Problem der Loyalität empfinden - unter besonderer Rücksicht auf die Erfahrungen, die wir während der Diktatur wie auch der Besatzung gemacht haben" (S. 722).

Nachdem Guardini einiges über die grundsätzliche Schwierigkeit der Völkerverständigung geschrieben hatte, berichtete er von seiner aktuellen Lektüre des Buches von Alan Bullock über Hitler (Hitler. A Study in Tyranny, übers. Von W. und M. Pferdekamp, 1953) und beklagte dabei die Reduktion der historischen Wirklichkeit, wie wenn man einen menschlichen Vorgang nur aus dem physiologisch-biologischen heraus verstehen wollte und nicht auch die psychologischen und spirituellen Elemente mit einbezöge (S. 722f.). Guardini übertrugt dies nun grundsätzlich auf die Wahrnehmung der "phantastisch-metaphysisch-mythischen" Europäer, insbesondere der Deutschen durch die "nüchtern-einfach-plausiblen" Amerikaner und versucht diese "zusätzliche" Dimension der europäisch-deutschen Weltanschauung positiv in Geltung zu bringen. (S. 723f.) Umgekehrt sieht er in Amerika die "Initiative und Sicherheit des täglich-praktischen Menschenverständnissen" viel weiter entwickelt als in Deutschland, was hier immer noch zu einem "Bedürfnis nach autoritärer Ordnung und Entscheidung" führt, zu einer "großen Bedeutung des Beamten, der Behörde, der Staatsapparatur" (S. 724). Daher gebe es auch nicht "Loyalität" im amerikanischen Sinn als "Haltung, aus welcher das hervorgeht, was neben dem Gefühl der persönlichen Freiheit den demokratischen Geist bestimmt: das Gegengefühl, jedem Einzelnen wie dem Ganzen verantwortlich zu sein" (S. 724).

  • "Der Deutsche versteht unter Freiheit die Originalität des Gedankens; die Ursprünglichkeit der inneren Welt. Daher nimmt er von vornherein gar nicht an, dass der andere mit ihm übereinstimme; so entsteht die Isolierung nach innen. Andererseits wird um so stärker die autoritäre Ordnung von oben herunter." (S. 725)

In diesem Sinn spreche der Deutsche auch weniger von "Loyalität" und vielmehr von "Treue", mit geradezu metaphysischem Gewicht. Nietzsche habe nun die deutsche Eigenschaft überspitzt, dass diese Treue nur "um einer höheren Sache willen" und "mit schlechtem Gewissen" verraten werden dürfe (S. 725).

  • "Hier verstehen Sie das Verhalten so vieler deutscher Soldaten gegenüber Hitler. An sich wäre es richtig, vernünftig und, im Grunde, selbstverständlich gewesen, nachdem der verbrecherische Charakter des Regimes erkannt war, sich von ihm loszusagen. Im Deutschen war aber trotz aller Kritik im einzelnen eine Bindung zur nationalsozialistischen Führung entstanden, über die er nicht hinwegkam. Das ist es, was sich in dem Satz: `Befehl ist Befehl´ ausdrückt. Nicht Dummheit, nicht Gewissenlosigkeit, sondern ein Gefühl von Bindung an einer Stelle, wo es nicht hingehörte" (S. 725).

Diese seelisch-metaphysisch-mystische Bindung aufzubauen, sei letztlich nur dem deutschen Nationalsozialismus gelungen, nicht jedoch dem italienischen Faschismus, obwohl dieser es durchaus auch versucht hatte, "eine `faschistische Mystik´ zu schaffen" (S. 726).

  • "Wahrscheinlich wird kein Amerikaner noch Engländer eine Vorstellung von den inneren Kämpfen haben, welche die Revolutionäre des 20. Juli durchzumachen hatten, bevor sie zu ihrem Entschluß kamen" (S. 726).

Diese "Treue" wurde durchaus der neuen Obrigkeit, den Besatzungsmächten entgegengebracht, bei aller Kritik an deren Anspruch, ein Volk mit dieser Kulturtradition "umerziehen" zu wollen (S. 726).

Sekundärbibliographie