Titeleien
Unter Titelei wird die Überschrift über einen Text (in unserem Fall Guardinis) genannt, die nicht vom Autor stammt und auch nicht von ihm autorisiert ist. Guardini hat sich schon Zeit seines Lebens gegen solche Veränderungen seiner Texte durch Neukontextualisierung und -akzentuierung mit Hilfe von neuen Titeln verwahrt und gewährt. Seit seinem Tod kommt dies - mangels Gegenwehr - natürlich noch häufiger vor. Nachfolgend werden aktuelle Beispiele solcher Guardini-Nachdrucke unter neuem Titel vorgestellt. Die jüngsten Beispiele werden vorangestellt:
"Eine widerchristliche Lebensform, die normal erscheint"
- Die Ausgabe 3-4/2022 der Zeitschrift "VISION 2000" hat unter dem Schwerpunktthema "Christus verkünden gelegen - ungelegen" einen Auszug aus dem Buch "Das Ende der Neuzeit" von 1950 unter dem Titel "Eine widerchristliche Lebensform, die normal erscheint" abgedruckt (siehe: http://www.vision2000.at/?nr=2022/3&id=4010, nachgedruckt auch bei Kath.net: https://www.kath.net/news/78625). * Eingeleitet wird der Text mit dem Satz "Hellwache Beobachter wie der große Theologe Romano Guardini (1885-1968) erkannten schon in der Mittel des 20. Jahrhunderts die sich abzeichnenden Folgen der totalen Verweltlichung des Lebens und deren schwerwiegende Auswirkungen auf das Glaubensleben." In kath.net wird dem zusätzlich noch vorangestellt: "Auf der einen Seite ein von direkten christlichen Einflüssen abgelöstes autonomes Weltdasein, auf der anderen Seite eine Christlichkeit, die in einer eigentümlichen Weise diese „Autonomie" nachahmt - Gedanken von Romano Guardini / VISION 2000"
- In dem abgedruckten Passus steht auch der Satz "So bildet sich eine nichtchristliche, vielfach widerchristliche Lebensform heraus. Sie setzt sich so konsequent durch, dass sie als das Normale einfachhin erscheint, und die Forderung, das Leben müsse von der Offenbarung her bestimmt werden, den Charakter kirchlichen Übergriffs bekommt." Dieser Satz wird dann auch den Titel hin verkürzt zu: "eine widerchristliche Lebensform, die normal erscheint".
- aus "nichtchristliche, vielfach widerchristliche Lebensform" wird "widerchristliche Lebensform"
- aus "Lebensform", die "sich so konsequent" durchsetzt, "dass sie als das Normale einfachhin erscheint" wird "Lebensform, die normal erscheint".
- Problematisch ist dabei:
- Guardini spricht hier vom "neuzeitlichen Menschen", der nicht nur den Glauben an die christliche Offenbarung verliert, sondern auch eine Schwächung seines natürlichen religiösen Organs erfährt, " so daß er die Welt immer mehr als profane Wirklichkeit" sehe. Guardini spricht in Das Ende der Neuzeit/Die Macht insbesondere auch vom nach-neuzeitlichen Menschen, der durch diese neue "Einsamkeit im Glauben" vor der Herausforderung besteht, sich wieder unmittelbar mit dem "Sinn der Kirche" auseinanderzusetzen. Die Nach-Neuzeit beginnt für Guardini um die Jahrhundertwende, nicht erst nach 1945. Ausdrücklich sprach er dabei - auch noch nach 1945 - vom "Erwachen der Kirche in den Seelen" in der katholischen Jugendbewegung - analog zum "Erwachen der Mystik in den Seelen" in der freideutschen Jugendbewegung. Guardini vertritt für "Krisen" den Standpunkt, wie ihn das Hölderlin-Zitat repräsentiert: "Wo Gefahr ist, wächst auch das Rettende".
- Die Stelle steht im Kapitel über "Die Auflösung des neuzeitlichen Weltbildes und das Kommende": Daher ist diese Stelle aus dem Gesamtkontext seiner Überlegungen gerissen und ist ohne den Schluss des Buches (S. 94) zum Beispiel in der fortgeschrittenen Nach-Neuzeit höchst missverständlich. Dort heißt es nämlich komplementär ergänzend: "Wenn wir die eschatologischen Texte der Heiligen Schrift richtig verstehen, werden Vertrauen und Tapferkeit überhaupt den Charakter der Endzeit bilden. Was umgebende christliche Kultur und bestätigende Tradition heißt, wird an Kraft verlieren. Das wird zu jener Gefahr des Ärgernisses gehören, von welcher gesagt ist, daß ihr, »wenn es möglich wäre, auch die Auserwählten erliegen würden« (Mt 24,24). Die Einsamkeit im Glauben wird furchtbar sein. Die Liebe wird aus der allgemeinen Welthaltung verschwinden (Mt 24,12). Sie wird nicht mehr verstanden noch gekonnt sein. Um so kostbarer wird sie werden, wenn sie vom Einsamen zum Einsamen geht; Tapferkeit des Herzens aus der Unmittelbarkeit zur Liebe Gottes, wie sie in Christus kund geworden ist. Vielleicht wird man diese Liebe ganz neu erfahren: die Souveränität ihrer Ursprünglichkeit, ihre Unabhängigkeit von der Welt, das Geheimnis ihres letzten Warum. Vielleicht wird die Liebe eine Innigkeit des Einvernehmens gewinnen, die noch nicht war. Etwas von dem, was in den Schlüsselworten für das Verständnis der Vorsehungsbotschaft Jesu liegt: daß um den Menschen, der Gottes Willen über Sein Reich zu seiner ersten Sorge Macht, die Dinge sich wandeln (Mt 6,33).
Dieser eschatologische Charakter wird sich, scheint mir, in der kommenden religiösen Haltung anzeigen. Damit soll keine wohlfeile Apokalyptik verkündet werden. Niemand hat das Recht zu sagen, das Ende komme, wenn Christus selbst erklärt hat, die Dinge des Endes wisse der Vater allein (Mt 24,36). Wird also hier von einer Nähe des Endes gesprochen, dann ist das nicht zeithaft, sondern wesensmäßig gemeint - daß unsere Existenz in die Nähe der absoluten Entscheidung und ihrer Konsequenzen gelangt; der höchsten Möglichkeiten wie der äußersten Gefahren."
- Ein bloßes Beklagen der Säkularisierung ist infolgedessen kontraproduktiv zum eigentlich von Guardini intendierten, nämlich unsere Existenz, die angesichts der "Nähe der absoluten Entscheidung" nicht nur ihre Konsequenzen der "äußersten Gefahren", sondern auch "der höchsten Möglichkeiten" gelangt.
- Jede Intention, die diese Polarität des zukünftigen Lebens auf die Klage über den "Verlust der Mitte" reduziert, rückt sich selbst in die Nähe einer Unheilsprophetie à la Spengler, des "Untergangs des christlichen Abendlandes". Dass den Christen in der Endzeit aber ohnehin verheißen ist, dass umgebende christliche Kultur und bestätigende Tradition" an Kraft verlieren wird, wie Romano Guardini schreibt, ist eben nicht Unheil, sondern "Bewährung in der Not".