Vor 100 Jahren
August 2024
Vor 100 Jahren: Am 20. August vor 100 Jahren begann auf Burg Rothenfels die zehntätige Werkwoche mit dem Thema "Kulturkrise unserer Tage und Ansatzpunkte neuer Kulturgestaltung". Sie ging also über das Problem der aufsteigenden Kulturkrise und endete am 29. August 1924. Am Schlussabend, am 28. August hielt Guardini dabei zudem seine bekannte Rede "Vom klassischen Geist" zu Goethes 175. Geburtstag und Thomas von Aquins 700. Geburtstag, deren Geburtstage sich heuer ebenfalls wieder rund jähren: Goethe mit dem 275. Geburtstag (28. August), Thomas von Aquin mit dem 800. Geburtstag, der 1224 oder 1225 auf Burg Roccasecca in Süditalien geboren wurde. Die meisten gehen heute, anders noch als vor 100 Jahren von einer Geburt kurz nach Neujahr 1225 aus. Er starb am 7. März 1274, also vor 750 Jahren. Wenn auch nicht klar benannt spielt auch Immanuel Kant eine Rolle, dessen 200. Geburtstag (22. April) und 120. Todestag (12. Februar) man 1924 beging. Letztlich geht es in Guardinis Blick auf die Krise der neuzeitlichen Kultur um den "katholisch-weltanschaulichen Blick" auf die Welt mit all ihren Dingen und Bereichen. Die Schlüsselpassage lautet: "Dazu gehört vor allem die Weise, wie sie [Goethe und Thomas von Aquin im Unterschied zu Kant] in die Welt schauen, nämlich mit einem ganz offenen Blick, der eigentlich nie etwas »will« - daß dieses Ding so sei, jenes anders, das dritte überhaupt nicht. Dieser Blick tut keinem Ding Gewalt an. Denn es gibt ja schon eine Gewalttätigkeit in der Weise des Sehens; eine Art, die Dinge ins Auge zu fassen, die auswählt, wegläßt, unterstreicht und abschwächt. Dadurch wird dem wachsenden Baum, dem Menschen, wie er seines Weges daherkommt, den aus sich hervorgehenden Geschehnissen des Daseins vorgeschrieben, wie sie sein sollen, damit der Blickende seinen Willen in ihnen bestätigt finde. Der Blick, den ich hier meine, hat die Ehrfurcht, die Dinge sein zu lassen, was sie in sich sind. Ja, er scheint eine schöpferische Klarheit zu haben, in welcher sie richtig werden können, was sie in ihrem Wesen sind; mit einer ihnen sonst nicht beschiedenen Deutlichkeit und Fülle. Er ermutigt alles zu sich selbst." Während der Werkwoche beschäftigen sich die über 400 Teilnehmern in zwölf Arbeitskreisen mit dem Thema, u.a. im Blick auf:
- das Verhältnis von Anthropologie und Glauben (Karl Eschweiler): "Das Menschliche im religiösen Glauben"
- das Verhältnis von Staat und Kirche (Karl Neundörfer): "Staat und Kirche, Kirche und Einzelner, Recht und persönlich religiöse Sphäre
- die geistesgeschichtliche Wende (Erich Przywara SJ)
- das Johannesevangelium (Romano Guardini)
- das römische Meßbuch (Thomas Michels OSB)
- die neueren Strömungen in der Musik der Gegenwart (Rudolf Joh. Schulz-Dornburg).: "Musikalisches Schaffen der Gegenwart"
- die Sprache (Vilma Mönckeberg): Leib und Seele der Sprache
- die neue Kunstbewegung (Karl Heinz Herke)
- die (moderne) Baukunst (Rudolf Schwarz)
- das Verhältnis von "Volk und Staat" (Ernst Michel)
- den Kapitalismus (angekündigt: Goetz Briefs, kurzfristig eingesprungen dann Heinrich Erman)
- Drama, Spiel, Bühnen (Leo Weismantel)
- die Frauenbewegung (Maria Offenberg)
Sehr eindrücklich und bisher weitgehend unbekannt hat Heinrich Erman den Geist der Tagung und der Rede Guardinis in der Zeitschrift "Bodenreform" geschildert.
Mai 2024
Vor 100 Jahren - Im Mai 1924 beginnt Romano Guardini in der Zeitschrift Die Schildgenossen mit der Veröffentlichung seiner "Briefe aus Italien", die später unter dem Titel "Briefe vom Comer See" bekannt geworden sind. Wie schon bei den früheren Brief und Heftreihen wird in der Sekundärbibliographie statt mit dem eigentlichen Beginn der Publikation mit dem Jahr der Buchfassung gearbeitet, was dann in der Beurteilung mitunter zu anachronistischen Wahrnehmungen führte. Der 1. Brief trägt die Überschrift "Die Frage", der 2. Brief die Überschrift "Künstlichkeit des Daseins" (in: Die Schildgenossen, 4, 1923/1924, 5 (Mai 1924), S. 335-342 [Mercker 0145]). Laut Einleitung des ersten Briefes begann er sich nach seinem zweiten Aufenthalt in Italien in Varenna geschrieben, wo Guardinis Mutter mit seinem Bruder Gino seit Frühjahr 1923 lebte, bis die Mutter schließlich nach Isola Vicentina zog. Das Haus in Varenna trägt heute noch den Namen "Villa Guardini".
In der Einleitung des 1. Briefes heißt es über die Motivation und zeitliche Einordnung der Briefe: Drunten fern ragten die Ketten der Berge in ihren reinen Zügen, und dahinter wartete das Land, das ich seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen, und ich wußte, wenn ich nun als Mann wieder hinging, würde es viel für mich bedeuten. Wir sprachen über so manches; eigenes Leben und das, was im Ganzen, Allgemeinen geschah, wob sich in eins. Da suchte ich auch eine Frage zu fassen, die ich überall empfand. Schon lange spürte ich sie, wie sie immer stärker hervordrängte, und ich wußte, davon, ob wir die Antwort finden, die lebendige des Seins, nicht nur des Gedankens, hängt viel für unser Leben ab. Dann kam ich nach Italien, und dort wurde die Frage ganz schwer. All die Schönheit hier hat sie mir mit Trauer gefüllt. Nun bin ich zum zweiten Mal da, und es ist Zeit, daß ich das alles zu fassen versuche. Sehr viel liegt in der Frage. Sie will den Sinn wissen von dem, was vor sich geht. Die Antwort stellt uns vor eine Entscheidung, und ich weiß nicht, was in alledem stärker sein wird: Das Geschehen mit seinem unentrinnbaren Zwang, oder Einsicht und überwindendes Schaffen.
Da der erste Aufenthalt Guardinis in Varenna bislang für September und Oktober 1923 belegt ist, der Herbst 1924 als "zweiter Aufenthalt" aufgrund dieser im Mai 1924 erschienenen Einleitung zu spät ist, würde dies zunächst für einen zweiten Aufenthalt 1923/24 zwischen Weihnachten 1923 und Ostern 1924 sprechen, also vermutlich in den Frühjahrssemesterferien 1924. Da Guardini diese Art von Texten recht zügig für die Schildgenossen geschrieben und darin veröffentlicht, wären die Briefe wohl unmittelbar nach diesem zweiten Aufenthalt im Frühjahr 1924 fertig verfasst worden, reflektieren aber natürlich auch noch stark den "ersten" Besuch im Herbst 1923.
Allerdings steht dem eine Angabe im letzten Brief entgegen, der im Juli 1925 erschienen ist und infolgedessen spätestens im Frühsommer 1925 in Deutschland geschrieben worden ist ("Fast zwei Jahre sind nun her, seit ich Dir den ersten Brief vom Comer See schrieb ..."). "Fast zwei Jahre" meint dabei in der Regel länger als 1 3/4 Jahre. Somit wäre der erste Brief von Juni 1925 zurückzurechnen auf den Herbst 1923, womit dieser bislang meist als "erster" titulierte eigentlich der zweite Besuch gewesen sein muss. Damit hätte es entweder zwischen Frühjahr 1923 und September 1923 einen Besuch gegeben. Oder der an sich recht lange Besuchszeitraum von Anfang September (so der Plan vom Juni in einem Brief an Josef Weiger) bis Ende Oktober 1923 (Brief an Richard Knies vom 23. Oktober 1923) fällt eigentlich in zwei Fahrten auseinander. Tatsächlich will er aber Anfang Oktober in Zürich Cunibert Mohlberg treffen. Eine endgültige chronologische Klärung konnte bislang noch nicht gelingen.