Die Kirche erwacht in den Seelen
Anfang der zwanziger Jahre hat Romano Guardini im Rahmen seiner Phänomenologie der Kirche ("Vom Sinn der Kirche") eine seither vielfach aufgegriffene Formel gebraucht: "Ein religiöser Vorgang von unabsehbarer Tragweite hat eingesetzt: Die Kirche erwacht in den Seelen.“
Der Bezug
Er setzt damit einen katholischen Kontrapunkt zu einem im Umfeld des freideutsch-jugendbewegten und expressionistisch geprägten Aufbruchs im "Jahrhundert der Seele" (Stefan George), im Rahmen dessen der Künstler Franz Marc die Formel "Die Mystik erwacht in den Seelen" geprägt hatte.
Der Kontext
Der Kontext des am Anfang stehenden "Paukenschlags" lautet: "Ein religiöser Vorgang von unabsehbarer Tragweite hat eingesetzt: Die Kirche erwacht in den Seelen. Das will recht verstanden sein. Vorhanden war sie stets, und allezeit hat sie für den Glaubenden Entscheidendes bedeutet. Er hat ihre Lehre aufgenommen und ihre Weisungen befolgt; ihr starkes Sein war ihm Halt und Zuversicht. Als aber die individualistische Entwickelung seit dem ausgehenden Mittelalter eine gewisse Höhe erreicht hatte, wurde die Kirche nicht mehr als Inhalt des eigentlichen religiösen Lebens empfunden. Der Gläubige lebte wohl in der Kirche und war von ihr geführt; er lebte aber immer weniger die Kirche. Das eigentliche religiöse Leben neigte immer mehr in den Bereich des Persönlichen. So wurde die Kirche als Grenzwert dieses Bereiches empfunden, vielleicht sogar als ein diesem Bereich Entgegengesetztes. Auf jeden Fall als ein Etwas, das dem Persönlichen und damit dem eigentlich Religiösen Schranken zog. Und je nach der Gesinnung des Einzelnen erschien diese objektive Regelung wohltätig, oder unvermeidlich, oder drückend."
Guardini beschreibt also einen innerhalb der katholischen Lebensbewegung Vorgang, der die Kirche - gemäß seiner "Polarität von Oben und Innen" - nicht mehr nur als äußerliche Autoritätsanstalt, sondern als innerliche Freiheitsinstanz wahrnimmt. Dies hat aber nichts mit dem soziologischen oder ästhetischen Zugehörigkeitsgefühl zu einer weltlichen Gemeinschaft neben anderen zu tun, sondern ist - wie auch andere "Größen", zum Beispiel "Europa" - eine Frage der Gesinnung und der Haltung. Guardini spricht also von der "Kirche in uns". In gleichem Sinne spricht Guardini daher auch vom "Staat in uns", also auch von einem Erwachen des Staates in uns als innerlicher Freiheitsinstanz gegenüber der äußerlichen Autoritätsanstalt.
Beispiele für falsche Kontextualisierungen
- Bischof Ipolt am 4. September 2022: „Immer wieder spricht Papst Franziskus von der neuen Evangelisierung“ - https://www.kath.net/news/79410: "Vor 100 Jahren, im Jahre 1922 nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs, hat der bekannte Priester und theologische Lehrer Romano Guardini den Satz geprägt: „Ein religiöser Vorgang von unabsehbarer Tragweite hat eingesetzt: Die Kirche erwacht in den Seelen.“ Das war eine Zeit des Aufbruchs – Zeit der Jugendbewegung, der liturgische Bewegung usw. Einen solchen Satz würde wohl so heute niemand wiederholen! Angesichts der vielen negativen Nachrichten in den Medien über unsere Kirche sind wir heute manchmal eher beschämt, zur Kirche zu gehören."