Über Loyalität. Brief eines Deutschen an einen Amerikaner

Aus Romano-Guardini-Handbuch
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603 (G 43): Über Loyalität. Brief eines Deutschen an einen Amerikaner (Manuskript von 1954), in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Bd. 21, 1970, S.722-726 (Brief an Henry Kissinger) [Mercker 1803];

Historischer Kontext

Inhalt

Zugrunde liegt also eine Anfrage Kissingers, "wie wir in Deutschland das Problem der Loyalität empfinden - unter besonderer Rücksicht auf die Erfahrungen, die wir während der Diktatur wie auch der Besatzung gemacht haben" (S. 722).

Nachdem Guardini einiges über die grundsätzliche Schwierigkeit der Völkerverständigung geschrieben hatte, berichtete er von seiner aktuellen Lektüre des Buches von Alan Bullock über Hitler (Hitler. A Study in Tyranny, übers. Von W. und M. Pferdekamp, 1953) und beklagte dabei die Reduktion der historischen Wirklichkeit, wie wenn man einen menschlichen Vorgang nur aus dem physiologisch-biologischen heraus verstehen wollte und nicht auch die psychologischen und spirituellen Elemente mit einbezöge (S. 722f.). Guardini übertrugt dies nun grundsätzlich auf die Wahrnehmung der "phantastisch-metaphysisch-mythischen" Europäer, insbesondere der Deutschen durch die "nüchtern-einfach-plausiblen" Amerikaner und versucht diese "zusätzliche" Dimension der europäisch-deutschen Weltanschauung positiv in Geltung zu bringen. (S. 723f.) Umgekehrt sieht er in Amerika die "Initiative und Sicherheit des täglich-praktischen Menschenverständnissen" viel weiter entwickelt als in Deutschland, was hier immer noch zu einem "Bedürfnis nach autoritärer Ordnung und Entscheidung" führt, zu einer "großen Bedeutung des Beamten, der Behörde, der Staatsapparatur" (S. 724). Daher gebe es auch nicht "Loyalität" im amerikanischen Sinn als "Haltung, aus welcher das hervorgeht, was neben dem Gefühl der persönlichen Freiheit den demokratischen Geist bestimmt: das Gegengefühl, jedem Einzelnen wie dem Ganzen verantwortlich zu sein" (S. 724).

  • "Der Deutsche versteht unter Freiheit die Originalität des Gedankens; die Ursprünglichkeit der inneren Welt. Daher nimmt er von vornherein gar nicht an, dass der andere mit ihm übereinstimme; so entsteht die Isolierung nach innen. Andererseits wird um so stärker die autoritäre Ordnung von oben herunter." (S. 725)

In diesem Sinn spreche der Deutsche auch weniger von "Loyalität" und vielmehr von "Treue", mit geradezu metaphysischem Gewicht. Nietzsche habe nun die deutsche Eigenschaft überspitzt, dass diese Treue nur "um einer höheren Sache willen" und "mit schlechtem Gewissen" verraten werden dürfe (S. 725).

  • "Hier verstehen Sie das Verhalten so vieler deutscher Soldaten gegenüber Hitler. An sich wäre es richtig, vernünftig und, im Grunde, selbstverständlich gewesen, nachdem der verbrecherische Charakter des Regimes erkannt war, sich von ihm loszusagen. Im Deutschen war aber trotz aller Kritik im einzelnen eine Bindung zur nationalsozialistischen Führung entstanden, über die er nicht hinwegkam. Das ist es, was sich in dem Satz: `Befehl ist Befehl´ ausdrückt. Nicht Dummheit, nicht Gewissenlosigkeit, sondern ein Gefühl von Bindung an einer Stelle, wo es nicht hingehörte" (S. 725).

Diese seelisch-metaphysisch-mystische Bindung aufzubauen, sei letztlich nur dem deutschen Nationalsozialismus gelungen, nicht jedoch dem italienischen Faschismus, obwohl dieser es durchaus auch versucht hatte, "eine `faschistische Mystik´ zu schaffen" (S. 726).

  • "Wahrscheinlich wird kein Amerikaner noch Engländer eine Vorstellung von den inneren Kämpfen haben, welche die Revolutionäre des 20. Juli durchzumachen hatten, bevor sie zu ihrem Entschluß kamen" (S. 726).

Diese "Treue" wurde durchaus der neuen Obrigkeit, den Besatzungsmächten entgegengebracht, bei aller Kritik an deren Anspruch, ein Volk mit dieser Kulturtradition "umerziehen" zu wollen (S. 726).

Nachdrucke und Auszüge

  • eingegangen in: Wurzeln eines großen Lebenswerks. Romano Guardini (1885-1968). Aufsätze und kleinere Schriften, Bd. IV, 2003 (G 43) [neu aufgenommen]

Guardini-Konkordanz

Übersetzungen (in mind. 1 Sprache)

  1. OO VI: Sulla lealtà. Lettera di un Tedesco ad un Americano, in: Opera omnia VI. Scritti politici, Brescia 2005 (hrsg. von Michele Nicoletti), S. 479-486, ins Italienische übersetzt von Maurizio Merlo, Maurizio Ricciardi und Giulio Colombi [neu aufgenommen]