Es-Mächte
Guardini verwendet den Begriff Es-Macht bzw. Es-Mächten in diesem Zusammenhang nahezu genuin.
Glaubenserkenntnis (1948/49)
Er hatte ihn erstmals selbst wohl erstmals 1948 in seiner Schrift „Glaubenserkenntnis gebraucht (1949 erschienen),
- S. 171f. : "Das Böse in der Welt ist nicht nur der jeweilige, Gott widersprechende Entschluss, sondern eine Macht, die den Einzelnen treibt. Träger dieser Macht ist zunächst der Mensch selbst; die Unordnung seiner eigenen Natur; der von der gleichen Unordnung verstörte Zusammenhang der Daseins- und Werkgefüge, wie Sprache, Her-kommen, Gesetz, wirtschaftliches Leben, Kunst, Wissenschaft. Hinter diesen allgemeinen Zusammenhängen aber stehen Personen, vor allem eine, der Widersacher. `Das Böse´ ist keine bloße Es-Macht, sondern von Personen getragen und in ihrem Willen verfasst. Nicht so, dass diese, wie die gnostische oder romantische Mythologie meint, von Wesen böse wären, sondern weil sie sich wider Gott entschieden haben, dadurch selbst böse geworden sind und nun wollen, dass die Welt es auch wer-de. Sie sind die Sachwalter des Bösen.“
Das Ende der Neuzeit (1950)
- Damit aber nicht nur das Negative, sondern auch das Positive zum Tragen kommen könne, sind den Menschen einige Aufgaben gestellt, “Aufgaben einer inneren Befreiung, einer Stählung gegen die immer ungeheuerlicher anwachsenden Es-Mächte.“ Diese „Es-Mächte“ könnten die Menschen „noch kaum erst“ ahnen (Guardini, Das Ende der Neuzeit, a.a.O., 1950, S. 72/1986, S. 57). Dies passiert überall dort, wo der Einzelne in den Ganzheiten aufgeht und zu einem bloßen Träger von Funktionen wird. Guardini verwendet dafür die Begriffe der „Entwürdigung und Vergewaltigung des Menschen“ (ebd. 58).
Und abermals führte er die Dramatik dieser bevorstehenden Entscheidung deutlich vor Augen: “Gelingt das nicht, dann tritt die zweite furchtbare Möglichkeit ein: dass der Mensch den Es-Mächten verfällt.” (ebd. S. 73 f.)
Rilke (1953)
- Guardini, Romano: Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins. Eine Interpretation der Duineser Elegien, 1953, S. 423-425 Nachwort: "Rilke ist einer der konsequentesten Individualisten der ausgehenden Neuzeit. ... Dieser konsequenteste aller Individualisten aber ... löst die Personalität auf. Dadurch stellt er den Kern in Frage, der das Dasein zusammenhält; den Ursprung, aus welchem die Akte des Urteils, der Wertung und Entscheidung hervorgehen; die Voraussetzung, auf der alles ruht, was Eindeutigkeit, Existenzfestigkeit und Charakter heißt. Sein Individualismus steigert sich bis zur Distanz der eigenen Person gegenüber. So sehr wird dieser Mensch individuell, dass er die eigene Person als Störung empfindet.“ „In einem Augenblick, da die Welt unter dem Anprall der Es-Mächte“ stehe, bedeute dies eine gefährliche Einseitigkeit. Denn: „Kein lebendiger Vorgang vollzieht sich nur von einem einzigen Pol her. Er kann nur hervorgehen, indem vom Gegenpol her die Entsprechung kommt. Es gibt keine Durchsetzung von Gesamtgestalt und Gesamtwillen auf Kosten des Einzelnen, wenn dieser Einzelne nicht den Wunsch hat, sich aufzugeben. Das Totale kann in der Weise, wie das in unserer geschichtlichen Stunde geschieht, nur dann triumphieren, wenn der Einzelne von sich befreit werden will. Wenn er die existentielle Unterscheidung von Ich und Es, Ich und Wir; das Stehen in Würde und Verantwortung; die Strenge des Sollens und die Größe der Freiheit als Mühsal und Ratlosigkeit empfindet“
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Rezeption
Es gibt nur wenige, die den Begriff „Es-Mächte“ bisher rezipiert haben: Der Unternehmer Ernst Wolf Mommsen (1910-1979) hat ein Büchlein mit dem Titel “Der Unternehmer zwischen den `Es-Mächten´” herausgebracht, zu dem Ludwig Erhard ein Geleitwort beitrug (Mommsen, Ernst Wolf: Der Unternehmer zwischen den “Es-Mächten” (Gespräch zwischen Unter-nehmern und Betriebsräten), Loccum 1954. Mommsen berief sich auch in seinem 1955 erschienen Buch „Elitebildung in der Wirtschaft“ auf Guardini: „Eine Sammlung der Kräfte und eine Einheit der Leistung sind nach Guardini die Voraussetzungen, um das uns unausweichlich aufgegebene Herr-schaftswerk über die Welt ausführen zu können“ (S. 42 unter Berufung auf Guardini, Ende der Neu-zeit, a.a.O. S. 72). Diese Stelle hat im Übrigen auch Wolfgang Hilligen seinem Buch „Plan und Wirklichkeit“ von 1955 als Motto vorangestellt.). Interessanterweise knüpfte auch der Philosoph Hans Pfeil (1903-1996) an diese Passagen des Werkes an, wenn er zum Schluss seines Buches „Überwindung des Massenmenschen durch echte Philosophie“ (Graz/Wien/Köln 1956) die echte Philosophie als einen „Weg aus der Krise“ beschreibt. Er unterschied Guardinis „Menschen der Masse“ von den von ihm beschriebenen „Massenmenschen“. Während die „Massenmenschen“ als Herden- und Taumelmenschen, als Nurfachmenschen und Nurdiesseitsmenschen „im Letzten, Wesentlichen und Innerlichen, nämlich auf weltanschaulichem, sittlichem und religiösem Gebiet, auf Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit verzichten und ihren Verstand, ihre Freiheit, ihr Gewissen, also ihr eigentliches Ich, den andern, der Masse, der öffentlichen Meinung, dem Kollektiv ausliefern“ , es ihnen an Wahrheits- und Wertbewusstsein mangeln, sie jegli-chen Überblicks und aller Tiefe entbehren und ihr Leben ohne Verankerung im Reli-giösen und Übernatürlichen führen würde, bekennen sich die „Menschen der Masse“ „trotz der erzwungenen Normierung ihres äußeren Daseins zu ewigen Wahrheiten und Werten“, bringen meist auch echtes Verständnis für letzte Seins- und Geschehenszusammenhänge auf und sind daher religiös und übernatürlich eingestellt. Grundsätzlich steht für Pfeil durch dieses Massenmenschentum, in dem er „die abendländische Kultur in ihrer Wurzel bedrohende Verfallserscheinung“ sieht , „nichts geringeres als die geistige Substanz des Abendlandes“ auf dem Spiel.
- Heinrich Fries machte sich Guardinis Personlehre und seine Rede von den „Es-Mächten“ zu eigen, um den Nihilismus zu kritisieren, und stellt Guardini hier in eine Reihe mit Helmut Thielicke und Clemens Münster. Denn die Krise des gegenwärtigen Menschen im Nihilismus „betrifft DIE PERSON UND DIE PERSONALITÄT.“ Diese Bedrohtheit der Personalität „besteht in dem, was man den `Verlust der Mitte´ [Hier stellt Fries - wie vor und nach ihm schon andere – eine Parallele zwischen der gleichnamigen Schrift Sedlmayrs und Guardinis Neuzeitkritik.] nennen kann, in der Bedrohung des Selbst- und Eigenseins, der Vernunft, der Freiheit und der Verantwortung. Sie besteht darin, dass die Mitte des Menschen ausgelöscht zu werden droht von den `Es-Mächten´, die sich an die Stelle des Ich setzen und den Menschen zu einem `unbehausten Wesen´ machen, das nicht mehr in sich steht und von der Mitte aus lebt, sondern von außen her bestimmt ist, das nicht mehr verfügt und entscheidet, über das vielmehr verfügt und entschieden wird. Hier geschieht, was man Depersonalisation, ENTPERSÖNLICHUNG“ nenne. Am Ende werde die „KAPITULATION DER PERSON vor dem Impersonalen, dem anonymen Es des Schicksals offenbar“ (Fries, Heinrich: Die Kirche als Anwalt des Menschen. Ein Beitrag zum Thema: Die Kirche und der Mensch der Gegenwart, Stuttgart 1954, S. 51ff.).