Die Menschenrechte und die Wirklichkeit
Ebenfalls für den Berliner Katholikentag hatte Guardini eine bislang unveröffentlichte Skizze unter dem Titel “Die Menschenrechte und die Wirklichkeit” vorbereitet. Hier ging er sogar noch einen Schritt weiter, nämlich vom personalen Menschenbild zur Idee und Wirklichkeit der Menschenrechte. Dabei wandte er seine obige theologische Begründung der Person als gleichermaßen autonomes und heteronomes Wesen, das diese inwendige Polarität von Materialität und Idealität, Sozialität und Individualität, Determiniertheit und Existenzialität von der Theonomie her in lebendig-konkreter Spannung hält, auf die Begründung der Menschenrechte an: „Die absolute Gültigkeit der Menschenrechte ist erst in Gott, dem Absoluten, hinreichend begründet.“
Der Begriff der Menschenrechte ist nach Guardini jener Ansatzpunkt, „um auf glo-baler Ebene und mit Anspruch auf universale Gültigkeit über die Würde und die Rechte zu diskutieren, die sich im abendländisch-christlich geprägten Raum mit dem der `Person´ verbinden.“ Doch bleibt auch im globaler und universaler verwendend-baren Menschenrechtsbegriff der christlich-abendländische Hintergrund grundsätzlich vorhanden und vorausgesetzt. Diesen Hintergrund könne man – so Guardini - „nicht interkulturell vermitteln“ ; ein Umstand, der „mindestens teilweise die Schwierigkei-ten der Menschenrechtsdiskussion auf globaler Ebene” erkläre. Seine hier geäu-ßerte Skepsis gegenüber der Möglichkeit einer interkulturellen Vermittlung der Idee des “christlichen Abendlandes” und des in diesem Raum entstandenen personalen Menschenrechtsbegriffes, hat an Aktualität nichts verloren.
Dabei sah sich Guardini mit seinem programmatischen Satz „Nur wer Gott kennt, kennt den Menschen“ einigen Missverständnissen ausgesetzt. Eines davon brachte August Everding auf den Punkt.
„Da keiner von uns Gott kennt, kennen kann und auf Erden kennen wird, kennt keiner von uns den Menschen. Und keiner weiß, warum der Gott, der sich um jedes Haar kümmert, so viele verhungern, verkommen, verrecken läßt …“
Das Missverständnis liegt darin, dass die Rede auf dem Katholikentag sich im We-sentlichen an christliche Hörer richtete, bei denen Guardini die hinter diesem Satz stehende johannäische Theologie der Selbstoffenbarung Gottes in Christus voraus-setzen konnte.
Guardini vertritt hier erneut eine ähnliche Haltung zur theologischen Ethik wie auf evangelischer Seite Dietrich Bonhoeffer. In dessen zwischen 1940 und 1943 nie-dergeschriebenen Manuskripte zur „Ethik“ geht es um die Erfassung des Willens Gottes und der Wirklichkeit der Welt im Sinne einer „unbedingten Hingabe zur Welt“. Weil Gott selbst die „Liebe ist, weiss nur, wer Gott kennt“, was Liebe ist. Dies gilt aber nicht umgekehrt. Allein durch die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus kennen wir Gott und diese Offenbarung kommt unserer Liebe zuvor:
„Nicht in uns, sondern in Gott, hat die Liebe ihren Ursprung. Nicht ein Verhal-ten des Menschen, sondern ein Verhalten Gottes ist die Liebe (1. Joh 4,10). Was Liebe ist, erkennen wir allein in Jesus, und zwar in seiner Tat für uns. Es wäre aber falsch, wenn wir aus dem Handeln Jesu eine Definition der Liebe gewinnen wollten. Nicht was er tut oder leidet, sondern was er tut und leidet, ist Liebe. Liebe ist immer Er selbst.“
Weil dieses Bewusstsein, dieses Erbe durch einen revolutionären und antichristlichen Säkularisierungsvorgang verfallen und es mit der französischen Revolution zu einem „Kult der ratio“ und einer Naturvergötterung gekommen sei, kam es durch die befrei-te Ratio zwar zu einer „Enthüllung des befreiten Menschen“ und zur „Entdeckung der ewigen Menschenrechte“. Das ging einher mit Fortschrittsglauben, Technik und Kul-turkritik, Massenbewegungen und Aufstand des Bürgertums, Nationalismus und Kir-chenfeindlichkeit, aber eben auch zu einer ungeheuren Gewalt und entsetzlicher Verzerrung bis hin zu diktatorischem Terror. War Ratio und Glauben gegeneinan-der ausspielt, kann zwar die Menschenrechte entdecken, aber nicht in ihrer Gottver-bundenheit erkennen und nicht in der Wirklichkeit der Welt verankern.