Carl Heinrich Becker
Aus Romano-Guardini-Handbuch
Version vom 11. Oktober 2022, 03:22 Uhr von Helmut Zenz (Diskussion | Beiträge)
Carl Heinrich Becker (1876-1933) war ein deutscher Orientalist, Politiker und parteiloser preußischer Kultusminister (1921 und 1925-1930).
Biographie
- Studium der Orientalistik
- Schüler von Ernst Troeltsch, Bekannter Max Webers
- Begründer der deutschen Islamwissenschaft (siehe: Christentum und Islam, Tübingen 107 und öfters)
- 1908 Übernahme des neugeschaffenen Lehrstuhls für Geschichte und Kultur des VOrderen Orients am Hamburger Kolonialinstitut
- 1913 Berufung an die Bonner Universität
- 1916 Berufung an die Berliner Universität
- 1916 gleichzeitig Referent im preußischen Kultusministerium, für das er eine "Denkschrift über den künftigen Ausbau der Auslandsstudien an den preußischen Universitäten" verfasste.
- 1919 Unterstaatssekretär beim neuen Kultusminister Konrad Haenisch; gemeinsam mit Otto Benecke (erster Vorsitzender der 1919 gegründeten Deutschen Studentenschaft): Entwurf der "Verordnung über die Bildung von Studentenschaften", die am 18. September 1920 in Kraft trat;
- April bis November 1921 Kultusminister
- November 1921 bis Januar 1925 Staatssekretär und Kultusminister Otto Boelitz;
- 1924: Kant und die Bildungskrise der Gegenwart, Leipzig 1924.
- 1925 bis 1930 Kultusminister unter Otto Braun (SPD)
- 1925 Gründung der Pädagogischen AKademien zur Lehrerbildung
- 1926 Mitgründer der Deutschen Dichterakademie
- 1926/27 Forderung als Kultusminister, für die staatliche Anerkennung der preußischen Studentenschaften das „arische Prinzip“ aufzugeben. Die „Freien Vereinigungen katholischer Studierender“ (FV) gingen darauf ein, während die völkisch orientierten sich verweigerten und die republikanisch orientierten wenig Einfluss hatten.
- Becker förderte auch bewusst demokratische Rechts- und Staatslehrer, war 1929 noch maßgeblich am Konkardat zwischen Preußen und dem Vatikan beteiligt.
- 1930 nicht ganz freiwilliger Rücktritt aus Enttäuschung, wie die verschiedenen Landtagsfraktionen mit ihm als parteilosem Liberalen umgingen.
- 1930: Becker förderte bewusst demokratische Rechts- und Staatslehrer, war 1929 noch maßgeblich am Konkardat zwischen Preußen und dem Vatikan beteiligt, bevor er 1930 gehen musste.
- 1930: Im Jahr seines Rücktritts veröffentlichte er die Schrift „Das Problem der Bildung in der Kulturkrise der Gegenwart“ (Leizpig 1930, abgedruckt in: Müller, Guido: Carl Heinrich Becker. Internationale Wissenschaft und nationale Bildung. Ausgewählte Schriften, Köln 1997, S. 406-422): Ohne auf Guardini zu verweisen – genannt werden Eberhard Grisebach, Georg Kerschensteiner als Pädagogen, Max Scheler, Martin Heidegger als Philosophen – ist er in der kulturpolitischen Konzeption Beckers gegenwärtig, wenn er zum Beispiel von der „vornehmen und eigenartigen Aufgabe des Kulturpolitikers“ spricht, „das Mögliche mit dem Denkbaren in der Verwirklichung zu lebendiger Synthese zu bringe.“ Damit habe der Kulturpolitiker neben dem Philosophen und Pädagogen eine eigene Aufgabe und Verantwortung wahrzunehmen (Ebd., S. 407). Auch viele seiner weiteren Ausführungen sind von diesem Gedanken der lebendigen, letzten Synthese geprägt: „Auch wir fragen mit dem großen dänischen Denker Kierkegaard, dem Gegenspieler und zugleich Ergänzer Nietzsches, ob denn „die Vernunft allein getauft und die Leidenschaften Heiden seien“. Wir ahnen eine letzte Synthese zwischen dem Rationalen und dem Irrationalen in der Seinswelt des Lebendigen.“ (Ebd., S. 416.) Auch zwischen Individuum auf der einen Seite und Gemeinschaft als Untergruppen und als Gattung auf der anderen Seite sieht er eine polare, „geheimnisvolle Verbindung“ (Ebd., S. 419). Denn das „Individuum Mensch steht aber nur logisch isoliert, in der Wirklichkeit ist es ein Gruppenwesen. Das Zoon politikon des Aristoteles bedeutet nicht „politisches“, sondern „soziales“ Lebewesen. Das Soziale gehört zum Wesen des Begriffs Mensch. Jede Bildung des Menschen, die MENSCHENformung sein will, darf deshalb nicht nur das Individuum in seiner Isoliertheit berücksichtigen, sondern muß die soziale Gebundenheit des Menschen in Familie, Arbeitsverband, Gesinnungsgemeinschaft, Stammes- oder Sprachzugehörigkeit ins Auge fassen und darf dabei über den sich oft überschneidenden soziologischen Untergruppen niemals die wichtigste Bindung an die Gattung Mensch außer acht lassen.“ (Ebd., S. 418f.)
Bezüge zu Guardini
Schlüsselstellung für die Berufung Guardinis nach Berlin
- Carl Heinrich Becker und dem Ehepaar Schlüter wird eine Schlüsselstellung für die Berufung GUardinis nach Berlin zugeschrieben.
- Becker stand auch voll hinter der Interpretation Guardinis, wie er die Weltanschauungsprofessur ausgestalten wollte.
Briefe an Erich Wende
- Internet-Angebot von Bert Boehmer: Briefe, in: Carl Heinrich Becker. Geschichte einer großbürgerlichen Familie in Briefen und Dokumenten. Briefe an von Carl Heinrich Becker an Erich Wende, Ministerialreferenten im Kultusministerium, Erich Wende, 1918-26 (Aus dem Privatarchiv von Michael Becker, Berlin, 134 Seiten Maschinenmanuskript der Briefe in Auszügen von Erich Wende), davon haben einige Guardini-Bezug (https://carl-heinrich-becker.de/tag/erich-wende):
Diner zu Ehren von Pacelli
- 491. 16.1.1924: "Mit heißem Bemühen brachte ich es fertig, das morgen Braun ein Diner zu Ehren von Pacelli gibt. Sämtliche preußischen Minister, Reichspräsident, Kanzler Weißmann und ich sind geladen. Daran schließt sich dann ein Empfang von etwa dreißig Notablen, darunter Harnack, Seeberg, Smend, Kahl, Guardini von Professoren. Das Ganze im Smoking weil – sage und schreibe – der preußische Ministerpräsident (Braun) keinen Frack besitzt. Und dann wollen diese Leute internationale Politik machen. Braun wollte erst gar nicht, nun muß er aber, da alle Minister auf Repräsentationsgelder verzichtet haben und gegebenenfalls der Ministerpräsident einen unbeschränkten Kredit bekommt. Er war sehr ängstlich darin, ich mußte auch den Finanzminister aufbieten. Die Sache kostet 800-1000 Mark. Es ist wirklich begreiflich, daß wir bei solcher Ängstlichkeit international keine Rolle spielen können. Auch andere Hemmungen gab’s. Braun meinte, der Vatikan nütze uns nichts, mache sich nur wichtig und spiele doch nur Frankreich gegen uns aus und umgekehrt, um vatikanische Geschäfte zu machen. Gewiß richtig, aber wir müssen dann doch wenigstens mitspielen, um nicht nur Objekt zu sein. Dabei hat m.E. der Vatikan (genau wie England) alles Interesse an unserer Wiedererstarkung, schon um nicht Frankreich ausgeliefert zu sein. Außerdem ist der Vatikan eine politische Börse ohnegleichen."
Gesprächsabend mit Guardini, Goetsch und Gragger
- 509. 29.6.1924: "Da denke ich zunächst an den Mittwoch Abend; wo ich den sehr geglückten Versuch machte, Guardini und Goetsch mit Gragger und mir zu einer geistigen Einheit zusammenzuschließen. Es war ein ganz feiner Abend, leider war’s für die Veranda zu kalt, wir saßen unter der roten Lampe, nachdem uns die Gattin mit köstlichem Abendessen erquickt hatte. Guardini im großen Sessel, unmittelbar neben der Lampe; seine klaren vergeistigten Züge rembrandtisch beleuchtet, dann folgte Goetsch, nicht so gespannt wie Guardini, aber entspannt, an diesem Abend eigentümliche „Stille des Herrn“. Gragger und ich, die Alkoholiker und Nikotiniker, die wahren Weltkinder gegenüber den zwei Heiligen, bescheiden zurückgelehnt in den zwei Ecken des großen Sofas schon im Dunkeln. Vor uns auf dem Tisch Spiräen und Rittersporn aus dem Garten. Ich kurbelte langsam und vorsichtig an. Wir sprachen vom Nutzen des Aufenthaltes im Ausland, kamen zum Amerikanismus, zur Ethik und Seele der Technik und waren unvermerkt mitten in der Problemstellung der Jugendbewegung. Keiner trat stark hervor, einer warf dem anderen den Ball zu, aber es war eine starke geistige Gemeinschaft, und Guardini sprach mir beim Abschied – wir brachten ihn gemeinsam zur Bahn – seine große Freude darüber aus, daß eine solche geistige Gemeinschaft bei vier von so verschiedenen Welten kommenden Menschen eben doch möglich wäre. Gragger und ich brachten dann noch Goetsch zur Untergrundbahn, wobei die Zwei sich noch gehörig herumstritten über die Frage, ob die Verfeinerung unserer Kultur eine Wertintensivierung oder nur eine Wertverlagerung bedeute, welch letzteres Goetsch mit seiner ganzen Eigensinnigkeit (und wohl einer Spur von proletarischem Ressentiment, natürlich unbewußt) verfocht. Gragger und ich waren uns dafür ganz einig. Die Parallele mit der körperlichen Ausbildung liegt auf der Hand."
Aussprache zwischen der Jugendbewegung und den Schulmeistern über Lehrerbildung
- 524. 1.2.1925: "Gestern war nämlich unter meinem Vorsitz die große grundsätzliche Aussprache zwischen der Jugendbewegung und den Schulmeistern über die Lehrerbildung. Die Referate waren schrecklich dilettantisch, die Debatte danach von bemerkenswerter Höhe. Es wurde ihnen gründlich die Meinung gesagt, aber selbst Spranger sagte doch schließlich: die Lehrerbildungsreform wird im Geist der Jugendbewegung gemacht oder sie wird überhaupt nichts. Es waren sehr feine Menschen zusammen. Dabei alle Kandidaten für die Nachfolge Schwartz, die sich produzieren durften, Grau, Türkenschmid usw. Ich denke übrigens daran, die Lehrerbildungsreform von einem Juristen machen zu lassen: eine köstliche Lebensaufgabe. Schade, daß Du nicht mehr als Ministerialrat kommen würdest. Ich denke jetzt an Lohmeyer. Bei der Tagung witzige kleine Spezialduelle, so Sprenger – Breysig. Glänzend war Guardini, Lothar Schreyer, Götze/Hamburg usw."
- 525. 8.2.1925: "Am Montag ging die Lehrerbildung weiter, ja erreichte erst ihren Höhepunkt in einer fabelhaft fein geschliffenen Diskussion Guardini – Nohl. Guardinis Einfluß auf die Studentenmassen des alten bürgerlichen Typs mag gering sein, seine Wirkung auf die bewegte Jugend aller Schattierungen ist enorm. Jedenfalls war er einer der führenden Köpfe dieser im Ganzen doch sehr geglückten Tagung. Großonkel Spranger hielt sich Montag fern, er gehört auch nicht zu den Schaffenden, sondern zu den Kritisierenden. Es entstand auch ein innerkatholischer Dissens zwischen Schneider /Köln und Guardini. Ersterer wollte vom Standpunkt seiner starken Glaubensposition so etwas wie Kulturkrise gar nicht gelten lassen, während Guardini wohl im Glauben die feste Position gegeben sah, aber gerade deshalb die ganze Not der neuen Krise besonders scharf empfand.81 Auf dem Höhepunkt der Debatte ergriff ein Student das Wort und schilderte bescheiden, aber meisterhaft die Lage vom Standpunkt der Studenten aus. Er wies den die Wissenschaft stets im Munde führenden Professoren nach, daß auch sie höchstens in 1-5% der Fälle auf die alten Quellen zurückgingen, daß sie aber in 95-99% der Fälle auf Tradition bauten und mit Intuition arbeiteten. Es war ein junger Historiker namens Schuchardt, wohl ein Sohn des Professors. Ich habe ihn mir Mal für nächste Woche bestellt."
Erich Wende
- Zu den Briefen und den Bezügen zu Guardini siehe auch Erich Wende, C. H. Becker, Mensch und Politiker. Ein biographischer Beitrag zur Kulturgeschichte der Weimarer Republik, 1959 [Monographie] - https://books.google.de/books?id=aO0HAAAAMAAJ, zu Romano Guardini
- S. 51: "Er hatte sich das Vergnügen gemacht, unter der roten Lampe drei voneinander sehr verschiedene Männer zu vereinigen: Guardini, den Deutschungarn Gragger, Berliner Ordinarius für Ungarisch und Götsch , den von der Berliner Volksschule gekommenen Leiter des für alle musischen Bestrebungen der Jugendbewegung repräsentativen Musikheims in Frankfurt (Oder). "Guardini", schrieb Becker, "im großen Sessel unsichtbar neben der Lampe, seine klaren, vergeistigten Züge rembrandtisch beleuchtet, dann folgte Götsch, nicht so gespannt wie Guardini, aber entspannt, an diesem Abend eigentümliche `Stille im Herrn´. Gragger un dich, die Alkoholiker, die wahren Weltkinder gegenüber den zwei Heiligen, bescheiden zurückgelehnt in die zwei Ecken des Sofas, schon im Dunkeln. vor uns auf dem sich Spiräen und Rittersporn aus dem Garten. Ich kurbelte vorsichtig und langsam an. Wir sprachen vom Nutzen des Aufenthaltes im Ausland, kamen zum Amerikanismus, zur Ethik und Seele der Technik und waren unbemerkt mitten in der Problemstellung der Jugendbewegung. Keiner trat stark hervor, einer warf dem anderen den Ball zu, aber es war eine starke geistige Gemeinschaft, und Guardini sprach mir beim Abschied - wir brachten ihn gemeinsam zur Bahn - seine große Freude darüber aus, daß eine solche geistige Gemeinschaft bei vier von so ganz verschiedenen Welten kommenden Menschen eben doch möglich wäre."
- S. 126: "Hier sollten dann auch die Dozenturen für Fragen der Weltanschauungen , wie sie in Berlin durch einen planmäßigen Lehrstuhl (für Guardini) und anderwärts in Form von Gastprofessuren oder Lehraufträgen verwirklicht wurden, ihren Platz finden."
- S. 318: Über Beckers Verhältnis zur Jugendbewegung schrieb Guardini: "Er war unter den ..." (noch zu ergänzen!!!)
- Für S. 51 siehe auch: Erich Bitterhof (Hrsg.): Georg Götsch, Lebenszeichen, 1969, S. 97;
Guardini über Becker
- Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, a.a.O., S. 39: Für Guardini war Becker “Kulturpolitiker mit lebendigem Gefühl für Menschen und geistige Strömungen. Für die pädagogischen Versuche der Zeit wie überhaupt für die Jugendbewegung hatte er viel Verständnis. Auch der Katholizismus interessierte ihn, und nicht nur als geistespolitischer Faktor, sondern als lebendige, schaffende Macht.”
- Vgl. Zur Streichung des k.w. Vermerks bezüglich meines Lehrstuhles (Stabi): Guardini konnte sich daher mit dem an der Sache interessierten Kultusminister nach eigenem Bekunden desöfteren austauschen.
- 1926 war das Vertrauensverhältnis bereits so stark, dass Guardini im Januar 1926 erfolgreich zu Becker ging, um Gelder für den Ausbau von Burg Rothenfels zu erwirken. Auch solche Bittgesuche gab es aller Wahrscheinlichkeit nach mehrere.
Bibliographie zu Guardini
Sekundärbibliographie
- Erich Wende: C. H. Becker. Mensch und Politiker. Ein biographischer Beitrag zur Kulturgeschichte der Weimarer Republik, Stuttgar 1959;
- Kurt Düwell: Staat und Wissenschaft in der Weimarer Epoche. Zur Kulturpolitik des Ministers C.H. Becker, in: HZ, Beiheft NF 1, 1971, S. 31-74;
- Heidemarie Nowak: Über Leben und Nachlaß des preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker 1876-1933, in: JBLG 33, 1982, S. 118;
- Guido Müller: Weltpolitische Bildung und akademische Reform: Carl Heinrich Beckers Wissenschafts- und Hochschulpolitik 1908 -1930, Köln u.a. 1991;
- Kurt Düwell: Carl Heinrich Becker, in: K. Jeserich/H. Neuhaus (Hrsg.): Persönlichkeiten der Verwaltung, Stuttgart 1991, S. 350-354.
Internet
- Wikipedia-Biographie - https://de.wikipedia.org/wiki/Carl_Heinrich_Becker