Die Frage nach der Möglichkeit nur politischer, nicht- bzw. anti-politischer, un- bzw. post-politischer Politik

Aus Romano-Guardini-Handbuch

Die Frage nach der Möglichkeit nur politischer, nicht- bzw. anti-politischer, un- bzw. post-politischer Politik (Autor: Helmut Zenz)

Zur Problematik "nur politischer" Politik

Guardini kritisierte nicht politische Politik im Sinne einer Eigengesetzlichkeit des politischen Bereichs, er kritisierte sie aber sehr wohl als absolute Eigengesetzlichkeit einer „nur politischen“ Politik. Er forderte stattdessen keine nicht-politische bzw. un- oder nach-politische Politik, sondern eine Politik, die um die Grenzen ihrer Eigengesetzlichkeit weiß und gerade durch ihre Offenheit für die eigenen religiösen Voraussetzungen das Politische rettet. Denn gerade dadurch bleibe sie offen für „neue Wirklichkeiten“ in der Politik und fixiere sich nicht auf einzelne Kriterien des Politischen. Insofern darf Politik auch religiös sein, nicht jedoch esoterisch, quasi- oder pseudoreligiös oder gar „nur religiöse“ Politik im Sinne theokratischer Ideen. Während derartige Modelle die Eigengesetzlichkeit des Politischen auflösen, weil ihnen das interdisziplinäre Nachdenken über das Verhältnis von Religion (Glauben) und Politik durch Theologie (Religionswissenschaft) und Politologie (Politikwissenschaft) fehlt, kann gerade „politische Theologie“ im Sinne einer Theologie über die Politik, nicht im Sinne einer Theologie durch die Politik wesentliche Fragen klären.

Zur Problematik "nicht-politischer" Politik

Auch mit der Konzeption einer nicht-politischen Politik in der Tradition Thomas G. Masaryks oder neuerdings auch Václav Havels (Dirk Mathias Dalberg: Konzeptionen „nichtpolitischer Politik“. Thomas G. Masaryk und Václav Havel: Kontexte und Traditionen., Magisterarbeit Leipzig 2003; ders.: Die nichtpolitische Politik: Eine tschechische Strategie und Politikvorstellung (1890-1940), Stuttgart 2013) hätte Guardini seine Schwierigkeiten, bei aller Wert-Orientiertheit, die in diesen Konzepten enthalten sein mag.

In dieser Tradition der "nicht politischen Politik" wird nämlich jegliche Interessenaggregation durch Parteien negativ gesehen, weshalb auch zu den politischen Institutionen einer parlamentarischen Parteien-Demokratie kein Vertrauen aufgebaut werden kann.

Schon Eric Voegelin hat darauf hingewiesen, dass "nicht-politische Politik" sowohl in Diktatur als auch in Demokratie nur in zwei Typen vorkommt, einmal im Typ des Nationalkonservativen als frommer, existentiell nicht-politischer `Untertan´, der sich traditionsbewusst unterordnet, und einmal im Typ des Linksintellektuellen, der anti-traditionellen Widerstand gegenüber der "Obrigkeit" als gebotene Pflicht ansieht (Universalität und Öffentlichkeit: Zur Pneumopathologie der deutschen Gesellschaft, in Wort und Wahrheit, 1966, 8/9, S. 597-518, hier S. 513). Während der eine durch seine Haltung also die Stabilisierung diktatorischer Entwicklungen billigend in Kauf nimmt, tut der andere dies bei der Destabilisierung von demokratischen Strukturen.

In diesem Sinne war Romano Guardini weder ein frommer Nationalkonservativer noch ein anti-traditioneller Linksintellektueller.

Zur Problematik "anti-politischer" Politik

Bei Vaclav Havel geht die Idee der "nicht-politischen Politik" sogar in die der "anti-politischen Politik" über, wenn er "anti-politische Politik" als moralische Lebensform bestimmt. Demnach gilt: "Antipolitische Politik ist möglich. Politik von unten´. Politik des Menschen nicht des Apparates" (Havel, Am Anfang war das Wort, 1990, S. 12)

Aus dem ethischen und utopischen Anarchismus stammt die "Politik der Autonomie", die sich als eine Bewegung nach Autonomie von staatlicher Politik zur Ermöglichung der Selbstorganisation versteht. Saul Newman beschreibt dies als "Politik der Anti-Politik" bzw. "anti-politische Politik" (The Politics of Postanarchism, 2010, S. 4-11, 37, 68 ff., 92-95, 103, 138 f.)

Im autonomistischen Marxismus wird zwischen der Politik als mit dem Staat verbundenen Aktivität und der "anti-politischen" Politik als direkter und aktiver sozialer Kampf für die Interessen der subalternen Klasse unterschieden

Tatsächlich nimmt, wie Bourdieu dies kennzeichnet, vor allem der Intellektuelle diesen "neuen Typus politischer Intervention" der "anti-politischen Politik" ein, die sich als "Politik der Reinheit (...), die die vollkommene Antithese zur Staatsraison bildet" (Bourdieu, Die Intellektuellen und die Macht, 1991, S. 45) stilisiert.

Bei aller Befürwortung der moralischen Stärkung der aktiven Partizipation würde Guardini den autonomistischen Grundansatz hinter diese "anti-politischen Politik" ebenso ablehnen, wie die Vorstellung durch eine dialektische "Anti"-Haltung jenes menschenmögliche, friedlich-koexistente Gleichgewicht zu erreichen, das nach Guardini nur im Aushalten auch der politisch gegebenen Gegensätze in dynamischen Spannungseinheiten liegen kann.

Zur Problematik "un-politischer" Politik

Wenn Karl Dietrich Bracher die Politik Brünings am Ende der Weimarer Republik als „unpolitische Politik“ kennzeichnet und sie für die Auflösung der Weimarer Republik mit verantwortlich macht (Brünings unpolitische Politik und die Auflösung der Weimarer Republik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 19 (1971), S.113-125 - https://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/1971_2_1_bracher.pdf), hätte Guardini dieser Qualifikation wohl entschieden widersprochen, nicht nur weil er selbst politisch Heinrich Brüning sehr nahestand. Dennoch macht Bracher hier ein Dilemma deutlich, in dem die römisch-katholisch orientierte Politik des Zentrums stand und auch heutige christlich orientierte Politik steht. Bracher sieht den „unpolitischen“ Politikbegriff Brünings darin, dass er „die Bedingungen und Möglichkeiten politischen Planens und Handelns in der modernen Massengesellschaft verkennt - einer Gesellschaft, in der alle Politik sich demokratisch oder pseudodemokratisch strukturiert, selbst autoritäre oder totalitäre Herrschaft. Brünings Auffassung von Politik, wie sie in den Äußerungen der Kanzlerzeit ebenso wie in seinem nachträglichen Selbstverständnis hervortritt, steht in der Tradition einer deutschen Staatsauffassung, die auf der qualitativen Trennung von Parteipolitik und Staatspolitik, auf dem Vorrang des Staates vor der Demokratie beruht.“ Bracher verweist dazu auf seinen eigenen Aufsatz „Staatsbegriff und Demokratie in Deutschland" (in: Politische Vierteljahresschrift 9 (1968), S. 2 ff.). Letztlich habe dadurch Brünings Politik geschwankt „zwischen der Verteidigung einer bürokratischen Version des Rechtsstaats und der Vorbereitung der Diktatur. Im Zeichen des Topos von der überparteilichen Sachlichkeit hat sie die deutsche Abneigung gegen parteienstaatliche Demokratie verschärft, die Entwöhnung von parlamentarischer Politik besiegelt und dadurch geradezu für das Gegenteil einer überparteilichen Regierung Raum geschaffen: für die Heraufkunft eines Systems von radikaler Parteilichkeit und totalitärer Politisierung. Der Glaube, den Rechtsstaat auch ohne Demokratie erhalten zu können, erwies sich als fatale Illusion. Brüning war nicht, wie auf dem Umschlag seiner Memoiren zu lesen ist, der letzte Kanzler vor der Auflösung der Weimarer Republik, er war der erste Kanzler im Prozeß dieser Auflösung der deutschen Demokratie.“ Die Frage, die Karl Dietrich Bracher dagegen nicht beantwortet, ist die Frage der Alternative, die eine Kanzler der Mitte angesichts einer zuvor schon begonnenen Radikalisierung und Ideologisierung der Gesellschaft, zumal wenn er von der eigenen „Elite“ ebenso im Stich gelassen worden ist wie einige Jahre zuvor der Zentrumskandidat für die Präsidentschaftswahl von 1925, Wilhelm Marx. Eine Politik der demokratischen Mitte kann nur gelingen, wenn die potentiellen Wähler an den Ränder des „Protestes“ durch ein größtmöglichstes Angebot an „gemeinsamen Nennern“ an sachpolitischen Positionen sowie an personellem Angebot wieder in die Volksparteien integriert werden. Wenn das thematisch nicht gelingt und die personellen Köpfe der rechten und linken Ränder der Volksparteien, diese verlassen und sich zum Brückenbau und zur Unterstützung rechts- und linksradikaler Kräfte entscheiden, ist es im Nachhinein sehr einfach zu sagen, man hätte sich stärker gegen „Rechts“ oder wahlweise gegen „Links“ abgrenzen müssen, wenn diesem Zeitpunkt noch gar nicht klar war, ob die Weimarer Republik nun durch ein linkes, kommunistisches oder ein rechtes, faschistisches Regime abgelöst wird, zumal wenn vermeintliche „Kräfte der Mitte“ versuchen, diese Auflösungstendenzen der parlamentarischen Demokratie für ihre eigenen taktischen Ziele zu instrumentalisieren versuchen, so wie bei den monarchistisch-legitimistischen, also restaurativen ebenso wie bei den anarchistisch-rätestaatlichen, also revolutionären gesellschaftlichen Kräften in Kirchen, Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden, usw.

Wenn Guardini, wie August Berning berichtet, gegen Ende der Weimarer Republik den republikanischen Flügel der Zentrumspartei zusammenholte, um über die bevorstehenden Erschütterungen zu sprechen, mit einem Text, der wohl die Grundlage für die an Ostern 1934 noch im Freundeskreis verbreiteten Darlegungen über „Die religiöse Offenheit der Gegenwart“ bildete, ist das darin Angesprochene alles andere als „unpolitische Politik“. Auch wenn derartige politische Initiativen, die Gegenwart zu „erklären“, um entsprechend politische Konsequenzen daraus zu ziehen, „zu spät“ gekommen sein mögen, sind sie ebensowenig „unpolitische Politik“, wie die Repräsentanten eines derartigen Politikbegriffs „unpolitische Politiker“ sind. Brachers Verweis auf und Vergleich mit Thomas Manns Begriff des „Unpolitischen“ hinkt sowohl in Bezug auf Guardini als auch im Bezug auf Guardini.

Zur Problematik "post-politischer" Politik

Das von Marx und Engels beeinflusste Verständnis einer "post-politischen Politik" soll keine Herrschaft mehr sein, sondern nur der Verwaltung dienen. »An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen« (Engels, MEW 20, 262). Diese Vorstellung von Politik findet sich insbesondere in der "Außerparlamentarischen Opposition" und der "Neuen Linken" nach 1968 wieder. Letztlich geht es aber darum Themen wie Feminismus, Ökologie und Postkolonialismus nicht nur als "alternative politische Ziele" zu fassen, sondern eben als "über-"/"meta-" oder eben "post-politisch" und somit als allgemein-gültig und nicht mehr dem politischen Diskurs unterworfen zu betrachten (vgl. dazu Christoph Henning: Marx und die Folgen, 2017, S. 100 f.) Auch hier hätte Guardini aufgrund des eigenen Politik-Begriffs offensichtlich starke Vorbehalte, wie er sich auch gegen Ansprüche einer "Avantgarde" oder "Basis" - meist beginnend mit einer "außerparlamentarischen Opposition" und "Anti-Parteien-Bewegung" - verwahrt hätten, in einer "Volksdemokratie" jenseits einer direkten oder einer repräsentativ-parlamentarischen Demokratie zu vertreten.