Nation, Volk und Demokratie bei Romano Guardini

Aus Romano-Guardini-Handbuch

Nation, Volk und Demokratie bei Romano Guardini. Eine Antwort auf Hans Joachim Türk

Im Unterschied zu Hans Joachim Türk ("Nation" und "Volk" in Romano Guardinis "Ethik", in: Festschrift für Bernhard Sutor, S.161-173, hier S. 166) glaube ich nicht, daß Volk und Nation fuer Guardini gleichbedeutend sind. Er unterscheidet sehr wohl Volk, Nation und Staat, auch wenn er in seiner Ethik ueberwiegend den Begriff "Volk" verwendet, weil er darin auch selten von der politischen Verfasstheit des Volkes im Sinne der Nation spricht. Unter Einbezug früherer Stellen, stellt sich ein anderes Bild dar, die auch die Stellen in den Ethik-Vorlesungen unter die Prämisse von Guardinis Gegensatzlehre stellt.

Romano Guardini setzt nämlich bereits Anfang der zwanziger Jahre klare Maßstäbe gegen "völkische Beschränktheit": Es geht darum ein Leben zu "führen, das seine Maßstäbe, seine Antriebe, Ziele und Kräfte aus Gott nimmt, das ist Heldentum. Aber der rechte Gott muss es sein. Nicht der verkrüppelte völkischer Beschränktheit, in dem nur nationale Eigenart und Enge ihre Besiegelung findet. Nicht der idealistische Begriffsgott, zu dem es keine warme Nähe und kein persönliches `Du' gibt. Nicht der verschwimmende Gefühlsgott der Pantheisten. Sondern der volle, klare, reine, unendlich-persönliche. ... Gerade aus dem neuen Geiste heraus wird die Jugend ein neues, wundervolles Verhältnis zu Christus finden: Er ist der Führer." (Neue Jugend und katholischer Geist. Der Mainzer Juventus zu eigen, Mainz 1920; (2)1921; (3)1921; (4., mit einem Vorwort)1924, S. 34/35). In diesem Sinne warnt er gleichermaßen vor den Gefahren des Nationalismus und des Internationalismus, die die Solidarität unter den Völkern zerstören (Vgl. Liturgische Bildung: Die Aufgabe, Burg Rothenfels 1923, S. 53).

Guardini bestimmt schon sehr früh das Verhältnis von Staat und Volk in doppelter Weise: Einmal ist der "eigentlich politische Sinn des Staates ..., dass er Hoheit sei ..., dass er, selbst Gott ergeben, dessen Majestät unter den natürlichen Dingen und Wirklichkeiten des Lebens darstelle und zur Geltung bringe" (Rettung des Politischen (1924), in: Wurzeln eines großen Lebenswerks, Band 2, 2001, S. 205). Er repräsentiert die Hoheit Gottes. "Das war `von oben' her gesehen, vom Staat aus. Nun `von unten' her: Staat wird getragen durch Volk. `Volk' ist mehr als Masse. Volk ist lebendige Einheit von Blut, Boden, Schicksal, Überlieferung; von geistigen Wesensbildern, Werken ... Als bloßes Volk ist Volk, politisch gesehen, nur Objekt. Erst durch `Staat' wird es handlungsfähig. Das ist die andere Seite im politischen Sinn des Staates: In ihm wird Volk handlungsfähig. Damit geschichtsfähig" (S. 206 f.). Dabei sieht Guardini die Gefahr heidnischer Staatsvergötterung, nationalistischer Volksvergötzung ganz deutlich. Denn "immer wieder versucht der Staat, seine ihm von Gott nur verliehene Hoheit in göttliche umzuwandeln. Die Hoheit des Staates besteht nur darin, dass er Gottes Stellvertreter sei im Natürlichen, Rechtlichen. Er aber sucht sie zur ursprünglichen, einzigen, absoluten zu begründen. Im letzten: der Staat sucht immer wieder `Gott zu sein'. `Den präsenten Gott' hat ihn ja Hegel genannt!" (S. 209 f.). Guardini grenzt sich deutlich gegen Nationalismus ab. Denn vielmehr geht es ihm um das "politische Problem von Volk und Volksstaat", das zu einem übervölkischen Staat und der Menschheit in Beziehung steht (vgl. S. 213). Denn ein Volksstaat, in dem eigentätige, verantwortungsbewusste, mündige, politische Persönlichkeiten wirken, kann weder ein "demokratischer Staat" in dem Sinne sein, dass er "auf Hoheit verzichtet und sich bloß als Sicherheitseinrichtung, als Kulturwart und Wirtschaftsbehörde ansieht, also unpolitisch ist im tiefsten Sinn des Wortes". Er kann aber auch nicht bloß Obrigkeitsstaat und Kabinettspolitik alten Stils sein, "für welche die Persönlichkeit des Einzelnen politisch bedeutungslos und die Völker lediglich Objekte waren" (S. 213 f.).

Ebensowenig darf der Staat "uns keine Maschine sein, die blind läuft" (Briefe über Selbstbildung, Topos, S. 150).

Auch Guardini konstatiert, dass oft die nüchterne Tatsache übersehen wird, "daß das politische Leben einfach Kampf ist; elementarer Kampf um das Dasein" (Gedanken über politische Bildung (1926), in: Wurzeln eines großen Lebenswerks, Band 2, S. 282). Die "angeblich verachtungswürdige `Interessenvertretung'" gehört "in Wahrheit zum ehrlichen Wesen unserer politischen Existenz," nicht jedoch eine "zynische `Real-Politik', in der Interesse und Macht als Norm gesetzt und jedes Mittel für erlaubt erklärt wird. Demgegenüber gilt es, jenen Kampf als Rohstoff zu erkennen, der menschlich, sittlich und im Besten religiös geformt werden muß" (S. 178) Unabhängig davon, ob man der Meinung ist, "der geschlossene, politische Staat werde bleiben" oder "er werde weichen und von überstaatlichen Sachformungen wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, kultureller Art aufgesogen werden", "immer ist das politisches Leben, Leben der Ganzheit als solcher; im Unterschied zum privaten Leben des Einzelnen, der Familie, der Gruppe usf." (S. 180). Die verschiedenen Einzelnen oder Gruppen leben "im gleichen Raum und in den gleichen kulturellen Zusammenhängen. Also bedarf es einer Ordnung, welche die aus der Vielartigkeit kommenden Spannungen nicht nur lebbar macht, sondern sie in ein gerade durch solche Vielartigkeit möglich werdendes fruchtbares Verhältnis bringt.

Das geschieht durch das demokratische Prinzip. Dieses besagt: Das Dasein ruht auf einer Vielheit von Personen; auf der Mannigfaltigkeit ihrer Anschauungen, ihrer sozialen und kulturellen Impulse. Diese Vielheit ist berechtigt und darf ihr Recht durch selbstbestimmte Lebensführung und Arbeitsleistung beweisen; so kann eine Einheit immer nur durch ebenfalls freies Zusammenwirken zu Stande kommen. Also muss Jeder den Anderen anerkennen, ihm Raum geben, seine Überzeugung als solche achten, auch wenn er sie nicht teilt, und stets bereit sein, mit ihm, wo nur möglich, in Kooperation zu treten. Demokratisch ist aber auch das Vertrauen, von hier aus sei eine echte, wenngleich bedrohte und immer neu zu schaffende Einheit möglich -, ebenso wie ein auf gemeinsam gewonnener Erfahrung und Weisheit ruhendes Ethos" (Pluralismus, in: Sorge um den Menschen, Band 1, (4)1988, S. 138 f.)

Auch wenn das Volk "im optimalen Sinn" die "Einheit ethnologischer und geographischer Gegebenheiten, mit deutlich politischer Form und wirksamer geschichtlicher Initiative" (Ethik, 1993, S. 548), "die genetisch verbundene Gesamtheit von Personen bestimmten geographischen, nationalen, geschichtlichen Charakters" ist; auch wenn es als solches das Recht hat, "zu leben und sich zu entfalten" und sich im Staat zu verfassen, um handlungsfähig zu werden (S. 349); auch wenn dadurch "die Zugehörigkeit zu einem Volk eine Gegebenheit im ethischen Sinne des Wortes ist" (S. 550), da jeder die Aufgabe hat, "zu seinem Volk zu stehen; es in Ehren zu halten; mit seiner ökonomischen und kulturellen Leistung zu dessen Dasein beizutragen, gegebenenfalls mit dem Leben für dessen Sicherheit und Beistand einzutreten", es sei denn er will, dass sich "eine bestimmte Schicht des Charakters" auflöst hin zu "Ungenauigkeit und Ortlosigkeit, auf die sich spontane Verachtung richtet" (S. 551); auch wenn das alles gilt, besteht für Guardini "kein Zweifel, dass die Bindung an das eigene Volk nicht absolut ist" (S. 551) und die Nation "als Glied des größeren Ganzen zu verstehen" ist. Das Größere ist dabei für Guardini zunächst Europa, aber letztlich das "Bewusstsein vom Menschlichen" überhaupt. "Damit legt man alles ab, was `Nationalismus' heißt. Nicht das Nationale, die Liebe zur Nation, aber das Nationalistische" (S. 553).

Und so ist Guardini schließlich überzeugt: "Im Fortgang der Geschichte weiten sich die soziologischen Strukturen, die der Mensch durchlebt, immer mehr aus. Die Sippe wächst zum Stamm, zum Volk, zu Völkergruppen und -bündnissen und so fort. Das vergangene Jahrhundert war dadurch charakterisiert, dass die politischen Vorstellungen und Impulse auf Nationen aufbauten; unseres dadurch, dass das politische Feld der Erde sich schließt und die wechselseitige Abhängigkeit aller Nationen ins Bewusstsein tritt. Eine Stufe geschichtlicher Existenz zeichnet sich ab, welche durch die Gesamtheit des Menschlichen getragen wird. Die Vorstellung eines Menschheitsstaates wäre noch utopisch; aber die Idee von zwei feindlichen Menschheitsgruppen und dem zwischen ihnen spielenden Kampf, wie er die gegenwärtige Politik bestimmt, stellt vielleicht etwas dar, was fürs erste davon Wirklichkeit werden kann" (Die Maschine und der Mensch: Vortrag auf der Jahrestagung des `Bundes der Freunde der technischen Hochschule München", 1959, in: Jahrbuch der technischen Hochschule München 1959, München 1960, S. 59-67; auch in: Unterscheidung des Christlichen, 1963; und in: Die Technik und der Mensch, 1981; (2)1990, S. 101 f.).