Vorlage:Zur Genese von Guardinis Theorem vom „Ende der Neuzeit“ (1911-1948)

Aus Romano-Guardini-Handbuch

Guardini spricht schon lange vor 1950 von „nach-neuzeitlichen“ Phänomenen, die er schließlich in seinen Büchern „Das Ende der Neuzeit“ (1950) und „Die Macht“ (1951) lediglich umfassender beschreibt. Erstmals 1911 zieht er in seinem anonym erschienenen Rezensionsaufsatz „Das Interesse der deutschen Bildung an der Kultur der Renaissance“ zum Beispiel den Vergleich zwischen dem bevorstehenden „neuen“ Mittelalter zu den Übergangsepochen der „Renaissance“ und des „Hellenismus und des römischen Kaisertums oder der Renaissance“:

„Es gibt aber eine andere Zeit, die uns wirklich verwandt ist, die des Hellenismus und des römischen Kaisertums. Auch sie hatte ein Freiwerden aller individuellen Kräfte und Momente, eine Einstellung der Aufmerksamkeit auf das Ich erlebt. Auch sie war zersplittert, skeptisch und gefangen in dies Ich. Auf sie aber folgte nach langem Ringen eine Periode, die in ihrer Art das hatte, was wir heute suchen, das Mittelalter, jene Jahrhunderte gewaltiger Leistungen, gewaltiger Einheiten. Das Mittelalter ist die modernste Zeit, mehr, es ist unsere Zukunft. Wie aus der zersetzten hellenistisch-römischen Kultur, durch den Eintritt des Christentums und Germanentums das Mittelalter wurde, das Schauspiel, scheint mir, könnte uns Weisheit lehren, denn unsere Aufgabe ist, ein neues ‚Mittelalter’ zu schaffen. Das braucht niemanden zu erschrecken; nicht zurück zum vergangenen, sondern vorwärts zu ‚unserem Mittelalter’ Solls gehen. Vom Entstehen des ersten aber können wir lernen, die Welt wieder nicht mit den kleinen, verschleierten Augen unserer Subjektivität, sondern mit dem Blick der Dinge selbst, Gottes, zu sehen. Könnten uns wieder nach der Enge und Ängstlichkeit der ‚kritischen’ Zeit die große, so tiefschauende Naivität des objektiven Auges, die Kraft der großen ungebrochenen Bejahung erringen, sie für viele verlorenen Ideale der Heiligkeit, der Wahrheit, der Herrlichkeit des Reiches Gottes wiederfinden“[Romano Guardini, Das Interesse der deutschen Bildung an der Kultur der Renaissance, in: ders., Wurzeln eines großen Lebenswerks, Band 1, 2000, S. 18].

In seinem Brief an Heinrich Kahlefeld, den Herausgeber der Sammlung „Unterscheidung des Christlichen“ von 1935, schreibt Guardini mehr als deutlich von der „endenden Neuzeit“:

„Auf jeden Fall hoffe ich, daß der Titel, den das Buch trägt, zu Recht besteht. Es handelt sich hier wirklich um die „Unterscheidung des Christlichen". Um einen Beitrag also zu jener Arbeit, die uns die endende Neuzeit hinterlassen hat und die Gegenwart mit immer größerer Gewalt aufzwingt: die christlichen Begriffe von all den An-Ähnlichungen, Abschwächungen und Überdeckungen, Fehlleitungen und Verzerrungen zu befreien, die sie seit dem Beginn der Neuzeit erfahren haben. Jene christliche Kultur, die im Mittelalter grundgelegt wurde, löst sich erst heute endgültig auf. Der Wille zu nicht-christlichem Dasein und Werk, der im Lauf der letzten Jahrhunderte immer wieder durchgedrungen ist, wird erst jetzt zu einer offenen Macht im europäischen Gesamtdasein. Geistige Entscheidungen, die schon im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert dem Anspruch der Offenbarung gegenüber gefallen sind, kommen nun voll zu Wort und Tat. So beginnt im christlichen Bewußtsein eine doppelte Bewegung: Es sucht die Wurzeln, um sich des Eigentlichen und Echten zu vergewissern; andererseits beginnt es die umgehenden Worte und Gestalten zu prüfen, und all den Zerstörungen entgegenzutreten, die aus der Säkularisation des abendländischen Daseins entspringen“[Romano Guardini, Vorwort (1935), in: ders., Unterscheidung des Christlichen, Band 1: Aus dem Bereich der Philosophie, Mainz (3)1994, S. 13 f.].

Insofern verwundert es auch nicht mehr, wenn er in seinem anthropologischen Buch „Welt und Person“ – erarbeitet Anfang der dreißiger Jahre, veröffentlicht 1939 – dies noch deutlicher ausführt:

„In den Begriffen der Natur, des Subjekts und der Kultur drückt sich jene Verpflichtung aus, welche die Neuzeit entdeckt und auf sich genommen hat: zur Redlichkeit und Sachgerechtigkeit. Sie entschloß sich, die Welt als Wirklichkeit zu nehmen und sie nicht durch den unmittelbaren Übergang ins Absolute zu verdünnen. Sie wurde inne, daß diese Welt dem Menschen in einer zugleich großen und erschreckenden Weise in die Hand gegeben ist, und machte sich bereit, den Sinn dieser Verantwortung nicht durch den Rückgriff auf das Religiöse abzuschwächen, sondern sie selbst als religiöse Aufgabe zu verstehen. Die neuzeitliche Wissenschaft mit ihrer Unerbittlichkeit; die Technik mit ihrer Genauigkeit und Kühnheit; der spezifisch neuzeitliche Geist der Welteroberung, Planung und Gestaltung sind echte Fortschritte. Nicht in dem oberflächlichen Sinn, daß die durch sie charakterisierte Geschichtsepoche ohne weiteres besser wäre als die voraufgehende. Hier von ‚Besser’ oder ‚Schlechter’ zu reden, ist ein zweifelhaftes Ding – ganz abgesehen davon, daß jeder Gewinn an einer Stelle mit Verlust an einer anderen bezahlt wird und wir heute, da die Neuzeit zu Ende geht, immer schärfer sehen, wieviel der Übergang zu ihr gekostet hat. Was eine Epoche der Geschichte gegenüber der anderen rechtfertigt, ist nicht, daß sie besser, sondern daß sie an der Zeit ist. Insofern ist sie auch gut und ein Fortschritt. Die in Rede stehenden Begriffe drücken dieses an der Zeit gewesene Neue aus. Vielleicht muß man sogar sagen, auch noch das Falsche an ihnen hänge irgendwie mit der neuzeitlichen Lebens- und Werkleistung zusammen. Wenn ein solches Werk der Erkenntnis, Beherrschung und Gestaltung vollbracht werden sollte, wie es tatsächlich vollbracht worden ist, mußte vielleicht wirklich in irgend einer Weise eine derart leidenschaftliche Hinwendung zur Welt vollzogen werden“[Guardini, Welt und Person, a.a.O., S. 26].

In seiner berühmten Pariser Rede „Auf der Suche nach dem Frieden“ ist sich Guardini 1948 schließlich voll bewusst, welche Rolle die Entstehung der „Masse“ in der Nach-Neuzeit haben wird:

„Ganz deutlich treten die Phänomene erst in dem Maße hervor, wie die Masse entsteht. Aus dem gegliederten Volke wird nun eine Vielzahl von Menschenatomen; aus dem Staat eine Apparatur, in welcher diese Masse von Atomen zur Aktion gelangt. Nun können die dargelegten Tendenzen ihre ganze Wirkung tun: es entsteht der nach-neuzeitliche totale Staat und mit ihm der nach-neuzeitliche Krieg – jener, mit dem wir Heutigen es zu tun haben“[Romano Guardini, Auf der Suche nach dem Frieden, zuerst in: Hochland, 41, 1948; in: ders., Sorge um den Menschen, Band 2, Mainz (2)1989, S. 7-28, hier S. 12].

Im Zusammenhang mit derartigen „nach-neuzeitlichen“ Fragen um Krieg und Frieden kommt Guardini nun direkt auf die Angst des nach-neuzeitlichen Menschen zu sprechen und steht damit mitten in den „Gedanken der Existentialphilosophie“:

„Es würde tief in das Wesen der geschichtlichen Epochen einführen, wenn man fragte, worin die Angst des primitiven Menschen bestand, von ihr unterschieden die des antiken, des mittelalterlichen, des neuzeitlichen. Die des nach-neuzeitlichen Menschen entspringt daraus, daß die ungeheuerliche Macht, welche er in Händen hält, sich aus der Ordnung gelöst hat; daß sie, im Letzten und Ganzen, weder verantwortet noch gelenkt ist. Der moderne Krieg aber bildet die heftigste Vergegenwärtigung der drohenden Gefahr. Diese Tatsache empfindet nicht bloß der Philosoph, sondern er sieht nur klarer und spricht deutlicher aus, was die Zeit überhaupt fühlt. Darum reagieren so viele Menschen auf die Gedanken der Existentialphilosophie, auch solche, die gar nicht in der Lage sind, sie intellektuell zu verstehen: ihr Daseinsgefühl antwortet auf die Erfahrung, die ihr zugrunde liegt“[Ebd., S. 22].