Romano Guardini und die Familie Kuhn: Unterschied zwischen den Versionen
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Nach seiner Promotion 1923 wechselte Helmut Kuhn von Breslau nach Berlin, zunächst noch ohne konkretes Ziel, dann aber um dort Klassische Philologie bei Werner Jaeger weiter zu studieren, auf den er durch Julius Stenzel aufmerksam gemacht worden ist [Helmut Kuhn: Curriculum vitae meae, in: | Nach seiner Promotion 1923 wechselte Helmut Kuhn von Breslau nach Berlin, zunächst noch ohne konkretes Ziel, dann aber um dort Klassische Philologie bei Werner Jaeger weiter zu studieren, auf den er durch Julius Stenzel aufmerksam gemacht worden ist [Helmut Kuhn: Curriculum vitae meae, in: Ludwig J. Pongratz (Hrsg.): Philosophie in Selbstdarstellungen, Hamburg 1977, Bd. III, S. 244]. Es existiert im Kuhn-Nachlass in der Bayerischen Staatsbibliothek noch eine Teil der Korrespondenz mit Werner Jaeger zwischen 1927 und 1935 (Berlin1 eKU, 2 eBU, 1 BU1927-1935, 1 B o.D.) | ||
=== Heirat mit Käthe Lanke (Lewy) === | === Heirat mit Käthe Lanke (Lewy) === | ||
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Helmut Kuhns Vater starb 1927, worauf seine Mutter ihren Wohnsitz nach Göttingen verlegte. Bei der Auflösung des Lübener Haushalts übernahm die Familie Feige den Kuhn'schen Seiler-Flügel. Der Kontakt zwischen der Mutter von Frau Dr. Feige und Frau Kuhn riss bis zu deren Tod nicht ab. Das Kuhnsche Anwesen erwarb der aus Lüben stammende Fleischermeister Otto Hoffmann. | Helmut Kuhns Vater starb 1927, worauf seine Mutter ihren Wohnsitz nach Göttingen verlegte. Bei der Auflösung des Lübener Haushalts übernahm die Familie Feige den Kuhn'schen Seiler-Flügel. Der Kontakt zwischen der Mutter von Frau Dr. Feige und Frau Kuhn riss bis zu deren Tod nicht ab. Das Kuhnsche Anwesen erwarb der aus Lüben stammende Fleischermeister Otto Hoffmann. | ||
Als 1931 der Sohn Reinhard zur Welt kam, gab Käthe Kuhn die geplante eigene Dissertation „Kinderspielzeug im alten Rom“ beim berühmten Altphilologen Wilamowitz auf (Kuhn, | Als 1931 der Sohn Reinhard zur Welt kam, gab Käthe Kuhn die geplante eigene Dissertation „Kinderspielzeug im alten Rom“ beim berühmten Altphilologen Wilamowitz auf (Ich trage einen goldenen Stern: ein Frauenleben in Deutschland, 2003, S. 13; Goldenstedt, a.a.O., S. 15). | ||
== Helmut Kuhn, Romano Guardini und die Berliner Kant-Gesellschaft == | |||
=== Helmut Kuhns Beziehung zu Guardini bis zur Emigration === | |||
Hugo Herrera schreibt über Helmut Kuhn: ''„Er hatte keine Lehrer im eigentlichen Sinn, stand aber Hönigswald, Jaeger und Guardini nahe […]. Bestimmend für Kuhns Denken waren – neben Hönigswald, Jaeger und Guardini – Platon und Husserl. Im Vorwort von Das Sein und das Gute schreibt er: „Nun ist der Gedanke, von dessen Wichtigkeit der Autor gern andere überzeugen möchte und dem er seine eigene Autorenschaft von der ersten bis zur letzten Zeile verdankt, nicht einmal sein eigener. Die Natur dieses Gedankens schließt jeglichen Anspruch auf Originalität, so wie das Wort heute verstanden wird, aus. Es geht einfach um den Begriff der Philosophie, wie ihn Platon zuerst gedacht und in seinem schriftstellerischen Werk zum Ausdruck gebracht hat“(17: SuG, S. 11) Und weiter schreibt Kuhn in diesem Vorwort: „Die Phänomenologie Edmund Husserls half zur Emanzipation von den konstruktiven Denkgewohnheiten der neukantischen Schule und gab Mut und Freiheit zum eigenen Sehen“ (SuG, S. 12). […] Andere Philosophen, die das Denken Kuhns beeinflussten, sind Thomas von Aquin, Aristoteles, Kant und latent-kritisch Martin Heidegger und Carl Schmitt. Kuhn stand – trotz seiner Nähe zur Phänomenologie und zu in Deutschland bekannten Professoren wie R. Guardini, L. Strauss, E. Voegelin und anderen – philosophisch eher isoliert da“'' [Hugo Herrera: Sein und Staat. Die ontologische Begründung der politischen Praxis bei Helmut Kuhn, 2005, siehe insbesondere S. 11-13; unter Verweis auf Curriculum, S. 240 ff., 252 f., 279; vgl. H. Kuhn, Romano Guardini – Philosoph der Sorge, St. Ottilien; Romano Guardini, Der Mensch und das Werk, München 1961)]. | |||
Trotz mittlerweile vorliegender autobiographischer und biographischer Darstellungen [Christiane Goldenstedt, "Du hast mich heimgesucht bei Nacht." - Die Familie Kuhn im Exil, 2013; Annette Kuhn, Ich trage einen goldenen Stern: ein Frauenleben in Deutschland, 2003, insbesondere Abschnitt zu Romano Guardini S. 100-105] - ist noch nicht endgültig geklärt, wann und wo genau Kuhn und Guardini sich persönlich kennengelernt haben. Er selbst schreibt dazu im Vorwort seiner zweiten Guardini-Studie „Romano Guardini – Philosoph der Sorge“ von 1987, er habe 1925 erstmals eine philosophische Vorlesung Guardinis besucht: ''„Wir schreiben das Jahr 1925. Guardini, Professor an der Universität Berlin (formaliter Mitglied der Universität Breslau) hält eine philosophische Vorlesung. Unter den Hörern findet sich der Verfasser dieses Buches, der nach geglückter Promotion an der Universität Breslau zu weiteren Studien an die Universität der Hauptstadt gekommen ist. Guardini spricht unbeschadet der Eigentümlichkeit seiner italienischen Herkunft als ein typischer Vertreter der deutschen geistesgeschichtlichen Philosophie. Was ihn aber von seinen deutschen Kollegen unterscheidet, ist das Erfülltsein von einer doppelten Überzeugung. Die Philosophie griechischen Ursprungs und die christliche Botschaft – das sind für ihn das Fundament, auf dem unsere Zivilisation beruht und von dem unsere Zukunft abhängt. Gewiß wurde diese Überzeugung von vielen Vertretern der geisteswissenschaftlichen Philosophen geteilt. Für Guardini aber war sie mehr als ein Glaubensartikel unter anderen. Für den Hörer kam also alles darauf an, von diesem Lichtpunkt ergriffen zu sein. Der Verfasser dieses Buches glaubt, daß auch er getroffen war“'' (Helmut Kuhn, Romano Guardini – Philosoph der Sorge, 1987, S. 9). | |||
Dabei grenzte Helmut Kuhn sich von der Jugendbewegung und bestimmten Guardini-Kreisen ab, die sich aus dem Gemeinschaftsbewusstsein mit ihm, zu ihm hingezogen fühlten. Für ihn dagegen war es „der gleiche Drang, der die jungen Männer von einst sich um Sokrates scharen ließ“ (ebd., S. 22). | |||
Helmut Kuhn berichtete im Zusammenhang mit Guardini außerdem über eine Begebenheit aus den Jahren 1932/33, in der Guardini selbst nur eine indirekte Rolle spielt, in der Kuhn aber Guardinis Geschichtsdenken als Antipoden zur Geschichtsphilosophie Stefan George und seine Anhänger nachzeichnet. ''„Ich erinnere mich eines Vorfalls aus dem Jahre 1932. Ein älterer und berühmter Kollege hatte mich zu sich gebeten, um mich mit L.F. bekannt zu machen, einem jungen Mann, der sich damals als einer der geistigen Führer der Jugendbewegung einen Namen gemacht hatte und der mit dem Kreis um Stefan George in Verbindung stand. Ein am Tag zuvor aus dem Munde von Romano Guardini vernommenes Wort wollte mich nicht loslassen: `Das Wissen um den Sinn unserer Gegenwart ist uns verschlossen. Nur prophetische Einsicht vermag dieses Dunkel zu durchdringen.´ So oder so ähnlich hatte der Ausspruch gelautet, den ich viele Jahrzehnte später von dem gleichen Sprecher noch einmal gehört habe. Seine Wahrheit hatte mir sofort eingeleuchtet, wenn mir auch seine Bedeutungsfülle erst später zum Bewusstsein kommen sollte. L.F., beredt und leuchtend, war der Wortführer bei dem Gespräch zu dritt. Er sprach davon, wie die brüchig gewordene Kruste der bürgerlich-liberalen Gesellschaft, gleichsam unter dem Druck aufwärts drängenden flüssigen Feuers aus der Erdmitte, zu bersten beginnt, wie ein neues Zeitalter ... Es war eine im Nietzsche-Stil poetisierte Wiedergabe der landläufigen Geschichtsphilosophie, die in eine Apotheose der nationalsozialistischen Bewegung auslief. Der Redner gefiel mir ebenso, wie mir die Rede missfiel, und ich dachte an das Wort Guardinis. Wenige Monate danach ereignete sich die „Machtergreifung“, und L.F. war dazu ausersehen, bei einer Veranstaltung im Harnack-Haus das Ereignis zu feiern. Er lobte die Bewegung, tadelte ihren Antisemitismus – und musste noch am nächsten Tage Sicherheit in der Schweiz suchen. Er ging später nach Holland und hat dort in den Kriegsjahren in Zusammenarbeit mit dem holländischen Widerstand sein Leben für die Rettung deutsch-jüdischer Kinder eingesetzt. Es ist mehr Weisheit im Gewissen als in der Geschichtsphilosophie, die in der meist uneingestandenen Nachfolge Hegels die Vorsehung in Wissenschaft verwandeln oder das Schicksal lenken möchte“'' (Helmut Kuhn: Das Sein und das Gute, München 1962, Vorwort, Oktober 1961, S. 14). | |||
Die Identität von „L. F.“ konnte bislang noch nicht ausgemacht werden. Auch der Guardini sinngemäß zugeschriebe Aphorismus konnte noch keinem später veröffentlichten Werk zugeordnet werden. | |||
In den dreißiger Jahren hörte Kuhn bei Guardini dann auf jeden Fall noch über Hölderlin (wohl in den Wintern 34/35 und 35/36) und Dostojewski (möglich ab Sommer 1930) [Helmut Kuhn, in: Ludwig J. Pongratz (Hrsg.): Philosophie in Selbstdarstellung, Bd. III, 1977, S. 236-283, hier S. 255]. Zu Hölderlins Verhältnis zur Romantik hatte er sich selbst schon 1926 Gedanken gemacht [Helmut Kuhn: Hölderlin und die Romantik, in: Die Zeitenwende, II, 1926, 10, S. 398-420]. Außerdem erinnert sich Kuhn für die dreißiger Jahre an „abendliche Zirkeln wechselnder Zusammensetzung“, von „Konventikeln der Dissidenten“, bei denen er immer wieder auch Guardini begegnete [Pongratz, a.a.O., S. 265]. | |||
Ein Kreis, dem Helmut Kuhn angehörte, könnte zum Beispiel in anderen Kontexten zu Begegnungen mit Guardini geführt haben. Helmut Kuhn war 1937 der erste von vier Emigranten eines Berliner Gesprächskreises, der sich ab Mitte der dreißiger Jahre dort gebildet hatte. Zu ihm gehörten Fritz Kaufmann, Richard Kroner und Kurt Riezler, die alle drei 1938 emigrierten. Kurt Riezler war nach dem Entzug der Lehrbefugnis in Frankfurt am Main 1934 nach Berlin gezogen, Kroner war 1935 zu seiner Schwägerin Cläre Kauffmann nach Berlin gegangen und hatte dort eine Forschungsstelle zugewiesen bekommen, der Freiburger Phänomenologe und Husserl-Schüler Fritz Kaufmann kam von Freiburg aus nach Berlin und lehrte ab 1936 als Gastprofessor an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin. Fritz Kaufmann lehrte in den USA als Dozent in Chicago und in Buffalo. Kroner war zunächst drei Jahre in Oxford in England tätig und siedelte 1940 in die USA über, wo er am Union Theological Seminary in New York von 1941 bis zu seiner Emeritierung 1952 Religionsphilosophie lehrte. Riezler bekam in den USA zunächst eine Professur an der New School for Social Research in New York City, daneben war er Gastprofessor an der University of Chicago und an der Columbia University. Er kehrte 1954 nach Europa (Rom) zurück, starb aber bereits 1955 bei einem Aufenthalt in München. Inwieweit die Berliner Kontakte auch in den USA weitergepflegt wurde, ist noch nicht erforscht. | |||
Richard Kroner und Kurt Riezler gehörten zusammen mit Romano Guardini und neben Konrat Ziegler, Ernesto Grassi, Richard Müller-Freienfels, Hans Rothfels, Carl Friedrich von Weizsäcker zu den „Katakombenkreisen des Philosophierens“ um den Medizinhistoriker Leibbrand. Daher ist es nicht unwahrscheinlich, dass auch Helmut Kuhn bei dem ein oder anderen Treffen dieses Kreises dabei gewesen sein könnte. | |||
1937 verließ der „Schüler“ Helmut Kuhn - so sah er sich [Helmut Kuhn: Romano Guardini – Philosoph der Sorge, 1987, S. 10] - also bei seiner Flucht und Emigration auch seinen „sokratischen“ Lehrer Guardini, nimmt in die neue Welt aber ein ihm unvergessliches Wort Guardinis mit: ''„Er sprach von dem „tragischen Finitismus“ Nietzsches, der das Sandkorn der Endlichkeit mit Gewalt habe sprengen wollen, dann von der im Glauben erschauten endlichen Welt, die nicht im Nichts verloren bleibt, sondern die Gott wie einen Ball mit seinen Händen umschließt“'' (Helmut Kuhn: Gespräch in Erwartung. Zu Martin Bubers 80. Geburtstag, in: Merkur, 12, 1958, S. 101-124, hier S. 114). | |||
Version vom 15. Januar 2025, 17:05 Uhr
Familienhintergrund der Kuhns
Ein Großteil der biographischen Informationen zu Familie und Herkunft stammen aus den Erinnerungen von Heinrich Gerhard Kuhn und sind im Internet unter http://www.lueben-damals.de/erinnerungen/kuhn.html veröffentlicht.
Helmut Kuhn
Die Genealogie
- Görlitzer Anwaltsfamilie
- Max Kuhn, Kaufmann in Waldenburg (heute: Wałbrzych), verheiratet mit Charlotte Kuhn geb. Henschel, Halbschwester des Musikers Isidor George Henschel; nachgewiesen ab 1866; 1883 handelte er z.B. mit Weißwaaren und Band; 1883 Mitbegründer der Waldenburger Synagoge
- Wilhelm Felix Kuhn (1868-1927), Rechtsanwalt, 1898 konvertiert und verheiratet mit Martha Hoppe (1868-1946 in Göttingen), evangelisch-lutherische Bauerstochter und Diakonisse
- Helmut Kuhn (1899-1991), 1925 verheiratet mit Käthe Levy (1896-1971), zuletzt Deutschland
- Reinhard Kuhn (1930-1980), verheiratet mit Elisabeth von Rittberg sowie Ira Ameriks; wohnhaft in den Vereinigten Staaten; zwei Kinder
- Annette Kuhn (1934-2019), zuletzt Deutschland
- Heinrich Gerhard Kuhn (1904-1994), Chemiker, 1931 verheiratet mit Marie Bertha, genannt „Mariele“ Nohl (1909-2008), Tochter von Herman Nohl, lutherisch, von Beruf Erzieherin; Großbritannien
- Anselm Thomas Kuhn (* 1936), Großbritannien; ein Kind
- Nicholas John Kuhn (* 1938), Großbritannien
- Helmut Kuhn (1899-1991), 1925 verheiratet mit Käthe Levy (1896-1971), zuletzt Deutschland
- Georg Albert Kuhn (1869-1942), Justizrat in Görlitz, Moltkestraße 53, verheiratet mit der Sängerin Johanna van Linden van den Heuvell (1872-1939), Künstlername „Tilia Hill“. Georg Kuhn beging zusammen mit seiner Schwägerin Trui van Linden van den Heuvell angesichts der drohenden Deportation in Amsterdam Selbstmord.
- Thekla [oder Hedwig (Hedi)???] Kuhn, Sprachlehrerin, unverheiratet, Görlitz, starb an Krebs [irrtümlicher Namenswechsel innerhalb der Erinnerung von Heinrich Kuhn, vermutlich eher Thekla als Hedwig, da eine Hedwig (Hedi) auch als Schwester von Charlotte Henschel genannt]
- Dr. med. Fritz Kuhn, praktizierenden Arzt, später (1920) Spezialarzt für Harn- und Hauterkrankungen sowie (1930) für Hypnose, seelische Leiden und Organstörungen in Berlin (Landsbergerstraße 45 bzw. später 66/67), nicht verheiratet [Erinnerung von Heinrich Kuhn, nicht näher ermittelt]
- Wilhelm Felix Kuhn (1868-1927), Rechtsanwalt, 1898 konvertiert und verheiratet mit Martha Hoppe (1868-1946 in Göttingen), evangelisch-lutherische Bauerstochter und Diakonisse
- Dr. med. (David?) Kuhn, Breslau („anderer Zweig der Familie Kuhn“) =??? Dr. Kuhn, Onkel von Wilhelm Kuhn [ein David Kuhn praktizierte um die Jahrhundertwende den Sommer über in Kudowa, im Winter in Breslau]
- ??? Grete Kuhn, Tochter von Dr. Kuhn, Schwester von Georg???
- ??? Georg Kuhn, später Direktor des Schlesischen Bankvereins und Direktor der Breslauer Filiale der Deutschen Bank und Disconto-Gesellschaft, verheiratet mit Marta, nach 1945 Flucht aus Schlesien nach Murnau/Bayern. Ist wohl „Vetter Georg“
- Max Kuhn, Kaufmann in Waldenburg (heute: Wałbrzych), verheiratet mit Charlotte Kuhn geb. Henschel, Halbschwester des Musikers Isidor George Henschel; nachgewiesen ab 1866; 1883 handelte er z.B. mit Weißwaaren und Band; 1883 Mitbegründer der Waldenburger Synagoge
Herkunft
Helmut Kuhn wurde am 22. März 1899 als Sohn des Lübener Rechtsanwalts und Stadtverordneten Wilhelm Kuhn (1868-1927) und dessen Frau Martha, einer evangelischen Diakonisse, geboren. Sein Vater hatte vor der Ehe den Glauben seiner Frau angenommen und der im Jahr nach der Heirat geborene Helmut Kuhn wurde evangelisch getauft. Sein Vater, der aus einer alteingesessenen, angesehenen jüdischen Görlitzer Anwaltsfamilie abstammte, war seit 1897 in Lüben tätig, wohnte in der Faulhaberstr. 4 im sogenannten „Bürgermeisterhaus“, einem ansehnlichen villenartigen Anwesen, in dem sich seine Kanzlei befand. Die Familie Kuhn war mit den Familien des Lübener Bürgermeisters Hugo Feige und des Arztes Dr. Paul Hübner sowie dem Ehepaar des Direktors des Gymnasiums Erich Tscharntke befreundet.
Kindheit und Schulzeit
Auch von der gemeinsamen Kindheit und Schulzeit berichtet sein jüngerer Bruder Heinrich Gerhard Kuhn (1904-1994). Dieser war in seiner Jugendzeit Mitglied der Lübener Wandervögel unter Leitung des Lehrers Dr. Martin Treblin, zusammen mit Günther Kienast, Walter Lange, Dr. Martin Treblin, Wende und Herbert Baumgärtner. Außerdem gibt es Erinnerungen von Ingeburg Feige, die Tochter des ehemaligen Lübener Bürgermeisters Hugo Feige, an Helmut und Heinrich Kuhn, an die Zeit, da die Familien Kuhn und Feige miteinander benachbart und befreundet waren. Zum Beispiel kann sich Frau Dr. Feige noch gut an eine gemeinsame Silvesterfeier im Bürgermeisterhaus erinnern, auf der es unter der ebenfalls anwesenden Jugend recht turbulent zuging und die auch fotografisch dokumentiert ist. Auch ihr Bruder Konrad Feige erwähnte in seinen Erinnerungen mehrfach die Familie Kuhn [Vgl. dazu: Hans Werner Jänsch: Helmut Kuhn (1899-1991) - Ein großer Sohn unserer Stadt, in Lübener Heimatblatt 6/1991 und 3/1992; auch abgedruckt in: http://www.lueben-damals.de/erinnerungen/kuhn.html]
Helmut Kuhn besuchte in Lüben das Realgymnasium. In den Jahresberichten der Schule von 1911 bis 1914 wird er jedes Jahr mehrfach erwähnt, weil er bei vielen Schulfeiern Gedichte rezitierte und für verschiedene Leistungen ausgezeichnet wurde, u.a. erhielt er 1912 zu Kaisers Geburtstag als „Kaiserprämie“ das Buch „Aus dem Leben Friedrichs des Großen“ überreicht. Seine geistigen Anlagen und sein rhetorisches Talent kündigten sich also bereits in früher Jugend an.
Zuletzt wird er in den Jahresberichten 1914 als mit 15 Jahren jüngster Kriegsfreiwilliger des Lübener Gymnasiums erwähnt. Zum Leidwesen seiner Eltern legte Helmut Kuhn sein Abitur nach den damals geltenden kriegsbedingten Sonderbestimmungen vorzeitig ab („Notabitur“), um sich anschließend sofort freiwillig zum Kriegsdienst zu melden. Die mitunter zu findende Aussage, er habe im September 1914 das Realgymnasium ohne Abschluss verlassen, ist so also nicht korrekt.
Nach vier Jahren Kriegsdienst hatte sich Helmut Kuhn schließlich noch „an der ergebnislosen Operation einer Freiwilligen Brigade an der Ostgrenze Schlesiens“ beteiligt.
Studium und Promotion
Kuhn hatte ab 1919 an der Universität in Breslau Philosophie studiert. Ein Semester hat er von seiner Studienzeit in Innsbruck verbracht. Im Dezember 1923 schloss er seine Studien mit der 1924 erschienen Dissertation „Der Begriff des Symbolischen in der deutschen Ästhetik bis Schiller“ bei Eugen Kühnemann an der Universität Breslau mit dem Doktortitel („magna cum laude“) ab. Die Arbeit wurde noch 1924 in den Schlesischen Jahrbüchern für Natur- und Geisteswissenschaften veröffentlicht (Schlesische Jahrbücher für Natur- und Geisteswissenschaften, II, 1924, 3, S. 168-178). Es folgte im Mai 1924 noch das Staatsexamen.
Auch Hans-Georg Gadamer (1900-2002) hatte in Breslau nach dem Ersten Weltkrieg bei Kühnemann zu studieren begonnen, der zudem ein Hausfreund seines Vaters war. Gadamer ging dann aber bald nach Marburg und München, wurde 1922 bei Natorp und Hartmann in Marburg promoviert, studierte dann in Freiburg und ging dann mit Heidegger zur Habilitation (1929) nach Marburg zurück. Dies erklärt, dass Gadamer und Kuhn sich erst 1930 persönlich begegnet sind (vgl. Roswith Grassl. Breslauer Studienjahre. Hans-Georg Gadamer im Gspräch, Mannheim 1996).
Kuhns Kriegs- und Nachkriegserfahrungen hatten nach eigener rückwirkender Einschätzung zu seiner Haltung in der Weimarer Republik geführt: „So war ich für die intellektuellen Straßenschlachten der Weimarer Republik verloren, ohne ein ernsthaftes affirmatives Verhältnis zu ihr zu gewinnen – ein widerspruchvoller und unbefriedigender Zustand, nicht gebessert dadurch, daß er damals von vielen geteilt wurde. Die deutsche Intellektualität, weitgehend von Nietzsche bestimmt, war kein Pfeiler der aus der Niederlage hervorgegangenen Demokratie. Nietzsche selbst wurde weniger gelesen und erörtert als seine zeitgenössischen Wortführer. Der geist- und kenntnisreiche Nihilismus und die Maskulinität von Oswald Spenglers `Untergang des Abendlandes´ paßten in die düstere Landschaft der Nachkriegsjahre, in einem subtileren Sinn aber auch Thomas Manns `Betrachtungen eines Unpolitischen´ (1918)“ (vgl. Helmut Kuhn, in: Philosophie in Selbstdarstellungen, hrsg. von Ludwig J. Pongratz, Bd. III, Hamburg 1977, S. 239).
Exkurs: Heinrich Gerhard Kuhns „Erinnerungen aus meinem Leben“
Heinrich, der jüngere Bruder von Helmut Kuhn, begleitete seine Mutter nach Göttingen und lernte dort die Tochter des an der Göttinger Universität lehrenden Philosophen und Pädagogen Herman Nohl kennen und heiratete sie 1931. Helmut Kuhn kritisierte später die Reformpädagogik des Vaters seiner Schwägerin als zu „progressiv“.
Heinrich Kuhn hatte zuvor ebenfalls das Lübener Gymnasium besucht. In den Schuljahresberichten von 1914 und 1915 wird erwähnt, dass bei der Feier zum Kaisergeburtstag 1914 "Sextaner Kuhn das Gedicht 'Der Kaiser am Rhein' von Ute Muellenbach deklamierte". Am 27. Januar 1915 - der erste Weltkrieg war im Gange - feierte die Schule des Kaisers Geburtstag durch den Vortrag "guter neuerer Kriegsgedichte". Der Quintaner Heinrich Kuhn und andere deklamierten gemeinsam "Der weiße Goeben" von Ludwig Ganghofer. Heinrich Kuhn ist der Vater von Anselm Kuhn, in dessen Besitz sich die Lebenserinnerungen seines Vaters befinden, aus denen Hans Werner Jänsch auszugsweise die Abschnitte online wiedergeben durfte und die sich vorrangig mit seinem Leben in der Lübener Zeit befassen.
Zu Helmut Kuhn schreibt er explizit:
- "Mein Bruder Helmut, 5 Jahre älter als ich, stellte ein wichtiges Mitglied unserer Familie dar, ebenso die Pensionsgäste. Im September 1914 trat er als Freiwilliger (im Alter von 15 ½) in das Deutsche Heer ein, und bald danach mussten auch unsere Pensionsgäste uns für den Kriegsdienst verlassen."
- "So kam es, dass mein Bruder Helmut eines Tages in Uniform erschien, auf dem Foto sieht er aus wie ein Schuljunge in einer schlecht sitzenden Uniform. Es gab natürlich einen verzweifelten Mangel an Offizieren, um sie auf jedwede Verwendung im Krieg vorzubereiten. Einige von ihnen wurden bald an die Ostfront geschickt, und es gab schreckliche Geschichten über viele dieser unausgebildeten Soldaten, die sinnlos starben. Meine Eltern müssen sehr unglücklich und besorgt darüber gewesen sein, und ich möchte über das, was dann passiert ist, sagen, dass es sehr typisch für meine Mutter war."
- „Der unmittelbarste und wichtigste Einfluss auf das Leben unserer Familie war die Einziehung meines Bruders Helmut, der zunächst in die nahe Garnison zur Ausbildung und nicht lange danach zum Kriegsdienst an die Westfront versetzt wurde, wo er bald Leutnant eines Infanterie-Regiments wurde. Von da an sah ich ihn nur gelegentlich für kurze Zeit. In recht häufigen Briefen an mich, abgesehen von Briefen an die Eltern, versuchte er, mit mir den Kontakt zu halten. In diesen Briefen an mich sagte er natürlich sehr wenig über die Realität des Krieges, aber er hielt den Kontakt."
- "Bald nach dem Ende des Krieges, kam er zurück nach Lüben, um seine Schullaufbahn zu beenden. Ich glaube allerdings nicht, dass er tatsächlich Kurse in der Schule besuchte, sondern dass er selbst lernte, was er für sein Studium benötigte. Was er vor allem brauchte, waren klassischen Sprachen, insbesondere Griechisch, das die Schule in Lüben nicht lehrte."
- "Bis zum März 1922, als ich meine Reifeprüfung, das Abitur, ablegte, lebte ich natürlich ganz in Lüben.
Während dieser Zeit waren mein Bruder und ich oft zusammen, bevor er sich an der Universität Breslau einschrieb, später während seiner Semesterferien. Obwohl unsere Interessen in verschiedene Richtungen gingen, seine in Richtung Philosophie und alte Sprachen, meine in Richtung Chemie, Physik und Mathematik, wollten wir beide auch unsere Kenntnisse in Englisch und Französisch verbessern. Deshalb erinnere ich mich noch, dass wir einige englische Bücher zusammen lasen, wie Der Pfarrer von Wakefield und Dickens Geschichten, und wir haben auch viele andere Themen diskutiert, wobei ich mehr als mein Bruder davon profitiert haben muss."
- "Er beendete sein Studium mit dem Doktortitel (magna cum laude) im Dezember 1923 und auch die Staatsexamen mit Auszeichnung im Mai 1924. Diese Prüfung entspricht der Abschlussprüfung an einer britischen Universität. Es ist eine Qualifikation für jede Art von Unterricht auf High School Ebene in Deutschland und bildet dabei eine Art Versicherung für den Eintritt in eine akademische Laufbahn, die zu diesem Zeitpunkt als schlecht bezahlte Position unter dem Status einer vollen Professur angeboten wurde. Mein Bruder ging dann von Breslau an die Universität Berlin, wo er im Februar 1930 Privatdozent in einer unbezahlten Position wurde."
Helmut Kuhns Wechsel nach Berlin
Nach seiner Promotion 1923 wechselte Helmut Kuhn von Breslau nach Berlin, zunächst noch ohne konkretes Ziel, dann aber um dort Klassische Philologie bei Werner Jaeger weiter zu studieren, auf den er durch Julius Stenzel aufmerksam gemacht worden ist [Helmut Kuhn: Curriculum vitae meae, in: Ludwig J. Pongratz (Hrsg.): Philosophie in Selbstdarstellungen, Hamburg 1977, Bd. III, S. 244]. Es existiert im Kuhn-Nachlass in der Bayerischen Staatsbibliothek noch eine Teil der Korrespondenz mit Werner Jaeger zwischen 1927 und 1935 (Berlin1 eKU, 2 eBU, 1 BU1927-1935, 1 B o.D.)
Heirat mit Käthe Lanke (Lewy)
Am 1. Oktober 1925 vermählten sich Helmut Kuhn und mit Käthe Lanke (Lewy bzw. Levy).
Der Name „Lanke“
Sie unterschrieb mit Lanke auch auf dem Trauschein, nachdem ihre verwitwete Mutter bereits den Namen Lanke angenommen hatte und als Trauzeugin ebenfalls so unterschrieben hatte. Goldenstedt weist darauf hin, dass laut Emory University Archiv, 17.2.1947, Atlanta, Georgia USA Lanke als Geburtsname ausgewiesen ist.
Der andere Berliner gleichaltrige „Käthe Lewy“
Aufgrund der Verwechslungsgefahr sei auf eine andere „Käthe Lewy“ in Berlin hingewiesen. Sie hatte 1923 die Dissertation „Die Problemwelt in Ludwig Tiecks Novellen aus den Jahren 1820-1830“ im Maschinendruck veröffentlicht Es handelt sich um eine weitere Käthe Lewy (1896, geboren in Frankfurt/Oder-1942), die zufällig im gleichen Jahr geboren wurde wie Käthe Kuhn, aber unverheiratet blieb. Sie war ebenfalls Lehrerin, wohnte in Berlin-Tiergarten, Brückenallee 6, und wurde am 13. Juni 1942 nach Sobibor deportiert. Dort starb sie. Für sie gibt es einen Stolperstein für den „Hanseatenweg 10“ im Hansaviertel. Vgl. dazu auch die Suchanzeige von 2011: „Elli Abrahamsohn und Dr. Käthe Lewy im Hansaviertel in Berlin-Tiergarten. Der Bürgerverein Hansaviertel e.V. plant erneut die Verlegung von Stolpersteinen. Elli Abrahamsohn (*17.06.1879) und Dr. Käthe Lewy (*31.08.1896) wohnten in der Brückenallee 6. Frau Lewy war Lehrerin und arbeitete im Kindertagesheim Marburger Str. 5. „Tatjana Ruge Chiffre 112341“ (https://www.berlin.de/aktuell/ausgaben/2011/dezember/suchanzeigen/“
Genealogische Zusammenhänge
Käthe Lewy, die Frau von Helmut Kuhn wurde am 30.1.1896 geboren und zwar als Tochter von Max („Meier“/“Meir“) Lewy (1860-1903) und Margarete Löwenstädt (1872-1925). Mitunter findet sich auch die Schreibweise "Levy". Sie stammt somit aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie aus Breslau. Ihr Bruder Otto (1892-1916) ist im Ersten Weltkrieg in Verdun gefallen. Er hat im Breslauer Friedhof Cosel ein Ehrengrab. Im Internet findet sich die Eheurkunde von Max Lewy und Margarete Löwenstädt (http://gen.scatteredmind.co.uk/images/certs/m/m_6699_6698.png)
Käthe Kuhns Großvater war der Breslauer Kaufmann Jacob Loewy=Lewy (1829-1898) verheiratet mit Jullie=Julie Bielschowsky (1839-1906) Lewy. Sie hatten insgesamt zehn Kinder:
- Anna Lewy (1859-1884);
- Max Meier Lewy (1860-1903) war der älteste Sohn;
- Albert Lewy (Lanke) (* 1861-nach 1935/39, genaues Sterbedatum nicht ermittelt);
- Hugo Lewy (1862, + Florenz/in der Toskana, Sterbedatum nicht ermittelt);
- Paula Frankfurther (1863-1938), verheiratet mit Oskar Frankfurther;
- Fritz Lewy (1868-1933 in Leipzig), verheiratet mit Lina Kuhfuss;
- Gertrud Priebatsch (1871, + in Israel, Sterbedatum nicht ermittelt, vermutlich bei ihrem Sohn Hans Priebatsch, der 1934 nach Israel ausgewandert ist), verheiratet mit Felix Priebatsch (1867-1926);
- Carl Lewy (* 1872; Sterbedatum nicht ermittelt);
- der Sprachwissenschaftler Ernst Lewy (1881-1966 in Dublin, 1925 Professor am Ungarischen Institut in Berlin, dann 1933 Entlassung, 1935 Wiedereinstellung, im selben Jahr Versetzung in den Ruhestand; 1937 Emigration nach Irland auf Vermittlung von Sir Alan Gardiner, ab 1947 irischer Staatsbürger) verheiratet mit Hedwig Ludwig;
- Georg Lewy (unbekannte Lebensdaten)
Der zweite „Lanke“ in der Lewy-Familie
Max Lewys Bruder, der Arzt Albert Lewy hatte bereits Anfang des Jahrhunderts in Marokko den Namen Lanke angenommen. Der Grund dafür ist unbekannt. Er war zunächst von 1887 bis 1890 in Venezuela, dann Assistent an einer Klinik in Breslau, im Oktober 1891 ging er nach Mogador. 1895 heiratete er in Berlin Marie Elise Anna Landsberg (* 1869). Ihr Verbleib ist unklar. Bei seiner zweiten Heirat 1901 in Marokko mit der Schweizerin Jeanne Challandes (1874-1953) hieß er noch Lewy, hat dann aber in Marokko den Namen in Lanke gewechselt. 1905 findet er sich als „Albert Lanke“ im „Renseignements coloniaux et documents. Bulletin des Comité de l´ Afrique française“ (Bd. 15, 1905, S. 263). Ab April 1906 ist er als Arzt und Apotheker in Mogador mit diesem Namen geführt. Bislang war nicht klar, wann und wo die Namensänderung erfolgt. Aufgrund einer aufgetauchten Berliner Liste kann dies aber bestimmt werden. Offiziell wurde der Name mit Erlaß vom 18. August 1902 in Berlin geändert, denn Albert Lewy, neuer Name: Lanke steht als Nr. 17 auf der „Liste der Berliner Juden, denen vom 18. Mai 1913[irrtümlich: muss heißen 26. August 1900] bis zum 20. Oktober 1913 [irrtümlich, da letzte Erlasse am 21. Oktober 1913] der Name geändert worden ist“. (Vgl. Bering, Dietz: Die Erfüllung meines sehnlichsten Wunsches. Namensänderungen Berliner Juden, in: Berlin in Geschichte und Gegenwart, 1990, S. 178)
Von 1911 bis 1925 arbeitete er in einer eigenen Praxis in Wermsdorf bei Oschatz/Sachsen. 1925 ging er in Leibrente, wohnte ab 1933 aber in Leipzig als Privatmann, wohl in der Wohnung seines 1933 verstorbenen Bruders Fritz Lewy. Er ist dort über medizinische Fachzeitschriften von 1933 bis 1935 nachweisbar, danach verlieren sich die Spuren. Laut myheritage lebte er noch 1939 (Quelle nicht ersichtlich). (Zur Biographie siehe: Mai, Gunther: Die Marokko-Deutschen 1873-1918, 2014, Kurzbiographien S. 61 - https://www.db-thueringen.de/servlets/MCRFileNodeServlet/dbt_derivate_00030520/Mai_Die_Marokko-Deutschen_Kurzbiographien.pdf)
Sollte Käthe Kuhn, wie anzunehmen, keine „geborene“ Lanke sein, ist daher nur eine “Anleihe“ beim Bruder ihrer Mutter denkbar, wenn auch Motiv und Ursache unklar bleiben. In keinem Fall ist „Lanke“ aber ein von Käthe Kuhn frei erfundener Tarnname, den Käthe Kuhn nachträglich 1933 bzw. 1925 angenommen hätte, wie die Tochter Annette Kuhn noch 2003 annahm (vgl. Annette Kuhn: Heimat – the treasured word, in: Franz-Josef Jelich/Stefan Goch (Hrsg.): Geschichte als Last und Chance: Festschrift für Bernd Faulenbach, 2003, S. 177 ff., hier S. 187). Leider standen Annette Kuhn damals noch nicht die heutigen Möglichkeiten der genealogischen Forschung via Internet zur Verfügung, sonst hätte sie schon damals die Hintergründe verdachtsfreier kennenlernen können. Die Frage, ob ihre Mutter selbst wusste, „dass ihre Großmutter 1943 in Lodz, zwei ihrer Tanten in Theresienstadt ums Leben kamen. … Wo lagen die Gräber der Toten der Familie Lewy und der Familie Löwenstedt, der Mutter und der Großmutter meiner Mutter?“
Die Urgroßmutter Fanny Löwenstädt und die Opfer des Nationalsozialismus
Annette Kuhn berichtet in diesem Aufsatz auch irrtümlich von ihrer Urgroßmutter Fanny Löwenstädt, die fünf Schwestern gehabt habe, allesamt Tanten ihrer Großmutter Margarete. Sie führt dann aber die Schwestern ihrer Großmutter Margarete auf. Diese war aber eine Tochter von Paul Löwenstädt (1838-1911) und seiner Frau Jenni geb. Stoller. Diese wiederum hatten neben Margarete (* 1872) noch sieben Töchter:
- Agnes (1871-17.10.1942, gestorben im Ghetto Theresienstadt), verheiratete Krebs
- Gertrud (1874-20.9.1942 [1943???] in Theresienstadt), verheiratete Tockuss;
- Fanny (1875-1942 ermordet im Ghetto von Lodz), verheiratete Mokrauer;
- Else Malwine (1876-1931), verheiratete Landsberger;
- Magda Margarete (1879-1935), verheiratete Buchholz;
- Marie (1883-1944, gestorben im Ghetto Theresienstadt), verheiratete Thilo;
- Käthe (1888-1894)
Über die von ihr genannten Schwestern hinaus starb also Käthe im Kindesalter und Else noch vor Beginn des Dritten Reiches. Tatsächlich starben Marie 1944 im Ghetto von Theresienstadt und Fanny 1942 im Ghetto von Lodz. Diese Großtante verwechselte Annette Kuhn wohl mit ihrer Urgroßmutter.
Annette Kuhns Urgroßmutter Fanny Loewenstaedt, geb. Berliner (1811-1875) als Tochter von Ernestine Berliner geb. Horowitz (1788-1843), hatte 1836 den Breslauer Rum-, Sprit- und Likörfabriksbesitzer Jonas Mendel Loewenstaedt (1799-1852) geheiratet. Ihre Tochter Ernestine heiratete Marcus Lichtenstein. Außer Ernestine und Paul Loewenstaedt sind bislang keine weiteren Kinder bekannt. Nach dem Tod ihres Mannes hat Fanny Lowenstadt die Firma auf ihren Sohn Paul Löwenstädt überschrieben. Vgl. zu den genealogischen Angaben https://wc.rootsweb.com/trees/237197/I144236/paul-loewenstaedt/individual
Die zwanziger Jahre des Ehepaars Kuhn
Käthe Lanke, ab 1925 Kuhn, studierte also in Berlin Altphilologie (ab wann genau???). Sie gehörte zur ersten Studentinnengeneration, die ohne eine Sondergenehmigung studieren konnte.
Käthe Lewys Mutter starb noch im Jahr der Hochzeit am 23. November 1925 in Breslau. Ihre Beerdigung ist unter dem ursprünglichen Namen „Margarethe Lewy geb. Lowenstaedt, Höschenplatz 6“, also im Krankenhaus der Landesversicherungsanstalt Schlesien, im „Breslauer Jüdischen Gemeindeblatt“ (2, 1925, Nr. 12 (15. Dezember 1925 - http://www.bibliotekacyfrowa.pl/Content/55804/PDF/directory.pdf) für den 26. November 1925 für den Friedhof Cosel in Breslau verzeichnet. Dort beerdigt liegt auch ihre am 31. Oktober 1927 Mutter Jenni Loewenstaedt.
Helmut Kuhns Vater starb 1927, worauf seine Mutter ihren Wohnsitz nach Göttingen verlegte. Bei der Auflösung des Lübener Haushalts übernahm die Familie Feige den Kuhn'schen Seiler-Flügel. Der Kontakt zwischen der Mutter von Frau Dr. Feige und Frau Kuhn riss bis zu deren Tod nicht ab. Das Kuhnsche Anwesen erwarb der aus Lüben stammende Fleischermeister Otto Hoffmann.
Als 1931 der Sohn Reinhard zur Welt kam, gab Käthe Kuhn die geplante eigene Dissertation „Kinderspielzeug im alten Rom“ beim berühmten Altphilologen Wilamowitz auf (Ich trage einen goldenen Stern: ein Frauenleben in Deutschland, 2003, S. 13; Goldenstedt, a.a.O., S. 15).
Helmut Kuhn, Romano Guardini und die Berliner Kant-Gesellschaft
Helmut Kuhns Beziehung zu Guardini bis zur Emigration
Hugo Herrera schreibt über Helmut Kuhn: „Er hatte keine Lehrer im eigentlichen Sinn, stand aber Hönigswald, Jaeger und Guardini nahe […]. Bestimmend für Kuhns Denken waren – neben Hönigswald, Jaeger und Guardini – Platon und Husserl. Im Vorwort von Das Sein und das Gute schreibt er: „Nun ist der Gedanke, von dessen Wichtigkeit der Autor gern andere überzeugen möchte und dem er seine eigene Autorenschaft von der ersten bis zur letzten Zeile verdankt, nicht einmal sein eigener. Die Natur dieses Gedankens schließt jeglichen Anspruch auf Originalität, so wie das Wort heute verstanden wird, aus. Es geht einfach um den Begriff der Philosophie, wie ihn Platon zuerst gedacht und in seinem schriftstellerischen Werk zum Ausdruck gebracht hat“(17: SuG, S. 11) Und weiter schreibt Kuhn in diesem Vorwort: „Die Phänomenologie Edmund Husserls half zur Emanzipation von den konstruktiven Denkgewohnheiten der neukantischen Schule und gab Mut und Freiheit zum eigenen Sehen“ (SuG, S. 12). […] Andere Philosophen, die das Denken Kuhns beeinflussten, sind Thomas von Aquin, Aristoteles, Kant und latent-kritisch Martin Heidegger und Carl Schmitt. Kuhn stand – trotz seiner Nähe zur Phänomenologie und zu in Deutschland bekannten Professoren wie R. Guardini, L. Strauss, E. Voegelin und anderen – philosophisch eher isoliert da“ [Hugo Herrera: Sein und Staat. Die ontologische Begründung der politischen Praxis bei Helmut Kuhn, 2005, siehe insbesondere S. 11-13; unter Verweis auf Curriculum, S. 240 ff., 252 f., 279; vgl. H. Kuhn, Romano Guardini – Philosoph der Sorge, St. Ottilien; Romano Guardini, Der Mensch und das Werk, München 1961)].
Trotz mittlerweile vorliegender autobiographischer und biographischer Darstellungen [Christiane Goldenstedt, "Du hast mich heimgesucht bei Nacht." - Die Familie Kuhn im Exil, 2013; Annette Kuhn, Ich trage einen goldenen Stern: ein Frauenleben in Deutschland, 2003, insbesondere Abschnitt zu Romano Guardini S. 100-105] - ist noch nicht endgültig geklärt, wann und wo genau Kuhn und Guardini sich persönlich kennengelernt haben. Er selbst schreibt dazu im Vorwort seiner zweiten Guardini-Studie „Romano Guardini – Philosoph der Sorge“ von 1987, er habe 1925 erstmals eine philosophische Vorlesung Guardinis besucht: „Wir schreiben das Jahr 1925. Guardini, Professor an der Universität Berlin (formaliter Mitglied der Universität Breslau) hält eine philosophische Vorlesung. Unter den Hörern findet sich der Verfasser dieses Buches, der nach geglückter Promotion an der Universität Breslau zu weiteren Studien an die Universität der Hauptstadt gekommen ist. Guardini spricht unbeschadet der Eigentümlichkeit seiner italienischen Herkunft als ein typischer Vertreter der deutschen geistesgeschichtlichen Philosophie. Was ihn aber von seinen deutschen Kollegen unterscheidet, ist das Erfülltsein von einer doppelten Überzeugung. Die Philosophie griechischen Ursprungs und die christliche Botschaft – das sind für ihn das Fundament, auf dem unsere Zivilisation beruht und von dem unsere Zukunft abhängt. Gewiß wurde diese Überzeugung von vielen Vertretern der geisteswissenschaftlichen Philosophen geteilt. Für Guardini aber war sie mehr als ein Glaubensartikel unter anderen. Für den Hörer kam also alles darauf an, von diesem Lichtpunkt ergriffen zu sein. Der Verfasser dieses Buches glaubt, daß auch er getroffen war“ (Helmut Kuhn, Romano Guardini – Philosoph der Sorge, 1987, S. 9).
Dabei grenzte Helmut Kuhn sich von der Jugendbewegung und bestimmten Guardini-Kreisen ab, die sich aus dem Gemeinschaftsbewusstsein mit ihm, zu ihm hingezogen fühlten. Für ihn dagegen war es „der gleiche Drang, der die jungen Männer von einst sich um Sokrates scharen ließ“ (ebd., S. 22).
Helmut Kuhn berichtete im Zusammenhang mit Guardini außerdem über eine Begebenheit aus den Jahren 1932/33, in der Guardini selbst nur eine indirekte Rolle spielt, in der Kuhn aber Guardinis Geschichtsdenken als Antipoden zur Geschichtsphilosophie Stefan George und seine Anhänger nachzeichnet. „Ich erinnere mich eines Vorfalls aus dem Jahre 1932. Ein älterer und berühmter Kollege hatte mich zu sich gebeten, um mich mit L.F. bekannt zu machen, einem jungen Mann, der sich damals als einer der geistigen Führer der Jugendbewegung einen Namen gemacht hatte und der mit dem Kreis um Stefan George in Verbindung stand. Ein am Tag zuvor aus dem Munde von Romano Guardini vernommenes Wort wollte mich nicht loslassen: `Das Wissen um den Sinn unserer Gegenwart ist uns verschlossen. Nur prophetische Einsicht vermag dieses Dunkel zu durchdringen.´ So oder so ähnlich hatte der Ausspruch gelautet, den ich viele Jahrzehnte später von dem gleichen Sprecher noch einmal gehört habe. Seine Wahrheit hatte mir sofort eingeleuchtet, wenn mir auch seine Bedeutungsfülle erst später zum Bewusstsein kommen sollte. L.F., beredt und leuchtend, war der Wortführer bei dem Gespräch zu dritt. Er sprach davon, wie die brüchig gewordene Kruste der bürgerlich-liberalen Gesellschaft, gleichsam unter dem Druck aufwärts drängenden flüssigen Feuers aus der Erdmitte, zu bersten beginnt, wie ein neues Zeitalter ... Es war eine im Nietzsche-Stil poetisierte Wiedergabe der landläufigen Geschichtsphilosophie, die in eine Apotheose der nationalsozialistischen Bewegung auslief. Der Redner gefiel mir ebenso, wie mir die Rede missfiel, und ich dachte an das Wort Guardinis. Wenige Monate danach ereignete sich die „Machtergreifung“, und L.F. war dazu ausersehen, bei einer Veranstaltung im Harnack-Haus das Ereignis zu feiern. Er lobte die Bewegung, tadelte ihren Antisemitismus – und musste noch am nächsten Tage Sicherheit in der Schweiz suchen. Er ging später nach Holland und hat dort in den Kriegsjahren in Zusammenarbeit mit dem holländischen Widerstand sein Leben für die Rettung deutsch-jüdischer Kinder eingesetzt. Es ist mehr Weisheit im Gewissen als in der Geschichtsphilosophie, die in der meist uneingestandenen Nachfolge Hegels die Vorsehung in Wissenschaft verwandeln oder das Schicksal lenken möchte“ (Helmut Kuhn: Das Sein und das Gute, München 1962, Vorwort, Oktober 1961, S. 14).
Die Identität von „L. F.“ konnte bislang noch nicht ausgemacht werden. Auch der Guardini sinngemäß zugeschriebe Aphorismus konnte noch keinem später veröffentlichten Werk zugeordnet werden.
In den dreißiger Jahren hörte Kuhn bei Guardini dann auf jeden Fall noch über Hölderlin (wohl in den Wintern 34/35 und 35/36) und Dostojewski (möglich ab Sommer 1930) [Helmut Kuhn, in: Ludwig J. Pongratz (Hrsg.): Philosophie in Selbstdarstellung, Bd. III, 1977, S. 236-283, hier S. 255]. Zu Hölderlins Verhältnis zur Romantik hatte er sich selbst schon 1926 Gedanken gemacht [Helmut Kuhn: Hölderlin und die Romantik, in: Die Zeitenwende, II, 1926, 10, S. 398-420]. Außerdem erinnert sich Kuhn für die dreißiger Jahre an „abendliche Zirkeln wechselnder Zusammensetzung“, von „Konventikeln der Dissidenten“, bei denen er immer wieder auch Guardini begegnete [Pongratz, a.a.O., S. 265].
Ein Kreis, dem Helmut Kuhn angehörte, könnte zum Beispiel in anderen Kontexten zu Begegnungen mit Guardini geführt haben. Helmut Kuhn war 1937 der erste von vier Emigranten eines Berliner Gesprächskreises, der sich ab Mitte der dreißiger Jahre dort gebildet hatte. Zu ihm gehörten Fritz Kaufmann, Richard Kroner und Kurt Riezler, die alle drei 1938 emigrierten. Kurt Riezler war nach dem Entzug der Lehrbefugnis in Frankfurt am Main 1934 nach Berlin gezogen, Kroner war 1935 zu seiner Schwägerin Cläre Kauffmann nach Berlin gegangen und hatte dort eine Forschungsstelle zugewiesen bekommen, der Freiburger Phänomenologe und Husserl-Schüler Fritz Kaufmann kam von Freiburg aus nach Berlin und lehrte ab 1936 als Gastprofessor an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin. Fritz Kaufmann lehrte in den USA als Dozent in Chicago und in Buffalo. Kroner war zunächst drei Jahre in Oxford in England tätig und siedelte 1940 in die USA über, wo er am Union Theological Seminary in New York von 1941 bis zu seiner Emeritierung 1952 Religionsphilosophie lehrte. Riezler bekam in den USA zunächst eine Professur an der New School for Social Research in New York City, daneben war er Gastprofessor an der University of Chicago und an der Columbia University. Er kehrte 1954 nach Europa (Rom) zurück, starb aber bereits 1955 bei einem Aufenthalt in München. Inwieweit die Berliner Kontakte auch in den USA weitergepflegt wurde, ist noch nicht erforscht.
Richard Kroner und Kurt Riezler gehörten zusammen mit Romano Guardini und neben Konrat Ziegler, Ernesto Grassi, Richard Müller-Freienfels, Hans Rothfels, Carl Friedrich von Weizsäcker zu den „Katakombenkreisen des Philosophierens“ um den Medizinhistoriker Leibbrand. Daher ist es nicht unwahrscheinlich, dass auch Helmut Kuhn bei dem ein oder anderen Treffen dieses Kreises dabei gewesen sein könnte.
1937 verließ der „Schüler“ Helmut Kuhn - so sah er sich [Helmut Kuhn: Romano Guardini – Philosoph der Sorge, 1987, S. 10] - also bei seiner Flucht und Emigration auch seinen „sokratischen“ Lehrer Guardini, nimmt in die neue Welt aber ein ihm unvergessliches Wort Guardinis mit: „Er sprach von dem „tragischen Finitismus“ Nietzsches, der das Sandkorn der Endlichkeit mit Gewalt habe sprengen wollen, dann von der im Glauben erschauten endlichen Welt, die nicht im Nichts verloren bleibt, sondern die Gott wie einen Ball mit seinen Händen umschließt“ (Helmut Kuhn: Gespräch in Erwartung. Zu Martin Bubers 80. Geburtstag, in: Merkur, 12, 1958, S. 101-124, hier S. 114).