Volk und Europa: Unterschied zwischen den Versionen
Aus Romano-Guardini-Handbuch
Zeile 2: | Zeile 2: | ||
== Inhaltsangabe == | == Inhaltsangabe == | ||
* [[Josef Aussem]], Grüssau, in: Die Schildgenossen, 3, 1923, 5/6, S. 191 f. (zitiert und zusammengefasst nach Gerl): | |||
* Guardini sei rasch gebeten worden, "weil er die besondere Gabe hat, sich in die feinsten und verästeltsten Wesensbeziehungen unserer Bewegung einzufühlen und sie in Ausdruck und Begriff zu prägen." | |||
* Als Rechtfertigung, warum er als gebürtiger Italiener über ein "deutsches" Thema spreche, schickte er voraus: | |||
** ''"Sein geistiges Wesen wurzele in der deutschen Kultur. Er habe als Soldat im Heer gestanden und der Krieg und der Zusammenbruch hätten ihn aufs Neue vor die Entscheidung gestellt, zu welchem Volk er gehöre. Er habe sich für Deutschland entschieden."'' | |||
** ''"Zu seinem Volk stehen und sein Werk mitzutragen, ist innerste sittliche Pflicht. Das ergibt sich aus dem 4. Gebot, das die Forderung aufstellt, die großen Gegebenheiten und Wirklichkeiten des Lebens zu ehren: Kirche, Volk, Eltern. Diese Pflicht besteht für normale, erst recht in außerordentlichen Zeiten, wenn das Volk in Not gerät; dann muß die Treue doppelt tief und die Einheit doppelt groß sein."'' | |||
* Sehr, für Gerl sogar "überraschend persönlich" ergänzt Guardini: | |||
** ''"Bei dem Zusammenbruch hatten wir das Gefühl eines Ertrinkenden, dem es um Ehre und Sein geht. Jedem, der im besetzen Gebiet wohnt, war das Hellste dunkel, wenn er die fremden Uniformen sah."'' | |||
* Nach diesem Bekenntnis zur Einführung greift Guardini für ihn typisch, für die Zuhörer aber unerwartet auf einen übergeordneten Zusammenhang aus: "Europa", das laut Berichterstatter als "Neuheit der Formulierung" empfunden wurde. Vorausblickend formuliert er, zusammengefasst nach Gerl: "OBJEKTIV gebe es das Volk als 'abgeschlossene Welt' nicht mehr. Verkehr und Wirtschaft, materielle und kulturelle Abhängigkeit ließen ein Volk mit dem anderen wachsen und fallen: all das in besonderem Maß für Europa gültig. Dem entspreche SUBJEKTIV, dass im Geistigen bei feinfühligen Menschen ein lebendiges Ausgreifen über die völkische Ebene hinaus geschehe." | |||
** ''"Wir meinen nicht die Verärgerten, die sich aus einem Ressentiment dahin abwenden und ablenken. Es gibt Menschen mit übervölkischem Zusammenhangsgefühl. Mit dieser geistigen Ebene darf nicht der Begriff des sozialistischen Internationalismus verwechselt werden ... Wir sehen das LEBENDIGE Europa, das in einer Anzahl Menschen aufgetaucht ist, lebt und sich auswirkt."'' | |||
* Abschließend formuliert er als Aufgabe der Jugendbewegung: | |||
** ''"Wer ist jugendbewegt? Es ist der, der innerlich aufgerissen, von diesen Fragen beunruhigt ist, dem sie zum Schicksal werden. Seine Aufgabe ist es, das Faktum Europa zu sehen. Die Lösung kann nicht aus irgend einem Ressentiment gefunden werden. Wir müssen uns entscheiden, ob wir demagogisch handeln, oder ob wir wesenhaft sehen und aus der Verantwortung der neuen Entwicklung denken und handeln."'' | |||
== Situation == | == Situation == |
Version vom 18. Januar 2023, 03:42 Uhr
105: Aphorismen aus Guardinis Ad-hoc-Rede „Volk und Europa“ auf der Quickborn-Pfingsttagung in Grüssau, in: Josef Aussem, Grüssau, in: Die Schildgenossen, 1923, 5/6, S. 191 f. (bisher nicht in einer Werkausgabe);
Inhaltsangabe
- Josef Aussem, Grüssau, in: Die Schildgenossen, 3, 1923, 5/6, S. 191 f. (zitiert und zusammengefasst nach Gerl):
- Guardini sei rasch gebeten worden, "weil er die besondere Gabe hat, sich in die feinsten und verästeltsten Wesensbeziehungen unserer Bewegung einzufühlen und sie in Ausdruck und Begriff zu prägen."
- Als Rechtfertigung, warum er als gebürtiger Italiener über ein "deutsches" Thema spreche, schickte er voraus:
- "Sein geistiges Wesen wurzele in der deutschen Kultur. Er habe als Soldat im Heer gestanden und der Krieg und der Zusammenbruch hätten ihn aufs Neue vor die Entscheidung gestellt, zu welchem Volk er gehöre. Er habe sich für Deutschland entschieden."
- "Zu seinem Volk stehen und sein Werk mitzutragen, ist innerste sittliche Pflicht. Das ergibt sich aus dem 4. Gebot, das die Forderung aufstellt, die großen Gegebenheiten und Wirklichkeiten des Lebens zu ehren: Kirche, Volk, Eltern. Diese Pflicht besteht für normale, erst recht in außerordentlichen Zeiten, wenn das Volk in Not gerät; dann muß die Treue doppelt tief und die Einheit doppelt groß sein."
- Sehr, für Gerl sogar "überraschend persönlich" ergänzt Guardini:
- "Bei dem Zusammenbruch hatten wir das Gefühl eines Ertrinkenden, dem es um Ehre und Sein geht. Jedem, der im besetzen Gebiet wohnt, war das Hellste dunkel, wenn er die fremden Uniformen sah."
- Nach diesem Bekenntnis zur Einführung greift Guardini für ihn typisch, für die Zuhörer aber unerwartet auf einen übergeordneten Zusammenhang aus: "Europa", das laut Berichterstatter als "Neuheit der Formulierung" empfunden wurde. Vorausblickend formuliert er, zusammengefasst nach Gerl: "OBJEKTIV gebe es das Volk als 'abgeschlossene Welt' nicht mehr. Verkehr und Wirtschaft, materielle und kulturelle Abhängigkeit ließen ein Volk mit dem anderen wachsen und fallen: all das in besonderem Maß für Europa gültig. Dem entspreche SUBJEKTIV, dass im Geistigen bei feinfühligen Menschen ein lebendiges Ausgreifen über die völkische Ebene hinaus geschehe."
- "Wir meinen nicht die Verärgerten, die sich aus einem Ressentiment dahin abwenden und ablenken. Es gibt Menschen mit übervölkischem Zusammenhangsgefühl. Mit dieser geistigen Ebene darf nicht der Begriff des sozialistischen Internationalismus verwechselt werden ... Wir sehen das LEBENDIGE Europa, das in einer Anzahl Menschen aufgetaucht ist, lebt und sich auswirkt."
- Abschließend formuliert er als Aufgabe der Jugendbewegung:
- "Wer ist jugendbewegt? Es ist der, der innerlich aufgerissen, von diesen Fragen beunruhigt ist, dem sie zum Schicksal werden. Seine Aufgabe ist es, das Faktum Europa zu sehen. Die Lösung kann nicht aus irgend einem Ressentiment gefunden werden. Wir müssen uns entscheiden, ob wir demagogisch handeln, oder ob wir wesenhaft sehen und aus der Verantwortung der neuen Entwicklung denken und handeln."
Situation
- Das Bundesthing und Pfingsttreffen fand 1923 nicht auf Burg Rothenfels, sondern in dem Benediktinerkloster Grüssau in Schlesien statt. Das Kloster Grüssau wurde als Benediktinerpropstei 1242 gegründet, war Grüssau von 1292 bis zur Säkularisation 1810 Zisterzienserabtei und 1919 von Prag aus durch die Benediktiner der Beuroner Kongregation wiederbesiedelt. Abt war zum Zeitpunkt des Treffens Albert Schmitt OSB.
- Es handelte sich dabei um einen großen Quickborn-Bundestag mit rund 1200 Älteren und Jüngeren des Bundes (Henrich, Die Bünde katholischer Jugendbewegung, 1968, S. 128)
- als weiterer Referent ist bekannt: Prof. Hermann Müller-Paderborn (Vgl. Archiv für schlesische Kirchengeschichte, 31, 1973, S. 216). Vgl. zu ihm auch: Der Spielmann. Mit einem vollständig neuen Teil geistlicher Lieder, besorgt von Prof. Dr. Hermann Müller (Paderborn), Rothenfels a.M. 1923). Es handelt sich dabei um eine spätere Neubearbeitung von Klemens Neumann (Hrsg.): Der Spielmann, 3. umgearbeitete Auflage der "Quickborn-Lieder", Rothenfels am Main 1920. Daraus als Sonderausgabe im gleichen Jahr: Hermann Müller: Kyrioleis, kleiner Psalter geistlicher Lieder, dem jungen Deutschland dargereicht, Burg Rothenfels 1923; 1924. Prof. Müller war in Paderborn auch Caecilienpraeses.
Sekundärbibliographie
- August Berning, Grüssau, in: Quickborn, 11, 1923, 3/4, S. 36-38, hier S. 37 f.: "Unerwartet und doch von vielen im Stillen erhofft, ergab sich am Pfingstmontag aus den Worten Guardinis über Volk und Europa eine Aussprache über Politik. Sie griff gewiß nicht an die tiefsten Dinge und blieb in Vorfragen stecken. Aber sie zeigte, daß keiner, auch der Problemloseste heute an der Politik achtlos vorübergehen kann. Denn sie bedeutet Formung der Lebenswirklichkeit, in der ich, du und jeder von uns hineingebannt sind. Wir alle sind Faktoren der Politik, die uns miteinander in Beziehung setzt, unsere Kräfte gegenseitig ausspielt. Was nun in Grüssau erkannt wurde, ist dies: Politik ist ein eigner Bezirk für sich; es gibt keine katholische Politik, es gibt aber eine Politik, die von katholischen Menschen gewirkt wird, aus sittlich menschlichen Voraussetzungen herauswächst. Politik soll nicht Macht- und Gewaltkampf sein, der sich in Krieg und Blutrausch austobt. Politik ist Ausdruck eines Spiels organischer Kräfte, die in einem kernigen Volkstum verwurzelt sind. Über Volk und Europa wurde gesprochen, das neuwerdende Gefühl der europäischen Schicksals-Kultur- und Wirtschaftsgemeinschaft streng geschieden von fadem Internationalismus, der nur einer blassen Idee, aber keinem wesenhaften Volkstum entspringt. Die politische Aussprache lehrte uns, daß wir uns, ohne parteilicher Verengung zu verfallen, mit den Dingen der Wirklichkeit wie Verfassung, Gesetzesvorlagen energischer befassen müssen. Wir müssen uns in das Leben hineinstellen, ohne uns an die Enge seiner historischen Bindungen zu verlieren."
- Großquickbornerin aus Hessen, in: Die Schildgenossen, 3, 1923, 5/6, S. 200 f.: "Was Guardini über `Volk und Europa´ sagte, war für mich persönlich, nachdem ich die anfängliche Befremdung über den Ausdruck `Europa´ überwunden hatte, einfach erlösend, weil es eine Reihe von Sorgen, die mich schon die ganze Zeit gequält hatte, zusammenfaßt und das einheitliche Problem aufzeigte, das dahinter steht."
- Vgl. dazu Gerl, Romano Guardini, 1985, S. 93 f.: Exkurs: Vom Dienst am Vaterland und Europa;
- Vgl. dazu überarbeitet: Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: "Das ungeheure Wagnis des abendländischen Lebens und Schaffens". Europa im Blick Guardinis, in: Guardini-Stiftung (Hrsg.): Jahresbericht 2017, Berlin 2018, S. 14-24 [Artikel] - https://docplayer.org/171513095-2018-guardini-stiftung-e-v-berlin.html