Volk und Europa

Aus Romano-Guardini-Handbuch

[106: [ORG 52] Aphorismen aus Guardinis Ad-hoc-Rede „Volk und Europa“ auf der Quickborn-Pfingsttagung in Grüssau, in: Josef Aussem, Grüssau, in: Die Schildgenossen, 1923, 5/6, S. 188-194, zu Romano Guardini S. 190-193 (bisher nicht in einer Werkausgabe)

Inhaltsangabe

  • Josef Aussem, Grüssau, in: Die Schildgenossen, 3, 1923, 5/6, S. 191-193:
    • S. 191 f.: "Pfarrer Rohn sollte zu uns sprechen. Weil er ausblieb, baten wir am Morgen selbst noch Guardini zu sprechen, weil er die besondere Gabe hat, sich in die feinsten und verästeltsten Wesensbeziehungen unserer Bewegung einzufühlen und sie in Ausdruck und Begriff zu prägen. So kam es, daß Guardini am selben Morgen zweimal sprach.
    • Volk und Europa. Guardini begründete zunächst sein Recht, zu diesem Thema zu sprechen, obwohl er Italiener dem Blute nach sei. Sein geistiges Wesen wurzele in der deutschen Kultur. Er habe als Soldat im Heer gestanden und der Krieg und der Zusammenbruch hätten ihn aufs Neue vor die Entscheidung gestellt, zu welchem Volk er gehöre. Er habe sich für Deutschland entschieden. Er spreche also mit voller Befugnis und sittlicher Berechtigung über Volk. Ihm sei Volk nicht Problem, sondern Wirklichkeit. Zu seinem Volk stehen und sein Werk mitzutragen, ist innerste sittliche Pflicht. Das ergibt sich aus dem 4. Gebot, das die Forderung aufstellt, die großen Gegebenheiten und Wirklichkeiten des Lebens zu ehren: Kirche, Volk, Eltern. Diese Pflicht besteht für normale, erst recht in außerordentlichen Zeiten, wenn das Volk in Not gerät; dann muß die Treue doppelt tief und die Einheit doppelt groß sein. Bei dem Zusammenbruch hatten wir das Gefühl eines Ertrinkenden, dem es um Ehre und Sein geht. Jedem, der im besetzen Gebiet wohnt, war das Hellste dunkel, wenn er die fremden Uniformen sah. Hieraus ergibt sich, daß die Realität Volk im vollen Ausmaß anerkannt wird. Aber sie ist nicht die einzige, letzte, die vor uns steht und Anerkennung verlangt. Es gibt eine zweite, nicht so vordringliche und unmittelbar aus dem Leben springende. Diese Wirklichkeit heißt EUROPA. Dabei müssen wir Vorurteile, alles was ans Warenhaus, an einen faden Internationalismus erinnert, fortlassen. DIE TATSACHE VOLK ALS ABGESCHLOSSENE WELT GIBT ES NICHT MEHR. Die Völker sind durch neuzeitlichen Verkehr und wirtschaftlichen Betrieb miteinander verwachsen. Es haben sich wirtschaftliche Beziehungen materieller und kultureller Abhängigkeiten ergeben, die man nicht willkürlich zerstören oder leugnen kann. Ein Volk wächst und fällt mit dem andern. Das ist eine OBJEKTIVE Tatsache. Ihr gegenüber steht eine SUBJEKTIV: s gibt eine Anzahl Menschen, denen infolge ihrer Entwicklung die geistige Ebene Deutschlands zu klein ist, die, wenn sie sich au ihren Wesenskern besinnen, sich auf der Ebene Europa fühlen. Wir meinen nicht die Verärgerten, die sich aus einem Ressentiment dahin abwenden und ablenken. Es gibt Menschen mit übervölkischem Zusammenhangsgefühl. Mit dieser geistigen Ebene darf nicht der Begriff des sozialistischen Internationalismus verwechselt werden, noch der jener, der machthungrigen Großindustriellen und ränkesüchtigen Politikern als Schachbrett ihres ehrgeizigen Strebens gilt. Wir sehen das LEBENDIGE EUROPA, das in einer Anzahl Menschen aufgetaucht ist, lebt und sich auswirkt. Hier liegt die Wurzel des Problems, die Verknüpfung zu finden zwischen der Wirklichkeit des Volkes und der großen Gemeinschaft, die darüber hinausgewachsen ist. Die jugendbewegten Menschen müssen für diese Fragen aufgeschlossen sein. Hier ergibt sich die Frage nach dem Wesen des jugendbewegten Menschen. Wer ist jugendbewegt? Es ist der, der innerlich aufgerissen, von diesen Fragen beunruhigt ist, dem sie zum Schicksal werden. Seine Aufgabe ist es, das Faktum Europa zu sehen. Die Lösung kann nicht aus irgend einem Ressentiment gefunden werden. Wir müssen uns entscheiden, ob wir demagogisch handeln, oder ob wir wesenhaft sehen und aus der Verantwortung der neuen Entwicklung denken und handeln. -"
    • S. 192 f.: "An die Worte Guardinis knüpfte sich nur zögernd eine Aussprache. Es lag wohl an der Neuheit der Formulierung. Bald aber war ein Kontakt da, jedoch nicht lebensnah genug, um die Tiefe und Zusammenhänge der Dinge aufzuweisen. Die Aussprache bewegte sich zwischen zwei Polen, zwischen der Frage nach dem Wesen des Politischen (vor allem stellte Jupp Seipel die relative Autonomie des Politischen gegen unsachliche Vermengung mit dem Religiösen heraus) und der konkreten der Not des deutschen Volkes, die uns, wie Hans Altenburger meint, auf den Fingernägeln brennen; die Frage sei, was ist im gegenwärtigen Augenblick zu tun, um unser Volk, mit dem wir biologisch verwachsen sind, in seinem Lebensbestand zu erhalten. Es hat keinen Sinn, die Aussprache hier zu schildern. Die Auseinandersetzung über politische Dinge wird in den Schildgenossen ihren Fortgang nehmen. Die Grüssauer Aussprache war die erste im größeren Kreis. Sie war noch reichlich theoretisch, noch nicht getragen von einer durch Schrifttum und Gedankenaustausch gesättigten Fülle. Sie war gleichwohl straff und beherrscht und bewegte sich nicht in Nebensächlichkeiten. Sie führte nicht zu Polemik und politischem Streit, sondern jeder stellte seine Sicht der Dinge hin. - Nach einer Pause war das Bundesthing. [...] berichtete [...] Guardini von der Burgkapelle."

Situation

  • Das Bundesthing und Pfingsttreffen fand 1923 nicht auf Burg Rothenfels, sondern in dem Benediktinerkloster Grüssau in Schlesien statt. Das Kloster Grüssau wurde als Benediktinerpropstei 1242 gegründet, war Grüssau von 1292 bis zur Säkularisation 1810 Zisterzienserabtei und 1919 von Prag aus durch die Benediktiner der Beuroner Kongregation wiederbesiedelt. Abt war zum Zeitpunkt des Treffens Albert Schmitt OSB.
  • Es handelte sich dabei um einen großen Quickborn-Bundestag mit rund 1200 Älteren und Jüngeren des Bundes (Henrich, Die Bünde katholischer Jugendbewegung, 1968, S. 128)
  • Als weiterer Referent ist bekannt: Prof. Hermann Müller-Paderborn (Vgl. Archiv für schlesische Kirchengeschichte, 31, 1973, S. 216). Vgl. zu ihm auch: Der Spielmann. Mit einem vollständig neuen Teil geistlicher Lieder, besorgt von Prof. Dr. Hermann Müller (Paderborn), Rothenfels a.M. 1923). Es handelt sich dabei um eine spätere Neubearbeitung von Klemens Neumann (Hrsg.): Der Spielmann, 3. umgearbeitete Auflage der "Quickborn-Lieder", Rothenfels am Main 1920. Daraus als Sonderausgabe im gleichen Jahr: Hermann Müller: Kyrioleis, kleiner Psalter geistlicher Lieder, dem jungen Deutschland dargereicht, Burg Rothenfels 1923; 1924. Prof. Müller war in Paderborn auch Caecilienpraeses.

Sekundärbibliographie

  • August Berning, Grüssau, in: Quickborn, 11, 1923, 3/4, S. 36-38, hier S. 37 f.: "Unerwartet und doch von vielen im Stillen erhofft, ergab sich am Pfingstmontag aus den Worten Guardinis über Volk und Europa eine Aussprache über Politik. Sie griff gewiß nicht an die tiefsten Dinge und blieb in Vorfragen stecken. Aber sie zeigte, daß keiner, auch der Problemloseste heute an der Politik achtlos vorübergehen kann. Denn sie bedeutet Formung der Lebenswirklichkeit, in der ich, du und jeder von uns hineingebannt sind. Wir alle sind Faktoren der Politik, die uns miteinander in Beziehung setzt, unsere Kräfte gegenseitig ausspielt. Was nun in Grüssau erkannt wurde, ist dies: Politik ist ein eigner Bezirk für sich; es gibt keine katholische Politik, es gibt aber eine Politik, die von katholischen Menschen gewirkt wird, aus sittlich menschlichen Voraussetzungen herauswächst. Politik soll nicht Macht- und Gewaltkampf sein, der sich in Krieg und Blutrausch austobt. Politik ist Ausdruck eines Spiels organischer Kräfte, die in einem kernigen Volkstum verwurzelt sind. Über Volk und Europa wurde gesprochen, das neuwerdende Gefühl der europäischen Schicksals-Kultur- und Wirtschaftsgemeinschaft streng geschieden von fadem Internationalismus, der nur einer blassen Idee, aber keinem wesenhaften Volkstum entspringt. Die politische Aussprache lehrte uns, daß wir uns, ohne parteilicher Verengung zu verfallen, mit den Dingen der Wirklichkeit wie Verfassung, Gesetzesvorlagen energischer befassen müssen. Wir müssen uns in das Leben hineinstellen, ohne uns an die Enge seiner historischen Bindungen zu verlieren."
  • Großquickbornerin aus Hessen, in: Die Schildgenossen, 3, 1923, 5/6, S. 200 f.: "Was Guardini über `Volk und Europa´ sagte, war für mich persönlich, nachdem ich die anfängliche Befremdung über den Ausdruck `Europa´ überwunden hatte, einfach erlösend, weil es eine Reihe von Sorgen, die mich schon die ganze Zeit gequält hatte, zusammenfaßt und das einheitliche Problem aufzeigte, das dahinter steht."
  • Vgl. dazu Gerl, Romano Guardini, 1985, S. 93 f.: Exkurs: Vom Dienst am Vaterland und Europa;
  • Vgl. dazu überarbeitet: Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: "Das ungeheure Wagnis des abendländischen Lebens und Schaffens". Europa im Blick Guardinis, in: Guardini-Stiftung (Hrsg.): Jahresbericht 2017, Berlin 2018, S. 14-24 [Artikel] - https://docplayer.org/171513095-2018-guardini-stiftung-e-v-berlin.html

Übersetzung

  1. Josef Aussem: Grüssau, in: ORG 52: Europa. Compito e destino. Premessa e Postfazione di Silvano Zucal, Brescia 2004 [neu aufgenommen]