Guardini-Rezeption

Aus Romano-Guardini-Handbuch

Die Guardini-Rezeption kennt mehrere Phasen und Bereiche. Die Guardini-Wirkungsforschung ist noch sehr wenig ausgeprägt, was insbesondere aufgrund der starken Netzwerke, die Guardini um sich gebildet hat, verwundert. Am weitesten ausgeprägt sind folgende elf Gebiete. In jedem dieser Bereiche hat Guardini mehrere Generationen von Theologen, Philosophen, Pädagogiken, Literatur- und Kunstwissenschaftlern geprägt, inklusive mehrere "Renaissancen":

Guardinis Einfluss auf die liturgische Erneuerung

Das Wesen, der Sinn, der Geist der Liturgie, die Liturgische Bildung und die liturgische Praxis und ihr Verhältnis zur Volksfrömmigkeit und zum persönlichen Gebet sind für Guardini seit seiner Schulzeit, besonders aber seit seiner intensiveren Begegnung mit der Liturgie im Kloster Beuron ein zentrales Thema seines Forschens, Anschauens und Erkennens. Ein Hauptteil seiner Schriften beschäftigt sich mit diesem Gebiet. Da ihn die Beschäftigung mit der Liturgie und insbesondere seine Schrift "Vom Geist der Liturgie" (1918) schon früh und vor seiner akademischen Lehrtätigkeit bekannt machte, ist auch sein Einfluss auf die Liturgische Bewegung in Deutschland und auf liturgiebewegte Katholiken seit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg sehr hoch. Bald geht dieser Einfluss aber weit über Deutschlands Grenzen hinaus und auch über die konfessionellen Grenzen hinweg. Guardini wirkte an zahlreichen vorkonziliaren Arbeitsgruppen, Kommissionen und Projekten mit und sein Werk beeinflußte nachweislich auch die Konzilsväter. Er selbst wurde zum Peritus ernannt, konnte aber aus gesundheitlichen Gründen nicht direkt am Konzil teilnehmen. Bis heute hat sein liturgiewissenschaftlicher Ansatz in der Fachdisziplin, wenn auch unterschiedlich intensiv relevant. Die aktuelle Rezeption reicht von der Wiedergabe einer zentraler Formeln bis hin zu einer Wiederentdeckung seiner eigenständigen Konzeption. Seit in Maria Laach die zahlreichen Briefe Romano Guardini an seinen Freund Cunibert Mohlberg wahrgenommen und seit einigen Jahren intensiv von Stefan Langenbahn ausgewertet werden, kommt auch noch einmal seine historische Bedeutung für die Anfänge der Liturgischen Bewegung und der Liturgiewissenschaft neu ins Blickfeld der Guardini-Forschung und infolgedessen auch der Guardini-Rezeption.

Guardinis Einfluß auf die Jugendbewegung

Guardinis Einfluß auf den katholischen Expressionismus und die christliche Kunst und Architektur

== Der Einfluß von Guardinis phänomenologischer Ekklesiologie ("Vom Sinn der Kirche" und "Die Kirche des Herrn")

Der Einfluß von Guardinis Weltanschauungs- und Gegensatzlehre

Der Einfluß von Guardinis Bildungslehre

Der Einfluß von Guardinis Literaturinterpretationen

Der Einfluß von Guardinis Werk "Der Herr" und Guardinis Einfluß auf die Exegese

Der Einfluß von Guardinis christlicher Anthropologie und Ethik

Der Weg von Kant zu Hitler und Stalin. Guardini als Kritiker des neuzeitlichen Liberalismus und Autonomismus, der in den Totalitarismus führt

  1. Guardini versuchte zu zeigen, dass gerade der neuzeitliche Liberalismus und Autonomismus, die Gesellschaft, Kultur bzw. Zivilisation dem Staat gegenüber in eine Frontstellung bringt, die entweder den Staat zum liberalen, relativistischen „Nachtwächterstaat“ werden lässt oder aber zum antiliberalen, zunächst absolutistischen „Überwachungsstaat“. "Nachtwächterstaat" dabei durchaus noch im von Ferdinand Lassalle gegenüber dem frühkapitalistischen Staat des 19. Jahrhunderts gebrauchten, spöttisch-ironischen Sinn verwendet. "Überwachungsstaat" meint hier auch Obrigkeits-, Militär- oder Polizeistaat im Sinne eines totalen „Planungs- und Zuteilungsstaates“.
  2. Die national- und universal-sozialistischen Gegenreaktionen auf diese Behandlung von Staat und Gesellschaft waren: entweder dem Staat die Legitimation zu entziehen, also sein “Ende” zu postulieren und die Gesellschaft als absolute bzw. totale “Gemeinschaft” und “Kultur” durch eine angeblich “volksdemokratische” Parteibewegung umzugestalten (Kommunismus, Stalinismus), oder aber der Gesellschaft die Legitimation abzusprechen, also den Staat als absolute bzw. totale “Gemeinschaft” und “Kultur” durch eine ebenso angeblich “volksdemokratische” Parteibewegung umzugestalten (Faschismus, Nationalsozialismus). Der Absolutismus der Obrigkeit („Obrigkeitsstaat“) wurde daher nur durch einen Totalitarismus der jeweiligen Partei-Avantgarde abgelöst, wobei das Wort „Volksdemokratie“ jeweils kaschieren sollte, dass es sich auf geradezu esoterische Weise um Führerdemokratien handelte.
    1. Hitlers schon in „Mein Kampf“ entwickeltes Konzept der „wahrhaftigen germanischen Demokratie“ stellt dem demokratischen Parlamentarismus („jüdische Demokratie“), in dem auch „der nächstbeste unwürdige Streber und moralische Drückeberger auf Umwegen zur Regierung seiner Volksgenossen“ kommen könne, die „freie Wahl des Führers mit dessen Verpflichtung zur vollen Übernahme aller Verantwortung für sein Tun und Lassen“ gegenüber (Adolf Hitler: Mein Kampf, Band I: Eine Abrechnung (1925/1926), München (851-855)1943, S. 99-100). Auf seiner Rede in Nürnberg am 2. November 1928 stellt er abermals die parlamentarische und die germanische Demokratie gegenüber: „In Wirklichkeit ist es die Herrschaft der Besten, der Edelsten, der Treuesten eines Volkes.“ 1937 in Meyers Lexikon heißt es im Kontext dieses Zitats dann: „Die germanische Demokratie oder auch Führerdemokratie steht dagegen in Erfüllung des aristokratischen Grundgesetzes der Natur auf dem Standpunkt der durch Leistung ausgelesenen und für ihre Taten allein verantwortlichen Einzelpersönlichkeit. … Gewählt und getragen durch das ganze Volk ist der erkorene Führer nur diesem dienstbar und verantwortlich. Dem ganzen Volk und seiner Geschichte gegenüber trägt er die absolute Verantwortung. Hinter dem Führer steht in germanischer Gefolgschaftstreue das ganze Volk. … Die reinste Form einer wahren Demokratie finden wir im nationalsozialistischen Deutschland verwirklicht. Der Führer ist getragen von dem Vertrauen und der Liebe des Volkes und fühlt sich nur diesem verantwortlich. Zu allen großen Entscheidungen holt er sich von Zeit zu Zeit unmittelbar die Zustimmung des Volkes. … Die Wurzel der Kraft des Führers liegt im Volk, aus dem er gekommen ist, der Wille des Volkes wird repräsentiert durch die NSDAP, die Trägerin der Staatsgewalt ist.“ (Meyers Lexikon, Bd. 2, 1937, S. 910).
    2. Stalin entwickelt in einer ähnlichen Struktur das marxistisch-leninistische Konzept einer „proletarischen Demokratie“ weiter. Er schrieb in seiner Arbeit „Über die Grundlagen des Leninismus“ (1924) von der Diktatur des Proletariats: „Der Sieg der Diktatur des Proletariats bedeutet die Unterdrückung der Bourgeoisie, die Zertrümmerung der bürgerlichen Staatsmaschine, die Ersetzung der bürgerlichen Demokratie durch die proletarische Demokratie.“ So benennt Norbert J. Schürgers als eines der „Basistheoreme sozialistischer Philosophie“ den Glauben an die führende Rolle der intellektuellen Avantgarde und einer charismatischen Führerpersönlichkeit im revolutionären Prozess. (Norbert J. Schürgers: Politische Philosophie in der Weimarer Republik. Staatsverständnis zwischen Führerdemokratie und bürokratischem Sozialismus, Stuttgart 1989 (Phil. Diss. Tübingen 1989), S. 42-50). Stalin nannte vor dem VIII. Sowjetkongress am 25. Februar 1936 die von ihm selbst geschaffene Verfassung der UdSSR von 1936, von anderen daher meist „Stalin-Verfassung“ genannt, „die einzige bis ins letzte demokratische Verfassung der Welt“. Im gleichen Jahr erklärte er vor ZK-Mitarbeitern: „Unsere Demokratie muss immer die allgemeinen Interessen an den ersten Platz stellen. Das Persönliche gegenüber dem Gesellschaftlichen – das ist beinahe gar nichts. Solange es Faulenzer, Feinde, Unterschlagungen von sozialistischem Eigentum gibt, das heißt, solange es Menschen gibt, denen der Sozialismus fremd ist, so lange muss es einen Kampf geben.“ Der Kult um Stalin als „geliebtem Führer des Weltproletariats“ nahm schon zu Lebzeiten immer mythischere Züge an (vgl. Reinhard Löhmann: Der Stalinmythos. Studien zur Sozialgeschichte des Personenkultes in der Sowjetunion, Münster 1990).
    3. Der Volkswille wurde dabei in beiden Fällen reduziert auf den Parteiwillen und dieser wiederum auf den Willen des Parteiführers, der für sich in Anspruch nahm, den Volkswillen in sich zu verkörpern. Hegel lässt grüßen. Diese Überhöhung des politischen Führers als Quasi-Heilsbringer hat Guardini - im Anschluss an von Ketteler und in Ablehnung jeglicher Form des Hegelianismus, insbesondere aber Rechts- und Linkshegelianismus - mehr als deutlich erkannt und gebrandmarkt.
  3. Guardini hat in diesem Zusammenhang versucht, den von und mit Kant begonnenen Weg in das „Ende der Neuzeit“ im Blick auf alle totalitären Tendenzen nachzuzeichnen. Es ging ihm nicht allein um den „Weg zu Hitler“, sondern auch zu Stalin und - ähnlich wie Raymond Aron - sogar zu den „totalitären“ Formen des demokratischen Liberalismus der Nachkriegszeit, insofern sich relativistische, nicht an Autorität und Werte gebundene Demokratien aufgrund eines fehlenden „Ethos der Macht“ selbst den „Es-Mächten“ ausliefern.
    1. Raymond Aron: Demokratie und Totalitarismus, Hamburg 1970 (zuvor in französisch: Democratie et totalitarisme. Paris 1965); ders.: Fortschritt ohne Ende, Gütersloh 1970.
    2. Vgl. auch J. L. Talmon: Die Ursprünge der totalitären Demokratie, Köln/Opladen 1961 (zuvor englisch: The Origins of Totalitarian Democacy, London 1952): „Die moderne totalitäre Demokratie ist eine Diktatur, die sich auf die Be-geisterung der Volksmassen stützt und somit völlig verschieden ist von der absoluten Gewalt, die von einem König von Gottes Gnaden ausgeübt wird, oder von einem Tyrannen, der die Macht an sich gerissen hat. Insoweit sie Diktatur ist, die auf Ideologie und Massenbegeisterung basiert, ist sie ... das Ergebnis einer Synthese der Idee des achtzehnten Jahrhunderts von der Natürlichen Ordnung und der rousseauschen Idee von der Selbstentfaltung und Selbstbestimmung des Volkes.“
    3. Arthur Utz wies darauf hin, dass (Arthur Utz: Die soziale Ordnung, Bonn 1986, S. 163) eine völlige „Negierung der Einteilung des staatlichen Gebildes in die drei Ordnungen Wirtschaft, Gesellschaft und Politik“ eine Demokratie zu einer totalitären Demokratie macht, „die weder Privatinitiative noch Privateigentum kennt.“ Wenn Utz aber Hegels „naturrechtlicher“ Vorstellung den Vorrang vor Poppers kritisch-rationaler Vorstellung von der „offenen Gesellschaft“ gibt (vgl. Helmut Zenz, Karl Popper und die Katholische Sozialethik, a.a.O., S. 159f.), verschließt er sich wie lange Zeit auch Hans Maier den Grenzen und der Notwendigkeit Politischer Theologie innerhalb der Legitimierung nicht-totalitärer politischer Herrschaft.
    4. Reinhard Klemens Maurer (Popper und die totalitäre Demokratie, in: Der Staat, 3, 1964, S. 483 ff.) überzieht Poppers Kritik an Hegel und seinen rechts- und linkshegelianischen Nachfolgern als Denker „totalitärer Demokratien“ dadurch, dass er Popper selbst zum Denker einer „totalitären Demokratie“ stilisiert. Maurer konstatiert außerdem: „Politik und Religion (= `Meta-Politik´) vereinen sich für Hegel keineswegs unmittelbar, weder in einem chiliastischen Fanatismus noch in einer theokratischen Ordnungsvorstellung. Sie treffen sich vielmehr vermittelt über die Gesinnung, die sich als ein Prinzip politischen Maßes erweist, weil sie einmal, anders als die marxistische Vereinnahmung aller Transzendenz, Politik nicht zum `letzten´ (und damit tendenziell totalitären) `Horizont´ menschlichen Handelns werden lässt, weil sie zum andern, anders als die liberale Tradition von Locke bis zu Kant, nicht den `verschleierten Neo-Leviathan der westlichen Demokratie´ zu konstruieren versucht (indem sie das Gemeinwesen aus der anarchischen Freiheit der Einzelnen hervorgehen ließe). Religion ermöglicht Freiheit, weil sie (zwischen Totalitarismus, Theokratie, fanatischem Chiliasmus und verschleiertem Neo-Leviathan hindurch) Politik als eigenständige Domäne des Handelns freisetzt. Maurer und Rohrmoser führen die theologisch-politische Hegeldeutung, die noch zögernd bei Rosenzweig, Giese und Weil begann, auf ihren vorläufigen Höhepunkt. Aber wie bei Rosenzweig die konkret-politische Bedeutung dieses Interpretationsansatzes schon nicht einleuchten wollte, so wird auch bei dieser verfeinerten Auslegung die apologetische Kraft der Argumente desto suspekter, je mehr man ihrer politischen Tragweite nachzugehen sucht.“ (Hegels politischer Protestantismus, in: Hegel-Studien, Beiheft 11, 1974, S. 397ff., hier S. 412)
    5. Siehe auch Henning Ottmann: Individuum und Gemeinschaft bei Hegel, Band 1: Hegel im Spiegel der Interpretationen, Berlin/New York 1977, Kapitel Hegel als Ideologe der „geschlossenen“ Gesellschaft und als Feind der westlichen Demokratie (K. R. Popper), S. 204ff.;
  4. Der entscheidende Überschritt ist also, dass Guardini im Kantschen Liberalismus selbst jenes totalitäre Potential entdeckte, das andere frühestens bei Hegel (So zum Beispiel Karl Popper und der Kritische Rationalismus, vgl. Popper, Karl: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band II: Falsche Propheten: Hegel, Marx und die Folgen, hrsg. von Hubert Kiesewetter, Tübingen (8)2003), wieder andere sogar erst bei Nietzsche oder den Rechtshegelianern des romanischen Faschismus ansetzten. Kant habe – so Guardinis Tenor - aus seinem Verständnis der Freiheit heraus geglaubt, den Gottesbegriff abstrahieren und damit entpersonalisieren zu müssen bzw. zu können, und habe gerade damit die Tür zur Wiederkehr des Pantheismus geöffnet. Damit wollte er aber Kant keineswegs zum „Allein-Schuldigen“ machen, vielmehr sah Guardini den neu-zeitlichen „Sündenfall“ hin zum Totalitarismus lediglich in Kant begründet. Kant selbst sei – so die Überzeugung Guardinis - nur ein Re-Agierender gewesen. Er habe lediglich auf einen Prozess geantwortet, der schon im mittelalterlichen Gottes-, Menschen- und Weltbild selbst wurzelte. Indem die herrschenden Systeme die mittelalterlichen Haltungen nicht weiterentwickelt, sondern lediglich zu konservieren versucht hätten, seien diese fragwürdig geworden. Und statt zu einer geistigen Evolution sei es zu einer geistigen Revolution gekommen, die sich konsequenterweise auch in den politischen Revolutionen der Neuzeit niedergeschlagen habe. Gerade weil er, wie gesehen, das „Neue“ Kants würdigte und dessen Philosophie als logische Konsequenz der Auflösung des mittelalterlichen Weltbildes betrachtete, versuchte er – wie auch schon gegenüber Platon, Aristoteles, Augustinus und Thomas von Aquin – möglichst klar zwischen Idee und Persönlichkeit Kants sowie zwischen Idee und Wirkung Kants zu unterscheiden. Er macht Kant keineswegs für die Versäumnisse des Kantianismus und des Neukantianismus verantwortlich, ebenso wenig wie er auf die Idee gekommen wäre, Thomas mit dem Thomismus (Scholastik) oder gar dem Neothomismus (Neuscholastik) seiner Zeit zu identifizieren.
  5. Guardini ging es daher auch nicht um jene radikale Kant-Kritik, wie zum Beispiel der Konvertit Hugo Ball sie geübt hatte. Für Ball war Kant „der Erzfeind“, „auf den alles“ zurückgehe, weil er „die preußische Staatsraison zur Vernunft erhoben“ habe „und zum kategorischen Imperativ, dem sich alles zu unterwerfen hat.“ „Seine oberste Maxime“, dass die Raison unbedingt a priori angenommen werden müsse, sei „die Kaserne in ihrer metaphysischen Potenz.“ (Hugo Ball: Die Flucht aus der Zeit, München 1927, S. 16)
    1. Als Beispiel für die aktuelle Präsenz einer solchen Kant-Beurteilung im inner- und außerkirchlichen Rechtskatholizismus diene folgende im Internet verbreitete Auffassung: „Der kategorische Imperativ Kants ist nüchternster Pflichtenfanatismus im Sinne des Kadavergehorsams. Auf dem katholischen Glaubens- und Geistesboden ist eine solche Totenblume wie der Kant'sche kategorische Imperativ unmöglich. Auf der Linie der Staatsomnipotenz steht auch der Philosoph Fichte, der in seinen vielgenannten aber wenig bekannten `Reden an die deutsche Nation´ die Grundsätze z. B. der Hitlerjugend vorweggenommen hat. Ihren Höhe-punkt und ihre stärkste Ausprägung fand das Prinzip der Staatsomnipotenz in der Staatsvergottung durch den Philosophen Hegel. ... Hegel hat den Staat zum Gotte gemacht, indem er das Recht zum Erzeugnis des Staates, nicht zu seinem Herrn machte. Der jeweils stärkste Staat hat auch das absolute Recht für sich. Dieser Rechtsauffassung gegenüber sind daher alle anderen Völker rechtlos. Daher gibt es für Hegel weder ein Natur- noch ein Völkerrecht. Eine Grenze für die Wirksamkeit die-ses Staates gibt es daher grundsätzlich nicht. Allen Wert, den der Mensch hat, hat er allein durch den Staat. Daher ist das höchste Instrument für den Staat die staatliche Bürokratie. An einer Stelle in Hegels `Philosophie der Geschichte´ heißt es: `Die Regierung ruht in der Beamtenwelt und die persönliche Entscheidung des Monarchen steht an der Spitze; denn eine letzte Entscheidung ist schlechthin notwendig.´ Das war die philosophische Begründung für den Staatsabsolutismus, für den Blut- und Eisenstaat Bismarcks und für die Staatsdämonie Adolf Hitlers.“ - http://www.kirchenlehre.com/bonn_04.htm (zuletzt abgerufen am 25. September 2013) unter ausdrücklicher Berufung auf Hugo Ball.
  6. Diese antithetische Rezeption begibt sich in das traditionell Nietzsche zugerechnete Zitat vom Verfolgungs-Syndrom: „Wer verfolgt, der folgt.“ Die Zuschreibung an Nietzsche erfolgte durch Max Scheler. Siehe Scheler, Max: Zur Rehabilitierung der Tugend (1915), Zürich 1950, S. 15; ders.: Vorbilder und Führer, in: ders.: Schriften aus dem Nachlass, Berlin 1933, Bd. 1, S. 184; dann in: ders.: Gesammelte Werke: Schriften aus dem Nachlass, 1957, S. 287. Dieses nicht überprüfbare freie Zitat bezieht sich wohl auf Sätze wie „Man kann einer Sache nicht besser nützen als indem man sie verfolgt und mit allen Hunden hetzt.“ (Nietzsche, Friedrich: Werke in 3 Bänden, 1973, Bd. 3, S. 579).
  7. Davon hat sich Guardini, wie gesehen, mehrfach distanziert. Nicht zuletzt stand er selbst, wie hier gezeigt wurde, stärker auf dem Boden bestimmter Ausprägungen des Neukantianismus (Simmel, Rickert), als dass er dem Neuthomismus oder Neuaugustinismus, oder gar dem Neuaristotelismus oder dem Neuplatonismus zugeordnet werden könnte, wie dies entgegen dem hier vorgelegten Befund dennoch häufig geschieht.
    1. Als Vertreter des Neuthomismus gelten gemeinhin: Georg von Hertling (1843-1919), Martin Grabmann (1875-1949), Joseph Maréchal (1878–1944), , Jacques Maritain (1882-1973), Étienne Gilson (1884-1978), Erich Przywara SJ (1889-1972), Joseph Maria Bochénski OP (1902-1995), Johannes B. Lotz SJ (1903-1992), Walter Brugger SJ (1904-1990), Karl Rahner SJ (1904-1984), Bernard Lonergan SJ (1904-1984) und Emerich Coreth SJ (1919-2006).
    2. Geläufig werden Max Scheler (1874-1928), Peter Wust (1884-1940), Georg Koepgen (1898-1975) und Johannes Hessen (1889-1971) zum „Neo-Augustinismus“ gezählt. Vgl. Rezension von Christoph Weber. Der Religionsphilosoph Johannes Hessen (1889-1971). Ein Gelehrtenleben zwischen Modernismus und Linkskatholizismus, Frankfurt am Main 1994, in: Historisches Seminar der Universität Köln: Geschichte in Köln, Bd. 37-40; in: Kölner Jahrbuch, 28, 1995, S. 171-174, hier S. 173. Dort wird fälschlich auch Romano Guardini zu dieser Richtung gezählt.
    3. Jürgen Habermas wählt den Begriff "Neuaristotelismus" für die Positionen von Joachim Ritter, Hannah Arendt und Leo Strauß (vgl. Jürgen Habermas: Legitimationsprobleme im modernen Staat, in: Kielmansegg, Peter Graf (Hrsg.): Legitimationsprobleme politischer Systeme, Opladen 1976).
    4. "Neuplatonismus" ist hier nicht für die jüngste, durch Plotin Mitte des 3. Jahrhunderts n. Chr. gegründete Richtung des Platonismus verwendet und somit auch nicht für die darauf aufbauende Rezeption des Neuplatonismus durch Augustinus, sondern für das Wiederaufgreifen von Platon im Sinne Plotins im 20. Jahrhundert. So sieht zum Beispiel Jens Halfwassen in Karl Jaspers einen Erneuerer des neuplatonischen Transzendenzgedankens (vgl. Jens Halfwassen: Metaphysik und Transzendenz, in: Jahrbuch für Religionsphilosophie, 1, 2002, S. 13-27, hier S. 27). Halfwassen wies auch schon auf die Wiederentdeckung des Neuplatonismus bei und durch Hegel hin, siehe Halfwassen, Jens: Hegel und der spätantike Neuplatonismus. Untersuchungen zur Metaphysik des Einen und des Nous in Hegels spekulativer und geschichtlicher Deutung, Bonn 1999, Hamburg (2)2005. Hans Mayer wiederum konstatiert in seinem Werk über die „Abendländische Weltanschauung“: „In Heidegger steht einer moderner Neuplatoniker vor uns“ (Meyer, Hans: Abendländische Weltanschauung. Die Weltanschauung der Gegenwart, (2)1966, S. 455). Vgl. dazu auch Heideggers Studie: Heidegger, Martin: Augustinus und der Neuplatonismus. Nachschrift von Oskar Becker. Unveröffentlicht. Neu abgedruckt in Phänomenologie des religiösen Lebens. Gesamtausgabe, Bd. 60. Frankfurt a.M. 1995. Vgl. Schlüter, Jochen: Heideggers Rezeption des antiken und mittelalterlichen Neuplatonismus. Anmerkungen zur Heidegger-Forschung, Berlin 2016. Auch Albert Camus, Jean-Paul Sartre und Gabriel Marcel werden als neuplatonisch eingestuft. Camus´ philosophische Examensschrift von 1936 trägt den Titel „Christliche Metaphysik“ (vgl. Heinz Robert Schlette: Albert Camus' philosophische Examensschrift „Christliche Metaphysik und Neuplatonismus“, in: ders. (Hrsg.): Wege der deutschen Camus-Rezeption, Darmstadt 1975, S. 329-340). Bekanntlich greifen hier die deutschen wie die französischen Existenzialisten auch auf die mittelalterliche Mystik bei Meister Eckart (um 1260-1328) und Nikolaus von Kues (1401-1464) und die Philosophie von Spinoza (1632-1677) und Leibniz (1646-1716) zurück (vgl. Werner Beierwaltes: Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte, 1985).
  8. Guardini sah die Unterschiede in der Rezeption sehr wohl und versuchte, durchaus von verschiedenen Seiten, den „Denkfehler“ einzukreisen, und zu überprüfen, was davon eine geistesgeschichtlich notwendige und nachvollziehbare Entwicklung war und was hingegen eine unnötige Vereinseitigung beinhaltete.
  9. In dieser Logik erscheint bei Guardini auch Nietzsche als konsequenter Rückschlag des Pendels, auch wenn dieser Vorgang durch die äußeren, vor allem auch politischen Umstände, anstatt abgebremst, sogar noch beschleunigt wurde. Der Individualismus in der Nachfolge Kants wurde – so die Interpretation Guardinis - in den Totalismus und Totalitarismus in der Nachfolge Nietzsches verkehrt, ohne dass auch hier Guardini wiederum Nietzsche zum „alleinschuldigen“ Urheber des Totalitarismus gemacht hat. Guardini sah aber die Bedeutung Nietzsches und seines „titanischen Finitismus“ auf dem Weg hin zum Totalismus und Totalitarismus deutlicher als viele seiner Theologen- und Philosophenkollegen bis heute und blieb doch nicht im Blick zurück oder im Blick voraus bei Nietzsche stehen.
  10. Guardini zeichnete den Weg von “Kant zu Hitler” nach - über Hegel und Pascal, über Kierkegaard und Nietzsche zu Chamberlain und dem Marx(ismus), bis hin zum Hitlerismus und Stalinismus, mit ihren Nachwirkungen bis weit über die real-existierenden Totalitarismen des 20. Jahrhunderts hinaus. Guardini war keineswegs der erste oder einzige, der den Weg von Kant zum nach-neuzeitlichen Totalitarismus darzustellen versucht hat. Tatsächlich wurde aber bisher häufiger und in den Folgerungen mitunter sehr umstritten Teil-Wege aufgezeigt:
    1. Der Weg von “Kant zu Hegel“, so Jürgen Habermas: Von Kant zu Hegel und zurück, in ders.: Wahrheit und Rechtfertigung, Frankfurt/Main 1999, S. 186-229. Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang die prophetische Vorausschau Heinrich Heines auf die Folgen des Kantianismus, Fichteanismus und Hegelianismus (vgl. Heinrich Heine: Von Kant zu Hegel, in: Heinrich Heines Werke, Neue illustrierte Ausgabe in zwei Bänden, Zweiter Band, Berlin o.J., S. 328ff.)
      1. "... Mich dünkt, ein methodisches Volk wie wir, musste mit der Reformation beginnen, konnte erst hierauf sich mit der Philosophie beschäftigen, und durfte nur nach deren Vollendung zur politischen Revolution übergehen. Diese Ordnung finde ich ganz vernünftig. Die Köpfe, welche die Philosophie zum Nachdenken benutzt hat, kann die Revolution nachher zu beliebigen Zwecken abschlagen. Die Philosophie hätte aber nimmermehr die Köpfe gebrauchen können, die von der Revolution, wenn diese ihr vorherging, abgeschlagen worden wären. Lasst euch aber nicht bange sein, ihr deutschen Republikaner; die deutsche Revolution wird darum nicht milder und sanfter ausfallen, weil ihr die Kantsche Kritik, der Fichtesche Transzendentalidealismus und gar die Naturphilosophie vorausging. Durch die Doktrinen haben sich revolutionäre Kräfte entwickelt, die nur des Tages harren, wo sie hervorbrechen und die Welt mit Entsetzen und Bewunderung erfüllen können. Es werden Kantianer zum Vorschein kommen, die auch in der Erscheinungswelt von keiner Pietät etwas wissen wollen, und erbarmungslos mit Schwert und Beil den Boden unseres europäischen Lebens durchwühlen, um auch die letzten Wurzeln der Vergangenheit auszurotten. Es werden bewaffnete Fichteaner auf den Schauplatz treten, die in ihrem Willens-Fanatismus weder durch Furcht noch durch Eigennutz zu bändigen sind; denn sie leben im Geist, sie trotzen der Materie, gleich den ersten Christen, die man ebenfalls weder durch leibliche Qualen noch durch leibliche Genüsse bezwingen konnte; ja, solche Transzendentalidealisten wären bei einer gesellschaftlichen Umwälzung sogar noch unbeugsamer als die ersten Christen, da diese die irdische Marter ertrugen, um dadurch zur himmlischen Seeligkeit zu gelangen, der Transzendentalidealist aber die Marter selbst für eitel Schein hält und unerreichbar ist in der Verschanzung des eigenen Gedankens. Doch noch schrecklicher als alles wären Naturphilosophen, die handelnd eingriffen in eine deutsche Revolution und sich mit dem Zerstörungswerk selbst identifizieren würden. Denn wenn die Hand des Kantianers stark und sicher zuschlägt, weil sein Herz von keiner traditionellen Ehrfurcht bewegt wird; wenn der Fichteaner mutvoll jeder Gefahr trotzt, weil sie für ihn in der Realität gar nicht existiert; so wird der Naturphilosoph dadurch furchtbar sein, dass er mit den ursprünglichen Gewalten der Natur in Verbindung tritt, dass er die dämonischen Kräfte des altgermanischen Pantheismus beschwören kann, und dass alsdann in ihm jene Kampflust erwacht, die wir bei den alten Deutschen finden, und die nicht kämpft, um zu vernichten, noch um zu siegen, sondern bloß um zu kämpfen. Das Christentum - und das ist sein schönster Verdienst - hat jene brutale germanische Kampflust einigermaßen besänftigt, konnte sie jedoch nicht zerstören, und wenn einst der zähmende Talisman, das Kreuz, zerbricht, dann rasselt wieder empor die Wildheit der alten Kämpfer, die unsinnige Berserkerwut, wovon die nordischen Dichter so viel singen und sagen. Jener Talisman ist morsch, und kommen wird der Tag, wo er kläglich zusammenbricht. Die alten steinernen Götter erheben sich dann aus dem verschollenen Schutt und reiben sich den tausendjährigen Staub aus den Augen, und Thor mit dem Riesenhammer springt endlich empor und zerschlägt die gotischen Dome... Wenn ihr dann das Gepolter und Geklirr hört, hütet euch ihr Nachbarskinder, ihr Franzosen und mischt euch nicht in die Geschäfte, die wir zu Hause in Deutschland vollbringen. Es könnte euch schlecht bekommen. Hütet euch, das Feuer anzufachen, hütet euch es zu löschen. Ihr könntet euch leicht an den Flammen die Finger verbrennen. Lächelt nicht über meinen Rat, über den Rat eines Träumers, der euch vor Kantianern, Fichteanern und Naturphilosophen warnt. Lächelt nicht über den Phantasten, der im Reiche der Erscheinungen dieselbe Revolution erwartet, die im Gebiete des Geistes stattgefunden. Der Gedanke geht der Tat voraus, wie der Blitz dem Donner. Der deutsche Donner ist freilich auch ein Deutscher und ist sehr gelenkig, und kommt langsam herangerollt; aber kommen wird er, und wenn ihr es einst krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wisst: der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht. Bei diesem Geräusche werden die Adler aus der Luft tot niederfallen, und die Löwen in der fernsten Wüste Afrikas werden die Schwänze einkneifen und sich in ihren königlichen Höhen verkriechen. Es wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland, wogegen die französische Revolution nur wie eine harmlose Idylle erscheinen möchte."
    2. Der Weg von “Hegel zu Nietzsche” - so Karl Löwith (Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts, Zürich/Wien 1941; (2)1949).
    3. Der Weg von “Nietzsche zu Hitler” - so Georg Lukacs: Von Nietzsche zu Hitler oder Der Irrationalismus und die deutsche Politik. Frankfurt am Main 1966. Genauer von Schelling über Schopenhauer, Nietzsche und Heidegger zu Hitler, während der alternative Weg angeblich von Hegel über Marx zu Lenin verlaufe. Lukacs verkennt aufgrund seiner Affinität zum Kommunismus also das Problem des Rechtshegelianismus, in analoger Weise wie Martin Heidegger aufgrund seiner tendenziellen Affinität zum Faschismus die Entwicklung des Linkshegelianismus verzerrt wahrnimmt. Der Weg, der von diesem gemeinsamen Ausgangspunkt zur Konzeption eines revolutionären Subjekt-Objekts der Geschichte einerseits und zum `eigentlichen Dasein´ andererseits führt, zeichnete für Goldmann zugleich auch den Weg einer "analogen Verwandtschaft und Gegensätzlichkeit der politischen Stellungnahmen der beiden Denker [vor], das heißt der Beziehungen Heideggers zum Nationalsozialismus und der Lukács' zum Stalinismus" (Lucien Goldmann: Lukács und Heidegger. Nachgelassene Fragmente, Neuwied 1975, S. 102). Zur Kritik der Auffassungen von Lukacs siehe auch Henning Ottmann: Anti-Lukacs. Eine Kritik der Nietzsche-Kritik von Georg Lukacs, in: Nietzsche-Studien, 13, 1984, S. 570-586; Vgl. außerdem: Walter Gebhard: Nietzsches Totalismus. Philosophie der Natur zwischen Verklärung und Verhängnis, Berlin/New York 1983.
    4. Der Weg von “Kant zu Nietzsche” - so Christoph Schulte: Radikal böse. Die Karriere des Bösen von Kant bis Nietzsche, München 1988.
    5. Der Weg von “Hegel zu Hitler“, siehe Hubert Kiesewetter: Von Hegel zu Hitler. Eine Analyse der Hegelschen Machtstaatsideologie und der politischen Wirkungsgeschichte des Rechtshegelianismus, Hamburg 1974; u.d.T. Von Hegel zu Hitler. Die politische Verwirklichung einer totalitären Machtstaatstheorie in Deutschland. 1815-1945, Frankfurt am Main (2., völlig veränd. u. erw.)1995. Kiesewetter hat in der Tradition des Kritischen Rationalismus stehend zwar überzeugend den hegelianischen Anteil der nationalsozialistischen Rechts- und Staatslehre herausgearbeitet, jedoch ebenfalls den Anteil Kants nicht befragt. Vgl. dazu die Auseinandersetzung mit Henning Ottmann, einem erklärten Hegelianer: Henning Ottmann: Rez. Hubert Kiesewetter: Von Hegel zu Hitler, in: Philosophisches Jahrbuch, 82, 1975, 227-234. Henning Ottmann weist darauf hin, dass sich schon 1941 William Montgomery McGovern (1897-1964) „als würdiger Vorkämpfer Poppers erwiesen“ habe, „als er Hegel gleichzeitig als “official philosopher” Preußens, als Bismarckschen Nationalisten, aber vor allem als `the great forerunner oder `morning star´ oft he Fascist theory of the State´ auftreten ließ.“ (Hennig Ottmann: Individuum und Gemeinschaft bei Hegel, 1977, S. 204, FN 368 unter Verweis auf McGovern, W.M.: From Luther to Hitler. The History of Fascist-Nazi Political Philosophy, Boston 1941, New York (2)1973, S. 259ff., S. 263, S. 266, S. 335).
  11. Dagegen haben es aus unterschiedlichen Gründen nur wenige - neben Guardini - unternommen, den ganzen Weg in den Blick zu nehmen. Einer dieser wenigen war zum Beispiel der Philosoph John Dewey.
    1. Interessant wäre es, den Vergleich zwischen Guardini und Dewey weiter zu fassen, vgl. dazu Carlo Maria Fedeli: L´ educazione come esperienza. Il contributo di John Dewey e Romano Guardini alla pedagogia del Novecento, Rom 2009. Aber nicht nur ein Vergleich des pädagogischen Konzepts, sondern auch des Demokratieverständnisses würde auf die Annäherung von Lebensstil und Gesinnung/Haltung abheben. So formulierte Dewey 1937 über die Demokratie: “The keynote of democracy as a way of life may be expressed, it seems to me, as the necessity for the participation of every mature human being in formation of the values that regulate the living of men together: which is necessary from the standpoint of both the general social welfare and the full development of human beings as individuals. Universal suffrage, recurring elections, responsibility of those who are in political power to the voters, and the other factors of democratic government are means that have been found expedient for realizing democracy as the truly human way of living.” (John Dewey: Democracy and Educational administration, in ders.: The Later Works of John Dewey, 1925-1953, 2008, Bd. 11, S. 218). “Democracy is a personal way of individual life (…) it signifies the possession and continual use of certain attitudes, forming personal character und determining desire and purpose in all the relations of life.” (John Dewey: Creative democracy – the task before us, in: ders.: The Later Works of John Dewey. 1925-1953, 2008, Bd. 14, S. 226).
    2. Auch wenn Deweys Argumentation tatsächlich noch unvollständig gewesen sein mag, mutet es seltsam an, wenn Georg Geismann John Deweys "Deutsche Philosophie und deutsche Politik" in geradezu verhöhnendem Ton kritisierte (Georg Geismann: John Deweys „Deutsche Philosophie und deutsche Politik“, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, 11, 2001, S. 631-638). Dewey hatte behauptet, Hegel habe von Fichte den „Begriff der Einheit oder Synthese, die durch ‘Setzen’ und Überwinden eines Gegensatzes erlangt wurde“ übernommen. Dadurch sei der „Kampf ums Dasein (oder um Verwirklichung) ... ein Teil des deutschen Denkens“ geworden und zwar noch lange bevor Darwin ihn gelehrt habe. Geismann sieht in dieser These nur einen „Unfug“ mit „Charme“. Wenn Dewey unter Berufung auf einen deutschen Autor schreibe, „dass es eine Gotteslästerung Deutschlands sein würde, wenn es irgendwelches Territorium, das es während des gegenwärtigen Krieges erobert hat, aufgeben würde, weil es sich damit weigere, das Wirken Gottes in der Geschichte anzuerkennen, dann spricht er ganz im Sinne Hegels“, sei dies eine „intellektuelle Vergewaltigung eines wehrlos gewordenen Autors.“ Geismann fasste dabei zwar durchaus zutreffend die Position Deweys zusammen: „Die deutsche Politik während des Ersten Weltkriegs ist laut Dewey nicht mit Darwin und nicht mit Nietzsche zu erklären; sie wurzelt vielmehr `in der klassischen idealistischen Philosophie, die in Hegel ihren Höhepunkt gefunden hat.´ Kant hat das Fundament gelegt und bleibt `der Philosoph Deutschlands´. Aber die Fichtes und Hegels halfen, `Kantische Leere des Übersinnlichen mit den soliden Wesenheiten des Staates und seiner historischen Entwicklung und Mission zu bevölkern.´ ... Den `salto mortale´ von Kant zu Hitler macht Dewey wie folgt: Kant (nicht etwa schon Platon) setzte das Zwei-Welten-System in die Welt und bestimmte damit die deutsche Kultur. Hitler fand her-aus, dass genau darin die Schwäche Deutschlands bestand. Es war seine Mission, eben die Spaltung, ... die die ‘zwei Welten Deutschlands’ konstituiert hatte, zu überwinden´.“ Letztlich versuchte Geismann aber nun diese Position mit einem angeblich irrationalen Ressentiment Deweys gegen Hegel zu erledigen: „Hätte Dewey ein Ressentiment gegen Bach und die Wiener Klassik gehabt, hätte er wie folgt `argumentieren´ können: Durch Haydn, Mozart und Beethoven - mit Bach (alias Luther) als Vorläufer - ist Deutschland im Urteil Hitlers zu einem Volk von verweichlichten Musikliebhabern geworden. Er sah seine Mission darin, die musikalische Verweichlichung durch einen kräftigen Schuss Wagnerismus und die Verweichlichung überhaupt durch Wehrertüchtigung und Kriegführung zu überwinden. In beiden Fällen aber kennen wir nun diejenigen, die für Hitlers Ansichten und Tun verantwortlich zu machen sind.“
    3. Auch wenn Geismann die zu stark vereinfachte Argumentation Deweys zu Recht in Frage stellte, weil Hitler und seine Ideologen wie Chamberlain und Rosenberg ja Kant nicht überwinden, sondern vollenden wollten, indem sie den von Hegel eingeschlagenen, von den Sozialisten und Kommunisten materialisierten und von Nietzsche nihilisierten „deutschen“ Weg konsequent voranschritten, könnte Geismann die grundsätzliche Argumentation Deweys aber nur dann wirklich entkräften, wenn er sich mit der Kant-, Fichte- und Hegel-Rezeption Chamberlains und Rosenbergs auseinandersetzen würde; und ebenso mit der bei den nationalsozialistischen Rechtswissenschaftlern favorisierten rechtshegelianischen Rechtsphilosophie, die nämlich ihren Ausgangspunkt sehr wohl bei Kant nimmt, ihn über den Sozialismus “erdet“ und mit jenem „Schuss“ Nietzscheanismus versieht, der notwendig ist, um den totalitären Führerstaat letztlich praktikabel zu machen. Es darf nicht vergessen werden, dass es Nietzsche war, der die Kantsche Vernunftkritik radikalisierte. Der Nachweis dafür findet sich bei Kiesewetter (Von Hegel zu Hitler, a.a.O.) Diese Arbeit Kiesewetters wurde zwar häufig als einseitig zurückgewiesen, aber die enthaltenen Nachweise bislang nie schlüssig widerlegt. Vgl. zu Nietzsche auch Edith Düsing: Theologie - Darwinismus - Nihilismus. Nietzsches Denkweg, Stuttgart 2001.
    4. So erklärte Alfred Rosenberg Nietzsche, neben Richard Wagner, Paul de Lagarde und Houston Stewart Chamberlain, zum „wirklichen Ahnen des Nationalsozialismus“ (vgl. Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, a.a.O., S. 84, S. 502 und S. 622). Dabei hielt Rosenberg den „Bayreuther Gedanken“ für noch einschlägiger als Nietzsche. Alfred Rosenberg: Mythus des 20. Jahrhunderts, München (37/38)1934, S. 530; ders.: Friedrich Nietzsche. Ansprache bei einer Gedenkstunde anlässlich des 100. Geburtstages Friedrich Nietzsches am 15. Oktober 1944 in Weimar, München 1944.Vgl. dazu Christian Niemeyer: Nietzsche, die Jugend und die Pädagogik. Eine Einführung, München 2002, S. 187. Doch wird dabei von Rosenberg Nietzsches Kantscher Gehalt ausdrücklich betont.
    5. Der auf das Engste mit dem „Weimarer Archiv“ um Rosenberg verbundene Kant- und Nietzsche-Forscher Alfred Baeumler (1887-1968), seit 1933 Professor für Philosophie in Berlin, wurde als Reichsamtsleiter der NSDAP von Reichsleiter Alfred Rosenberg mit dem Aufbau der "Hohen Schule“ der NSDAP am Chiemsee beauftragt. Sie sollte den Führernachwuchs der Partei nach Art einer Universität schulen. 1940 erhielt er von Rosenberg zudem den Auftrag, eine zweibändige deutsche Geschichte unter dem Titel „Der Weg zum Reich“ zu verfassen. Vgl. dazu Alfred Baeumler: Nietzsche: Der Philosoph und Politiker, Leipzig 1931; ders.: Nietzsche und der Nationalsozialismus, in: Nationalsozialistische Monatshefte, 5, 1934, H. 49 (April), S. 289-298; ders.: Nietzsche, in: Studien zur deutschen Geistesgeschichte, Berlin 1937, S. 244-280. Dass die Ahnenschaft Nietzsches innerhalb der nationalsozialistischen Ideologen aufgrund durchaus umstritten war, zeigt unter anderem die Reaktion von Ernst Krieck (Die Ahnen des Nationalsozialismus, in: Volk im Werden, 3, 1935, Nr. 3, S. 182-184). Später sagt Baeumler selbst, „weder Lagarde noch Nietzsche können mit dem Nationalsozialismus in eins gesetzt werden, da es keinen Nationalsozialismus vor Adolf Hitler gibt.“ (Alfred Baeumler: Alfred Rosenberg und der Mythus des 20. Jahrhunderts, München 1943, S. 84) Vgl. dazu Dietrich Bronder: Bevor Hitler kam. Eine historische Studie, Hannover 1964, S. 22: „der ... von Kant stark beeinflusste Nietzsche-Forscher“. Zur Kritik von Krieck und Baeumler am katholischen „Primat des Logos vor dem Ethos“ siehe in der Reaktion auf „Vom Geist der Liturgie“ S. ??? sowie Alfred Baeumler: Fichte und wir, in: Nationalsozialistische Monatshefte, 8, 1937, Heft 87, S. 482-489, zu Romano Guardini S. 484 oder 485??? (Rede am 27. Mai 1937 bei der Fichte-Feier in der Universität Berlin); eingegangen in: ders.: Bildung und Gemeinschaft, 1942; (2)1942 oder 1943???, S. 189-195, zu Romano Guardini S. 191 und Fußnote 279.
    6. Es ist gerade im Blick auf Rosenberg und Baeumler sehr wohl legitim, nach jenem Anteil zu fragen, den Kant, Fichte und Hegel an diesem Weg hatten.

Der Einfluß von Guardinis Werken "Das Ende der Neuzeit" und "Die Macht

Fazit

Am Ende kann zur Rezeption folgendes Fazit gezogen werden:

  1. Der eigenständige Ansatz seines Gegensatzdenkens hat Guardini Kritik von stark entgegengesetzten Seiten eingebracht. Sein origineller und interdisziplinärer Ansatz stellte ihn zwischen die jeweiligen ideologischen Fronten und akademischen Fakultäten. Und bis heute wird immer wieder versucht, ihn und seine Ideen entweder zu vereinnahmen oder aber auszugrenzen.
  2. Hans Urs von Balthasar begründete diesen problematischen Umgang mit der Schlichtheit, Klarheit und Einheitlichkeit von Guardinis Denken, so dass ihm gegenüber die Entscheidung leicht werde: „Zu distinguieren ist wenig; man stimmt ihm zu oder lehnt ihn ab.“ (Hans Urs von Balthasar: Romano Guardini. Reform aus dem Ursprung, München 1970, S. 13)
  3. Wenn Schlette „ein hermeneutisch sorgfältiges Mit- und Weiterdenken, wenn nötig auch über Guardini hinaus“ fordert, um „seinen Gedanken, Hinweisen, Urteilen, Versuchen, Befürchtungen, Vorblicken eher gerecht“ zu werden, als ihn undistanziert und unkritisch zu rezipieren und applizieren und dabei „zudem zahlreiche philosophische und theologische Konzeptionen und Bemühungen schlicht“ auszublenden, ist dies so lange berechtigt, als die unhegelianische Grundposition seiner Gegensatzlehre davon nicht beeinträchtigt wird. Dies ist bei Schlette selbst durchaus in Frage zu stellen, weil er sich in seinem eigenen politisch-theologischen Denken stärker an der hegelschen Dialektik als an Guardinis Dialogik orientiert.
  4. Wer dagegen aus Guardinis Werk wie aus einem Steinbruch axiomatische Sätze auswählt, um ein bereits feststehendes „Bild“ zu bestätigen, die Unvereinbarkeit des Katholischen mit den “Prinzipien der Mündigkeit und Autonomie” sowie mit einer “auf Selbstbestimmung und Selbstorganisation beruhenden Gesellschaft libertär-sozialistischer Prägung” zu erklären und umgekehrt das eigentlich Katholische im Sinne des Allgemeinen mit dieser Gesellschaft zu identifizieren, für den bleibt Guardini nur ein Teil dieses auf den Totalitarismus zustrebenden “katholischen Systems”. So wird er zum Beispiel interpretiert durch Richard Faber (Katholisch/Katholizismus II, a.a.O., S. 341-344. Vgl. dazu auch ders.: Politischer Katholizismus. Die Bewegung von Maria Laach, in: Cancik, Hubert (Hrsg.): Religions- und Geistesgeschichte der Weimarer Republik, Düsseldorf 1982, S. 136-158).
  5. Den anderen wird er – unter Berufung auf andere Versatzstücke - wiederum zum Teil bzw. Förderer eines modernistischen, reformkatholischen bzw. linkskatholischen „Projekts“. Aus dem - aus persönlicher Betroffenheit heraus formulierten - Vorwurf Ernst Michels, Guardini sei Opportunist gewesen, wird dann ein apodiktisches Vorurteil. Er wird zum verkappten hegelianischen oder aber anti-hegelianischen Dialektiker, den man soweit bruchstückhaft aufnimmt, wie er in die eigene hegelianische oder anti-hegelianische Position integrierbar ist.
  6. Ohne Frage kann man im Werk Guardinis Sätze isolieren, die in seinem Gehorsamsverständnis „romantische ... Züge“ zu belegen scheinen - so bei Clemens Vollnhals (Guardini, Romano, in: Biographisches Lexikon zur Weimarer Republik, München 1988, a.a.O., S. 116).
  7. Auch wird er für all jene zu einem - im Vergleich zum gesamten zeitgenössischen Spektrum immerhin “gemäßigten” - “Apologeten von Führerprinzip und autoritär-ständischer Ordnung” (so zu lesen bei Ulrich Bröckling: Katholische Intellektuelle in der Weimarer Republik. Zeitkritik und Gesellschaftstheorie bei Walter Dirks, Romano Guardini, Carl Schmitt, Ernst Michel und Heinrich Mertens, München 1993, S. 51), denen Guardinis Position eines schöpferischen Gehorsams und Ungehorsams nur als “Betriebsunfall” einer ansonsten den Subjektivismus bekämpfenden Lehre gilt, die den “Ungehorsam als Gehorsam im höheren Sinn begreift, sofern er, statt nur niederzureißen, eine höhere, von Gott `eigentlich´ gewollte Ordnung aufbauen” wolle (ebd., S. 52). Für jene Interpreten hat Guardini grundsätzlich einen “radikalisierten Katholizismus oder katholischen Radikalismus” vertreten (ebd., S. 42), und dabei die Autorität über die Gemeinschaft und die Gemeinschaft über die individuelle Freiheit gestellt (ebd., S. 51 f.). Guardini sei demnach bei der Übertragung seines Modells von Autorität und Freiheit, das für kleine Gruppen konzipiert war, auf die ganze Gesellschaft gescheitert, weil “mit der Kategorie der `personalen Beziehung´ die soziale Synthesis moderner Gesellschaften nicht zu fassen war” (ebd., S. 55).
  8. Wer selbst von einer vorher so festgelegten, einseitigen Vorstellung von Freiheit und Autonomie ausgeht, wird Guardinis Gegensatzdenken zwischen Autorität und Gehorsam einerseits, Freiheit und Autonomie (Widerstand) andererseits gar nicht anders deuten und verorten können. Seine personale Dialogik als politisch-theologische Grundlage gerade für die Zusammenschau all jener Faktoren, die moderne Gesellschaften sozialethisch verantwortlich und soziologisch nachhaltig ausmachen, gerät dann ins Abseits und wird vorschnell als „untauglich“ eingestuft. Nur passiert dies eben oft genug und ebenso unverhohlen auch von Seiten derer, die in Guardini keinen konservativen, restaurativen und regressiven Bewahrer, sondern einen reformierenden, renovativen und progressiven Neuerer, und zwar keineswegs nur auf dem Gebiet der Liturgie, sehen.

wird fortgesetzt