Romano Guardini und Wilhelm Emmanuel von Ketteler

Aus Romano-Guardini-Handbuch
Version vom 17. Juli 2022, 12:13 Uhr von Helmut Zenz (Diskussion | Beiträge) (Die Seite wurde neu angelegt: „In Mainz waren Guardini und Neundörfer besonders stark in die Spannungen der kulturkämpferischen „Wendezeit” einbezogen, weil diese Stadt ''„in der Sicht des deutschen Katholizismus drei große Traditionsströme in sich vereinigte: den des `SYMBOLKATHOLIZISMUS´[1] des alten Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, in welchem der Glaube die Verantwortung für eine ganze Welt zu tragen bereit war. Dann aber war Mainz auch jene Stadt, in der es…“)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)

In Mainz waren Guardini und Neundörfer besonders stark in die Spannungen der kulturkämpferischen „Wendezeit” einbezogen, weil diese Stadt „in der Sicht des deutschen Katholizismus drei große Traditionsströme in sich vereinigte: den des `SYMBOLKATHOLIZISMUS´[1] des alten Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, in welchem der Glaube die Verantwortung für eine ganze Welt zu tragen bereit war. Dann aber war Mainz auch jene Stadt, in der es zum erstenmal `KATHOLIKENTAGE´[2] gab, d.h. die Stadt der sich hier formierenden schlagkräftigen konfessionellen Organisationen und des damit verbundenen `politischen Katholizismus´. Schließlich aber hat in Mainz der `SOZIALE KATHOLIZISMUS´[3], dessen größtes und leuchtendes Symbol im 19. Jahrhundert der sozialreformerische Wille des großen Mainzer Bischofs Wilhelm Emmanuel von Ketteler war, seinen Ursprung gehabt.”[4]

Nun kann an dieser Stelle noch dahingestellt bleiben, ob der Philosoph Max Müller, von dem diese Einschätzung stammt, mit seiner Behauptung Recht hatte, Guardini sei dem „politischen Katholizismus” und seinen Organisationen „immer fern und fremd geblieben”. Ohne Frage zuzustimmen ist ihm jedoch darin, dass sich bei Guardini „die beiden anderen Linien, die des konservativen Symbolkatholizismus, der das Unsichtbare und Ewige dauernd in konkreter Verleiblichung wirklich unter uns erlebt, und die des vorwärtsdrängenden und reformerischen Sozialkatholizismus, der auf die Forderung der geschichtlichen Stunde fühlig und erregt hinhört, ... in selten harmonischer Synthese”[5] geeint hatten.

Bislang wurde dieser einschlägige Hinweis Max Müllers erstaunlicherweise kaum näher verfolgt. Tatsächlich wurde nämlich für Guardini und Neundörfer das rechte Verhältnis von „Freiheit, Autorität und Kirche” zum entscheidenden Lebensthema und gerade dieses Thema war wenige Jahrzehnte vorher in ihrer Heimatstadt bereits vom sozialreformerischen Bischof und Zentrumspolitiker Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler (1811-1877) maßgeblich vorgeprägt worden.[6] Karl Rahner konstatierte zum 80. Geburtstag von Guardini, dass es Theologen und Politiker wie Ketteler waren, die auch Guardini und Neundörfer dazu anregen sollten, „nach Modernismus und Integralismus ... die katholische Kirche aus dem Turm der sich selbst distanzierenden und anathematisierenden Selbstverteidigung” herauszuführen, hinein „in das freie Feld des Dialogs mit allen, die guten Willens sind.”[37]

Nun ist bislang keine ausdrückliche Referenz Guardinis auf diesen herausragenden „Millenarmenschen” Ketteler bekannt.[38] Lediglich aus der Biographie von Fritz Burgbacher (1900-1978) geht hervor, dass Guardini als geistlicher Beauftragter für die Mainzer „Juventus“, einer katholischen Vereinigung von Schülern höherer Lehranstalten, bereits den jugendlichen Mitgliedern „die Ideen des Mainzer Bischofs Wilhelm Emmanuel Frhr. von Ketteler“ nahegebracht hatte.[9] Und Guardinis späterer Freund Johannes Spörl war sich in seinem Geleitwort zur vierten Auflage von Guardinis „Vom Sinn der Kirche“ sicher, dass die Entwicklung Guardinis nur „aus der Atmosphäre von Mainz“ zu verstehen sei: „Denn dort lernte er den hohen Wert wahrer Tradition und dabei menschlicher Aufgeschlossenheit kennen, wie sie in dem großen sozialen Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler und seinem weitschauenden Generalvikar Johann Baptist Heinrich verkörpert waren; ihre notwendige Fortführung machte er sich zur Pflicht.“[10]


Anmerkungen

  • 1: Dieser Begriff ist wohl eine genuine Prägung von Max Müller.
  • 2: Die Mainzer Katholikentage fanden 1848, 1851, 1871, 1892, 1911 und 1948 statt. Vgl. zur Geschichte und Bedeutung der Katholikentage Hürten, Heinz: Spiegel der Kirche – Spiegel der Gesellschaft im Wandel der Welt, Paderborn 1998.
  • 3: Vgl. dazu bereits: Franz, Albert: Der soziale Katholizismus in Deutschland bis zum Tode Kettelers, Mönchen-Gladbach 1914.
  • 4: Müller, Max: Romano Guardini, in: Gestalter unserer Zeit, Oldenburg/Hamburg 1954, Bd. 1, S. 65. Ähnlich bei Gerl-Falkovitz, Hanna-Barbara, Romano Guardini, a.a.O., S. 33: „Für den deutschen Katholizismus bedeutete Mainz lange Zeit die glückliche Vereinigung dreier großer Traditionen: des mittelalterlichen Symboldenkens des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, des politischen Katholizismus mit seinen Organisationen (hier wurden die Katholikentage zur Darstellung eines öffentlich wirksamen Glaubens eingeführt), und katholischer Sozialreform, wie sie Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811-1877) vergegenwärtigte“.
  • 5: Müller, Max: a.a.O., S. 65. Guardini selbst hätte aber wohl nicht von „harmonischer Synthese“, sondern von „lebendig-konkreter Spannungseinheit“ gesprochen.
  • 6: Ketteler, Wilhelm Emmanuel von: Freiheit, Autorität und Kirche: Erörterungen über die großen Probleme der Gegenwart, Mainz 1862.
  • 7: Rahner, Karl: Romano Guardini zum 80. Geburtstag, a.a.O., S. 10.
  • 8: So bereits der zeitgenössische katholische Theologe und Historiker Johannes Janssen (1829-1891), zitiert nach Tischleder, Peter: Der Totalismus in der prophetischen Vorausschau Wilhelm Emmanuel von Kettelers, Mainz 1947, S. 7.
  • 9: Günter Buchstab: Fritz Burgbacher (1900-1978), in: Aretz, Jürgen/Morsey, Rudolf/Rauscher, Anton (Hrsg.): Zeitgeschichte in Lebensbildern, Bd. 10, Münster 2001, S. 194.
  • 10: Spörl, Johannes: Zeitgeschichtliches Dokument als bleibender Anruf. Zum Geleit, in: Guardini, Romano: Vom Sinn der Kirche, Mainz (4)1955, S. 11.