Romano Guardini und Wilhelm Emmanuel von Ketteler

Aus Romano-Guardini-Handbuch

Guardini und Ketteler (Autor: Helmut Zenz)

Max Müller über die Beziehung Romano Guardinis zu Kettelers Sozialem Katholizismus

In Mainz waren Guardini und Neundörfer besonders stark in die Spannungen der kulturkämpferischen „Wendezeit” einbezogen, weil diese Stadt „in der Sicht des deutschen Katholizismus drei große Traditionsströme in sich vereinigte: den des `SYMBOLKATHOLIZISMUS´[1] des alten Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, in welchem der Glaube die Verantwortung für eine ganze Welt zu tragen bereit war. Dann aber war Mainz auch jene Stadt, in der es zum erstenmal `KATHOLIKENTAGE´[2] gab, d.h. die Stadt der sich hier formierenden schlagkräftigen konfessionellen Organisationen und des damit verbundenen `politischen Katholizismus´. Schließlich aber hat in Mainz der `SOZIALE KATHOLIZISMUS´[3], dessen größtes und leuchtendes Symbol im 19. Jahrhundert der sozialreformerische Wille des großen Mainzer Bischofs Wilhelm Emmanuel von Ketteler war, seinen Ursprung gehabt.”[4]

Nun kann an dieser Stelle noch dahingestellt bleiben, ob der Philosoph Max Müller, von dem diese Einschätzung stammt, mit seiner Behauptung Recht hatte, Guardini sei dem „politischen Katholizismus” und seinen Organisationen „immer fern und fremd geblieben”. Ohne Frage zuzustimmen ist ihm jedoch darin, dass sich bei Guardini „die beiden anderen Linien, die des konservativen Symbolkatholizismus, der das Unsichtbare und Ewige dauernd in konkreter Verleiblichung wirklich unter uns erlebt, und die des vorwärtsdrängenden und reformerischen Sozialkatholizismus, der auf die Forderung der geschichtlichen Stunde fühlig und erregt hinhört, ... in selten harmonischer Synthese”[5] geeint hatten.

Bislang wurde dieser einschlägige Hinweis Max Müllers erstaunlicherweise kaum näher verfolgt. Tatsächlich wurde nämlich für Guardini und Neundörfer das rechte Verhältnis von „Freiheit, Autorität und Kirche” zum entscheidenden Lebensthema und gerade dieses Thema war wenige Jahrzehnte vorher in ihrer Heimatstadt bereits vom sozialreformerischen Bischof und Zentrumspolitiker Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler (1811-1877) maßgeblich vorgeprägt worden.[6] Karl Rahner konstatierte zum 80. Geburtstag von Guardini, dass es Theologen und Politiker wie Ketteler waren, die auch Guardini und Neundörfer dazu anregen sollten, „nach Modernismus und Integralismus ... die katholische Kirche aus dem Turm der sich selbst distanzierenden und anathematisierenden Selbstverteidigung” herauszuführen, hinein „in das freie Feld des Dialogs mit allen, die guten Willens sind.”[7]

Nun ist bislang keine ausdrückliche Referenz Guardinis auf diesen herausragenden „Millenarmenschen” Ketteler bekannt.[8] Lediglich aus der Biographie von Fritz Burgbacher (1900-1978) geht hervor, dass Guardini als geistlicher Beauftragter für die Mainzer „Juventus“, einer katholischen Vereinigung von Schülern höherer Lehranstalten, bereits den jugendlichen Mitgliedern „die Ideen des Mainzer Bischofs Wilhelm Emmanuel Frhr. von Ketteler“ nahegebracht hatte.[9] Und Guardinis späterer Freund Johannes Spörl war sich in seinem Geleitwort zur vierten Auflage von Guardinis „Vom Sinn der Kirche“ sicher, dass die Entwicklung Guardinis nur „aus der Atmosphäre von Mainz“ zu verstehen sei: „Denn dort lernte er den hohen Wert wahrer Tradition und dabei menschlicher Aufgeschlossenheit kennen, wie sie in dem großen sozialen Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler und seinem weitschauenden Generalvikar Johann Baptist Heinrich verkörpert waren; ihre notwendige Fortführung machte er sich zur Pflicht.“[10]

Wenn man sich aus dieser Perspektive der „Fortführung“ zum Beispiel Kettelers Schrift „Freiheit, Autorität und Kirche”[11] aus dem Jahr 1862 näher betrachtet, sind die Parallelen zu Guardinis Denken so evident, dass es geradezu als logische Fortsetzung, insbesondere aber auch als politisch-theologische Vertiefung von Kettelers Werk und Wirken angesehen werden kann. Bei Neundörfer wird dies im Blick auf die Frage nach der relativen Trennung von Kirche und Staat sogar noch deutlicher ins Auge fallen als bei Guardini selbst. Um Kettelers prägende Reformidee später besser einordnen zu können, soll daher ein längerer Exkurs dessen Vorstellungen, so wie er sie im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts entwickelt hatte, gelten. Der Exkurs ist in seiner Ausführlichkeit deshalb notwendig, weil sich gerade auch viele Formeln, Formulierungen und Denkmuster Kettelers bei Guardini und Neundörfer nachempfunden, zum Teil sogar fast wörtlich wiederfinden lassen. Um im weiteren Verlauf aber die Originalität und Einheitlichkeit von Kettelers Denken nicht aus den Augen zu verlieren, soll er hier – trotz der zahlreichen Sekundärliteratur - überwiegend selbst zu Wort kommen.[12]

Kollektaneenheft

Kettelers politische Stellungnahmen gelten gemeinhin als „prophetische Vorausschau” des „Totalismus”[13]. Er hat diese Positionen formuliert angesichts der Entwicklungen im deutschen Katholizismus nach 1848. Im Blick auf die von der Frankfurter Nationalversammlung erarbeitete Verfassung widerstritten sich damals im politischen Katholizismus ein liberal-konstitutioneller und ein feudal-antikonstitutioneller Flügel. Ketteler nahm in diesem Streit von Beginn an einen vermittelnden Standpunkt ein. So notierte er bereits Anfang der fünfziger Jahre in sein „Kollektaneenheft”[14]: „Der Ruf nach Freiheit in dieser Zeit hat im letzten Grunde volle Berechtigung, er hat eine große christliche Wahrheit zur Grundlage. Es geht aber den Menschen bei diesem Rufe wie dem Kranken, der sich krank fühlt, aber den Sitz der Krankheit nicht weiß. Die Ärzte aber belügen das Volk, indem sie sagen, das ganze Übel bestehe in Staatsformen, und mit neuen demokratischen Formen sei Freiheit zu schaffen. Das Übel liegt aber in jener falschen Idee vom Staate, die den Absolutismus erzeugt, die bei Bürokraten und Demokraten ganz dieselbe ist, die das Individuum nach christlicher Auffassung und die Korporationen oder organischen Assoziationen im Gegensatz zu den anderen Vereinen erdrückt.”[15]

Die konkrete Staatsform sei der katholischen Kirche „gleichgültig, wenn nur eine Wahrheit in allen diesen Formen anerkannt wird, die Wahrheit, dass jede Obrigkeit ihre Gewalt von Oben hat, dieselbe weder aus dem Willen des Einzelnen, noch des großen Haufens entspringt.” Daher seien der reine Begriff und „die Grundsätze der Demokratie“ nicht als solche verderblich und stünden auch nicht mit den „Grundsätzen des Christentums“ in Widerspruch[16], sondern nur, wenn sie nicht „der wahren Freiheit“ dienen. „Todfeind der Freiheit” seien daher all jene „philosophischen Systeme, welche den Staat vergöttern als alleinigen höchsten Zweck der Menschheit, die hier pantheistisch zur Gottheit hindurchgeschwindelt(?) wird.”[17] Wenn der Ursprung aller Gewalt allein vom menschlichen Willen abgeleitet und letztlich über Alles ausgedehnt wird; wenn also der Mensch keine Wahrheit, kein Gebot und kein Gewissen mehr kennt und anerkennt, wird er unfrei.[18] Gerade die „heutige“, „moderne“ Demokratie sei aber in diesem Sinne „wesentlich tyrannisch“, „gegen jede Freiheit“ und „gegen das Recht des Individuums“, „antichristlich”[19] und stehe „ganz und gar mit dem Begriff der wahren Demokratie in Widerspruch.” [20]

Sowohl die „repräsentative Ordnung“ der doktrinären Liberalen als auch die „dezentrale Ordnung“ der doktrinären Konservativen seien gegen diese tyrannischen Tendenzen lediglich „negative Maßnahmen“. Denn „die bloße Beseitigung der Zentralisation, ohne einen lebenskräftigen Organismus an die Stelle zu setzen, wäre eine Maßregel“, die letztlich die Glieder des Staates auseinanderreißen würde. Dagegen helfe dann auch keine Belebung der „absoluten Staatskraft” mehr. Einzig von der Wiederaufrichtung der organisch gegliederten, korporativen Volksverfassung im Sinne einer ständischen Ordnung, versprach sich Ketteler eine dauerhafte Lösung.[21]

Freiheit, Autorität und Kirche (1862)

Auch in seiner 1862 erschienenen Schrift „Freiheit, Autorität und Kirche” brandmarkte Ketteler deutlich „den Liberalismus als Absolutismus unter dem Schein der Freiheit”, ohne dabei aber den Konstitutionalismus als solchen abzulehnen. Vielmehr betonte er explizit „den Wert einer Verfassung für die Freiheit der Kirche”.[22] Die Generalbegriffe „Freiheit, Brüderlichkeit, Gleichheit” der Französischen Revolution hätten – so Ketteler - an sich „einen erhabenen, himmlischen, göttlichen Sinn. Sie enthalten eine große Wahrheit, eine von Gott den Menschen gegebene hohe Aufgabe, und das ist der Grund, weshalb sie über die Herzen eine so gewaltige Macht üben, zum Segen oder zum Verderben, zur rechten Führung oder zur Verführung.”[23] Diese Erhabenheit gehe aber verloren, wenn diese Worte nicht in das Christentum und damit in die Lebensgemeinschaft mit Gott in Christus eingebettet blieben. Ohne diese Einbettung würden Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit zu „Trugbildern des Zeitgeistes”.[24]

Bezüglich des Freiheitsbegriffs unterschied Ketteler zwischen „sittlicher Freiheit”[25] und „Überzeugungsfreiheit”[26]: Sittliche Freiheit bestehe „in der innern, freien Selbstbestimmung des Menschen zum Guten, verbunden mit freier Wahl und insbesondere mit der Möglichkeit der Wahl des Bösen.” Überzeugungsfreiheit dagegen richte sich auf die Erkenntnis der Wahrheit, die ebenfalls vom vernünftigen Gehorsam des Glaubens bis zur Verweigerung dieser freien inneren Zustimmung der Vernunft reicht.[27] „In dieser doppelten Freiheit, der sittlichen und der vernünftigen, besteht nun eigentlich das Wesen der menschlichen Freiheit. Wer sie hat, besitzt die wahre Menschenwürde, wenn ihm auch alle anderen Freiheiten fehlen sollten. Wer sie nicht hat, der entbehrt der Menschenwürde, wenn er auch im Besitz aller anderen Freiheiten und dazu aller menschlichen Ehren ist. Der Missbrauch dieser Doppelfreiheit besteht für den Willen in der Wahl des Bösen, für die Vernunft in der Wahl der Lüge. Dieser Missbrauch führt dann zur tiefsten Erniedrigung des Menschen.”[28]

In diesen beiden Freiheiten sah Ketteler also „zugleich die Grundbegriffe für jede andere Freiheit und das wahre Verständnis derselben.”[29] Und aus diesem Freiheitsverständnis heraus charakterisierte er schließlich auch „zwei Grundrichtungen im Staate“. Während die eine die Glieder zusammenhalten wolle, machen sich die Glieder selbst durch die andere Richtung „in ihrer Individualität, in ihrem Unterschiede von einander, in ihrer Mannigfaltigkeit geltend“: „Beide Richtungen sind an sich durchaus berechtigt und entspringen unmittelbar aus der Natur eines Vereines, der weder ohne Einigung noch ohne Glieder, die zu einigen sind, gedacht werden kann. Wo das Eine oder das Andere fehlt, wo das Eine das Andere vernichtet, ist der Begriff des Vereines aufgehoben.” Es käme auf „das richtige Verhältnis“ an, auf „die wahre Harmonie” dieser beiden Grundrichtungen. Ketteler erblickte nun „das höchste vollendetste Bild einer solchen Vereinigung” in der „katholischen Kirche nach der Idee, die Gott in ihr niedergelegt hat.” Und wie in der Kirche wird analog dazu auch „jener Verein, den wir den STAAT nennen, um so vollkommener sein, je höher die Individualität und Persönlichkeit der Glieder steht und je fester das Band ist, das sie umschlingt.” Die Selbstsucht dagegen sei der „Todfeind beider Richtungen im Staatsleben“[30]: „Je nachdem dieselbe sich der einen oder der andern bemächtigt, wird der Staat entweder in seinen Gliedern entwürdigt oder in seiner Verbindung aueinandergerissen.” Mannigfaltigkeit entarte dann zur Revolution, Einigung zum Absolutismus.[31] Der Absolutismus löse den Staatsverband auf, „indem er die Freiheit, die Individualität, das eigene Leben der Glieder zerstört“, die Revolution, „indem sie das soziale Band zerreißt, das die Gesellschaft begründet; jener vernichtet die Vielheit, diese die Einheit, während Vielheit und Einheit gleich notwendige Elemente jeder Sozietät, insbesondere des Staates sind.”[32]

Es gelte daher die „bürgerliche, soziale[33] Freiheit” vor dem egoistischen Missbrauch in der Revolution und die „wahre Autorität” vor dem nicht minder selbstsüchtigen Missbrauch im Absolutismus zu bewahren.[34] Bürgerliche Freiheit meine „freie Selbstbestimmung“[35] bzw. Selbstverwaltung und nicht „souveräne Unabhängigkeit”, schon gar nicht gegenüber dem Schöpfer. Daher schließe diese Freiheit „den GEHORSAM nicht aus, sondern ist vielmehr auf das Innigste mit ihm verbunden und erhält von ihm erst die wahre Weihe.”[36] Staatsgewalt, politische Autorität und Souveränität wiederum dürfe nicht nach unbeschränkter Ausdehnung streben und müsse auf das „Heiligtum der Seele, auf diese von Gott jedem Wesen verliehene Freiheit und Selbstbestimmung” Rücksicht nehmen.[37] Wenn das „oberste Glied im Staatsleben seine Schranken“ dagegen „überschreitet und alle anderen Organe des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens verzehrt und auffrisst“, stehe am Ende „zwar ein Leben, aber nur ein scheinbares, wie auch die Krankheit ein Leben ist, das aber zum Tode führt.”

In diesem Zusammenhang kritisierte Ketteler dann auch jenen „modernen Zeitgeist”, der einerseits „gegen das christliche ROM protestiert”, andererseits „aber das heidnische ROM” anbetet.[38] Dieser „Kultus des HEIDNISCHEN ULTRAMONTANISMUS”[39], der den Staat zur „Gesetzgebungsfabrik” verkommen lässt, kenne „kein höheres Ziel, als den alten deutschen Geist unseres Volkes mit heidnischem Wesen zu vergiften.”[40] Ebenso sei ein verhängnisvolles Missverständnis, zu behaupten, dass der Begriff „von Gottes Gnaden“ unbeschränkte Allgewalt bedeute, vielmehr ziele er darauf ab, dass „die staatliche Ordnung... nicht bloßes Menschenwerk, sondern vor allem Gottes Werk“ sei, „und die in ihr bestehende Gewalt ist nicht eine menschliche Erfindung, sondern eine in ihrem Wesen von dem menschlichen Willen vollständig unabhängige göttliche Einrichtung.”[41]

Stattdessen stellte Ketteler im polaren Sinn dem „Staat von Gottes Gnaden” den „Staat von Menschen Gnaden” ergänzend gegenüber. Es handle sich um die „zwei Grundlagen des Staates”: „Gottes Wille” und „des Menschen Wille.” Wenn das moderne Staatsdenken den Staat nur als Menschenwerk sehen möchte[42], sei das „einzige rechtmäßige Bindemittel der menschlichen Gesellschaft... der VERTRAG. Aber auch dieser reicht in diesem Systeme nicht aus, um den Menschen zu binden und in einer Ordnung zu unterwerfen” und so „bleibt durchaus kein Mittel der Verbindung als die GEWALT. Der Kampf aller dieser absolut souveränen Individualitäten gegen Alle ist die notwendige Konsequenz dieses Systems.”[43]

Unabhängig von der konkreten Staatsform, sei es Republik oder Monarchie, gab es für Ketteler dagegen zwei „Grundformen aller Staatsverfassungen”, die nicht auf den extremen Vorstellungen von Vertrag und Gewalt beruhen, nämlich die ständische und die konstitutionalistische Verfassung. Auch hier hätten beide ihr Recht innerhalb der ihnen gesetzten Schranken. Und erneut bekennt sich Ketteler dazu, dass er „die STÄNDISCHE VERFASSUNG dem Konstitutionalismus vorziehe”, aber nur weil sich in der Moderne mit dem Konstitutionalismus eine einseitig MECHANISCHE Vorstellung verbunden habe und die ORGANISCHE verdränge.[44] Ketteler verdeutlichte diese Präferenz durch die Gegenüberstellung von zwei weiteren Begriffen: „Germanismus” und „Romanismus”. Auch diesen Gegensatz sah er als grundsätzlich gerechtfertigt an, lehnte aber eine Verknüpfung mit anderen Gegensatzpaaren wie „Freiheit” und „Autorität” oder „Protestantismus” und „Katholizismus” oder „Subjektivismus” und „Objektivismus” ausdrücklich ab, insbesondere jeglichen „falschen Nationalhochmut” in Form einer „bornierten Deutschtümelei” oder eines Romkultes.

Da man aber – so Ketteler - dem „antiken römischen Staat” tatsächlich eher die Neigung zur Zentralisation und zum Mechanischen und dem „christlich germanischen Staatswesen des Mittelalters” eher die Neigung zur Selbstregierung und zum Organischen zuordnen könne, gehöre die Ständeverfassung wesentlich dem germanischen Geiste an, der mechanische Konstitutionalismus eher dem romanischen Geiste.[45] Ketteler schloss an diese Überlegungen nun explizit Gedanken über Religionsfreiheit und die Freiheit der Kirche an und kam dabei zur Schlussformel: „Die Kirche verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig unter den allgemeinen Gesetzen des Staates.” Staat und Kirche seien „beide Anstalten, die in Gottes heiligen Weltplan gehören, in dem Alles die höchste Übereinstimmung ist.”[46] Und so könne und dürfe sich die Kirche „nicht vom Staate trennen, wie sie sich überhaupt von gar nichts trennen kann, was von Gott stammt. Sie muss den Staat ehren als eine göttliche Veranstaltung zum Heile der Menschen. Sie muss ihre Glieder anhalten, der Gewalt im Staate, so weit sie der göttlichen Ordnung entspricht, wegen Gott gehorsam zu sein. Sie muss das Wohl des Staates fördern mit allen ihren geistlichen Mitteln, sich über geordnete Staatsverhältnisse freuen und jede Zerrüttung des Staatswesens beklagen.”[47]

Soweit die Überlegungen zu „Freiheit, Autorität und Kirche“ aus dem Jahre 1862.

Ist das Gesetz das öffentliche Gewissen? (1866)

In der Folgezeit nahm dann bei Ketteler der Begriff des Gewissens eine besondere Stellung ein. Insbesondere in seinem 1866 veröffentlichten Text „Ist das Gesetz das öffentliche Gewissen?”[48] betonte Ketteler, dass das Gewissen nur Sache und Äußerung der Person und nicht eines unpersönlichen Kollektivs sein könne. Das Gewissen sei unmittelbar zu Gott hin und in ihm kämen Freiheit und Bindung zum Ausgleich. Daher werde ohne die Theonomie des Gewissens die „totale Freiheit” des Liberalismus zwangsläufig zur totalen Knechtschaft[49]: „Die Idee des souveränen Staates hat ihre Berechtigung; die Idee des souveränen Menschengeistes steht aber noch höher; denn der Staat vergeht, während der Menschengeist ewig lebt. Beide haben ihren Grund in Gott und damit auch ihr gegenseitiges rechtmäßiges Verhältnis, ihre Harmonie und Ordnung. Sie sollen sich nicht widersprechen und leugnen, sondern sich gegenseitig achten und sich in jener Ordnung einträchtig bewegen, die ihnen Gott angewiesen hat. Wenn sie aber in der Tat unvereinbar wären, so würden wir lieber dem Staate entsagen als der Menschenwürde.”

Konsequent formulierte Ketteler daher die Alternative: „Lieber gewissenhafte Menschen ohne Staat als einen Staat mit gewissenlosen Menschen.”[50] Es gelte also, „das christliche Gewissen des Volkes” zu achten und „die Staatsgewalt auf ihr eigentümliches Gebiet” zu beschränken.[51]

Im Hintergrund stehen dabei natürlich Kettelers persönliche Erfahrungen von 1837, die er schon damals in einem Brief an seinen Bruder mit der Berufung auf das Gewissen in Verbindung brachte: Er könne einem Staat nicht dienen, der die Aufopferung seines Gewissens fordere.[52]

Deutschland nach dem Kriege von 1866

1867 führte Ketteler seine Gedanken in der Schrift „Deutschland nach dem Kriege von 1866“ weiter. Zentral ist dabei seine Verhältnisbestimmung von Idee und Form: „Zu einem richtigen Urteil über alle Gebiete des menschlichen Wirkens und menschlicher Einrichtungen gehört vor allem die klare Einsicht in das Verhältnis zwischen den Ideen und den Formen ihrer Verwirklichung. Nur wo beide, und zwar in der rechten Weise, verbunden sind, entwickelt sich alles nach seiner wahren Bestimmung.”[53]

Ketteler war davon überzeugt, dass „alles wahre Gedeihen” davon abhänge, „dass wahre Ideen die Formen erfüllen, in denen das menschliche Leben sich bewegt, und dass diese Formen sich gestalten nach den wahren Gesetzen, die Gott in die Natur der Dinge gelegt hat.” Daher sei es gleichermaßen unheilvoll, „wenn die bürgerlichen und staatlichen Institutionen ihren wahren idealen Inhalt verloren haben” oder wenn die Ideen sich „ohne ihre rechtmäßige Form, ohne Rücksicht auf die Geschichte, auf die Rechtsentwicklung, auf die Leitung und Lenkung der Vorsehung, auf den Willen und das Gebot Gottes” zu verwirklichen suchen.[54] Sowohl das „alte heilige römische Reich” als auch die neue Verfassung Deutschlands seien „Formen ohne (berechtigte) Idee” geworden. Unmissverständlich betonte Ketteler, dass ein „hohler, lügenhafter Legitimismus” dem „wahren Legitimismus und der wahren Achtung vor dem Rechte” mehr schade „als selbst der Geist der Revolution.”[55] Gleichermaßen sprach er sich in diesem Zusammenhang aber vehement gegen die immer weiter um sich greifende Maxime „Der Zweck heiligt die Mittel” aus: „Wenn man für den Verkehr der Völker und Staaten einen exemptionellen Maßstab anlegt, als ob hierfür andere Gesetze bestünden als die der gewöhnlichen Sittlichkeit und des gewöhnlichen Rechtes; wenn man sich der Täuschung hingibt, dass im Privatleben schlecht, unrecht und verwerflich sein könne, was in der höheren Politik recht, gut, ja notwendig sei; wenn man mit einem Worte von den Geboten Gottes absieht und für so hohe Dinge andere Gebote, die gewissermaßen höher liegen sollen, aufstellt, so müssen solche Folgen notwendig eintreten. Dadurch verfällt die hohe Politik sofort lediglich der Menschenklugheit, der Menschenwillkür, sie wird eine niedere Nützlichkeitspolitik, eine Politik der Intrige, kurz eine Politik, bei welcher der Egoismus das einzige und maßgebende Gesetz ist.”[56]

So sei auch „ein Völkerrecht ohne Gottes-Recht... ein permanenter Kriegszustand oder nur eine Waffenruhe, die dem Kriege Aller gegen Alle vorausgeht.”[57] Abermals kennzeichnete Ketteler den „doktrinären Absolutismus” als „Zeitkrankheit, die wieder ihren Grund hat in dem Subjektivismus, dem so viele unserer Zeitgenossen gänzlich anheim gefallen sind.“ Und geradezu beschwörend wiederholt er, dass dabei die Form einerlei sei: „Sei es nun absolute Monarchie mit religiöser Färbung, absoluter Militärstaat, absoluter Konstitutionalismus als Herrschaft des Kapitals oder der Arbeiter; sie alle sind Formen EINES Systems, der Gedanke des absoluten Staates in vier Formen, WESENTLICH aber dasselbe.”

Nach Ketteler werden also die falschen Formen durch die falschen Ideen erzeugt, im politischen Bereich also durch den Absolutismus „alle diese falschen Staatssysteme, und jedes System sammelt um sich eine Zahl fanatischer Anhänger, die in der rücksichtslosesten Verfolgung ihrer Systeme das alleinige Heil der Welt suchen.”[58] Ketteler gab dieser Fehlentwicklung den Namen „Machiavellismus”. Dessen „innerstes Wesen” sei nämlich „eine Politik ohne Gott, eine Politik ohne Religion, eine Politik ohne Sittlichkeit, eine Politik lediglich des Kalküls, der nächsten Zweckmäßigkeitsberechnung, der Anwendung aller, auch der unsittlichsten Mittel, um diesen Zweck zu erreichen. Dieser Machiavellismus in der Politik ist immer in der Welt gewesen; der hat aber in dem Maße zugenommen, wie die Menschen sich von Gott abgewendet haben.”[59] Und abschließend malte Ketteler das Bild vom finsteren, schwarzen Gestirn des Antichristentums: „die Vergötterung der Menschheit in Form des Gott-Staates”.[60] Denn „der Selbstvergötterung des einzelnen Menschen folgt die Selbstvergötterung des Menschentums.“[61] “Die letzte und höchste Empörung, zu der es folglich die Menschen treiben können gegen Gott, ehe alle, die daran teilnehmen in den ewigen Abgrund stürzen, sucht sich deshalb in diesem Gott-Staate zu verwirklichen. Dieses Antichristentum in dieser Form ist das schwarze Gestirn, das am Himmel steht; es ist schon lange aufgegangen in der Idee des absoluten Staates.”[62]

Liberalismus, Sozialismus und Christentum (1873)

In seiner Rede „Liberalismus, Sozialismus und Christentum” auf der 21. Generalversammlung der katholischen Vereine Deutschland und in seinem im Winter 1870/71 entstandenen, aber erst im Januar 1873 veröffentlichten „Entwurf zu einem politischen Programm”, das er unter den Titel „Die Katholiken im deutschen Reiche” stellte, bringt Ketteler dann seine Kritik am „falschen“ Liberalismus immer stärker mit dem Namen Hegel in Verbindung: „Der Staat ohne Gott. Der Staat selbst Gott. Kampf gegen den wahren Gott durch den Staat. Die beste Formel für dieses Ungeheuer ist die von HEGEL: `Der Staat ist der wirkliche, präsente Gott; er ist göttlicher Wille als gegenwärtiger, sich zur wirklichen Gestalt und Organisation entfaltender Geist. ER ist ein wahrhaft Irdisch-Göttliches; als unbewegter Selbstzweck hat der Staat das höchste Recht über die Einzelnen. Das Volk als Staat ist die absolute Macht auf Erden.”[63]

Mit dieser Ideologie vom Staat als präsentem Gott rechtfertige dieser falsche Liberalismus sein Vorgehen gegen die christliche Religion, die Ehe und Familie, die Kirche und ihr Eigentum.[64] Hegel habe mit seiner Parole vom Staat als der absoluten Macht auf Erden „gegen die Obrigkeit von Gott” gekämpft. Der wahre bzw. echte Liberalismus noch gerufen „Alles durch das Volk!”, umgesetzt worden sei allerdings etwas anderes: „Nichts durch das Volk und Alles durch den herrschenden Liberalismus!” Im Sozialismus sah Ketteler infolgedessen daher auch nur den „ungeratenen Sohn” derselben liberalistischen Doktrin.[65] Letztlich hätten beide „Unrecht, weil die ganze HEGEL´sche Phrase von dem Staate als präsentem Gott und dem Volke als der absoluten Macht auf Erden an sich unwahr und in der Ausführung eine Unmöglichkeit ist“: „Ein Volk ohne Gott, wie es der Liberalismus und Sozialismus will, ein Volk, das dem HEGEL´schen Wahnsinn verfallen ist, dass es selbst der präsente Gott sei, hat... keine Einheit in sich, mit der man es zu einer gleichartigen Summe zusammenrechnen könnte.... Daher kommt es, dass alle diese Gott-Staaten, die auf diesem Lügenprinzip gebaut werden, notwendig einer herrschenden Partei anheimfallen, welche den Staat für sich ausbeutet. Da ist jedes Reden von Volkswille unwahr, da ist nur die Einheit der wechselnden Interessen der Parteigenossen möglich.”[66]

Hegels Pantheismus, der moderne Materialismus und Positivismus sowie Richard Rothes (1799-1867) protestantisch-theologische „Universalintegration”[67] hätten es – so Ketteler – dem Liberalismus ermöglicht, den „vollendeten Absolutismus” auszubilden[68] und so zum „liberalen Despotismus” zu degenerieren.[69] Dagegen gelte es die „persönliche und genossenschaftliche Freiheit” mit aller Kraft in Verbindung mit dem „besten Erbteil des germanischen Volksstammes” zu verteidigen.[70] Personalität und Genossenschaft können somit als die zentralen Kategorien der Soziallehre Kettelers angesehen werden.

Bewertungen

Guardini hatte das Gedankengut Kettelers wohl schon sehr früh in sein Denken aufgenommen und teilte dabei auch die Einschätzungen des mit ihm gut bekannten Mainzer Domkapitulars Ludwig Lenhart, der 1937 in seiner „dem Hüter des Ketteler-Erbes“ und Guardini-Freund Albert Stohr[71] gewidmeten Ketteler-Schrift festhielt: „Die Gedanken Chamberlains und Nietzsches[72], die nationales Bewusstsein und Katholizismus als unvereinbar bezeichneten, sind von Ketteler durch die Tat widerlegt worden. Gegenüber den nationalkirchlichen Bestrebungen, die im Deutschkatholizismus Ausdruck gefunden haben, hat der Mainzer Bischof mit aller Schärfe und Entschiedenheit die gesunde katholische Lehre betont.“[73]

In seiner Dissertation über „Die Staatsphilosophischen Grundlagen der Politik Kettelers“[74] hält Klaus Müller in seinem Kapitel über „Die politische Gegensatzlehre“ fest: „So wie für Joseph GÖRRES[75], den großen Lehrer Kettelers, die politische Gegensatzlehre das Grundmotiv seiner ganzen geistigen Entwicklung war, da er den obersten ontologischen Gegensatz der Einheit und Vielfalt gerade aus der zeitweiligen Notwendigkeit einer Diktatur nach der Revolution verstanden hat, so durchzieht Kettelers Staatsphilosophie ebenfalls politisches Gegensatzdenken. Staatswille und Volkswille, Autorität und Freiheit sind auch bei ihm die gegensätzlichen Bewegungsprinzipien der Staatsentwicklung und Staatsform, da die Idee des Staatsganzen eben mehrere gleich notwendige Seiten hat, die nicht in unbedingter Gleichmäßigkeit und Gleichzeitigkeit sich verwirklichen lassen.“[76]

So konnte Guardini also auch philosophisch und politisch an Kettelers Gegensatzdenken anschließen, wobei - wie wir noch sehen werden - gerade die Auseinandersetzung mit Chamberlain und Nietzsche im Gefolge Kettelers – nicht nur im Blick auf die Vereinbarkeit von Nationalbewusstsein und Katholizismus – Guardinis eigene Lehre besonders nachhaltig prägen sollte.

Wenn Lothar Roos das hier dargestellte, „verpflichtende Erbe des Mainzer Bischofs“ in folgenden drei Thesen zusammenfasst, wird sogar offensichtlich, dass Romano Guardini später versucht hat, genau dieses „Programm“ umzusetzen:

  • „1. These: Alle einfachen Formeln sind falsch! ... Der Weg aus gesellschaftlich schwierigen Situationen führt nicht über Wunderkuren, Zauberformeln oder irgendein `umfassendes´ System, auch nicht, wenn solches in theologischem Gewande auftritt.
  • 2. These: Langfristig entstandene gesellschaftliche Konflikte lassen sich nur in einer langfristig angelegten Therapie entschärfen! ...
  • 3. These: Wenn in einer gesellschaftlichen Krise Grundfragen des Menschseins tangiert werden, dann kann nur eine Besinnung auf das Ganze der menschlichen Existenz Heilung bringen.“[77]

Es verwundert keineswegs mehr, wenn Roos zum Abschluss seiner Studie ausgerechnet auf Helmut Schelskys „Suche der Wirklichkeit“ und Romano Guardinis „Ende der Neuzeit“ verweist. Es komme – so Roos - „darauf an, das Denken in naturwissenschaftlich-empirischen Kategorien mit der sozialwissenschaftlich-verstehenden `Suche nach Wirklichkeit´... und den Einsichten einer philosophisch-theologischen Anthropologie und Weltsicht neu zu verbinden.... Gerade weil die Menschheit am `Ende der Neuzeit´ wieder auf sich selbst zurückgeworfen ist, kann sie der Sinnfrage nicht mehr ausweichen. Die Sinnfrage lässt sich aber nicht von der `Gottesfrage´ trennen.“ Dieses Statement wird auch das religionsphilosophische Credo Romano Guardinis und somit Grundlage seiner Gegensatzlehre bleiben, gerade auch im Blick auf seine politische, liturgische und allgemeine Bildungslehre.

Anmerkungen

  • 1: Dieser Begriff ist wohl eine genuine Prägung von Max Müller.
  • 2: Die Mainzer Katholikentage fanden 1848, 1851, 1871, 1892, 1911 und 1948 statt. Vgl. zur Geschichte und Bedeutung der Katholikentage Hürten, Heinz: Spiegel der Kirche – Spiegel der Gesellschaft im Wandel der Welt, Paderborn 1998.
  • 3: Vgl. dazu bereits: Franz, Albert: Der soziale Katholizismus in Deutschland bis zum Tode Kettelers, Mönchen-Gladbach 1914.
  • 4: Müller, Max: Romano Guardini, in: Gestalter unserer Zeit, Oldenburg/Hamburg 1954, Bd. 1, S. 65. Ähnlich bei Gerl-Falkovitz, Hanna-Barbara, Romano Guardini, a.a.O., S. 33: „Für den deutschen Katholizismus bedeutete Mainz lange Zeit die glückliche Vereinigung dreier großer Traditionen: des mittelalterlichen Symboldenkens des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, des politischen Katholizismus mit seinen Organisationen (hier wurden die Katholikentage zur Darstellung eines öffentlich wirksamen Glaubens eingeführt), und katholischer Sozialreform, wie sie Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811-1877) vergegenwärtigte“.
  • 5: Müller, Max: a.a.O., S. 65. Guardini selbst hätte aber wohl nicht von „harmonischer Synthese“, sondern von „lebendig-konkreter Spannungseinheit“ gesprochen.
  • 6: Ketteler, Wilhelm Emmanuel von: Freiheit, Autorität und Kirche: Erörterungen über die großen Probleme der Gegenwart, Mainz 1862.
  • 7: Rahner, Karl: Romano Guardini zum 80. Geburtstag, a.a.O., S. 10.
  • 8: So bereits der zeitgenössische katholische Theologe und Historiker Johannes Janssen (1829-1891), zitiert nach Tischleder, Peter: Der Totalismus in der prophetischen Vorausschau Wilhelm Emmanuel von Kettelers, Mainz 1947, S. 7.
  • 9: Günter Buchstab: Fritz Burgbacher (1900-1978), in: Aretz, Jürgen/Morsey, Rudolf/Rauscher, Anton (Hrsg.): Zeitgeschichte in Lebensbildern, Bd. 10, Münster 2001, S. 194.
  • 10: Spörl, Johannes: Zeitgeschichtliches Dokument als bleibender Anruf. Zum Geleit, in: Guardini, Romano: Vom Sinn der Kirche, Mainz (4)1955, S. 11.
  • 11: Ketteler, Wilhelm Emmanuel Freiherr von: Freiheit, Autorität und Kirche, zitiert nach ders., Schriften, Aufsätze und Reden 1848-1866, bearbeitet von Erwin Iserloh, Christoph Stoll, Emil Valasek und Norbert Jäger, Mainz 1977, S. 222-364.
  • 12: Weniger die zahlreiche Sekundärliteratur zum politischen Denken Kettelers; außer der oben genannten Arbeit Tischleders sollen aber zumindest die Arbeiten aus dem Umfeld Guardinis angeführt werden. Insbesondere in Kettelers 50. Todesjahr 1927 erschienen gerade dort zahlreiche Ketteler-Studien. Vgl. unter anderem: Brauer, Theodor: Ketteler. Der deutsche Bischof und Sozialreformer, Hamburg-Berlin 1927; 1928; ders., Ketteler und Wir, in: Das Neue Reich, 1927, Nr. 41; Briefs, Götz: Ketteler und das proletarische Problem seiner Zeit, in: Schönere Zukunft, 2, 1927, Nr. 43; Schmittmann, Benedikt: Bischof von Ketteler, unser Führer und Vorbild, in. „Reich und Heimat“. Mitteilungen des Reichs- und Heimatbundes Deutscher Katholiken, 3, 1927, Nr. 4-6; Steinbüchel, Theodor: Das Problem „Religion und Sozialismus“ von Kettelers Tagen bis auf unsere Zeit, in: Akademische Bonifatiuskonferenz, 42, 1927, Nr. 2 vom 15. Juli 1927; Kröger, Ludwig: Die staatsphilosophischen Anschauungen des Bischofs Wilhelm Emmanuel von Ketteler. Mönchen-Gladbach 1928; Mirgeler, Albert: Kettelers Begriff des deutschen Katholiken, Eupen 1929 (Diss. Leipzig). Als gute Zusammenfassung, aber vom Befund des Autors leicht abweichend, siehe neuerdings auch: Petersen, Karsten: „Ich höre den Ruf nach Freiheit“. Wilhelm Emmanuel von Ketteler und die Freiheitsforderungen seiner Zeit. Eine Studie zum Verhältnis von konservativem Katholizismus zur Moderne, Paderborn u.a. 2005.
  • 13: Tischleder wies darauf hin, dass sich Kettelers Gegenüberstellung von heidnischer und christlicher Staatslehre auch im Genossenschaftsrecht Otto von Gierkes findet. Danach gehe der Mensch in der christlichen Staatslehre „nicht mehr im Bürger, die Gesellschaft nicht mehr im Staate auf. Das große Wort, dass man Gott mehr gehorchen soll als dem Menschen, begann seinen Siegeslauf, vor ihm versank die Omnipotenz des heidnischen Staates. Die Idee der immanenten Schranken aller Staatsgewalt und aller Untertanenpflicht leuchtete auf. Das Recht und die Pflicht des Ungehorsams gegen staatlichen Gewissenszwang wurden verkündigt und mit dem Blute der Märtyrer besiegelt” (Tischleder, a.a.O., S. 21 in Bezug auf Gierke, Otto von: Das deutsche Genossenschaftsrecht, Berlin 1881, III, S. 123; vgl. ders., Wilhelm Emmanuel von Ketteler. Ein klassischer Anwalt und Herold der Synthese von der gleichzeitigen Statik und Dynamik des sittlichen Naturgesetzes und Naturrechtes, in: Lenhart, Ludwig (Hrsg.): Aus Kirche, Kunst und Leben. Festschrift Albert Stohr, Jahrbuch des Bistums Mainz, 5, 1950, S. 94-121). 1947 schrieb Tischleder in seiner Schrift „Das rechte Bild vom Menschen als Voraussetzung aller rechten Menschensorge besonders aller rechten Seelsorge“ (Mainz 1947) unter Berufung auf Ketteler pointiert: „Totaler Kollektivismus ist nichts anderes als auf die Spitze getriebener Liberalismus und Individualismus“, da die führende Spitze nicht mehr zum Kollektiv gehöre und daher der Führer das einzige freie, selbständige, eigenmächtige Individuum darstellte „Als die GOLDENE WESENSMITTE zwischen diesen beiden Extremen: dem gemeinschaftsblinden und -feindlichen Individualismus, der die absolute Selbstherrlichkeit des Individuums proklamiert, und dem persönlichkeitsfeindlichen Kollektivismus, der das Kollektiv zum präsenten Gott erklärt, sagt die katholische Lehre vom Menschen: Der Mensch ist eine mit Selbststand, Selbstwert und Selbstzweck ausgestattete Person. Als solche fasst er eine in sich geschlossene, unabhängige Ichheit, aber auch eine natürliche Bezogenheit und Aufgeschlossenheit auf andere hin in sich. Das personale Fürsichsein der Menschen schließt ihr Füreinandersein nicht aus, sondern ein.... Es besteht also nicht das ausschließende Entweder-Oder des Individualismus und Kollektivismus, sondern das Sowohl-Als auch des Personalismus und Universalismus, der persönlichen Selbstständigkeit und Selbstzugehörigkeit, der persönlichen Selbstbestimmung und Selbstverantwortlichkeit wie der Gemeinschaftszugehörigkeit und Gemeinschaftsverpflichtung.“ Im Blick auf den Primat des Selbst über der Gemeinschaft bezog sich Tischleder für diesen Gedankengang ausdrücklich auf Kettelers Schrift „Ist das Gesetz das öffentliche Gewissen?“ (S. 18f.).
  • 14: Ketteler, Wilhelm Emmanuel von: Gedanken, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe, im Auftr. der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz hrsg. von Erwin Iserloh, Abt. 2, Band 6. Briefe und öffentliche Erklärungen: 1871-1877, bearbeitet von Norbert Jäger und Christoph Stoll, Mainz 2001.
  • 15: Ebd., S. 973.
  • 16: Außer wenn sie „durch Rechtsverletzung eingeführt” würden, siehe Ketteler, Wilhelm Emmanuel von: Sämtliche Werke und Briefe, a.a.O., Bd. 5. Nachgelassene und anonyme Schriften, bearbeitet von Erwin Iserloh u.a., Mainz 1985, S. 397. Siehe auch S. 400f.: „Das allgemeine Wahlrecht bestimmt den reinen Begriff von Demokratie.”
  • 17: Ketteler, Sämtliche Werke und Briefe, a.a.O., Bd. 6, S. 975. Das Fragezeichen im Text stammt von den Bearbeitern Norbert Jäger und Christoph Stoll, weil der handschriftliche Text an dieser Stelle nicht ganz identifizierbar war.
  • 18: Ketteler, Sämtliche Werke und Briefe, a.a.O., Bd. 5, S. 398f.
  • 19: Ebd., S. 403. Aus heutiger Sicht unakzeptabel schreibt auch Ketteler diese falsche Demokratie - dem antisemitischen Zeitgeist erlegen - dem „Neu-Judentum” zu, so wie für den Wucher die Juden und Judenchristen verantwortlich seien. Insgesamt kann das Bistum Mainz unter Ketteler und sein Domkapitel sowie den im Bistum wirkenden Jesuiten leider als „Hochburg“ des katholischen Antisemitismus in Deutschland angesehen werden. Vgl. dazu: Blaschke, Olaf: Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; 122), Göttingen 1997, S. 173.
  • 20: Ketteler, Sämtliche Werke und Briefe, a.a.O., Bd. 6, S. 984.
  • 21: Ebd., S. 979.
  • 22: Einleitung zu: Ketteler, Freiheit, Autorität und Kirche, a.a.O., S. 222.
  • 23: Ebd., S. 229.
  • 24: Ebd., S. 232.
  • 25: Ketteler nennt die sittliche Freiheit auch „Freiheit des Willens” (ebd., S. 237).
  • 26: Ketteler nennt die Überzeugungsfreiheit auch: „Freiheit des menschlichen Geistes” (ebd., S. 235) oder „vernünftige Freiheit” (ebd., S. 237).
  • 27: Ebd., S. 235.
  • 28: Ebd., S. 237.
  • 29: Ebd., S. 238.
  • 30: Ebd., S. 244.
  • 31: Ebd., S. 244f.
  • 32: Ebd., S. 261.
  • 33: Die soziale Freiheit wird von Ketteler wahlweise auch „politische Freiheit” genannt.
  • 34: Ebd., S. 245.
  • 35: Im Anschluss an Rudolf von Gneist nennt er sie auch „Selbstverwaltung” (ebd., S. 246).
  • 36: Ebd., S. 247.
  • 37: Ebd., S. 248.
  • 38: Ebd., S. 249.
  • 39: Ketteler beklagte, dass die Gegner der katholischen Kirche den Begriff „Ultramontanismus” geprägt hätten, dabei aber ihren eigenen Ultramontanismus übersähen, der zudem unchristlich, ja heidnisch sei. Der christliche Ultramontanismus dagegen sei eine Reaktion auf den preußischen Absolutismus und Zentralismus, die ein vernünftiges Staat-Kirche-Verhältnis unmöglich mache. In diesem Zusammenhang sei auf Karl Buchheims Studie über die demokratiefördernden Aspekte des Ultramontanismus hingewiesen (Buchheim, Karl: Ultramontanismus und Demokratie. Der Weg der deutschen Katholiken im 19. Jahrhundert, München 1963, S. 156f.).
  • 40: Ebd., S. 250.
  • 41: Ebd., S. 252f.
  • 42: Ebd., S. 259.
  • 43: Ebd., S. 260.
  • 44: Ebd., S. 289.
  • 45: Ebd., S. 291f.
  • 46: Ebd., S. 315.
  • 47: Ebd., S. 325.
  • 48: Ketteler, Wilhelm Emmanuel von: Ist das Gesetz das öffentliche Gewissen?, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe, a.a.O., Abt. I, Band 1: Schriften, Aufsätze und Reden 1848-1866, bearbeitet von Erwin Iserloh, Christoph Stoll, Emil Valasek und Norbert Jäger, Mainz 1977, S. 730-748.
  • 49: Vgl. dazu: Tischleder, Peter: a.a.O., S. 12.
  • 50: Ketteler, Ist das Gesetz das öffentliche Gewissen?, a.a.O., S. 739.
  • 51: Ebd., S. 748.
  • 52: Zitiert nach Roos, Lothar: Wilhelm Emmanuel Frhr. von Ketteler (1811-1877), in: Aretz, J./Morsey, R./Rauscher, A. (Hrsg.): Zeitgeschichte in Lebensbildern. Aus dem deutschen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 4, Mainz 1980, S. 23.
  • 53: Ketteler, Wilhelm Emanuel von: Deutschland nach dem Kriege von 1866, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe, a.a.O., Abt. I, Bd. 2: Schriften, Aufsätze und Reden 1867-1870, bearbeitet von Erwin Iserloh, Bernd Goldmann, Christoph Stoll, Emil Valasek, Mainz 1978, S. 5.
  • 54: Ebd., S. 6.
  • 55: Ebd., S. 7.
  • 56: Ebd., S. 29.
  • 57: Ebd., S. 30.
  • 58: Ebd., S. 56.
  • 59: Ebd., S. 57.
  • 60: Ebd., S. 113.
  • 61: Ebd., S. 114.
  • 62: Ebd., S. 115.
  • 63: Ebd., S. 27. Ketteler resümiert Hegel dabei nach Dr. Albert Stöckls „Lehrbuch der Geschichte der Philosophie” (Mainz 1870, hier S. 761; vgl. ders., „Der `moderne´ Staat und der Sozialismus” und „Das christliche Auktoritätsprinzip und das Prinzip der Volkssouveränität”, in: Der Katholik, 51, 1871, II, S. 1-34, S. 157-176 und S. 292-318.) Stöckl wiederum beruft sich auf Hegels Rechtsphilosophie, S. 312ff., § 278 und § 279 sowie seine Enzyklopädie, Bd. 3, S. 403ff.
  • 64: Ketteler, ebd., S. 28f.
  • 65: Ebd., S. 32.
  • 66: Ebd., S. 33.
  • 67: Nach Rothe „schließt der vollendete Staat die Kirche schlechthin aus“, und mache sie überflüssig (Rothe, Richard: Die Anfänge der christlichen Kirche, 1837, S. 81). Zur Einschätzung der Theologie Richard Rothes, vgl.: Birkner, Hans-Joachim: Spekulation und Heilsgeschichte. Die Geschichtsauffassung Richard Rothes, München 1959; Hoppe, Joachim: Die verweltlichte Kirche und der verchristlicht Staat. Das politische Christentum im Denken R. Rothes, in: Wolf, Ernst (Hrsg. in Verbindung mit Helmut Gollwitzer und Joachim Hoppe): Zwischenstation. Festschrift für Karl Kupisch, München 1963, S. 63-82; Baumotte, Manfred: Friedrich Julius Stahl und Richard Rothes Version des `christlichen Staates´. Neuzeitliches Christentum und Demokratie - ein historisches Modell, in: Marsch, Wolf-Dieter (Hrsg.): Die Freiheit planen. Christlicher Glaube und demokratisches Bewusstsein (Beiträge aus dem Institut für Christliche Gesellschaftswissenschaften Münster), Göttingen 1971, S. 175-188; Bohnert, Joachim: Kirche, Staat und die Unmöglichkeit eines besonderen Kirchenrechts bei Richard Rothe, in: ZRG KA, 65, 1979, S. 217ff.; Drehsen, Volker: Kirche und Christentum in emanzipierter Gesellschaft. Die negative Ekklesiologie Richard Rothes als Paradigma praktisch-theologischer Sozialtheorie, in: ders., Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen der Praktischen Theologie. Aspekte der theologischen Wende zur sozialkulturellen Lebenswelt christlicher Religion, Gütersloh 1988, S. 288-348; ders., Vision eines kirchenfreien, ethischen Zeitalters des modernen Christentums: Richard Rothe (1799-1867), in: Berliner Theologische Zeitung, 11, 1994, H. 2, S. 201-218; Wagner, Falk: Theologische Universalintegration - Richard Rothe (1799-1867), in: Graf, Friedrich Wilhelm (Hrsg.): Profile des neuzeitlichen Protestantismus. Band 1: Aufklärung, Idealismus, Vormärz, Gütersloh 1990, S. 265-286.
  • 68: Ketteler, Wilhelm Emmanuel von: Liberalismus, Sozialismus und Christentum, a.a.O., S. 206.
  • 69: Der Gesinnungsgenosse Konstantin Frantz sprach dazu als Regel aus: „Je schwächer die religiösen, moralischen und rechtlichen Bande sind, umso stärker wird das Bedürfnis mechanischer und materieller Bande und umso weniger kann wirkliche Freiheit bestehen. Das ist die göttliche Weltregierung, dass die Völker, in demselben Maße, als sie sich von Gott abwenden, sich auch selbst die eiserne Zuchtrute flechten. Wie die Saat, so auch die Ernte: Kultus der Vernunft und des Cäsarismus.” (Frantz, Konstantin: Die Religion des Nationalliberalismus, 1872; Neudruck 1970; hier zitiert nach Tischleder, Peter: a.a.O., S. 11).
  • 70: Ketteler, Wilhelm Emmanuel von: ebd., S. 207.
  • 71: Stohr, Albert: Bischof Ketteler als Prediger, Paderborn 1928; ders., Auf Bischof Kettelers Pfaden, Bingen 1929.
  • 72: Auch bei Guardini werden das Denken Chamberlains und Nietzsches als Hintergrund- und Gegenfolie des eigenen Ansatzes erscheinen.
  • 73: Lenhart, Ludwig: Bischof Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler, Kevelaer 1937, S. 68. Siehe bereits: ders., Seelennot aus Lebensenge. Das Problem „Lebensraum und Sittlichkeit“ bei Bischof Ketteler, Mainz 1933; ders., Kettelers Zeitrufe, Köln 1935.
  • 74: Müller, Klaus: Die Staatsphilosophischen Grundlagen der Politik Kettelers, München 1963 (Dissertation; Doktorvater: Alois Dempf).
  • 75: Vgl. zur Gegensatzlehre von Joseph Görres Wacker, Bernd: Die wahre Einheit aller Gegensätze. Katholisch-christliche Weltanschauung als politische Theologie. Zum Spätwerk von Joseph Görres. Vortrag bei der Karl Rahner Akademie Köln, in: www.kath.de/akademie/rahner/04Vortraege/01print/inhalt-online/_wacker-einheit.html; ders., Revolution und Offenbarung. Das Spätwerk (1824-1848) von Joseph Görres. Eine politische Theologie, Mainz 1990. Görres spielt interessanterweise bei Guardini selbst kaum eine Rolle, wohl aber in seinem Umfeld.
  • 76: Müller, Klaus: a.a.O., S. 57 unter Berufung auf Dempf, Alois: Görres spricht zu unserer Zeit, Freiburg 1933.
  • 77: Roos, Lothar: Kirche, Politik, soziale Frage – Das verpflichtende Erbe Bischof Kettelers, Mönchengladbach 1977 (Kirche und Gesellschaft; 41). Lothar Roos hat wiederum die These Guardinis vom „Ende der Neuzeit“ übernommen. So schrieb er 1984 die Studie „Humanität und Fortschritt am Ende der Neuzeit“ (Köln 1984) und bezeichnet darin „Die Einsicht vom Ende der Neuzeit“ als eine der „Bedingungen eines Fortschritts in Humanität“ (S. 24) Denn „seitdem und in dem Maße“ der Weg des neuzeitlichen Fortschrittsdenkens zu Erschütterungen kam, „lassen sich Wert- und Sinnfragen nicht mehr ausklammern. Genau dies markiert das Ende der Neuzeit.“ (S. 25) In seiner Interpretation orientierte sich Roos dann aber mehr an Helmut Kuhn, Robert Spaemann, Joseph Kardinal Ratzinger und Wolfgang Ockenfels als an Guardini selbst. Auch Robert Spaemann hat nämlich seine Funktionalismus-Kritik auf Arnold Gehlens und Romano Guardinis Thesen aufgebaut: „Wir befinden uns in einer Übergangsphase, die man mit Romano Guardini als `Ende der Neuzeit´, mit Arnold Gehlen als `Postmoderne´ oder ähnlich charakterisieren könnte. Was zu Ende geht, gewinnt für uns Kontur.“ (Spaemann, Robert: Die christliche Religion und das Ende des modernen Bewusstseins. Über einige Schwierigkeiten des Christentums mit dem sogenannten modernen Menschen, in: Internationale Katholische Zeitschrift – Communio, 8, 1979, S. 251-270, hier S. 253f.) In der Ausgestaltung entfernten sich – wie wir sehen werden – alle diese Autoren spätestens nach Guardinis Tod aber inhaltlich doch deutlich von ihrem Gewährsmann.

Anhang: Ketteler, Moufang und die päpstliche Unfehlbarkeit

Ketteler und Moufang

1851 hatte Bischof Ketteler die philosophische und theologische Schule in Verbindung mit dem Seminar in Mainz wiedererrichtet. Zum Regens und Professor für Moral- und Pastoraltheologie ernannte er dabei Franz Christoph Ignaz Moufang (1817-1890) (vgl. zu seiner Biographie Josef Götten: Christoph Moufang. Theologe und Politiker 1817-1890. Eine biographische Darstellung, Mainz 1969: Martin Klose: Christoph Moufang (1817-1890). Regens, Theologe und Politiker: Kirchlichkeit als Lebensprogramm, in: Claus Arnold/Christoph Nebgen (Hrsg.): Lebensbilder aus dem Bistum Mainz, Band II: Vierzehn Portraits (Neues Jahrbuch für das Bistum Mainz. Beiträge zur Zeit- und Kulturgeschichte der Diözese 2017), Mainz 2017, S. 113 ff.). Moufang blieb dies bis zum Tod Kettelers im Jahr 1877.

Moufang hatte zunächst in Mainz, dann ab 1834 in Bonn Medizin studiert, dann aber Theologie. 1837 ging er dafür nach München und hörte dort auch Vorlesungen bei dem Kirchenhistoriker Ignaz Döllinger (1799-1890). 1839 schloss er in Gießen das Theologiestudium ab. Anschließend ging er in das Mainzer Priesterseminar. Im Dezember 1839 wurde er in Mainz zum Priester geweiht. Anschließend war er kurze Zeit Lehrer am Pro-Gymnasium in Seligenstadt, dann Pfarrer in Bensheim und schließlich in St. Quentin in Mainz. 1845 wurde er religiösen Instruktor für das Mainzer Gymnasium ernannt. 1850 begann er gemeinsam mit dem damaligen Dompropst Heinrich die Herausgabe der Zeitschrift „Katholik“.

Für die Jahre zwischen 1851 und 1877 gilt Moufang neben Johann Baptist Heinrich als enger Vertrauter Bischof Kettelers. Moufang war dabei auch politisch tätig. 1862 gründete er die Zentrumspartei Hessen. Von 1862 bis 1877 vertrat er den Bischof in der ersten Kammer der Landstände des Großherzogtums Hessen. Von 1871 bis 1890 der Zentrumsfraktion im Deutschen Reichstag an, vertrat dabei von 1871 bis 1873 den Wahlkreis Regierungsbezirk Koblenz 5 (Mayen – Ahrweiler), von 1874 bis 1881 den Wahlkreis Großherzogtum Hessen 9 (Mainz) und von 1881 bis 1890 den Wahlkreis Köln 6 (Mülheim am Rhein – Wipperfürth – Gummersbach). Gemeinsam mit seinem Bischof thematisierte Moufang schon früh die "Soziale Frage". Die Verbindung zwischen Bischof und Regens wurde von außen nicht nur im zentrumspolitischen Sinne als "Partei Ketteler-Moufang" wahrgenommen. Als dies vom nationalliberalen "Tageblatt" jedoch dahingehend aufgegriffen wurde, die "Partei Ketteler-Moufang sei die Partei bodenloser Gemeinheit", klagte man gegen den Redakteur Pröll erfolgreich wegen Beleidigung (siehe u.a. Würzburger Journal, 1877 - https://books.google.de/books?id=w7K8hE3tjswC&pg=RA15-PA3).

Ketteler, Moufang und das Erste Vatikanische Konzil

1868 wurde Moufang von Papst Pius IX. als Konsultor in die Kommission zur Vorbereitung des Ersten Vatikanischen Konzils (1869–1870) berufen und hielt sich dafür oft in Rom auf, berichtete von den dortigen Vorgängen brieflich vieles an Bischof Ketteler. So schrieb er zum Beispiel am 6. Januar 1869 einen Brief an Ketteler, in dem er davon spricht, dass Henry Edward Manning in Rom seinen Einfluss geltend mache. Im Unterschied zu Newman war Manning ein Befürworter der päpstlichen Unfehlbarkeit als Dogma. (Vgl. dazu Ludwig Lenhart: Regens Moufang und das Vatikanum, in: Jahrbuch für das Bistum Mainz, 5, 1950, S. 400-441; ders.: Regens Moufang von Mainz als Konsultor zur Vorbereitung des Vaticanums im Lichte seines römischen Tagebuches, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte, 9, 1957, S. 227-258).

Vom 8. Dezember 1869 bis zum 18. Juli 1870 tagte dann das Erste Vatikanische Konzil. Eine erste Konstitution "Dei Filius" wurde noch einstimmig verabschiedet und verurteilte gleichermaßen Indifferentismus, Atheismus und Pantheismus, Rationalismus und Materialismus, Fideismus und Traditionalismus, letzter - anders als heute - verstanden als Lehre, dass nur die Tradition dazu in der Lage sei, die christliche Wahrheit zu erkennen und sie über die Generationen hinweg zu tradieren. Von Beginn an stand aber intern wie öffentlich die Frage des Dogmas des Jurisdiktionsprimat und der päpstlichen Unfehlbarkeit im Zentrum der Auseinandersetzungen. Eine diesbezüglich erarbeitete Konstitution wurde schließlich im Juli 1870 zur Abstimmung gestellt. Bei einer ersten Abstimmung am 13. Juli 1870 erhielt die Konstitution 88 Gegenstimmen (ca. 20 %). Zu diesen Gegnern gehörte fast der ganze deutsch-österreichische Episkopat, die Schweizer Bischöfe sowie ein nicht unerheblicher Teil des französischen Bischofskollegiums. Die endgültige Abstimmung sollte am 18. Juli 1870 in Anwesenheit des Papstes bei der vierten öffentlichen Sitzung erfolgen. Um dort nicht gegen das Dokument stimmen zu müssen, verließen an die 60 Bischöfe bereits vorher die Stadt. In der Sitzung selbst stimmten schließlich 533 für die Definition des Jurisdiktionsprimats und der päpstlichen Unfehlbarkeit, nur noch 2 stimmten dagegen. Ketteler gehörte zu jenen Bischöfen der Minorität, die vor der entscheidenden Abstimmung - im Übrigen mit Erlaubnis des Papstes - das Konzil verlassen haben, um sich der Stimme zu enthalten. Anschließend unterstellten sich Ketteler und sein Domkapitular Moufang, wie auch Newman und viele andere Abgereiste, dem Wort des Konzils, was notwendigerweise zu einer Distanzierung von seinem Lehrer Döllinger führte, obwohl er ihm gegenüber auch nach dessen Exkommunikation im Gefolge des Ersten Vatikanischen Konzils weiterhin eine gewisse Verehrung empfand (vgl. Klose, a.a.O., S. 118).

Ketteler, Moufang und der Kulturkampf

Die Ergebnisse des I. Vatikanischen Konzils führen innerkirchlich nicht nur zur Abspaltung der Altkatholiken, sondern trugen wesentlich zum Beginn des Kulturkampfes 1871, was sich vor allem in der Kritik am "Ultramontanismus" äußerte.

Nach dem Tod Bischof von Kettelers wurde Moufang am 13. Juli 1877 vom Domkapitel zum Bischof gewählt. Da die großherzoglich-hessischen Regierung die Wahl aber nicht bestätigt, kam es zu keiner Weihe. Durch den Kulturkampf hindurch bis zur Weihe des Bischofs Haffners 1886 führte Moufang das Bistum als Kapitularvikar durch die Sedisvakanz. Anschließend nahm er seine Aufgabe als Regens des Priesterseminars wieder auf.

Guardini und die Unfehlbarkeit des Papstes

Guardini äußerte sich im Übrigen nur selten zur Frage des Dogmas der Unfehlbarkeit des Papstes. Ein erstes Mal bereits im Kontext seiner Stellungnahme zu Festugière unter dem Titel "Das Objektive im Gebetsleben": "Das Recht des Objektiven wurde zunächst auf jenen beiden Gebieten religiös-kirchlichen Lebens durchgesetzt, wo es am gefährdetsten war: in Lehre und Verfassung. Ihren Höhepunkt fand diese Bemühung im Vatikanum, besonders im Dogma von der persönlichen Unfehlbarkeit des Papstes mit all ihren Folgerungen. Die andere Seite der Frage, die nach Wesen, Maß und Stellung des Persönlichen auf diesen Gebieten, ist noch nicht zur vollen Durcharbeitung gelangt und wird es auch wohl so bald nicht werden. Erst muß hier Recht und Notwendigkeit des Objektiven nicht nur theoretisch durchdacht, sondern auch praktisch voll ins Bewusstsein der katholischen Christenheit aufgenommen sein, ehe das andere in Angriff genommen werden kann. Hingegen kam das subjektive Moment stärker zur Geltung auf dem Gebiet des persönlichen Handelns, so Z. B. in der Erörterung der Moralsysteme. Der Vorteil des Probabilismus besteht im Grunde darin, dass der individuellen Freiheit möglichster Raum geschaffen wird, jedoch so, dass die objektive Geltung des Gesetzes unangetastet bleibt" (Romano Guardini: Das Objektive im Gebetsleben (1921), in: Wurzeln 1, S. 418-429, hier S. 421). Dies ist im Übrigen die einzige bisher bekannte Stelle, in der sich Guardini öffentlich auf den Probabilismus stützt.

In Glaubenserkenntnis (S. 142f.) heißt es dann im Kontext aller Dogmen: "Wir sind von dem Christus betreffenden Dogma ausgegangen; wir hätten es auch von denen tun können, welche das Verhältnis der drei heiligsten Personen zur Einheit des Gotteswesens, oder der Gnade zur eigenen Kraft des Menschen bestimmen und anderen noch. Sie alle sind so gebaut, wie das von uns erörterte ... Doch gibt es auch solche, in denen nur eine einfache Tatsache des Glaubens ausgesprochen wird, wie z.B. die Siebenzahl der Sakramente oder die Unfehlbarkeit des Papstes. Dann werden nicht gegensätzliche Aussagemöglichkeiten in ein bestimmtes Verhältnis gebracht, sondern einfach erklärt: das und das ist. Ob nun das Dogma in dieser oder jener Form gebaut ist, das neuzeitliche Empfinden sieht in ihm immer eine Verstandessache. Es wirft der Kirche vor, damit verwandle sie das, was doch Gegenstand lebendigen Ahnens und Ziel für die Bewegung des Herzens sei, in Begriff und Satz; liefere es den Theologen aus und nehme dem gläubigen Menschen, was er zum Leben brauche. Das ist einer jener oberflächlichen Vorwürfe, wie sie der Kirche gegenüber immer wieder erhoben werden."

Dem Umstand, dass Guardini auch noch während des Dritten Reiches den Forumscharakter der Schildgenossen aufrechterhielt und daher auch reichstheologische und brückenbauerische Autoren zu Wort kommen ließ, ist geschuldet, dass im Jahrgang 1933/34 ein Aufsatz von Robert Grosche abgedruckt wurde, in dem es zur Unfehlbarkeit heißt: „Als im Jahr 1870 die Unfehlbarkeit des Papstes definiert wurde, da nahm die Kirche auf der höheren Ebene jene geschichtliche Entscheidung voraus, die heute auf der politischen Ebene gefällt wird: für die Autorität und gegen die Diskussion, für den Papst und gegen die Souveränität des Konzils, für den Führer und gegen das Parlament." (Robert Grosche: „Die Grundlagen einer christlichen Politik der deutschen Katholiken“, Die Schildgenossen, 13, 1933/34)

Guardini und das Moufang-Stipendium

Moufang - wie im übrigen auch Döllinger oder die Altkatholiken - spielte für Guardini allem Anschein nach aber diesbezüglich keine systematisch-inhaltliche Rolle. Er kannte die Person Moufangs wohl vor allem über das "Moufang-Stipendium" mit dessen Hilfe er während seines Promotionsstudiums in Freiburg in der "Sapienz". Dazu schreibt er in seinen "Berichten über mein Leben": "Dort befand sich das »Collegium Sapientiae«, auch einfachhin »die Burse« genannt, eine Gründung des Kanonisten Heiner, wo diejenigen, die nach Vollendung ihrer Studien weiterarbeiten wollten, in einer losen Gemeinschaft wohnten. Nach den Statuten hatte jede Diözese das Recht, jemanden dafür zu präsentieren, und für mich war ein Platz frei geworden. Ich bekam das Moufang-Stipendium, die Zinsen einer – sehr wenig für ihren eigentlichen Zweck in Anspruch genommenen – Studienstiftung eines früheren Mainzer Generalvikars. Diese sollten, so bestimmte mein Vater, für die außergewöhnlichen Aufwendungen dienen; für den laufenden Unterhalt wollte er selbst sorgen." (Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, S. 24)