Die Grundlagen des Sicherheitsbewußtseins in den sozialen Beziehungen

Aus Romano-Guardini-Handbuch

009 (G 40/OO VI): Die Grundlagen des Sicherheitsbewußtseins in den sozialen Beziehungen, in: Historisch-politische Blätter, 152, 1913, S. 687-702 [Mercker 0004] - https://books.google.de/books?id=MeIYAQAAIAAJ;

Nachdruck und Auszüge

  • eingegangen in: Wurzeln eines großen Lebenswerks. Romano Guardini (1885-1968). Aufsätze und kleinere Schriften, Bd. I, 2000 (G 40) [neu aufgenommen]
  • keine Auszüge bekannt

Übersetzungen (in mind. 2 Sprache)

  1. OO VI: I fondamenti della coscienza della sicurezza nelle relazioni sociali, in: Opera omnia VI. Scritti politici, Brescia 2005 (hrsg. von Michele Nicoletti), S. 75-88; ins Italienische übersetzt von Maurizio Merlo, Maurizio Ricciardi und Giulio Colombi [neu aufgenommen]
  2. Los fundamentos de la conciencia de seguridad en las relaciones sociales, in: Escritos políticos, Madrid 2011, S. 303-320, ins Spanische übersetzt von José Mardomingo [neu aufgenommen]

Geschichte des Vortrags

Guardini hielt wohl im Sommersemester 1913 oder im Wintersemester 1913/14 in der katholischen Freistudentenschaft in Freiburg im Breisgau einen ähnlich benannten Vortrag, über dessen Zustandekommen es einen zeitnahen brieflichen Bezug von Guardini selbst und spätere Erinnerungen eines beteiligten Ansprechpartners.

  • Guardini selbst berichtet zeitnäher, aber noch vor dem Vortrag in einem Brief an Josef Weiger vom 1./5. Juni 1913 aus Freiburg an seinen Freund Josef Weiger davon, dass er „auf Bitten eines Studenten... einen Vortrag in der Freistudentenschaft zugesagt” habe: „Ich will darüber sprechen, welches die Grundlagen der Sicherheit sind, aus der wir uns selbst oder etwas, was wir haben, anderen anvertrauen, m. a. W. die Grundlage der Sicherheit in den sozialen Beziehungen. Ich werde ausführen, dass es zuletzt weder die psychologische Rechnung ist, noch die Rücksicht auf die sozialen Machtfaktoren von öffentlicher Autorität, Sitte, Recht – sondern die Überzeugung, dass dieselben absoluten Gesetze und Werte, die mein Inneres (sittlich) beherrschen auch das des anderen bestimmen. Also nicht blindes Risiko, auch nicht mechanisch errechnete Gewissheit, sondern Vertrauen und Treue. Hoffentlich gelingt mirs; es sind meist Nichtkatholiken. Wenn der Vortrag etwas wird, soll er Dir zugehören.”
  • Goetz Briefs: Zur Soziologie der Demokratie, in: Carl-Sonnenschein-Blätter, 2, 1954, S. 59-91 [neu aufgenommen] - [Artikel] - [noch nicht online]; auch in: ders.: Ausgewählte Schriften, Band: Mensch und Gesellschaft, hrsg. durch Heinrich Basilius Streithofen, 1980, S. 162ff. [neu aufgenommen] - [Artikel] - https://books.google.de/books?id=Gy0xAQAAIAAJ: „Vor vielen Jahren – ich war damals in der freien Studentenschaft in Freiburg – kam ein junger Seminarist zu mir und sagte: `Ich möchte einmal in unserem Kreis über ein Thema sprechen, das mir besonders am Herzen liegt.´ Ich sagte: `Wie lautet Ihr Thema?´ Er sagte: `Das Thema ist: Welche Garantie habe ich dafür, dass, wenn ich über die Straße gehe, der Nächstbeste mir nicht eins über den Kopf gibt?´ Ich war etwas erstaunt und sagte: `Das ist ja ein höchst merkwürdiges Thema´, worauf er sagte: `Ja glauben Sie denn, dass es selbstverständlich ist, dass Sie über die Straße gehen können, ohne dass Ihnen jemand eines über den Kopf gibt?´ Der Name des Betreffenden war Romano Guardini. Viele Jahre später, bei einer Abendgesellschaft in Washington, saß ich neben einem Konsul, der an der Harvard-Universität promoviert hatte. Wir kamen auf die Demokratie zu sprechen, und da sagte mir dieser junge Diplomat, ein klein wenig blasiert. `Ach, wissen Sie, all das Geschwätz über Demokratie. Ich glaube, Demokratie ist nur eine Summe von Maßnahmen, die verhüten soll, dass, wenn ich über die Straße gehe, mir jemand eins über den Kopf haut!´ Ich war ziemlich erschüttert über die Differenz zwischen Guardinis Thema und der Ansicht dieses amerikanischen Diplomaten.“ Briefs machte dann den Unterschied daran fest, dass Guardini in Demokratie eine Gesinnung sah, während in den Vereinigten Staaten das Bild pendelt sich „Demokratie als eine Instrumentalität, deren man sich bedient“, so wie der junge Diplomat sie gesehen hat, und Demokratie als „eine säkularistische Weltanschauung, in deren Form allein der Mensch sein Heil bewirken könne“.
  • Goetz Briefs: Wege und Umwege. Ein deutscher Gelehrter zieht Bilanz, in: Die politische Meinung, Bonn, 5, 1960, 45 (Februar 1960), S. 44-50, zu Romano Guardini S. 47 [neu aufgenommen] - [Artikel] - https://books.google.de/books?id=qyoyAQAAIAAJ: „Ich möchte noch eines Gelehrten und Freundes gedenken, der in jenen Jahren für mich und für viele andere vieles bedeutete. Das ist ROMANO GUARDINI. Er wird sich seiner ersten Begegnung mit mir kaum erinnern. Als ich in Freiburg im Wintersemester 1910/11 als Vorstandsmitglied der Freien Studentenschaft fungierte, erschien ein asketisch aussehender Seminarist bei mir in der Universität und fragte, ob er in einer Abteilung der Freien Studentenschaft einen Vortrag halten könne. Ich fragte ihn, welches Thema er behandeln wolle; er sagte: „Sie werden sich etwas wundern: ich will sprechen über die Frage `Welche moralische Gewißheit habe ich, daß, wenn ich über die Straße gehe, der nächste beste, der kommt, mich nicht niederschlägt?´.“ Auf meine etwas erstaunte Feststellung, das Thema schiene mir etwas weit hergeholt, antwortete er sachlich trocken: „Welche moralische Gewißheit haben Sie denn?“ Erst zur Zeit der nationalsozialistischen Regierung wurde mir klar, daß seine Themastellung doch mehr Grund hatte, als ich in jenen Jahren vermutete. Nebenbei bemerkt, tauchte die guardinische Fragestellung in einer Diskussion in Washington auf. Ein Diplomat äußerte sich im kleinen Kreise etwas skeptisch über die Demokratie und bemerkte, es habe keinen Sinn, irgendwelche metaphysischen Hintergründe für sie ins Feld zu führen; sie sei im Grunde genommen nichts weiter als eine technische Veranstaltung, die dafür sorge, daß, wenn ich über die Straße gehe, der nächste beste mir nicht eins über den Kopf haue. Hier stand der Pragmatiker gegen den Moralisten.“
  • Guardini könnte also durchaus von einem Studenten gebeten worden sein, worauf Guardini sich regulariengemäß an einen der damals dafür verantwortlichen Leiter der katholischen Freistudentenschaft gewandt hat, und ihm den Vorschlag unterbreitet hat. Nach der überlieferten Diskussion über das Thema wäre man schließlich übereingekommen, den Vortrag zu veranstalten.

Inhaltliche Auseinandersetzung

  • Der Text fand bislang, gemessen an seiner grundsätzlichen Bedeutung, in der Guardini-Forschung nur wenig Beachtung, obwohl darin seine durchgängige, auch in den politischen Bereich ausgreifende Auseinandersetzung mit den Gegensätzen des Lebendig-Konkreten sichtbar wird. Nach Guardini kann der Ursprung der Grundlagen des Gemeinschaftslebens "entweder im organischen Bau der Gesellschaft selbst liegen oder in der freien Tätigkeit des Einzelnen." (1913, S. 687) Das Ergebnis lässt die beiden Pole stehen, versucht auch keine Synthese der Mitte, sondern will die Spannung als notwendig aufzeigen. Ausgangspunkt ist dabei das Bedürfnis des Einzelnen nach Sicherheit. Dieses Bedürfnis habe dazu geführt, dass der Mensch sich an die Regeln der Gemeinschaft hält, in der er lebt. Weder die Antwort, dass diese Einordnung "im organischen Bau der Gesellschaft" begründet liegt, noch der Hinweis auf die "freie Tätigkeit des Einzelnen" genügen in ihrer Einseitigkeit. Dieser Gegensatz bildet zwar eine Spannung, die zur Auflösung drängt, ist aber notwendig aufrecht zu erhalten. Guardini beschreibt zunächst die gegenüber dem Individuum "ungefähr gleichbleibende Summe von wirkenden Kräften” (S. 692), die physisch-psychisch von ihm selbst motiviert ist, aber auch auf sozialen Einflüssen beruht. Er kennzeichnet schließlich die Gesellschaft und den Staat als "überindividuelle Macht", die dem Einzelnen als Träger von Regeln gegenübertritt und sich mit seiner Gewalt für sie einsetzt. So werde "aus der Sitte... das Recht” (S. 693). Persönliche Motivation, Sitte und Recht sind also die Faktoren, die das Verhalten des Einzelnen prognostizierbar erscheinen lassen.
  • Doch Guardini wendet als Kritik an manchen gesellschaftswissenschaftlichen Konzepten ein: "Es geht nun einmal nicht an, den Menschen bloß als ein Gefüge von Naturtrieben anzusehen, dessen Verhalten mit irgend einer Formel oder einem sogenannten Gesetz gefasst werden kann. Das ist eine bloße Fiktion, und man kann verstehen, dass für die Gesellschaftswissenschaften die größte Versuchung besteht, sich mit dieser Fiktion eines ganz naturmäßigen, ganz kausal bestimmten Menschen die Arbeit zu erleichtern" (S. 701).
  • Denn auch wenn "alle Motive klar lägen, wenn sie sich nicht verschöben, keine neuen hinzu, keine bisher wirksamen wegkämen; wenn man also den ganzen Motivkomplex in eine klare Rechnung bringen könnte, - SELBST DANN HÄTTE DER SCHLUSS VON DEN ANTRIEBEN AUF EIN BESTIMMTES VERHALTEN DES INDIVIDUUMS BLOSS WAHRSCHEINLICHKEITSWERT. DENN IN DIE RECHNUNG KOMMT NOCH EIN FUER SIE SCHLECHTERDINGS UNFASSBARES, WEIL IRRATIONALES MOMENT, DIE FREIHEIT" (S. 696). Damit also das menschliche Bedürfnis nach Sicherheit weder an einem Zuviel an Motiven, Sitten und Recht, noch an einem Zuviel an Freiheit scheitert ist nach Guardini eines notwendig: "die in den absoluten Werten und Normen gegründete Korrespondenz zwischen Vertrauen und Treue" (S. 700).
  • Um dies zu erfassen, müsse die Gesellschaftswissenschaft den Menschen als "lebendigen, ganzen Menschen" erfassen. Das heißt: Sie muss "auf jene höchste geistig-sittliche Ordnung als die letzte Grundlage des sozialen Verhaltens stoßen" (S. 702).
  • Guardini hatte also noch vor der Erfahrung des Ersten Weltkriegs selbst gelernt, der „Sicherheit des Bewusstseins” zu misstrauen und sie „geradezu als ein Kriterium des von ihm als gefährlich eingestuften neuzeitlichen Autonomiestrebens” verstanden (vgl. Frühwald, in: Christliche Weltanschauung, S. 48) und ihm deshalb ein „Sicherheitsbewusstsein” entgegengesetzt, das auf der höchsten geistig-sittlichen Ordnung fußt. Er wendet sich gegen das „durch Wissenschaft aufgeklärte und durch Technik sicher gewordene Bewusstsein” (So später in: Der Heilbringer, S. 11) des 19. Jahrhunderts und betont die Existenz von absoluten Werten und Normen, ohne die weder Vertrauen und Treue möglich seien. Im Hintergrund stehen dabei die ersten Erfahrungen, wie mit den in der Jugend aufbrechenden (oder erst zu entbindenden) Kräften umzugehen sei, „wie ein Gemeinschaftsleben aus Freiheit und Verantwortung aller aufgebaut wird” (Vgl. Brief an eine ungenannte staatliche Stelle wegen der Lizensierung des Werkbund-Verlages vom 12.11.1946, Bayerische Staatsbibliothek) , auch wenn das „Wie” insgesamt noch verschwommen blieb.
  • Erstaunlich ist die damit verbundene Anknüpfung an den römischen Philosophen und Staatsdenker Cicero mit seiner Aussage: "Demokratie beruht im Wesentlichen auf Vertrauen" (De officiis I, 24).

Sekundärliteratur

  • Hans Keller: Psychologie des Zukunftsbewußtseins, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, 1932, Abt. 1, Teil 1, Band 124, S. 211-287, zu Romano Guardini S. 269 (Guardini, Die Grundlagen des Sicherheitsbewußtseins in den sozialen Beziehungen) (dort irrtümlich mit 1903 angegeben) [neu aufgenommen] - [Artikel] - https://books.google.de/books?id=Z4o2AQAAIAAJ;
  • Helmut Huber: Zur Theorie der Verhaltensweisen der Konzerne, 1967, zu Romano Guardini S. 41 (zu: Guardini, Die Grundlagen des Sicherheitsbewußtseins in den sozialen Beziehungen, 1913) [neu aufgenommen] - [Monographie] - https://books.google.de/books?id=dDYTAQAAIAAJ;
  • Heinz Wiesbrock: Einführung in die Thematik des Bandes, in: Politische Psychologie Band 6: Wiesbrock, H. (Hrsg.): Die politische und gesellschaftliche Rolle der Angst, Frankfurt am Main 1967, S. 5-21, zu Romano Guardini S. 17 (zu: Guardini, Die Grundlagen des Sicherheitsbewußtseins in den sozialen Beziehungen, 1913) [neu aufgenommen] - [Artikel] - https://books.google.de/books?id=Ufw3AQAAIAAJ;
  • Thomas Anz: Literatur der Existenz. Literarische Psychotherapie und ihre soziale Bedeutung im Frühexpressionismus, 1977, zu Romano Guardini S. 156 (zu: Guardini, Die Grundlagen des Sicherheitsbewußtseins in den sozialen Beziehungen, 1913) [neu aufgenommen] - [Monographie] - https://books.google.de/books?id=BlkVAAAAMAAJ;
  • Gabor-Pauli Blechta: Romano Guardini als Rechtsdenker, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie, 57, 2010, 1, S. 50-75, zu Guardini, Die Grundlagen des Sicherheitsbewußtseins in den sozialen Beziehungen, S. 67 f. [BBKL Literaturergänzung] - [Artikel] - https://www.e-periodica.ch/digbib/view?pid=fzp-003:2010:57:55;
  • Michele Nicoletti: Die Macht des Gewissens. Theologisch-politische Gedanken über die geistigen Grundlagen Europas, in: Guardini-Stiftung e.V. (Hrsg.): Trigon 9: Das geistige und intellektuelle Erbe von Romano Guardini, Berlin 2011, S. 37-50, zu Guardini, Die Grundlagen des Sicherheitsbewußtseins in den sozialen Beziehungen, S. 37 f. [Guardini-Sammelband] - [Artikel] - https://books.google.de/books?id=p-lkBAAAQBAJ;