Ethik. Vorlesungen an der Universität München (1950-1962)
628 (G 23/ORG 50 und ORG 58) Ethik. Vorlesungen an der Universität München (1950-1962). Aus dem Nachlaß hrsg. von Hans Mercker, 2 Bände, Mainz/Paderborn 1993; (2)1994; (3)1999 [Brüske 23];
Werkgeschichte
Die Münchener Ethik-Vorlesungen können insofern die Brücke über das Lebenswerk bilden, weil aus einem Brief von Kunibert Mohlberg OSB an Guardini vom 13. Februar 1955 hervorgeht, dass diese Vorlesungen einen frühen Entwurf aus der Bonner Zeit um 1922 kennen. [Brief von Kunibert Mohlberg OSB an Guardini vom 13. Februar 1955 (Stabi).] In seinem Brief vom 18. Oktober 1950 an seinen Freund Weiger berichtete er über die Fortschritte bei der Ausarbeitung des ersten Teils seines Kollegs „Elemente der Ethik“. Er habe sich „immer davor gedrückt; das Thema sogar zweimal nach erfolgter Anzeige wieder zurückgezogen. Nun geht es herrlich. Zwei Dinge waren vor allem zu erreichen: einmal zu zeigen, wie die `natürliche´ Ethik nach dem Religiösen hin offen ist – dann, das wirkliche Leben hereinzuholen. Beides ist, denke ich, einigermaßen geraten.“[180. Brief vom 18. Oktober 1950, Isola Vicentina, in: Briefe an Josef Weiger, a.a.O., S. 366.]
- Tatsächlich beginnt er im Wintersemester 1950/1951 mit seiner Vorlesungsreihe “Grundfragen der Ethik”.
- Er entwickelt sie in mehreren Durchläufen weiter bis 1962.
- Die Vorlesungen trugen die Titel: [Ethische Grundfragen], dann [Sittliche Leben. Grundphänomene der Ethik], schließlich: [Sittliches Leben. Sinngestalten und Zusammenhänge (Phänomene). Aus Erfahrung und Vorlesung], kurz immer [Ethik]
- Bis Wintersemester 1953/54 fanden sieben Teile statt.
- Im Sommersemester 1955 setzte Guardini fort mit der bis Wintersemester 1955/1956 dauernden Reihe “Ethik als Lehre von der sittlichen Aufgabe”, stellte alsbald die Frage nach dem “Ethos der christlichen Existenz” und endete in seinem letzten Semester, dem Sommersemester 1962 erneut mit “Grundlinien christlicher Ethik”.
Inhaltsverzeichnis
- Band 1:
- [Vorwort] (nicht in Guardini-Konkordanz)
- [Erläuterungen zur Edition] (nicht in Guardini-Konkordanz)
- Zum Beginn der Vorlesungen
- Erster Teil: Natürliche Sittlichkeit
- Einleitung
- Erster Abschnitt: Das Grundphänomen
- Erstes Kapitel: Das Gute
- Zweites Kapitel: Das Böse
- Drittes Kapitel: Das Gewissen
- Zweiter Abschnitt: Bedingungen für die Möglichkeit des ethischen Phänomens
- Erstes Kapitel: Anthropologische Bedingungen
- [9. Die Begegnung]
- Zweites Kapitel: Die Bedingungen des Zusammenhangs
- Erstes Kapitel: Anthropologische Bedingungen
- Dritter Abschnitt: Ethische Verwirklichung
- Einschub: Vorbemerkungen: Die Absicht des Kollegs
- Erstes Kapitel: Die Verwirklichung und ihre Stufen
- Zweites Kapitel: Der Vorgang der Verwirklichung
- [5. Überwindung und Askese]
- Drittes Kapitel: Die Aufarbeitung der Schuld
- Viertes Kapitel: Die ethische Forderung als Wirklichkeit: Die Autorität
- Vierter Abschnitt: Die Mannigfaltigkeit der ethischen Aufgaben (Die Welt der sittlichen Werte)
- Einleitung: Mannigfaltigkeit und Ordnung
- Erste Gruppe: Die Wertfiguren des persönlichen Lebens
- Erstes Kapitel: Das Geboren-Sein und die Familie
- [2. Die ethischen Aufgaben des Gegebenseins]
- Zweites Kapitel: Der Ort in der Zeit
- Drittes Kapitel: Die Lebensalter und das Ganze des Lebenslaufes
- Viertes Kapitel: Die Ordnungen der Geschlechtlichkeit
- Fünftes Kapitel: Freundschaft, Kameradschaft, Arbeitsgruppe
- Sechstes Kapitel: Bestand und Gefährdung des Lebens
- Erstes Kapitel: Das Geboren-Sein und die Familie
- Erste Gruppe: Die Wertfiguren des persönlichen Lebens
- Einleitung: Mannigfaltigkeit und Ordnung
- Band 2:
- Zweite Gruppe: Die Wertfiguren des Werklebens
- Vorbemerkung
- Erstes Kapitel: Erkenntnis und Wissenschaft
- Zweites Kapitel: Wort und Sprache
- Drittes Kapitel: Überzeugung und Toleranz
- Viertes Kapitel: Die Kunst
- Fünftes Kapitel: Das Nutzwerk
- Sechstes Kapitel: Das Gemeinwesen [Über politische Ethik]
- Siebentes Kapitel: Die Höflichkeit
- Achtes Kapitel: Öffentlichkeit und Veröffentlichung
- Neuntes Kapitel: Eigentum und Eigentumsordnung
- Zehntes Kapitel: Erziehung
- Elftes Kapitel: Der Arzt und das Heilen
- Zwölftes Kapitel: Not und Hilfe
- Dreizehntes Kapitel: Die weibliche Leistung
- Vierzehntes Kapitel: Die Einheit des Menschenwerkes
- Zweite Gruppe: Die Wertfiguren des Werklebens
- Zweiter Teil: Ethik und Offenbarung
- Erstes Kapitel: Das allgemein-religiöse Element im Sittlichen
- 1. Abschnitt: Die geschichtliche Situation
- [5. Masse des anthropologischen Wissens und Unbekanntheit des menschlichen Wesens, vgl. „Nur wer Gott kennt, kennt den Menschen“]
- 2. Abschnitt: Die Wahrheit des Seins: Theonomie
- 1. Abschnitt: Die geschichtliche Situation
- Zweites Kapitel: Offenbarung und Offenbarungsethik
- Vorbemerkung
- I. Das religiöse Grundproblem der Neuzeit
- II. Der Charakter der Offenbarung und ihres Ethos
- III. Die Tatsache der Schöpfung und ihre ethische Bedeutung
- IV. Paradies und Urzustand
- Zwischenbemerkung
- Zwischenbemerkung
- V. Prüfung und Ursünde
- Entwurf für den letzten Teil der Ethik
- Erstes Kapitel: Das allgemein-religiöse Element im Sittlichen
Guardini-Konkordanz
- Ethik, Band 1, S. 1: Zum Beginn der Vorlesungen - https://guardini.mercker.de/showbookpub.php?pub=1&es=1&seite=eVeTeKuHItiC
- Ethik, Band 2, S. 725: Zweite Gruppe - https://guardini.mercker.de/showbookpub.php?pub=1&es=1&seite=i0e0UQALe9AL
Übersetzungen (in mind. 2 Sprachen)
- Ética. Lecciones en la Universidad de Múnich. Texto elaborado, a partir de su legado, por Hans Mercker con la colobaración de Martin Marshall. Estudio introductorio de Alfonso López Quintás, Madrid 1999 (Biblioteca Autores Cristanos), ins Spanische übersetzt von Daniel Romero und Carlos Díaz [neu aufgenommen]
- Madrid (???)2000 (Bibliotheca Autores Cristianos) [neu auf-genommen]
- Madrid (Reimpréson)2010 (Bibliotheca Autores Cristianos) [neu aufgenommen]
- Auszug „Convicciones y Tolerancia“ online auf: Mercaba. Enciclopedia hispano-católica universal - https://mercaba.org/Guardini/convicciones_y_tolerancia.htm [neu aufgenommen]
- ORG 50: Etica. Lezioni all´ Università di Monaco (1950-1962), Brescia 2001, ins Italienische übersetzt und revidiert??? von Giulio Colombi e Ilario Bertoletti (Übersetzungsanfrage an KAB von 1993 damit erfüllt) [neu aufgenommen]
- (2)2003 [neu aufgenommen]
- (3)2021 [neu aufgenommen]
- ORG 58: Auszüge in geänderter Reihenfolge unter dem Titel „Una morale per la vita“, hrsg. von D. Bosco, Brescia 2009, Opere di Romano Guardini 58; ins Italienische übersetzt von Carlo Fedeli und Michele Nicoletti [neu aufgenommen]
- ORGNS 2, 2022
- Laut KAB: 1993 Übersetzungsanfrage ins Französische durch Ed. Du Cerf, Paris [noch nicht erschienen]
Kommentar
Grundfragen der Ethik in ihrem Verhältnis zur Offenbarung und zum sittlichen Bewusstsein
Die große Konstante bildete dabei erneut Guardinis Gegensatzlehre, die er konsequent in der Konzeption seiner Ethik anwendet. Eine erste Klammer stellte dabei seine Kritik einer "rein philosophischen Ethik" dar, die, wie er in der Einführung beschreibt, "jedes Glaubenselement ausscheidet und sich nur auf natürliche Gegebenheiten stützen will" (Guardini, Ethik, a.a.O., S. 1).
Mit einem abermalig eindringlichen Verweis auf die Unmöglichkeit einer rein natürlichen, d.h. rein philosophischen bzw. "einer rein ethischen Ethik" schloss er dann seine Vorlesungsreihe auch ab (ebd., S. 1247). Im Sinne seines Gegensatzdenkens macht für Guardini aber auch eine "rein religiöse Ethik" keinen Sinn. Eine "reine Gesinnungsethik" sei "etwas persönlich oder zeitgeschichtlich Bedingtes" (ebd., S. 307), unabhängig davon ob sie auf die Liebe oder auf die Macht ausgerichtet ist. Eine "reine Verantwortungsethik", ebenfalls unabhängig von der Ausrichtung, ist für Guardini aber nicht minder unrealistisch. Gesinnung und Verantwortung sind demnach ebenso in Spannungseinheit zu haltende Pole, wie Vollkommenheit oder Schwachheit, Pessimismus oder Optimismus (vgl. ebd., S. 236-239). Pessimismus und Optimismus sind für Guardini ineinander umschlagende Antivalenzen. Wenn also der neuzeitlich-optimistische Fortschrittsglaube der christlichen Offenbarung “Pessimismus” vorwerfe, sei dies umso entlarvender, wenn ihm andererseits der nicht minder neuzeitlich-pessimistische Untergangsglaube “Optimismus” vorhalte. Vgl. ebd., S. 951-953: Auch in der Pädagogik stehen sich Optimismus und Pessimismus gegenüber. Der pädagogische Pessimismus findet „sich besonders in der konservativen Mentalität. Der Optimismus ist demokratisch. Er ist überzeugt, das menschliche Wesen sei im Grunde genommen überall gleich, und könne mit richtig durchgedachten und praktisch ausgeformten Methoden einheitlich gefasst werden. ... Der Konservatismus hingegen empfindet die Unterschiede im Menschen sehr stark. Er ist überzeugt, es gebe Rangordnungen, die nicht ausgeglichen werden; Grenzen, die nicht mehr ausgeweitet werden können. ... Man wird einem überzeugten Optimisten nur sehr schwer klar machen können, welche Schranken der Erziehbarkeit durch die Veranlagung des Einzelnen, durch den Einfluss der sozialen Gruppierung, durch Tradition und geschichtliche Situation gezogen sind. Umgekehrt wird es sehr schwer sein, einen konservativen Pessimisten zu überzeugen, wie viel eine echte pädagogische Begabung mit Zuversicht und schöpferischer Kraft leisten könne, und wie sehr der Mensch trotz aller Bestimmtheit durch seine Anlagen ein werdendes Wesen ist.“ Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass der pädagogische Optimismus sich besonders in der renovativen Mentalität wiederfindet. Guardini stellt also im Grunde Optimismus, Renovatismus und Demokratismus und Pessimismus, Konservatismus und Aristokratismus als ideologische Gruppierungen gegenüber, die stattdessen als Gestaltungspole eine Spannungseinheit bilden sollten.
Eine reine "Vollkommenheitsethik" (ebd., S. 339) übersehe die menschlichen Grenzen, eine Ethik, die nur von den menschlichen Schwächen ("Schwachheitsethik") ausgehe, die menschlichen Chancen, die gefordert und gefördert sein wollen. Eine "rein pessimistische Ethik", die nur noch auf einem verzweifelt-tragischen “Trotzdem", d.h. Widerstand aufbauen kann, verfehle die anthropologischen Grundgegebenheiten ebenso wie eine "rein optimistische Ethik" , die nur noch auf einem blind vertrauenden und dabei letztlich komisch wirkenden Opportunismus ruht.
Gemeinhin wird die Vollkommenheitsethik vom Buddhismus angenommen. Im abendländischen Bereich werden unter anderem Aristoteles, Leibniz und Christian Wolff als Vertreter einer perfektionistischen Ethik genannt. In der Regel wird außer Schopenhauer (vgl. dazu bereits 1866: Victor Kiy: Der Pessimismus und die Ethik Schopenhauers, Berlin 1866) noch Eduard von Hartmann als typischer Vertreter einer pessimistischen Ethik genannt. Hier liegt im Übrigen einer der wenigen Bereiche vor, in denen sich Guardinis Anthropologie mit der Anthroposophie Rudolf Steiners trifft. Denn auch Steiner kritisierte in seinem Hauptwerk “Philosophie der Freiheit” die pessimistische Ethik: Diese glaube "dem Menschen die Jagd nach dem Glücke als eine unmögliche hinstellen zu müssen, damit er sich seinen eigentlichen sittlichen Aufgaben widme. ... Die pessimistische Ethik behauptet, der Mensch könne erst dann sich dem hingeben, was er als seine Lebensaufgabe erkennt, wenn er das Streben nach Lust aufgegeben hat." Stattdessen beruhe die Ethik "nicht auf der Ausrottung alles Strebens nach Lust, damit bleichsüchtige abstrakte Ideen ihre Herrschaft da aufschlagen können, wo ihnen keine starke Sehnsucht nach Lebensgenuss entgegensteht, sondern auf dem starken, von ideeller Intuition getragenen Wollen, das sein Ziel erreicht, auch wenn der Weg dazu ein dornenvoller ist" (vgl. Steiner, Rudolf: Philosophie der Freiheit, (Neuausgabe)1918, Kap. 13: Der Wert des Lebens: Pessimismus und Optimismus). Shaftesbury und Leibniz werden dagegen in der Regel als Vertreter einer optimistischen Ethik angegeben, interessanterweise aber auch Ludwig A. Feuerbach (vgl. János F. Böröcz: Resignation oder Revolution. Ein Vergleich der Ethik bei Arthur Schopenhauer und Ludwig A. Feuerbach, Münster 1998).
Sittliches Streben ist also gemäß Guardini nur dann realistisch, wenn es Vollkommenheit wie Schwachheit als eschatologische Größen begreift, die in ihrem vollen Umfang erst in der Ewigkeit Wirklichkeit werden bzw. Heilung erfahren können (Guardini: Ethik, a.a.O., S. 339-344).
Zumindest "für den westlichen Bereich" gab es daher für Guardini auch kein “von der Offenbarung ganz unabhängiges sittliches Bewusstsein": "Gott ist Wirklichkeit; der Mensch ist von Ihm geschaffen; so stehen nun einmal die ethischen Phänomene zu Ihm hin offen" (ebd., S. 6).
Wer den Menschen nur von der Natur her bestimmen möchte, übersehe, dass "eine Naturbestimmung des Menschen ... nur bis zu einer gewissen Grenze" gelingen kann, dann aber "ins Ungewisse" gerate: "Seine `Natur´ besteht geradezu darin, dass er keine solche hat" (ebd., S. 7).
Wenig später setzte Guardini sich mit dem Verständnis des Guten auseinander und sieht dabei zwei grundlegende Formen: Das Gute verstanden als Ausdruck der Wahrheit des Seienden und verstanden als transzendente Mächtigkeit. In der Entwicklung dieser zwei Formen erklärt er zunächst den Begriff der "Welt" in seiner doppelten Bedeutung und spricht dabei von der ersten Welt" und der "zweiten Welt": "Das eine Mal meint er den Inbegriff dessen, was ohne mein Zutun besteht; nennen wir ihn `die Natur´ im weitesten Sinn des Wortes, Ding-Natur und Mensch-Natur. Welt ist hier das dem Menschen – auch in ihm selbst – Gegebene. Der Begriff hat aber auch noch eine zweite Bedeutung; da meint er den Inbegriff dessen, was wird, wenn ich dem Seienden begegne; was aus meinem Blicken, Erfahren, Erkennen, meinem Stellungnehmen und Sichentschließen, meinem Handeln und Gestalten hervorgeht. Diese Welt ist Aufgabe für den Menschen. Er soll sie bauen, so, wie sie dem Wesen der Dinge nach sein soll. Und zwar ist es Gott, der das will. Er, der die erste Welt geschaffen und den Menschen als Erkennenden und Freien ins Dasein gerufen, hat ihm ebendamit die Dinge in die Hand gegeben und ihn beauftragt, die zweite Welt hervorzubringen." Im Blick auf diesen Auftrag bestimmte Guardini schließlich als das Gute "jene Werte, die jeweils durch die Situation in ihren verschiedenen Schichtungen dringlich werden." Er benennt dazu mehrere Schichten, die die Situation umfassen: Die historische Gesamtlage und die persönliche Stellung in der Gemeinschaft bilden die umfassendste Schicht, die sich "dann immer schärfer, bis auf das ganz Besondere hin" definieren: "etwa dass ich, in meinem Alter, meiner Veranlagung, meinem Gesundheitszustand, meinen wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnissen, in diesem Augenblick, von diesem Menschen, in dieser Notlage angegangen werde." Alles zusammen bildet das Ganze, das "die Wahrheit der Dinge, so wie sie mich angeht" und damit "das mich verpflichtende Richtige" enthält. Dieses Wahre und Richtige ist „das Gute dadurch, dass es in die Hand meiner Freiheit und in den Ernst meiner Verantwortung gegeben ist" (ebd., S. 42).
Diese Freiheit und Verantwortung für das Gute "wird um so wichtiger, je größer die Fähigkeit des Menschen wird, über die Welt zu verfügen; je mehr das Dasein ihm in den Willen gegeben ist; je größer daher die Möglichkeit der Tat und des Werkes – ebendamit aber auch die Gefahr wird, mit der Welt falsch umzugehen, sie im einzelnen wie im ganzen zu zerstören." Guardini wies damit insbesondere und abermals auf das "Problem der wachsenden Macht" hin (ebd., S. 43).
Guardini fasste dieses erste Verständnis des Guten und seine religiöse Begründung wie folgt zusammen: "Gott hat die erste Welt als sein Werk geschaffen. Er hat es dem Menschen anvertraut, dass er in Freiheit, aber aus der Wahrheit des Gotteswerkes heraus, die zweite Welt gestalte" (ebd., S. 54).
Guardini benannte hier offen die Gefahr, die "Wahrheit des Gotteswerkes" auszublenden und beim "Seinswahren" bzw. beim "Hier-Wahren" stehen zu bleiben. Das Gute sei aber nicht nur "das Wahre, sofern es zur Aufgabe wird; die Welt, sofern sie in die menschliche Verantwortung gegeben ist", sondern das Gute hat auch einen über die jeweiligen durch die Situation gemeinten Einzelwerte hinausgehenden spezifischen Inhalt, es ist mit diesen Einzelwerten nicht "identisch, obwohl es sich in ihnen verwirklicht"; es ist weder die Summe noch der Inbegriff dieser Einzelwerte, sondern etwas Eigenes. Jede ethische Handlung geht „über das konkrete Tun hinaus ins Absolute." Wenn daher die Beziehung zur "Wahrheit des Gotteswerkes" nur eine formale Beziehung bleibt, "entsteht die Verkümmerung wie sie sich in den Spezial-Ethiken zeigt, wonach das Gute das Natürliche ist, oder das Lebenssteigernde, oder das Soziale usf." (ebd., S. 44f. und S. 46).
Deshalb genüge die "realistisch-rationale Antwort", die von der Empirie, vom Endlich-Konkreten ausgeht, nicht, wenn sie "den Inhalt des Guten im Wesen der betreffenden Dinge und Bezüge" sieht und "durch das Bewusstsein, für die Welt, so wie sie hier gegenwärtig und greifbar wird, verantwortlich zu sein", sanktioniert. Das zweite Verständnis des Guten ist die "idealistische" Antwort, die vom Absolut-Allgemeinen, "von der Erfahrung des Guten als solchen, vom Gedrängtsein durch dessen Mahnung und der Bereitschaft" ausgeht, "sie zu erfüllen": "Der Verpflichtungscharakter liegt in der Evidenz des Guten selbst, das letztlich ebenfalls nur religiös verstanden werden kann, nämlich als Heiligkeit Gottes, welche verlangt, vom Menschen in die Welt eingelassen, in ihr zum Erscheinen gebracht, in Herrschaft gesetzt zu werden" (ebd., S. 51f. und S. 54).
Zusammengefasst im Bild heißt das: "Gottes Heiligkeit will in die Welt hinein. Sie drängt in das Innere des Menschen, dass er sie einlasse und in der Welt ihr Reich errichte" (ebd., S. 54).
Diese Formel ist gekennzeichnet durch "die Unbedingtheit der Forderung, der Antrieb ins Absolute, die Begeisterung für die Herrlichkeit des Guten. Sie führt den Willen über die Gebundenheit durch die bloße Pflicht hinaus zum freien und schönen Ernst der inneren Beteiligung, zum Wagnis und zur Liebe." Ihre Gefahr sah Guardini darin, "dass der Wille am Guten an sich haften bleibe und außer Zusammenhang mit der empirischen Wirklichkeit gerate. … Er arbeitet nur mit dem Absoluten und Vollkommenen, übersieht das Relative und verliert so den Raum der Verwirklichung. Er wird ungeduldig und übersieht alles das, was Maßhaltung, Besonnenheit, Einübung, Annäherung heißt. Er wird rigoristisch, verliert die Barmherzigkeit und den Humor" (ebd., S. 53).
Diese beiden Herangehensweisen sind nun nach Guardini dialektisch aufeinander bezogen, zielen auf eine Spannungseinheit hin. So gesehen könne man auch davon sprechen, „das Gute sei die der Wahrheit seines Wesens entsprechende Selbstverwirklichung des Menschen" (ebd., S. 55). Gleichzeitig war er aber davon überzeugt: "Jede Ethik, welche die autonome Selbstverwirklichung in den Mittelpunkt stellt, wird unwahr und unfruchtbar" (ebd., S. 55 f.).
Autonomie allein entspricht nicht der Wahrheit des Wesens des Menschen: "Das Grundgesetz echter Selbstverwirklichung lautet, dass der Mensch sich in dem Maße findet, als er von sich weg, auf seine Aufgabe zugeht; dass er sich in dem Maße realisiert, als er, sich selbst vergessend, die jeweils an ihn herantretende Forderung erfüllt" (ebd., S. 56).
Erst Autonomie und Allonomie zusammen führen zu jener Selbstverwirklichung, die in allen Bereichen, auch in der Politik, das richtige Verhältnis von Gesinnung und Verantwortung im Blick auf die "erste" und die "zweite Welt" ermöglichen. Gerade hier setzte Guardini den erst viel später einsetzenden Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung voraus, der ab den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts vor allem auch im christlich-ökumenischen Kontext vorangetrieben wurde.
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Alfons Knoll (1993)
Knoll weist darauf hin, dass "unmittelbar vor Abschluß" seines Manuskripts eine "kritische Edition dieser Vorlesungen" erschienen sei (S. 173, Anmerkung 249) und sie daher "für die vorliegende Untersuchung nicht mehr eigens behandelt werden" konnte (S. 348, Anmerkung 85). Er verweist aber darauf, dass Guardini schon in "Das Gute, das Gewissen und die Sammlung" (1929) "seinen ethischen Grundansatz prägnant" vorstelle. Auf S. 430 (Anmerkung 250) verweist Knoll darauf, dass Guardini sich schon immer um ethische Weisungen bemüht habe, wofür die "Briefe über Selbstbildung" (Buchausgabe 1925; vgl. Gottes Werkleute) und die Schrift "Das Gute, das Gewissen und die Sammlung" (1929) wichtige Belege seien. Doch scheint er diese Bemühungen eher außerhalb der eigentlichen "Weltanschauungslehre" angesiedelt zu haben. Zur Geschichte der Ethik führt Knoll aus: "Angeblich soll Guardini bereits in seiner Bonner Zeit eine Ethik ausgearbeitet "in der Schublade" gehabt haben (Brief von Kunibert Mohlberg OSB vom 17. 2. 1955 an Guardini zu dessen 70. Geburtstag Guardinis; Stabi; zit. bei Gerl, Guardini, 135). Doch zum Bereich der Ethik gehörten lediglich zwei Semestervorlesungen der Berliner Zeit: "Grundprobleme des sittlichen Lebens" (SS 1925; vgl. Mercker, Bibliographie, Nr. 198); "Grundfragen lebendiger Sittlichkeit, 2. (jedoch selbständiger) Teil" (SS 1926; 222). Freilich kam Guardini im Rahmen seiner neutestamentlichen Vorlesungen auf ethische Fragen zu sprachen; vgl. etwa SS 1929: "Wertlehre des Neuen Testaments, 3. (selbst.) Abschnitt" (296); WS 1929/30: "Wertprobleme im Neuen Testament, 4. (aber selbst.) Teil" (297)." In der nachfolgenden Fußnote führt er die Vorlesungen der Münchener Zeit auf und verweist auf die veröffentlichten Teilstücke. Knoll konstatiert: "Guardini arbeitete intensiv an einer Veröffentlichung seiner Ethik; vgl. etwa Wahrheit des Denkens, 34 (31. 5. 1953). Er betrachtete sie sogar als "eine Art Synthese meiner Arbeit überhaupt." (Lebensalter, 69)."
Systematisch nimmt Knoll schließlich wiefolgt Stellung zur Ethik: "In seiner Ethik-Vorlesung bewegte sich Guardini über weite Strecken auf einer rein phänomenologischen Ebene.[297 gl. Ethik (1993). - Auch wenn man Guardini nicht einfachhin einer "autonomen Moral" zuordnen kann (in Abhebung von einer "glaubensethischen" Position; vgl. dazu Auer, Nachtrag, 206f), ist man doch erstaunt über den Aufriß der Ethik-Vorlesungen. Der erste Teil behandelt die "natürliche Sittlichkeit" (5-976): Das Grundphänomen (Das Gute; Das Böse; Das Gewissen); Bedingungen für die Möglichkeit des ethischen Phänomens (Anthropologische Bedingungen: Mensch, Erkenntnis, Freiheit usw.; Zusammenhang: Natur, soziale Ganzheiten, Geschichte); Ethische Verwirklichung; Die Mannigfaltigkeit der ethischen Aufgaben (persönliches Leben, Werkleben). Erst im 7. Semester seines ersten Ethik-Zyklus (der 2. Teil der gedruckten Ausgabe; vgl. ebd., 977-1243) kommt Guardini auf das "Ethos des Christentums" zu sprechen (vgl. WS 1953/54; Mercker, Bibliographie, Nr. 932).] Die Ausführungen über das "christliche Ethos"[298 Sie sind bezeichnenderweise überschrieben mit "Ethik und Offenbarung", womit offenbar eine gewisse Unabhängigkeit beider Sachverhalte angedeutet werden soll. Dieser Teil fiel Guardini schwerer als der erste, wie sich an einer Reihe von Äußerungen zeigt: "Was freilich die Hörer sagen werden, wenn ich versuche, das Sollen aus dem genuinen Offenbarungssinn abzuleiten?" (Wahrheit des Denkens, 69 [11. 11. 1953]). Die Resonanz scheint auch in der Tat nicht so groß gewesen zu sein wie in den früheren Semestern: "Man hat das Gefühl, gegen eine Wand zu sprechen. Nur selten meine ich durchzukommen" (ebd., 75 [9. 12. 1953]). Aus diesem Grund brach Guardini sogar den ersten Zyklus ganz ab, um noch einmal von vorne zu beginnen - "und nun hoffe ich, richtig durchzukommen" (Lebensalter, 70). "Die erste Lesung hat sich durch sieben Semester hin erstreckt; dann mußte ich sie abbrechen, weil ich mir über die Problematik des letzten Teils nicht klar werden konnte, der von der eigentlich christlichen Sittenlehre handelte" (ebd., 69f.).] dienten nicht etwa dazu, die im ersten Teil gewonnenen sittlichen Verhaltensnormen nun noch einmal nachträglich durch christliche Normen zu ergänzen (dies war lediglich im Hinblick auf die unmittelbar religiöse Praxis der Fall [299) ... Guardini kam jedoch bei der Darstellung des "Heilsethos" nicht viel weiter als zur Darstellung der geschichtlichen Situation (Verhältnis des Sittlichen und des Religiösen bis zur Offenbarung; Die Offenbarung; Die Preisgabe der Offenbarung durch die Neuzeit; Natur, Subjekt, Kultur; Der heutige Zustand; Die existentialistische Position) und der grundsätzlichen Bestimmung dessen, was Offenbarung heißt (Das religiöse Grundproblem der Neuzeit; Der Charakter der Offenbarung und ihres Ethos). Er begann lediglich Schöpfung, Urzustand und Sündenfall in ethischer Hinsicht zu reflektieren und brach dann ab. Vgl. den Entwurf für den letzten Teil in: Ethik, 1240-1243.]; sie sollten vielmehr den Verpflichtungscharakter jener Normen im Horizont der Offenbarung begründen. Christliche Sittlichkeit bestand nach Guardini im "Aufgerufensein durch den heiligen Gott" und dem "Mittun mit seinem Handeln".[300 Vgl. Wahrheit des Denkens, 62 [11. 10. 1953].]" Auf S. 441 (Anmerkung 315) schließt Knoll mit dem Hinweis: " Ein intensives Studium der jetzt veröffentlichten Ethik-Vorlesungen wird hier sicher noch weitere Gesichtspunkte zutage fördern. Jetzt erst kann sich zeigen, ob die Günter Henners Warnung vor einer Veröffentlichung berechtigt war (vgl. Pädagogik, Anm. 36, 71)."
Walter Kerber (1994)
Kerber nennt in seiner Rezension (zu Guardini, Romano: Ethik. Vorlesungen an der Universität München, 2 Bände. Aus dem Nachlass hrsg. von Hans Mercker, Mainz/Paderborn 1993, in: Stimmen der Zeit, 212, 1994, S. 788-789) die Ethik-Vorlesungen "das vielleicht bedeutendste Werk von Romano Guardini". "Trotz mancher Wiederholungen" sei "es ein gut zu lesendes Buch und weit mehr als eine bloße Ethik, vielmehr eine Synthese von Guardinis Denken überhaupt." Kerber weist darauf hin, dass Guardini zwar "eine rein philosophische Ethik für nicht realisierbar" hielt, "weil sich der Mensch in der konkreten heilsgeschichtlichen Situation nur vom Gott der christlichen Offenbarung her voll verstehen lässt", aber dennoch "die philosophische Bemühung im Rahmen der christlichen Tradition für fruchtbar und notwendig" halte und "sogar eine sehr hohe Auffassung von der Erkenntniskraft der menschlichen Vernunft Erkenntnis" zeige. Entscheidend komme es für Guardini darauf an, "dass ich, erkennend, mich diesem Wesen gegenüber" nicht schaffend, sondern gehorchend verhalte (301)." Kerber sieht für die eigentliche Ethik Guardinis die "phänomenologische Methode" als grundlegend an und vermerkt, dass Guardini nach Möglichkeit den Begriff des `Naturrechts´ vermeide. Guardinis Ethik ließe sich am ehesten als ein „christlicher Personalismus" kennzeichnen, "wenn dieser Ausdruck nicht schon von der `Schule von Krakau´ besetzt wäre, deren Auffassungen manche Ähnlichkeiten zu Guardinis Ansatz aufweisen." Kerber sieht in der Methodik Guardinis allerdings die Gefahr, dass zeitbedingte plausible und bewährte Wertvorstellungen, als absolut und überzeitlich gültig unterstellt werden, bei Guardini insbesondere im Bereich der Staatslehre: "Er meint beispielsweise auch hier, politische Autoritäten nur aus dem Glauben begründen zu können, wenn sie echte Verpflichtungskraft besitzen sollen. `In dem Augenblick, in dem Gott verschwindet, gibt es keine Autorität mehr, sondern nur noch Macht“ (1064). Von daher wird seine scharfe Ablehnung nicht nur jeder Art von „Revolution“ verständlich, sondern auch der Lehre von der Volkssouveränität, seine Verteidigung des Gottesgnadentums der Könige (481)." ...
Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz (ab 1994)
- L´"Etica". Note intorno all´opera postuma di Romano Guardini, in: Communio, 23, 1994, 133, S. 102-113.
- Zur Grundlegung der Werte in Guardinis neuer Ethik, in: dies.: Romano Guardini. 1885-1968, (4)1995, S. 404-409.
- Romano Guardini und die Kulturkritik Mitte des Jahrhunderts, in: Bayerische Akademie der Schönen Künste (Hrsg.): Jahrbuch, 12, 1998, S. 775-790; auch in: Günter Riße (Hrsg.): Zeit-Geschichte und Begegnungen. Festschrift für Bernhard Neumann zur Vollendung des 70. Lebensjahres, Paderborn 1998, S. 66-78; auch in: Katholische Bildung, 100, 1999, 1, S. 17-26