Romano Guardini und Friedrich Wilhelm Foerster

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Romano Guardini und Friedrich Wilhelm Foerster: Politische Pädagogik als Selbsterziehung zum Frieden

Guardinis Auseinandersetzung mit Foerster

Wiederum von Adam Gottron wissen wir nämlich, dass sich Guardini spätestens seit seiner Freiburger Studienzeit mit dem Werk Friedrich Wilhelm Foersters (1869-1966) [mitunter von Guardini auch "Förster" geschrieben] beschäftigte. Gottron erinnerte sich, dass die Älteren der Juventus-Jugend „schon nach 1905 ... die Schriften Fr. W. Foersters“ lasen (Gottron, Juventus, a.a.O., S. 141). Für die Zeit zwischen Oktober 1908 bis zur Priesterweihe Romano Guardinis berichtete Gottron von gemeinsamen Spaziergängen in den Taunuswäldern, bei denen charakterologische Fragen besprochen worden seien. Als Begründung dafür gibt er an: „Friedrich Wilhelm Foersters Selbsterziehung wurde damals in katholischen Kreisen viel gelesen“ (Walter Heist (Red.): Ein Leben im Schatten des Domes. Zum Gedächtnis an Adam Gottron, Mainz o.J., S. 39).

Diese Weggemeinschaft führte bei Gottron, der im Juli 1908 maturierte, alsbald zur Überzeugung: „Dass aber der Beruf mit Erziehung zu tun haben müsse, das stand seit dem Studium der Foersterschen Arbeiten und dem Verkehr bei Schleußners fest“ (ebd., S. 48).

1908 empfahl Guardini auch seinem Freund Josef Weiger den „feinen“ Aufsatz „Grundfragen der Charakterbildung“ im Hochland, in dem Foerster in der Frage „männliche und weibliche Seelenart in ihren Beziehungen zur Vollkommenheit“ eine „klassische“ Position vertrete (1. Brief vom 15.-22. Mai 1908, Schmitten im Taunus, in: Briefe an Josef Weiger, a.a.O., S. 36f.).

Zwei Jahre später verwies er dabei ausdrücklich auf Foersters Jugendlehre, die diese neue Sprache „prächtig” habe und in der Verkündigung „oft direkt” verwendet werden könnte, weil sie frei von klassisch-rhetorischen Latinismen und für Jugendliche fremden Ausdrücken sei, anders als „z.B. das stereotype Gepräge der Jesuitensprache”. Es gelte in dem Sinne „wieder deutsch” zu werden, indem man „aus Leben und Zeit heraus und für sie; neu sprechen, neu denken” lerne. Nur „dann werden die ewigalten Wahrheiten interessant” und infolgedessen auch die entscheidenden „innerlichen Seiten.” Foerster beinhalte „manches” davon (4. Brief vom Juli 1910, Heppenheim, in: ebd., S. 48ff.)

Weitere drei Jahre später, am 23. Februar 1913 wird Guardini nach einem Vortrag von Foerster einen ganzen Brief an Weiger der Person, seinem Werk und seiner Wirkung widmen. Er berichtete seinem Freund: “Das Publikum war schon interessant. Bestimmt war der Vortrag in erster Linie für Studenten, aber auch andere waren da. Im Saal eine gewisse zurückhaltende, feine Ruhe. Die Leute meist über dem Durchschnitt, wenigstens nach Ausdruck und Haltung zu schließen. Es schien eine gewisse Elite von jungen Männern und Mädchen; aber auch ältere, Männer und Frauen waren da, und sehr feine Köpfe darunter. Foerster selbst begann pünktlich, ging rasch und schlicht zum Podium und begann ohne alle Einleitung und alle Umstände. Er ist mittelgroß, schmal gebaut mit hoher Stirn, zurückgestrichenem, ziemlich kurzem Haar, kurzgeschnittenem blondem Bart; ganz einfach gekleidet, dunkel, ohne Schmuck, Kette usw., aber elegant fast. Er spricht norddeutsch, aber ohne Jargon, genau und mit wenigen Gesten. Sein Gesicht und seine Haltung ganz beherrscht, in den Augen ein gewisses überlegenes, ruhiges Beobachten. Erst sprach er in mehr theoretischen Ausführungen eine Stunde, machte dann eine Pause von 5 Min, wobei er ruhig und ohne aufzuschauen am Pult blieb, und dann weitere 20 Min in praktischer Weise. Während der ganzen Zeit bliebs lautlos im Saal, auch in der Pause nur leises Flüstern. Dabei spricht er nicht laut, nur mit vollkommener Ruhe und Disziplin. Er macht keine Konzession an Stimmung, Effekt oder Sensation, moduliert den Ton fast gar nicht, spricht in gleichmäßigen ruhigen Sätzen. Wenn ich meinen Eindruck von ihm zusammenfassen soll, so kommt er mir vor wie ein Mensch von sehr feinem Empfinden, sehr differenzierter Fähigkeit des Beobachtens und Verstehens, der es versteht, alles unter einige zentrale Gedanken zu stellen; ein Mensch von durchaus nicht genialen Kräften, aber der alles, was er ist und kann, durch eine vollendete Disziplin in seine Gewalt und auf eine hohe reife Entwicklung gebracht hat. Was ihm zu fehlen scheint, ist ein gewisses Maß ganz klarer, scharfer Denkform; dann vor allem Leidenschaft. Hat er sie, dann ist sie ganz zu einer vollkommenen kühlen Ruhe gebändigt und macht sich nicht bemerkbar. Jedoch hat man den Eindruck eines tiefernsten Menschen, dem man mit Ehrfurcht zuzuhören hat.” In einer Anmerkung ergänzte Guardini: “Jemand, der ihn persönlich kennt, erzählte mir, dass er an dem Abend schlecht disponiert war. Daher vielleicht auch der Eindruck des Kühlen” (20. Brief, 1. Teil vom 23. Februar 1913, Freiburg, in: Briefe an Josef Weiger, a.a.O., S. 84 f.)

Und am 9. März 1913 führte er seine Gedanken zu Foerster weiter aus: „Zu dem was ich neulich über Foerster schrieb, noch einen seither gefundenen Gedanken. Ich sehe und fühle allmählich deutlich die Gefahr, die in den Büchern von F. (auch Saitschicks u.a.) steckt. Sie sind so vollkommen in ihrer psychologischen Beobachtung, so echt in ihren Ratschlägen, Urteilen…, auch so ruhig und abgeklärt, dass sie einen ganz in ihren Bann ziehen, einem allmählich Gott, vor allem aber sicher das eigentlich Übernatürliche entbehrlich erscheinen lassen. Man denkt nicht mehr daran. Ganz unmerklich verliert die Offenbarung und ihr Inhalt, die Gnade …ihre absolute, reale, über allem stehende Bedeutung, die Offenbarungsgedanken ihren genauen, klaren, realen Sinn, all das gewinnt bloß symbolische ethische Bedeutung. Natürlich gilt das zunächst, oder vielleicht auch nur, für einen Menschen, der nicht gewissermaßen eingewachsen ist ins Christentum und die Kirche.”

Und schließlich heißt es ein weiteres Jahr später, am 15. Februar 1914: “Und endlich Foersters `Lebensführung´. Über letzteres Buch hätt ich gar zu gern Dein Urteil. Du siehst an den vielen Strichen, wie energisch es mich fasste. Ich habs immer auf dem Tisch; sehr viel verdanke ich ihm. Wie oft habe ich dabei an Dich gedacht! Aber ich traue meinem Urteil in diesen Fragen nicht ganz, hätte gern das Deine dazu.”

1916 wird sich dann auch Karl Neundörfer in seinem Aufsatz "Befehlen und Gehorchen nach der Regel des hl. Benedikt" auf Foerster berufen. Er begann seinen Aufsatz mit einer Würdigung Foersters in Bezug auf dessen sozialpädagogische Leistungen. Schon 1909 habe Foerster die Notwendigkeit betont, “DEN SINN DES GEHORCHENS ... so zu erläutern und darzustellen, dass der Gegensatz zwischen dem Verlangen nach starker Persönlichkeit und der Forderung des Gehorsams verschwindet.” Später zitierte er Foerster:

“Der Gehorsam ist eine Elementarschule für jede opferwillige Unterordnung des natürlichen Menschen unter höhere Forderungen, eine Befreiung von der Starrheit des Eigenwillens, die uns so oft im Leben hindert, unserem besseren Selbst treu zu bleiben.” Selbstüberwindung in demütigem Gehorsam ist „eine höhere Stufe des Heroismus, als die bloß nach außen gewendete Tapferkeit, ja sie ist allein das eigentliche Fundament aller rechten Tapferkeit. Gibt es doch viele Menschen, die nach außen sehr heroisch sein können, sich aber bei den intimsten Erprobungen des Charakters als Feiglinge erweisen, weil sie die nach innen gewandte Tapferkeit nie geübt haben. Für diese Tapferkeit aber ist der freiwillige Gehorsam eine unentbehrliche Schule.”

Und er schloss seine Überlegungen auch mit einem Zitat Foersters, einem der besten Vertreter der Sozialpädagogik, ab: “Ihr könnt diese Welt nicht allein mit den Mitteln dieser Welt organisieren. Ihr braucht die Wahrheit des Jenseits, um das Diesseits zu beherrschen.”

Guardini verwies auf ihn in seinem „Brief über Selbstbildung“ zum Thema „Vom ritterlichen Manne“: „Fr. W. Förster hat gesagt, Anfang und Ende aller staatsbürgerlichen Erziehung besteht darin, die selbstverständliche und doch so schwere Wahrheit zu begreifen: `Ich bin nicht allein da; andere sind auch noch da.´ Nun, rechte Mannesart ist es, keine Angst zu bekommen, weil „andere da sind". Sich nicht aufzuregen, wenn einer die Sache anders sieht. Nicht alle über einen Kamm zu scheren und zu meinen, sie müssten so denken wie man selbst.“

In einer der wenigen Fußnoten seiner Gegensatzlehre von 1925 mutmaßte Guardini, dass “eine ruhiger denkende Zeit” seine Forderung, dass die Religion die Rechte Gottes an die Seele den Rechten des Caesars gegenüber zu Geltung bringen müsse, „zu den besonderen Verdiensten Friedrich Wilhelm Foersters rechnen” werde, zum Foerster dies auch „in konkreter Weise pädagogisch gestaltet und durchgeführt” habe. Auch in seinem Vortrag über „Politische Bildung“ von 1926 wies Guardini auf Foersters Bedeutung hin, der die „unmittelbar politische Bedeutung der sittlichen bzw. unsittlichen Verhaltensweisen deutlich” gemacht habe. Die Einschränkung, dass diese wertvolle Arbeit vom Erzieher nicht unberücksichtigt bleiben darf, selbst wenn er „Foersters praktische Politik” ablehne, lässt erahnen, wie klar Guardini die Frontlinien einschätzen konnte. 1920 hatte Foerster immerhin seine Professur in München nach politischen Auseinandersetzungen um seinen ethischen Pazifismus niedergelegt. Guardinis doch deutliche Parteinahme für Foerster, was seinen Ansatz politisch-ethischer Bildung betrifft, ist daher zu dieser Zeit alles andere als selbstverständlich. Fünfundzwanzig Jahre später in seiner Schrift „Die Macht“ von 1951 wird Guardini über Foerster dann noch eindeutiger schreiben:

„Wer sehen kann, sieht, wie überall die Katastrophe der falsch gehandhabten Wirklichkeit im Gange ist. Also müssen wir wieder an das Wesen des Seienden herankommen. ... Eine Hilfe dazu leisten die ... immer noch nicht übertroffenen Schriften von F. W. Foerster, „Lebenskunde“ und „Lebensführung“.“

Bei der Neuauflage dieses Foerster-Buches im 102.-104. Tausend durch den Matthias-Grünewald-Verlag im Jahr 1953 wird dann auch just mit jener Einschätzung für das Buch auf dem Einband geworben.

Rückblickend notierte Guardini am 9. März 1954 in sein Tagebuch über einen Brief von Foerster, in dem „er sehr Freundliches über meine Arbeit” sage und „insbesondere meiner Schrift `Verantwortung´” zustimme: “Foerster ist derjenige, von dem ich am meisten pädagogisch gelernt habe. Eigentlich, wenn ich Strehler hinzunehme, dessen Konvikt in Neisse mich für immer beeindruckt hat, der Einzige. Von ihm habe ich gelernt, den Weg zu sehen - und zu gehen, der beständig zwischen Idee und konkreter Wirklichkeit gegangen werden muss.”

1956 verwies er in einem Vortrag über den „Dienst am Nächsten“ auf Foerster, der „darauf aufmerksam gemacht“ habe, „dass der Leidende im Zusammenhang des Daseins eine wichtige Aufgabe hat: den Nicht-Leidenden - Gesunden, Kraftvollen, Wohlstehenden - vor den Gefahren der Selbstsucht, Gedankenlosigkeit, Härte, ja Grausamkeit zu schützen, die in seinem Zustande liegen.“ Außerdem habe er „auf die Gefahr hingewiesen …, die in der Gesundheit selbst liegt. Sie kann den Menschen roh und, in einem tiefen Sinn, dumm machen.“ Und in seinen Ethik-Vorlesungen konnte er Foerster schließlich auch unter „die großen ethischen Entdecker und Erneuerer“ einreihen, „dem hier seinerzeit großes Unrecht geschehen ist.“

So steht Foersters Idee der "Selbsterziehung" im Hintergrund von Guardinis eigener Idee der "Selbstbildung". Foersters Einfluss auf Guardini darf dabei nicht unterschätzt werden. Diese Einflussnahme ist aber bereits früh wechselseitig, denn auch Foerster stützte sich immer wieder auf Gedankengänge Guardinis. In der katholischen Jugendbewegung wurde mit großer Aufmerksamkeit vor allem Foersters Schrift „Jugendseele, Jugendbewegung, Jugendziel” wahrgenommen, worin er festhält, dass „Quickborn ... sozusagen der katholische Wandervogel“ sei. Der bündische Gedanke sehe das Einzelinteresse wesentlich stärker als die demokratische Idee mit dem Gesamtinteresse verknüpft und spreche dem einzelnen Recht und Wert in der Gemeinschaft nur in dem Maße zu, in dem er sich dem Ganzen verpflichtet fühlte. Es war eine eigenartige Synthese von aristokratischen und demokratischen Tendenzen, die dieser Haltung zugrunde liege. Sie käme dem von Carlyle erstrebten Zustand sehr nahe, den er mit den Worten umschrieb: „Wir müssen die unvermeidliche Demokratie mit der ebenso unvermeidlichen Aristokratie vereinigen.“

Foerster lehnte es infolgedessen ab, die Haltung der Jugendbewegung zur Politik, die ganz wesentlich auf psychologischen, im Jugendalter wirksamen Tendenzen beruhte, summarisch als antidemokratisch zu bezeichnen. Demokratie und Führung seien dann kein Widerspruch, wenn beide Auffassungen sittlich-religiös vertieft werden: „Die Überwindung der Kinderkrankheiten und Illusionen der demokratischen Bewegung ... und die erneute Ausgestaltung des Führerwesens hängt vor allem von der sittlich-religiösen Vertiefung der Führerauffassung ab, so wie er sich gerade so erfreulich in der Jugendbewegung ankündigt.“

Nur diese sittlich-religiöse Vertiefung der Politik könne auch vor übertriebener Machtpolitik bewahren: „Gibt es doch nichts, was so sehr `das Fleisch berauscht´, als die sich selbst überlassenen Interessen- und Selbstgefühlskonflikte zwischen den Einzelnen, den Klassen und den Völkern.“

Vor allem von der katholischen Jugendbewegung erhoffte er sich eine Abwehr „des heidnischen und undeutschen Nationalismus“ und eine Stärkung föderalistischer und pazifistischer Kräfte. Die Jugendbewegung insgesamt sei „ein wahrer Trost für jeden Deutschen, der schon daran verzweifeln wollte, dass sich die deutsche Seele jemals wieder aus der Verzauberung lösen werde, in die sie durch ihre Hinwendung zur Machtpolitik unwiederbringlich verstrickt schien.“ Gerade im Abschnitt über „Katholische Autorität und freideutsches Suchen” verwies Foerster häufig auf Guardini und kritisierte mit ihm den „vitalistischen Lebensbegriff” der Freideutschen Jugendbewegung.