Nur wer Gott kennt, kennt den Menschen

Aus Romano-Guardini-Handbuch

454 (G 22/Topos 171 und 490): Nur wer Gott kennt, kennt den Menschen, Würzburg 1952 (Vortrag am 19. August zu Beginn der Arbeitstagung des 75. Deutschen Katholikentages in Berlin vom 19.-25. August 1952); [Mercker 0864];

Werkbiographie

Am 19. August 1952 hielt Guardini in Berlin einen aufschlussreichen Vortrag im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft II des 75. Katholikentages, die unter dem Thema „Mensch ohne Gott oder Mensch mit Gott“ stand. In einer Postkarte an seinen Freund Weiger schilderte er selbst seine Gefühle, nach 9 Jahren erstmals wieder in Berlin zu sein und dabei „vor 5-6000 sichtbaren und 1500 anderswo befindlichen Zuhörern“ zu sprechen. Ebenfalls für den Berliner Katholikentag hatte Guardini eine bislang unveröffentlichte Skizze unter dem Titel “Die Menschenrechte und die Wirklichkeit” vorbereitet.

Auflagen

  • (2)1953 [Mercker 0951];
  • neu gerahmt unter dem Titel: Der Mensch im Licht der Offenbarung, in: Den Menschen erkennt nur, wer von Gott weiß, Würzburg (4., durchgesehene und um zwei Beiträge erweiterte)1965 [Mercker 1649];
  • eingegangen in: G 22: Gläubiges Dasein. Drei Meditationen (1951)/Die Annahme seiner selbst (1960), Mainz/Paderborn 1993;
  • so eingegangen in: Die Annahme seiner selbst/Den Menschen erkennt nur, wer von Gott weiß, Mainz (1., 1-4. Tausend; unveränderter Nachdruck der 5. Auflage bzw. unveränderter Nachdruck der 4., erweiterten Auflage)1987 (Topos Taschenbücher 171) [neu aufgenommen]
    • (2., 5.-6. Tausend)1990 [neu aufgenommen]
    • (3., 7.-9. Tausend)1993 [neu aufgenommen]
    • (4., 10-12. Tausend)???? [noch nicht ermittelt];
    • (5., 13-14. Tausend)1997 [neu aufgenommen]
    • (6)1999 [neu aufgenommen]
    • (7)2003 [Brüske 54];
    • (8)2005 [neu aufgenommen]
    • Kevelaer (9)2008 (Topos Taschenbücher 490) [neu aufgenommen]
    • (10)2014 [neu aufgenommen]
    • (11)2017 [neu aufgenommen]

Inhaltsverzeichnis

  • Der Mensch im Licht der Offenbarung; zuerst: Nur wer Gott kennt, kennt den Menschen, Würzburg 1952
  • Die zwei weiteren Beiträge lauten:

Guardini-Konkordanz

Nachdrucke und Auszüge

  • „Nur wer Gott kennt, kennt den Menschen“. Die festliche Eröffnung des Katholikentages am Dienstagabend schloß mit einem Vortrag von Prälat Prof. Romano Guardini, den wir im Wortlaut wiedergeben, in: Echo der Zeit, Sonderausgabe: 75. Deutscher Katholikentag. 19-24. August, 1952, 1952, S. 4-5 [Mercker 0878];
  • Auszug unter dem Titel "Gedanken aus den Katholikentagsvorträgen - Was heißt: Gottes Ebenbild?" in: Der christliche Sonntag, Freiburg, 4, 1952, 38, 21. September, S. 301 [Mercker 0907];
  • Der Mensch ohne Gott ist kein Mensch, in: Michael. Katholische Wochenzeitung, Düsseldorf, 10, 1952, 35 (31. August 1952), S. 3 [Gerner 18];
  • Mensch oder Ameise, in: Der Tag, Berlin, 5, 1952, 193 (20. August 1952), S. 3 [Gerner 18];
  • Was ist der Mensch?, in: Tag des Herrn, Leipzig, 2, 1952, 47/48 (22. November 1952), S. 185f. [Gerner 18];
  • Gott und der Mensch, in: Tag des Herrn, Leipzig, 2, 1952, 49/50 (6. Dezember 1952), S. 193 [Gerner 18];
  • auch in: Zentralkomitee der deutschen Katholiken (Hrsg.): Gott lebt, Paderborn 1953, S. 43-53 [Mercker 0966];
  • Nur wer Gott, kennt, kennt den Menschen, in: Tag des Herrn, Leipzig, 3, 1953, 1/2 (3. Januar 1953), S. 2 [Gerner 19];
  • Nur wer Gott, kennt, kennt den Menschen, in: Der katholische Erzieher, Bochum, 8, 1955, S. 241-244 [Mercker 1059];
  • Der Mensch von heute, in: Der christliche Sonntag, Freiburg im Breisgau, 16, 1964, 17 (26. April 1964), S. 134 [Gerner 28];
  • (Aphorismus), in: Herder-Korrespondenz, Freiburg, 18, 1964, 9, S. 409 (Über den Zusammenhang des Namens Gottes und des Namens des Menschen) [Mercker 1644];

Übersetzungen (in mind. 5 Sprachen)

  1. Solo chi conosce Dio conosce l´uomo, in: Humanitas. Rivista mensile di cultura, Brescia, 8, 1953, 11, S. 1069-1079, ins Italienische übersetzt [Übersetzer unbekannt] [Mercker 0926];
    1. Den Menschen erkennt nur, wer von Gott weiß, ital. 1988 erschienen??? Morcelliana/ Brescia
  2. Solo quien conosce a Dios puede conocer al hombre, in: Revista de Teologia, La Plata, 3, 1953, 11, S. 29-40, ins Spanische übersetzt [Übersetzer unbekannt] [Mercker 0927];
    1. auch in: Cuadernos hispanoamericanos, 18, 1954, S. 323-337 [Mercker 0988, bei Mercker „Quad.“ statt „Cuad.“];
    2. Übersetzungsanfrage??? Oder 1995 erschienen Nur wer Gott kennt, kennt den Menschen, span. (1994; ersch. 1995) = ??? Den Menschen erkennt nur, wer von Gott weiß (1995) Promocion Popular Cristiana (PPC), Madrid
    3. El fin de la modernidad. Quien sabe de dios conoce al hombre, Buenos Aires 1995 (???) [neu aufgenommen]
    4. Solo quien conoce a Dios conoce al hombre, in: Experiencia religiosa y fe, Madrid 2016, S. 117-134, ins Spanische übersetzt (Revision der Übersetzung) durch Alfonso López Quintás [neu aufgenommen]
    5. „Quién es el hombre:“ „El hombre a la luz de la Revelación“ und „Cercanía y lejanía de Dios“ - https://mercaba.org/Guardini/quien_es_el_hombre.htm [neu aufgenommen]
    6. unter dem Titel: Aceptarse a uno mismo/Solo quien sabe de Dios conoce al hombre, 2023 (als Paperback und Kindle-E-Book von Ediciones Rialp, S.A.); ins Spanische übersetzt von David Cerdá García [neu aufgenommen]
  3. Samo kojto poznava Boga, poznava i čoveka, in: Duchovna kultura, 1956, Januar, ins Bulgarische übersetzt von Konstantin Tsitselkov [neu aufgenommen] [siehe KAB-Archiv Nr. 01-03];
  4. Prijať seba samého - Človeka spozná len ten, kto pozná Boha, Trnava 2000 (Vydavatelstvo Dobra kniha) (gemeinsam mit: Annahme seiner selbst), ins Slowakische übersetzt von Aneta Košková [neu aufgenommen]
  5. Samo onaj koji pznaje Boga može spoznati čovjeka, in: Prihvaćanje samoga sebe, Zagreb 2021 (Verbum), ins Kroatische übersetzt von Iva Grubišić Ćurić [neu aufgenommen]

Kommentar (Helmut Zenz)

In seinem Beitrag "Nur wer Gott kennt, kennt den Menschen" setzte er sich mit sechs sich widersprechenden Typen gegenwärtiger Menschenbilder auseinander, nämlich den Menschenbildern des Materialismus, Idealismus, Soziologismus, Individualismus, Determinismus und Existenzialismus: Als erstes beschrieb Guardini das materialistische Menschenbild, "das im Anlauf zur Französischen Revolution entstanden ist, im neunzehnten Jahrhundert entwickelt wurde und heute das totalitäre Denken bestimmt: Was es gibt, ist nach ihm nur die Materie." Die darin enthaltene Anspielung auf Rousseau, Marx und die Linkshegelianer sowie den leninistisch-stalinistischen Kommunismus wird noch deutlicher, wenn er im Gegensatz dazu das Menschenbild des Idealismus zeichnete, das "von den großen Systemen des ausgehenden achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts entwickelt“ worden sei: „Danach ist das Erste und Eigentliche der Geist, und zwar der absolute, der Weltgeist." Ohne dass er Hegel explizit nennen würde, ist dieser aufgrund der Anführung des absoluten Weltgeistes hier doch eindeutig gemeint.

Das soziologistische Menschenbild, das "aus dem Erlebnis der gesellschaftlichen Zusammenhänge" hervorgegangen sei, vertrete dagegen die Auffassung, dass „der Einzelne für sich ... nichts“ und „nur aus dem Ganzen heraus“ etwas. „So ist der Mensch Erzeugnis und Organ des Soziallebens, sonst nichts."

Nach dem individualistischen Menschenbild sei dagegen nur der Einzelne "wirklich Mensch"; "in der Vielzahl verschwindet das Eigentliche. Nur als Einzelner ... hat er Verantwortung und Würde. Sobald Viele sind, entsteht die Masse, die nur Objekt sein kann."

Das deterministische Menschenbild sehe "alles nach unabänderlichem Zwang geschehen: ... Freiheit ist Illusion. Sie ist nur eine besondere Art, wie die allbeherrschende Weltordnung sich im Menschen durchsetzt."

Dagegen denke sich das existenzialistische Menschenbild "den Menschen vollkommen frei: ... In jedem Augenblick entscheidet er aus einer souveränen, richtiger gesagt, verzweifelten Freiheit über sein Tun. Er setzt sich selbst seinen Sinn. Ja er bestimmt sein eigenes Sein."

Weder das materialistische noch das idealistische, weder das soziologistische noch das individualistische, weder das deterministische noch das existenzialistische Menschenbild könnten nun aber den Menschen wirklich begreifen, auch nicht in irgendwelchen Kombinationen.

Tatsächlich, so war Guardini überzeugt, sei der Mensch sich selbst unbegreiflich: "Seine unzähligen Versuche, sich zu deuten, spielen immer wieder zwischen den beiden Polen: sich absolut zu setzen, oder sich preiszugeben; den höchsten Anspruch auf Würde und Verantwortung zu erheben, oder sich einer Schmach auszuliefern, die um so tiefer ist, als sie gar nicht mehr empfunden wird."

Letztlich würden diese "zwei große Fronten" zwischen absoluter Autonomie und absoluter Heteronomie – bei Guardini wie gesehen auch „Allonomie“ genannt - die eigentliche Dinge entscheiden. In beiden Fällen erhebe man jedoch "den Anspruch ..., sein Dasein und sein Werk aus“ sich „selbst heraus zu verstehen“. Auf einer ganz anderen Ebene und "durch die Wirrnis der verschiedenen politischen, wirtschaftlichen, kulturellen Gegensätze, welche die Welt erfüllen“, stünden diese Menschen, die sich autonom oder heteronom deuten, jenen gegenüber, die ihren „Namen immerfort aus dem Namen Gottes, und seinen Auftrag vom wirklichen Herrn“ empfangen würden, die also von der Theonomie ausgehen. Dabei wird nun abermals deutlich, dass Guardini sein personales Menschenbild nicht auf einer Entgegensetzung von Autonomie und Theonomie aufbaut, sondern die Theonomie ist bei ihm die notwendige lebendig-konkrete Spannungseinheit zwischen Autonomie und Allonomie, allerdings konzentriert in der Form der „Christonomie“. Dies schließt aber automatisch auch jene Haltung aus, die die Theonomie selbst absolut setzt. Dies würde nämlich bedeuten, sie zu einem neuen Gegensatzpol, ja sogar zu einem Widerspruch zu konstruieren und zu degenerieren. Nur Christus ist theologisch gesehen wahrer Mensch und wahrer Gott zugleich, lebendig-konkrete Spannungseinheit auch in dieser Hinsicht.

Guardini vertritt hier erneut eine ähnliche Haltung zur theologischen Ethik wie auf evangelischer Seite Dietrich Bonhoeffer. In dessen zwischen 1940 und 1943 niedergeschriebenen Manuskripte zur „Ethik“ geht es um die Erfassung des Willens Gottes und der Wirklichkeit der Welt im Sinne einer „unbedingten Hingabe zur Welt“. Weil Gott selbst die „Liebe ist, weiss nur, wer Gott kennt“, was Liebe ist. Dies gilt aber nicht umgekehrt. Allein durch die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus kennen wir Gott und diese Offenbarung kommt unserer Liebe zuvor: „Nicht in uns, sondern in Gott, hat die Liebe ihren Ursprung. Nicht ein Verhalten des Menschen, sondern ein Verhalten Gottes ist die Liebe (1. Joh 4,10). Was Liebe ist, erkennen wir allein in Jesus, und zwar in seiner Tat für uns. Es wäre aber falsch, wenn wir aus dem Handeln Jesu eine Definition der Liebe gewinnen wollten. Nicht was er tut oder leidet, sondern was er tut und leidet, ist Liebe. Liebe ist immer Er selbst.“

Weil dieses Bewusstsein, dieses Erbe durch einen revolutionären und antichristlichen Säkularisierungsvorgang verfallen und es mit der französischen Revolution zu einem „Kult der ratio“ und einer Naturvergötterung gekommen sei, kam es durch die befreite Ratio zwar zu einer „Enthüllung des befreiten Menschen“ und zur „Entdeckung der ewigen Menschenrechte“. Das ging einher mit Fortschrittsglauben, Technik und Kulturkritik, Massenbewegungen und Aufstand des Bürgertums, Nationalismus und Kirchenfeindlichkeit, aber eben auch zu einer ungeheuren Gewalt und entsetzlicher Verzerrung bis hin zu diktatorischem Terror. War Ratio und Glauben gegeneinander ausspielt, kann zwar die Menschenrechte entdecken, aber nicht in ihrer Gottverbundenheit erkennen und nicht in der Wirklichkeit der Welt verankern.

Rezeption

Guardini sah sich mit seinem programmatischen Satz „Nur wer Gott kennt, kennt den Menschen“ einigen Missverständnissen ausgesetzt.

August Everding

Eines davon brachte August Everding auf den Punkt: „Da keiner von uns Gott kennt, kennen kann und auf Erden kennen wird, kennt keiner von uns den Menschen. Und keiner weiß, warum der Gott, der sich um jedes Haar kümmert, so viele verhungern, verkommen, verrecken läßt …“ Dieses Missverständnis liegt darin, dass die Rede auf dem Katholikentag sich im Wesentlichen an christliche Hörer richtete, bei denen Guardini die hinter diesem Satz stehende johannäische Theologie der Selbstoffenbarung Gottes in Christus voraussetzen konnte.

Harald Seubert

Wie Harald Seubert richtig konstatiert, sieht Guardini gegenüber der „ungezügelten Macht am Ende der Neuzeit“ nur zwei Begrenzungsmöglichkeiten; „einerseits durch Herrschaft …, eine `Maiestas´, die sie als Abbild einer sie transzendierenden meta-physischen Wirklichkeit zu erkennen gibt; und andererseits durch `DEMUT´, eine Kultur des Dienstes, die Guardini modern als `Sachlichkeit´ denkt.“ Wie Guardini in seiner Schrift „Das Ende der Neuzeit“ beschrieben hat, nötige Sachlichkeit „dazu, eine `furchtbare, aber heilende Klarheit´ … im Wissen um die Gegenwart zu gewinnen.“ Guardinis Überzeugung, dass „sich die säkulare Welt am Ende der Neuzeit zur `unbedingten Unchristlichkeit´ radikalisiert“ und „zur neuen Wildnis … ein neues Heidentum“ komme, „das den neuzeitlichen Anschein, nominell noch in christlicher Tradition zu leben, abstreifen wird“, betreffe ja gerade auch Themen wie die Menschenrechte. Wenn „ein Dasein ohne Christus … unverhüllt Gestalt“ gewinne, werde auch die christliche Wurzel der Menschenrechte und damit aber auch die Menschenrechte insgesamt „aus dem allgemeinen Bewußtsein getilgt werden.“

Bernhard Sutor

Bernhard Sutor betont, dass die moderne Wissenschaft der reinen Vernunft verpflichtet sei und methodisch sogar gar nicht mit Gott rechnen dürfe. Von daher könne der christliche Glaube der modernen Wissenschaft gegenüber „nur als Kontrapunkt ins Gespräch gebracht werden, als eine andere, weitere Perspektive gegenüber den säkularen Wissenschaften.“ So versuche zum Beispiel auch die Christliche Soziallehre „die Menschenwürde aus der Vernunft zu begründen; aber über die Vernunft hinaus auch aus dem Glauben gemäß dem Grundsatz Guardinis: Nur wer Gott kennt, kennt den Menschen. Und sie begründet sie biblisch aus der Gottesebenbildlichkeit des Menschen.“

Joseph Ratzinger

Joseph Ratzinger hat diesen Gedanken auch noch als Papst Benedikt XVI. desöfteren aufge-griffen, unter anderem in seiner Ansprache am 13. Mai 2007 zur Eröffnungssitzung der V. Generalversammlung der Bischöfe Lateinamerikas und der Karibik im brasilianischen Marienwallfahrtsort Aparecida. Weil im 20. Jahrhundert sowohl die marxistischen als auch die kapitalistischen Systeme nur die materiellen Güter, die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Probleme als „Wirklichkeit“ gesehen hätten, seien sie zu einem zerstörerischen Irrtum geworden: „Sie verfälschen den Wirklichkeitsbegriff durch die Abtrennung der grundlegenden und deshalb entscheidenden Wirklichkeit, die Gott ist. Wer Gott aus seinem Blickfeld ausschließt, verfälscht den Begriff `Wirklichkeit´ und kann infolgedessen nur auf Irrwegen enden und zerstörerischen Rezepten unterliegen. Die erste grundlegende Aussage ist also folgende: Nur wer Gott kennt, kennt die Wirklichkeit und kann auf angemessene und wirklich menschliche Weise auf sie antworten. Angesichts des Scheiterns aller Systeme, die Gott ausklammern wollen, erweist sich die Wahrheit dieses Satzes als offenkundig.“

Damit stellt sich aber die Frage nach der Gotteskenntnis und der einzigen und unersetzlichen Bedeutung Christi für die Christen, letztlich für die Menschheit: „Wenn wir nicht Gott in Christus und durch Christus kennen, verwandelt sich die ganze Wirklichkeit in ein unerforschliches Rätsel; es gibt keinen Weg, und da es keinen Weg gibt, gibt es weder Leben noch Wahrheit.“

Bei seiner Predigt während des ökumenischen Gottesdienstes am 23. September 2011 im Erfurter Augustinerkloster ergänzt Papst Benedikt XVI.: „`Nur wer Gott kennt, kennt den Menschen´, hat Romano Guardini einmal gesagt. Ohne Erkenntnis Gottes wird der Mensch manipulierbar. Der Glaube an Gott muss sich in unserem gemeinsamen Eintreten für den Menschen konkretisieren. Zum Eintreten für den Menschen gehören nicht nur diese grundlegenden Maßstäbe der Menschlichkeit, sondern vor allem und ganz praktisch die Liebe, wie sie uns Jesus im Gleichnis vom Weltgericht lehrt (Mt 25).“

Walter Kasper

Auch Walter Kasper hat bei seiner „theologischen Bestimmung der Menschenrechte im neuzeitlichen Bewußtsein von Freiheit und Geschichte“ in Guardini durchaus einen Vorläufer im Grundsätzlichen, weshalb er sich zu Unrecht gegen Guardinis Rede vom „Empörungsglauben des Autonomismus“ abgrenzt und ihm eine fehlende Wertschätzung der Autonomie unterstellt. Gerade aufgrund der Gleichwürdigkeit des Pols Autonomie im Rahmen der Gegensatzlehre Guardinis stellte sich diese Kritik an Guardini als nicht haltbar heraus. Für ein dialogisch-personales Freiheits- und Geschichtsverständnis ist es eben gerade kein Widerspruch, sich für eine sich polar verstehende Autonomie auszusprechen, einen ideologischen Autonomismus hingegen klar abzulehnen, zumal Kasper ja selbst die Grundposition eines modernen radikalen Autonomismus mit den Worten zusammenfasst: „Ein allmächtiger Gott darf nicht sein, wenn menschliche Freiheit sein soll. Die radikal verstandene Autonomie des Menschen schliesst jede Theonomie radikal aus.“ Kasper steht also Guardini wesentlich näher, als er in seinem eigenen Polaritäts-denken vermutet, wenn er formuliert: „Das Stichwort und Programmwort, in dem sich die neuzeitliche Emanzipationsgeschichte und damit die neuzeitliche Vernunft zusammenfassend artikulieren, lautet: Autonomie. Das Verhältnis von christlicher Theonomie und neuzeitlicher Autonomie steht deshalb heute unabweisbar an erster Stelle der theologischen Tagesordnung.“ Ohne Frage gilt auch für Guardini der Satz Kaspers: „Die Theonomie setzt menschliche Autonomie voraus, weil Gott seine Ehre und Verherrlichung durch ein freies Geschöpf will.“ Genauer heißt das im Blick auf das christliche Verständnis: „Die christlich verstandene Theonomie setzt eine recht verstandene Autonomie des Menschen frei. Theonomie und Autonomie wachsen nicht im umgekehrt proportionalen Verhältnis, sondern im gleichsinnigen Verhältnis.“ Es handelt sich also um eine christologische Theonomie, die der Autonomie ihre Bestimmung gibt: „Von der Theonomie der Schöpfungs- wie der Heilsordnung, näherhin von der Christologie her ergibt sich eine inhaltliche Bestimmung der unbestimmt offenen Autonomie.“ Übertragen auf das Verhältnis von Christologie und Anthropologie bedeutet das: „Die Christologie setzt eine Anthropologie voraus. … Die Christologie setzt den Menschen als ein offenes und als ein steigerungsfähiges Wesen voraus.“ Genau hierin sieht Walter Kasper im Anklang an Romano Guardini den „neuen christlichen Humanismus“ begründet: „Wenn für eine solche Christologie Theonomie und Autonomie keine Gegens-ätze sind, wenn vielmehr vollkommene Gemeinschaft und Freundschaft mit Gott menschliche und christliche Freiheit begründet, dann wird das christologische Dogma zur Grundlage eines neuen christlichen Humanismus.“

Auch für Guardini ist die Aufklärung „die wohl bedeutendste Revolution, welche das Abendland hervorgebracht hat“ und in deren Zentrum als Kern des Humanismus die „Autonomie“ stehe. Allerdings sollte diese Revolution auch „dafür sorgen, dass Autonomie zum Autonomismus, zum eudämonistischen Subjektivismus erklärt wird, zum Banner der Revolte gegen jedes Gesetz, das als an sich FREMDES Gesetz angesehen wird.“ Was Kasper allerdings übersieht, ist der Umstand, dass bei Guardini Theonomie eben nicht selbst der Pol zur Autonomie, sondern die Spannungseinheit für die polare Gegensetzung von Autonomie und Heteronomie darstellt. Daher gibt es auch bei ihm keinen Gegensatz zwischen Autonomie und Theonomie, überspannt die Theonomie die notwendigen Pole Autonomie und Heteronomie. Der Mensch kann sich nicht einfach der Heteronomie „entziehen“, sondern muss sie mit in seine lebendig-konkrete Wirklichkeit einbeziehen, um nicht durch eine Rückkopplung seine Autonomie aus Überforderung oder Zwang an diktatorische, manipulative Systeme und Es-Mächte preiszugeben.

Gotthard Fuchs

Aus einer Arbeit von Gotthard Fuchs über Alfred Delp zeigt sich ebenfalls, wie nahe im Theonomie-Autonomie-Verständnis Guardini und Delp sich stehen, aber auch hier gilt, dass Guardini im Blick auf die Stellung der Heteronomie darüber hinaus-geht. Theonomie ist für Guardini eben nicht eine Form der Heteronomie, sondern eine die Autonomie und Heteronomie in Spannung belassende Einheit. Sowohl Guardinis als auch Delps Theonomie wären „falsch verstanden, würde damit die gottgeschenkte Autonomie des Menschen als Ebenbild Gottes durchkreuzt oder vernachlässigt. Ganz im Gegenteil. Gott entsprechend, also theonom, ist der Mensch dann, wenn er aus der Bindung an die transzendente, an die göttliche Wirklichkeit gerade den Mut und die Demut gewinnt, wahrhaft Mensch zu werden – nicht auf sich selbst verkrümmt, sondern beziehungsstark in Gottes- und Nächstenliebe, selbstbewusst und selbstlos, innerlich frei und gerade deshalb verschwenderisch sich verausgabend zum Wohl der Mitmenschen und der Gesellschaft.“ Im „dritten Weg“ gehören bei Delp also „theonomer Humanismus“ und „personaler Sozialismus“ zusammen. Letzterer wurde von Delp auch als „Sozialismus des Existenzsminimus“ beschrieben, verstanden als „allseits akzeptierte Menschenwürde“ verbunden mit „einem entsprechenden Grundeinkommen für Jedermann“. Fuchs betont weiter: „Delps Verständnis von `THEONOMIE´ bliebe solange missverstanden, als man Gott als Konkurrenten des Menschen denkt. Aber Delps zutiefst christozentrische und weihnachtliche, geburtliche Leidenschaft lebt aus der glühen-den Überzeugung, dass der wahre, der lebendige und größere Gott immer der ist, der den Menschen als seinen Partner sucht und um seine Mitliebe, seine Mitarbeit und sein Mitleiden förmlich bittet.“ Letztlich vertrete Delp damit eine „beziehungsstark trinitarische gedachte“ Theonomie und insistiere „auf Menschenwürde und Menschenrecht, auf dem unzerstörbaren Kern und dem inneren Existenzminimum für alle.“ Wie Guardini geht also auch schon Delp einer starken und unlösbaren Bindung der Menschenrechte an das Christentum und den Offenbarungsglauben aus.

Heinz Guaradze und Heiner Bielefeldt

In ausschließlich säkularen Ohren klang dieser Anspruch aber natürlich als Vereinnahmung, die postwendend zurückgewiesen wurde. So nahm 1956 der Völkerrechtler Heinz Guradze (1898-1976) eine klare Gegenposition ein. In seinem Buch „Der Stand der Menschenrechte im Völkerrecht“ wies er den von Guardini erhobenen Anspruch, dass die Menschenrechte unlösbar mit dem Christentum und dem Offenbarungsglauben verbunden seien, gerade im Blick auf ihre Universalisierbarkeit zurück. „Träfe das zu, so wäre es um ihre Universalität geschehen. In den Beratungen der Ausschüsse der VN haben nicht-christliche Staaten und solche mit großen nicht-christlichen Minderheiten wie Indien und Libanon eine hervorragende Rolle gespielt, während Staaten mit alter christlicher Tradition kläglich versagt haben.“

Auch Heiner Bielefeldt steht jeglicher „kulturgenetischen Vereinnahmung“ der Menschenrechtsidee ablehnend gegenüber.

Dieser Abwehr liegt aber im Blick auf Guardini ein Missverständnis zugrunde, da er diese unlösbare Bindung nicht vom „Ethos“, sondern vom „Logos“ her formuliert. Über die reale Praxis der christlichen Kirchen gegenüber den Menschenrechten oder ihre Einflussnahme auf den Entwicklungsprozess der Menschenrechte sagt Guardini überhaupt nichts aus, sondern über die Möglichkeit diese religiös zu begründen. Eine personale Begründung der Menschenrechte setzt im Religiösen ein relational-personalen Gottesverständnis voraus. Und diesen sieht er eben nur im christologisch-trinitarischen Gottesverständnis verwirklicht und verwirklichbar. Dies sagt nichts darüber hinaus, ob auch im außerchristlichen Bereich, Menschenrechte verwirklicht werden können, und ebensowenig darüber, warum auch in Ländern mit christlicher Tradition Menschenrechte nur zögerlich politisch umgesetzt wurden und werden. Dies rührt aber bereits an jene Fragen, die Hans Küng in seinem „Projekt Weltethos“ angeht , und an die seit den achtziger Jahren immer stärker im Mittel-punkt stehenden Frage der „Universalität der Menschenrechte“, die in vielfältiger Weise im säkularen und interreligiösen Dialog gestellt wurde. Guardini ist der Frage der Universalisierbarkeit gerade aufgrund seines dialogischen Personalismus sicherlich nicht ausgewichen, blieb aber der Überzeugung, dass diese von christlicher Seite nur durch ein klares Bekenntnis zum christlichen, personalen, trinitarischen Gott, der die Liebe ist, Geltung verschafft werden könne. Für Guardini hat auch der „Logos der Welt“ Vorrang vor einem „Ethos der Welt“. Und für Christen könne dieser „Logos der Welt“ nur Jesus Christus sein: „Jesus Christus ist der Logos der Welt, das Ur-Wort und Wesens-Bild alles Seienden - Er ist auch die Antwort auf das Wertverlangen und das Ziel für die Liebesbewegung der Welt. Alles Seiende kommt von Ihm, hat in Ihm sein Ur-Bild und seine Sinn-Wurzel - alles Seiende kehrt zu Ihm zurück.“

In seinen Ethik-Vorlesungen fasste Guardini seine Haltung noch einmal eindrücklich zusammen: „Wir haben gesehen, daß sich vom Beginn der Neuzeit an eine nicht-christliche Kultur herausarbeitet. Die Negation richtet sich lange Zeit hindurch nur auf den Offenbarungsgehalt selbst; nicht auf die ethischen, sei es individuellen, sei es sozialen Werte, die sich unter seinem Einfluß entwickelt haben. Im Gegenteil, die neuzeitliche Kultur behauptet, gerade auf diesen Werten zu ruhen. Dieser weithin von der Geschichtsbetrachtung angenommenen Ansicht nach sind z. B. die Werte der Personalität, der individuellen Freiheit, Verantwortung und Würde, der gegenseitigen Achtung und Hilfsbereitschaft im Menschen angelegte Möglichkeiten, welche von der Neuzeit entdeckt und entwickelt worden sind. Wohl habe die Menschenbildung der christlichen Frühzeit ihr Keimen gefördert, ebenso wie die religiöse Pflege des Innenlebens und der Liebestätigkeit während des Mittelalters sie weiter entwickelt habe. Dann aber sei die personale Autonomie ins Bewußtsein getreten und zu einer vom Christentum unabhängigen, natürlichen Errungenschaft geworden. Diese Ansicht findet vielfachen Ausdruck; einen besonders repräsentativen in den Menschenrechten der französischen Revolution. In Wahrheit sind diese Werte und Haltungen an die Offenbarung gebunden. Letztere steht nämlich zum Unmittelbar-Menschlichen in einem eigentümlichen Verhältnis. Sie kommt aus der Gnadenfreiheit Gottes, zieht aber das Menschliche in ihren Zusammenhang, und es entsteht die christliche Lebensordnung. Dadurch werden im Menschen Kräfte frei, die an sich »natürlich« sind, sich aber außerhalb jenes Zusammenhanges nicht entwickeln würden. Werte treten ins Bewußtsein, die an sich evident sind, aber nur unter jener Überwölbung sichtbar werden. Die Meinung, diese Werte und Haltungen gehörten einfachhin der sich entwickelnden Menschennatur an, verkennt also den wirklichen Sinnverhalt; ja sie führt - man muß es geradeheraus sagen dürfen - zu einer Unredlichkeit, die denn auch für den genauer Blickenden zum Bilde der Neuzeit gehört.“