"In der Kraft des inneren Wölbens"

Aus Romano-Guardini-Handbuch
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„In der Kraft des inneren Wölbens."
Geist, Sinn und Wesen "katholischer" Räume nach Romano Guardini
Vortrag am 13. November 2024 in Berlin von Helmut Zenz
Über das Verhältnis von christlicher Innerlichkeit und Kunst-Raum im sakral-liturgischen Kultraum, im heilig-religiösen Andachts-Raum und im profan-spirituellen Alltags-Raum

Im Aufbau

Übung: Das Kreuzzeichen als Heiliges Zeichen des Innenraums

In der Übung "Das Kreuzzeichen" im Anschluss an Guardinis "Von heiligen Zeichen: Das Kreuzzeichen" richten wir den Blick auf das christliche Dreifach-Gebot der Selbst-, Nächsten und Gottesliebe mit allen vier inneren Vermögen des Menschen.

In der Vertikale liegt:

  1. äußerlich die Stirn, hinter der das Gehirn der Sitz unseres Verstandes, unseres Denkens, unserer Gedanken ist - wir sollen mit ganzem Verstand, allen Gedanken (ganzem Wissen) lieben
  2. äußerlich die Bauchdecke, hinter der die Verdauungsorgane sitzen, die als Sitz unserer Gefühlskräfte angesehen werden - wir sollen mit allen (Gefühls-)Kräften lieben

In der Horizontale:

  1. äußerlich leicht links der größte Teil unseres Herzens, gemeinhin als Sitz unseres Gewissens betrachtet - wir sollen mit ganzem Herzen (ganzem Gewissen) lieben
  2. äußerlich leicht links der größere unserer beiden Lungenflügel, auch als Sitz unserer frei atmenden Seele angesehen - wir sollen mit ganzer Seele (ganzem Gemüt) lieben.

Das unterscheidend Christliche liegt dabei zum einen:

  1. in der - im Unterschied zum Egoismus - positiv gesehenen Selbstliebe (bei Guardini: Selbstannahme) als Voraussetzung der Nächsten- und Gottesliebe!
  2. in der Betonung, dass wir Gott und den Nächsten wie uns selbst auch mit ganzem Verstand, allen Gedanken lieben sollen!

Das Kreuzzeichen umgreift daher zeichenhaft den gewölbten geistigen Innenraum des menschlichen Daseins. Diesen Raum ausfüllend erfüllt der Mensch seinen eigenen Sinn.

Im Ritual des Kreuzzeichen können wir uns diese Daseins-Wahrheit vergegenwärtigen und somit immer wieder an den Beginn unserer Daseins-Verwirklichung stellen.

Die christliche Anthropologie des „katholischen“ Raumes

Nach der christlichen Schöpfungslehre steht "Im Anfang" das „Herz Gottes“, der Innen-, Sinn- und Liebesraum der ganzen Schöpfung und das draus strömende Liebes- und Wahrheits-Logos. Logos dabei verstanden sowohl als "Wort Gottes" als auch als "Sinn" und "Geist", als "Wesen".

„Das „beständige Sich-Aufmachen, Sich-Überschreiten, Hinübergehen, Beim-Andern-Anlangen und ebendarin Sichselbst-Finden setzt aber eines voraus: eine ursprüngliche Vertrautheit alles Seins; eine unter aller Fremdheit, unter allem Widerspruch, ja selbst noch unter allem Nicht-sein-Sollenden hingehende Einstimmung. Das ganze Dasein kommt von Gott; ist von seiner Abbildlichkeit durchwaltet; von seiner Liebe durchwirkt. So ist das Dasein nirgendwo in ein absolutes Draußen preisgegeben, sondern steht, als Ganzes, in einer objektiven Innerlichkeit. Es ist von einem Sinn- und Liebesraum umfangen. Dieser Raum ist "Herz" in einem objektiven Sinne, als Hut des Daseins, als Charakter der Welt, und führt zum Begriff des "Herzens Gottes", aus dem alle Schöpfung hervorgeht und in dem alles Geschaffene bewahrt bleibt. Das ist jenes Gewaltige und Selige zugleich, das sich in der Geschichte der Offenbarung schrittweise enthüllt und in der Vaterschaft Gottes, in Kindschaft und Vorsehung seinen entscheidenden Ausdruck erhält.“ (Die Bekehrung des Aurelius Augustinus, S. 72)

Daher stehen alle geschaffenen "Dinge", auch lebendige "Dinge", also Lebewesen im Raum absoluter Erkanntheit Gottes. Im Sinne des Herrschaftsauftrags in der Schöpfungsgeschichte gehört dazu nach christlicher Schöpfungslehre auch das menschlich, also durch Menschen Geschaffene.

Jeder Mensch und jedes geschaffene Ding ist daher ein „katholischer“ Raum. Jeder Mensch ist Kind Gottes und somit Ebenbild des dreifaltigen Gottes und der Leib jedes Menschen ist „Tempel des Heiligen Geistes“ (1 Kor 6, 19) [„templare“, „templatus“, „templum“ hatte ursprünglich mit hoher Wahrscheinlichkeit die Bedeutung „wölben“, „gewölbt“,„Wölbung“!] Jeder Mensch nimmt im menschlichen Schaffen teil an der Schöpferkraft Gottes und kann deshalb selbst „schöpferisch tätig“ werden. Daher liegt aber in jedem menschlichen Werk, insbesondere im Kunstwerk, auch das Spurbild und die Verheißung Gottes zum Ausdruck, wenn vielleicht auch noch so unscheinbar.

In Bezug auf Dantes Vision schreibt Guardini:

„Bei schärferem Zusehen zeigt sich, daß das Leib-Seele-Verhältnis und der darauf beruhende Ausdrucksvorgang auch noch über die Beziehung zwischen Mensch und Aufenthaltsbereich hinausgreift. Das geschieht einmal durch die allgemeine Beziehung, in welcher alles Geschaffene Abbild Gottes, genauer des Logos – des diese Wesensfülle aussprechenden ewigen »Wortes« ist. Die Tatsache, daß das Geschöpf Ebenbild, Abbild, wenigstens Spurbild Gottes ist, tritt an unzähligen Stellen zu Tage ... Das ist der »absolute Akzent«, der auf der Endlichkeit liegt, und durch den sie den begrenzten ewigen Sinn erhält.“ Dann würde Dante „in schönen Gedankenfolgen den Weg der schöpferischen Abbildung von den Sphären bis zum letzten irdischen Ding. Auch dieses trägt noch den »segno ideale«, das Spurzeichen der All-Idee, des Logos in sich. (Par 13,52–78) Der Gedanke wird auch dynamisch ausgedrückt: Durch die Dinge kommt Gottes Sinnfülle auf den Menschen zu.“ (Dantes Göttliche Komödie, S. 191)

Aus Sinn-Raum des Geistes führt der Weg durch Wort und Handlung zum Existenz-Raum des Anderen:

„Das menschliche Gesamtdasein ist nicht so gebaut, daß dem Sein nach fertige und dem Sinn nach zu Ende bestimmte Größen aufeinander bezogen wären. Die Menschen stehen vielmehr im Werden, sind also beständig sich verändernde, sie stehen im Ausdruck, sind also beständig sich selbst mitteilende Größen. Und das alles aus der schöpferischen Innerlichkeit des Geistes und der freien Selbstverfügung der Person, so daß eine ganz andere Art des Aufeinandertreffens und wechselseitigen Beeinflussens entsteht: Begegnung, Selbstmitteilung, Gemeinschaftsbindung, Schicksal. Immerfort tritt das Innere aus der Vorbehaltenheit der Seele, aus dem Sinn-Raum des Geistes, aus der Freiheit der Person durch Wort und Handlung zum anderen hinaus. Immerfort öffnet ein Existenzbereich sich dem anderen, vertrauend, daß jener in den Bezug eintreten, die Selbstoffenbarung verstehen und die Selbstschenkung aufnehmen werde.“ (Die Offenbarung - Ihr Wesen und ihre Formen (1940), S. 4)

Doch diese Selbstschenkung hat eine wichtige Grenze: Um jede Persönlichkeit – und somit um jeden intimen Raum - liegt ein heiliger Ring. Das hat Guardini bereits 1916 festgehalten:

„Der Mensch kann dem Menschen nie Mittel zum Zweck, sondern nur Selbstzweck sein; die Freiheit seines Gewissens, seines Urteils, seines Entschlusses darf nicht angetastet werden. Um jede Persönlichkeit liegt ein heiliger Ring, den niemand überschreiten darf, es sei denn, er öffne sich von selbst; ja, bis zu einem gewissen Grade darf er sich selbst nicht öffnen, ohne sich zu entweihen. Und während der reine Gemeinschaftswille die hinstrebende Bewegung zur freien Hingabe, zum edlen Verlangen, zur sicheren Treue adelt, schafft er ihnen das bändigende Gegenspiel in der Haltung der Ehrfurcht vor der anderen und der geistigen Schamhaftigkeit vor der eigenen Persönlichkeit.“ (Die Bedeutung des Dogmas vom dreieinigen Gott für das sittliche Leben der Gemeinschaft (1916), in: Wurzeln eines großen Lebenswerks - Band 1, S. 50)

Für Guardini gilt dies aber nicht nur in Bezug auf andere Personen, sondern in Bezug auf jedes angeschaute Ding, dessen Innenraum wir betreten. Auch dem Ding, dem (Kunst-)Werk, dem (Kunst-)Raum gegenüber braucht es diese Haltung der Ehrfurcht. Diese Christenpflicht zur Diskretion und Achtung der „Intimsphäre“ besteht gegenüber allen Sinn-Räumen. So teilt Guardini die Ansicht von Francis Jammes:

„Die Gewißheit, daß die Dinge Seelen haben, lebt in den Kindern, in den Tieren und in den Einfältigen.“ (Francis Jammes, Von den Dingen, in: In Spiegel und Gleichnis, S. 65)

Und Buchliebhaber zeichnen sich für Guardini dadurch aus, dass sie in ihren Büchern "lebendige Wesen" erkennen:

„Liebe zum Buch hat jener, der abends in seinem Zimmer sitzt, und es ist still geworden – vorausgesetzt freilich, daß es um ihn, den Glücklichen, dann wirklich still wird – und auf einmal sind ihm die Bücher im Zimmer wie lebendige Wesen. In seltsamer Weise lebendig. Kleine Dinge und doch erfüllt von Welt. Ohne Regung und Laut dastehend, und doch bereit, jeden Augenblick die Seiten zu öffnen und ein Zwiegespräch zu beginnen: stark oder zart, voll Freude oder Trauer, von Vergangenheit erzählend, in die Zukunft weisend oder Ewigkeit rufend, und um so weniger zu erschöpfen, je mehr der zu schöpfen vermag, der zu ihnen kommt.“ (Lob des Buches (1951), Wurzeln eines großen Lebenswerks - Band 4, S. 84)

Gegen diese Vorstellung hat sich "die neuzeitliche Vorstellung vom Erkennen der Welt" gestellt, die nach Guardini in etwa so aussieht:

"Hier bin ich, mit meiner Kraft zu sehen und zu denken. Vor mir, um mich, in mir ist die Natur. Die ist denkfremd. Sie ist bloß seiend. Nun greife ich sie sehend und denkend an und soweit mein Akt reicht, entsteht eine Helligkeit; die heißt Wahrheit. Um deren Bereich her, über ihr, unter ihr ist die Dunkelheit des bloßen Seins ...“ (Ethik, S. 1090).

Die nach-neuzeitliche Vorstellung möchte, ohne restaurative Absichten und im Wissen um eine Erneuerung auf die gegenwärtigen Situationen hin, an „Bewährtem“ und „Menschlich-Unerlässlichen im Neuen“ anknüpfen. So setzt Guardini sein Konzept gegen das der Neuzeit: „Die Welt ist in allem und jedem erkannt. Sie ist aus Erkenntnis heraus geworden.“ Anders als beim Menschen gilt bei Gott:

„Der Schöpfungsakt ist selbst ein Erkenntnisakt. Akt eines Erkennens, der die Dinge schafft, indem er sie in ihre Wahrheit gründet. Alle Dinge stehen im Raum absoluter Erkanntheit. So ist jedes Denken des Menschen das Nachdenken einer Wahrheit, die schon in den Dingen ist; das Nachdenken des Gedankens Gottes. Von diesem Satz müssen wir alles fernhalten, was nach kindischem Nachsprechen eines Vorgesprochenen aussieht. Es ist vielmehr das Höchste, was gesagt werden kann. Ebenso sind alle Dinge gewürdigt. Wenn es in der Genesis heißt: "Gott sah alles, was Er geschaffen hatte, und siehe, es war sehr gut", so ist das ein in seiner Einfachheit gewaltiger Ausdruck der Tatsache, daß die Dinge voll von Sinn, voll von Wert sind. Das Seinsurteil: das Ding dort ist das und das - ist zugleich ein Werturteil: das Ding dort ist durch jede seiner Eigenschaften sinnvoll; ist würdig, zu sein.“ (Ethik, S. 1091)

Damit steht die Welt als Werk Gottes in der Wahrheit, in der Gott sie erkennt:

„Es ist nicht wahr, daß die Welt von sich aus keine Beziehung zur Erkenntnis hat. Es ist nicht so, daß die Welt an sich in der Unerkanntheit stünde, im Dunkeln, in der Verschlossenheit - und erst, wenn der Mensch fragt, würde Wahrheit, öffnete sich das Sein. Das träfe zu, wenn sie Natur wäre. Sie ist aber Werk, und als solches ist sie von vornherein erkannt. Nie war die Welt wesenhaft dunkel. Nie verschlossen. Mit ihrem ganzen Sein steht sie im Licht: in der Wahrheit, in der Gott sie erkennt. Ganz ist sie offen: aufgeschlossen seinem Blick. Der Seinsraum ist zugleich ein Wahrheitsraum, ein Lichtraum, ein Sinnraum. Zum Dunkel wurde er erst im Blick des Menschen, der nicht mehr von Gott wußte. Verschlossen wurde er erst aus dem Herzen heraus, das sich gegen Gott empörte.“ (Über den christlichen Sinn der Erkenntnis (1951), in: Unterscheidung des Christlichen - Band 1: Aus dem Bereich der Philosophie, S. 286)

Guardini fordert dazu auf: "Gib Raum den Dingen" und zwar in der Stille; erkenne den Sinn, den Geist, das Wesen eines Dinges, statt kenne den Zweck und Nutzen ihrer Gestalt und "gebrauche" sie. Der Herrschaftsauftrag umfasst vor allem einen Schutz- und Bewahrungsauftrag:

„Wie tief ist die Stille! Sei doch still auch du. Schweige, Denken. Lege dich, ewiges Verlangen! Gib Raum den Dingen. Sieh, wie sie sacht aus der Verschlossenheit hervortreten; aus dem stummen Dastehen, in das wir sie binden, wenn wir sie nur kennen und brauchen. Sieh, wie jedes in sich selbst tritt; Mitte sich in ihm auftut; alles sich gleichsam selbstet. Und nun gehst du unter wirklichen Wesensdingen. Sie stehen da, und haben ihren Sinn in sich. Sie wesen - mit welch inniger Tiefe fühlt man das Wort! Du tust die Enge weg, mit der sonst dein Auge und dein Griff die Dinge um dein Selbst herum zwingen ...“ (Tagebuch - Kanal an der Iller, in: In Spiegel und Gleichnis, S. 35)

Dabei sieht Guardini die "Ideen" als Wesens- und Wertbegriff, Urbild, Maßstab des Endlichen, als „Wahrheit der Dinge“. Seine Vorstellung von "Ideen" grenzt er aber von der platonischen Vorstellung ab:

„Ein Ding begegnet mir in der Zeit, im Hier und Da, im Wandel des Werdens und Vergehens. Seinen eigentlichen Ort aber hat es in der Ewigkeit, im "währenden Nun", und der ist seine Idee. Die Idee drückt aus, wie das Bedingte im Absoluten steht. Die Ideen sind aber nicht selbständige Wesenheiten, letzte Substanzen wie bei Platon, sondern lebendige Gedanken Gottes. Sie sind Ausdruck der Tatsache, daß der ewig-unendliche Gott das Zeitlich-Endliche will; und zwar will als Bild von ihm selbst, als Teilgabe an seiner eigenen Wesens- und Wertfülle. Die Ideen sind also der Wesens- und Wert-Inbegriff des Endlichen; sein Urbild und Maßstab. Sie sind "die Wahrheit" der Dinge.“ (Eine Denkergestalt des hohen Mittelalters: Bonaventura (1930), in: Unterscheidung des Christlichen - Band 3: Gestalten, S. 16)

Von diesem "Sinnraum der Wahrheit" geht Guardini über in das "Freiwerden des Geistes in der Wahrheit". Auch hier betont Guardini den Unterschied seiner Vorstellung von der neuzeitlichen, der durch Nietzsche und dem Pragmatismus Vorstellung, die von ihm als verhängnisvoller Irrtum gesehen wird. Diese hätten geglaubt, "der Sinn der Wahrheit bestehe in ihrer sichernden, stärkenden, steigernden Wirkung auf das Leben. Danach wäre wahr der Gedanke, der dem Leben nützt; unwahr, der diesem schadet. Dadurch wird die Wahrheit dem Leben untergeordnet und in ihrem Wesen zerstört." Dagegen gilt nach Guardini:

"Die Wahrheit hat aber ihren Sinn rein in sich selbst, in ihrer inneren Gültigkeit und Hoheit. Wahr ist nicht, was nützt, sondern was wahr ist. Und ebendarin besteht der wirkliche Nutzen, den die Wahrheit dem Leben bringt. Denn es ist für dieses von schlechthin entscheidender Bedeutung, an etwas zu gelangen, das ihm nicht dient, sondern vor dem es sich beugen muß; sich beugen nicht seiner Gewalt, noch seiner Vorteile, sondern seiner Hoheit wegen. Tut der Erkennende so, dann gelangt er in den Raum der Wahrheit. So lange er nicht erkennt, ist das Seiende für ihn bloße Vorhandenheit, und der Sinnraum bleibt verschlossen. Noch schlimmer, wenn er Falsches für richtig hält, also irrt; dann ist das Seiende verworren, und der scheinbare Sinn trügt und führt ins Verkehrte. Sobald richtig erkannt wird, wird das Wirkliche in das Licht seines Wesens gestellt, und der Sinnraum der Wahrheit öffnet sich. Der Erkennende tritt ein, richtet sich auf, atmet und entfaltet sich. Dieses Sich-Aufrichten, Sich-Weiten und -Festigen, dieses Freiwerden des Geistes in der Wahrheit ist es, was die platonischen Schriften so mächtig erfüllt; vor allem die Apologie, in welcher Sokrates, vom Erlebnis des Erkennens getragen, sagen kann, der Tod sei kein Übel mehr, und den Phaidon, worin der gleiche Sokrates die kühne Aussage wagt, der Erkennende werde im Schauen der Wahrheit selbst wahrheitsartig und ewigkeitsfähig.“ (Freiheit - Gnade – Schicksal, S. 41)

Durch die Fortführung des Schöpfungsaktes Gottes in die Welt hinein geschieht nach Guardini eine Geburt der „zweiten Welt“. So wie Erkennen gleich bedeutend ist mit: Schauen und Erkennen, was ist! gilt auch für das Gestalten: Es ist gleichbedeutend mit Schaffen und Tun, was ist!

„Ja mehr und tiefer: Der ethische Auftrag besteht ja in der Verantwortung für das Dasein. Der Mensch soll es "bewahren und bebauen". Er soll den Schöpfungsakt Gottes in die Welt hinein fortführen. Er soll die eigentliche, zweite Welt hervorbringen, die aus der Begegnung des Menschen mit der ersten wird. So bedeutet Tun die Gestaltung dessen, was ist. Das bedeutet es sogar schon in seiner inneren Konzeption; denn wenn ich die Tat plane, oder das Werk entwerfe, arbeite ich ja bereits mit den Bildern, die ich aus der Wirklichkeit gewonnen habe. Hierin wurzelt die tiefste Problematik alles Tuns: Er steht einerseits unter der Unerbittlichkeit der Realität, welche fordert, daß ich nicht ins Phantastische, sondern ins Wirkliche hinein handle (Don Quixote); daß das, was ich tue, vom Wirklichen festgehalten werde und Dauer habe - andererseits aber auch unter den Widerständen dieser Realität; der Zufälligkeit und Unzulänglichkeit des jeweils Gegebenen; der Tatsache, daß es oft nicht verfügbar ist, einem anderen gehört usw. Tun bedeutet also, aus dem Innenraum der Erkenntnis und Entscheidung in den des Seienden hinauszutreten.“ (Ethik, S. 148).

Die Gesinnung kommt in einer Haltung zum Ausdruck – der erkannte Sinn erhält seine ihm eigene Gestalt. Beim Menschen also gilt: Erkennen und Gestalten bilden eine zentrale, polare Spannungseinheit christlicher Verwirklichung. Sie sind zu unterscheidende Vorgänge, allerdings nicht zu trennende oder zu vermischende.

In dieser „zweiten Welt“ bilden nun Wissenschaft und Technik seit jeher und ständig neue Räume. Guardini macht dies am "Sinn der Werkzeuge" deutlich:

„Der Sinn der Werkzeuge und ihrer Einheit, der Technik, ist scheinbar die Befriedigung der Zwecke. In Wahrheit erhebt sich aber aus den so entstehenden Gebilden und dem Menschen, der an ihnen arbeitet, etwas Neues: eben eine "Welt". Der wahre Sinn der Technik ist Eroberung und Schöpfung. Trieb und Zweck sind Motoren, die das Ganze in Gang bringen und eine besondere Logik erzeugen, nach der es besteht, die ökonomische. Hinter ihnen aber steht ein Wille, der jenem der Wissenschaft ähnlich ist. Wie es dort darum ging, das Gegebene als Wirklichkeit aufzulösen und es als Erkanntes im Raum der Bedeutung aufzubauen, so auch hier; die Natur in ihre Stoffe, Energien, funktionelle Einheiten aufzulösen und als Werkzeug und Maschine neu aufzubauen. Daraus entsteht eine neue Schönheit. Sie stellt sich ein, sobald Werkzeug oder Maschine zur Vollendung gelangen. Sie liegt nicht in der Zweckerfüllung als solcher, sondern darin, daß die Sinnhaftigkeit einer neuen, in sich gültigen Welt anschaubar wird.“ (Die Bereiche des menschlichen Schaffens (1938), in: Unterscheidung des Christlichen - Band 1: Aus dem Bereich der Philosophie, S. 232)

Der Sinn und Wille der Wissenschaft ist demnach, „Erkanntes im Raum der Bedeutung aufzubauen“. Der Sinn und Wille der Technik ist es, diese „Bedeutung“ der Natur im Raum der Konstruktion wieder neu sichtbar zu machen. Dies ist „theoretisch“ auch „ohne Sinn“ möglich, wäre dann aber im Letzten eben auch sinn-los.

Nun ist gerade durch die moderne Technik der Teleskop- und Mikroskop-Fotografie der Welt-Innenraum als Makro- und Mikrokosmos „abbildbar“ und spirituell wahrnehmbarer geworden. Dies hat Guardini schon für die Bilder von der Milchstraße und den kosmischen Nebeln beschrieben, nämlich in seinem Text „Die Entfernung des Andromedanebels". Dabei handelt es sich um Gedanken zu der von Max Wolf 1925 in der Reihe "Das Weltall im Bild" veröffentlichten Bilder. Ähnliches könnte er auch für Proteine aus der „Nano-Welt“, die jüngst (2023) durch Mikroskop-Fotografie noch einmal wesentlich deutlicher und detailreicher wahrnehmbar geworden sind.

Nun werden - wie Guardini im Anschluss an Augustinus betont - durch die „Orte“ im schlechthinnigen „Innern“ und „Oben“ der göttlichen Entrücktheit die Achse des menschlichen Daseins bestimmt und mit ihm ebenso jedes von Menschen gebildeten Raumes. Guardini schreibt nämlich über eine Stelle im dritten Buch der „Confessiones“ des hl. Augustinus:

„Du aber warst innerlicher als mein Innerstes und höher als mein Höchstes. Wo warst Du nur damals, und wie fern von mir? Und fern wanderte ich, von Dir ausgeschlossen. (3, 6, 11) Die christliche Innerlichkeit ist jener lebendige Raum, der entsteht, wenn die tiefer als alles Menschliche liegende Tiefe Gottes sich im wirklichen Menschen zur Geltung bringt; von diesem - wie, steht dahin - erfahren, mitvollzogen, angeeignet wird. [….] In der […] Stelle tritt auch das Gegenphänomen zum "Drinnen" hervor: das "Darüber". Beide Bestimmungen zusammen ergeben erst das Ganze der geistlichen Transzendenz. Deren Polrichtungen gehen nach "Innen" und nach "Oben", den Strebungszielen des Geistes. [8: So liegen die echten Pole des existentiellen Raumes und der Welt der Werte nicht im "Oben" und "Unten". Die Bestimmungen "Oben" und "Unten" bedeuten Verhältnisbeziehungen und Maßunterschiede. Polarität ist etwas anderes. Zu ihr gehört die Wert-Ebenbürtigkeit in der Sinn-Verschiedenheit. Dadurch unterscheidet sich z.B. die christliche Gegensätzlichkeit, wie sie dem johanneischen Daseinsbau zugrunde liegt, von jeder dualistischen.] Dort, im schlechthinnigen "Innern" und "Oben" ist Gott. Diese "Orte" der göttlichen Entrücktheit bestimmen die Achse des menschlichen Daseins. Daran wird der Mensch "aufgebaut" - und in dem Grade wird er eigentlicher Mensch, als diese Ordnung in ihm zur Geltung kommt.“ (Die Bekehrung des Aurelius Augustinus, 37)

Guardini spricht daher vom "Räumigwerden des konkreten Menschen" von Gott her:

„Christliche Innerlichkeit ist kein Raum in uns, der bereitstünde und in den Gott kommen könnte; sondern der zur Verwirklichung seines Reiches kommende Gott wirkt selbst die innere Tiefe und Weite, in der er wohnen will. Sie hängt an Gott und kann nur von ihm empfangen werden. Wenn aber Gott sie gibt, dann wird sie im leibseelischen Sein verwirklicht, und das bedeutet zugleich auch ein Räumigwerden des konkreten Menschen, ein Erstarken und Innigwerden der Akte und Zustände, ein Aufsteigen innerer Welt, worin der Mensch überhaupt erst zu dem wird, was der Schöpfer gewollt hat.“ (Welt und Person, S. 56)

Dieses Erstarken und Innigwerden wird durch den Glauben an den Heiligen Geist weiter verstärkt: Denn im Bewusstsein, dass der im Heiligen Geist gebildete neue christliche Raum die Innerlichkeit sowohl des glaubenden Einzelnen als auch der Kirche ist und zwar wechselseitig bezogen und eins, gibt eine Sicherheit, dass "Er [Christus] aufs neue bei uns Menschen" ist; "an den Wurzeln alles Geschehens; im Innersten jedes Glaubenden; im Innersten des gläubigen Gesamts, der Kirche; als Gestalt, Macht, Führung und Einheit":

"Indem Er den allgemeinen geschichtlichen Raum des offenen Dastehens verläßt, bildet sich im Heiligen Geiste der neue christliche Raum: die Innerlichkeit des glaubenden Einzelnen und der Kirche, wechselseitig bezogen und eins. Darin ist Christus »bei uns alle Tage bis ans Ende der Welt« (Mt 28,20).“ (Der Herr, S. 525)

Daher nehme die Kirche "die Welt sehr ernst".

„Sie weiß, alles ist von Gott geschaffen, von seiner Macht getragen und von seinem Sinn erfüllt. Sie weiß aber auch, daß die Welt voll bannender Macht ist und den Menschen in sich hineinzuziehen sucht. So sehr sie also alles als Gottes Eigentum erkennt und in sein Reich heimholen will, hebt sie doch aus dem Zusammenhang der Welt einen Raum heraus, der in besonderer Weise, losgelöst von allen sonstigen Zwecken und Verwendungen, Gott gehören soll. In ihm soll dem Menschen etwas zu Bewußtsein kommen, was anders ist als Natur und Menschenwerk sonst: das Heilige.“ (Besinnung vor der Feier der heiligen Messe, S. 50)

Abermals verweist Guardini dazu auf die Stille sowie auf die Entdeckung und Einübung der "Kraft des inneren Wölbens":

Die „Stille“ ist in Wahrheit „etwas Volles und Reiches":

"Sie ist die Ruhe des inneren Lebens. Sie ist die Tiefe des verborgenen Stroms. Sie ist gesammelte Anwesenheit, Offenheit und Bereitschaft. Daraus ergibt sich auch, daß sie nichts Dumpfes bedeutet, keine Trägheit, kein untätiges Lasten in sich selber. Die echte Stille ist wach und voll Bereitschaft.“ Die Stille als Aufmerksamkeit führt uns zur Stille vor Gott. In diese Überlegungen hinein fragt Guardini: „Was ist denn eine Kirche? Zunächst ein Bau: Wände, Wölbung, Säulen, Raum. Der bildet aber nur erst einen Teil von dem, was »Kirche« eigentlich bedeutet, ihren Körper. Wenn wir sagen, die heilige Messe vollziehe sich »in der Kirche«, gehört noch etwas anderes dazu, nämlich die Gemeinde. »Gemeinde« — nicht nur Leute. Damit, daß die Besucher zur Tür hereinkommen und in den Bänken knien oder sitzen, ist noch keine Gemeinde da, sondern nur ein Raum mit mehr oder weniger frommen Menschen. Gemeinde entsteht, indem diese innerlich anwesend werden, miteinander Fühlung bekommen und zusammen in den geistlichen Raum treten, ja ihn überhaupt erst öffnen und wölben. Dann ist »Gemeinde« da und bildet — zusammen mit dem äußeren Bau, der sie ausdrückt — jene »Kirche«, in der sich die heilige Handlung vollzieht. Das alles geschieht nur in der Stille. Aus ihr erhebt sich das eigentliche Heiligtum. Es ist wichtig, das einzusehen. Die äußeren Kirchen können zerfallen oder verlorengehen; dann kommt alles darauf an, ob die Gläubigen fähig sind, »Gemeinde« zu bauen, »Kirche« aufzurichten, wo sie gerade sind, wenn auch der äußere Ort noch so armselig oder preisgegeben ist. Also muß diese Kraft des inneren Wölbens entdeckt und geübt werden.“ (Besinnung vor der Feier der heiligen Messe, S. 19)

Für Guardini ist somit die Stille die erste Voraussetzung jedes heiligen Tuns, besonders auch des liturgischen Lebens. Denn nur darin könne der eigentliche „christliche Ort des Daseins“, der „christliche Daseinsraum“ durch Gottes Ruf und durch die Antwort des Angerufenen entstehen. Gerade heute, wo es nach Guardini „keinen objektiv christlich geformten Raum mehr" gebe, sondern dieser "immer neu vom glaubenden Menschen aufgebaut werden":

"Vor allem müßte jedem Gläubigen die Kirche in neuer Weise wichtig werden. Nicht nur als Ort des gemeinschaftlichen Gottesdienstes, von dem ja hier nicht gehandelt wird, sondern als Haus des Vaters, in dem er Heimatrecht hat. Er müßte das Bewußtsein dieses Heimatrechts in sich ausbilden; auf seinen täglichen Wegen hin und wieder in die Kirche eintreten; in ihr Ruhe, Sammlung und innere Lösung, Trost, Mut und Stärkung suchen.“

Über das "Wo" dieses Ortes lässt sich nicht mehr viel "Allgemeingültiges" sagen, da die Verhältnisse, in denen der Einzelne lebt, so verschieden geworden seien. Und es kann daher auch bestimmte Orte nicht mehr als mögliche "heilige Orte" ausschließen, selbst in der widrigsten äußeren Ortlosigkeit kann Gott diesen auftun:

„Der eigentliche »christliche Ort«“ – also der „katholische Raum“ – „ist aber keine feste Stelle, sondern entsteht von Mal zu Mal aus dem lebendigen Verhältnis Gottes zum Menschen. Es ist der Ort des Daseins, den Gott diesem auftut, indem Er sich ihm in Liebe zuwendet und ihn durch den Gang seiner Vorsehung anruft. Der Angerufene aber antwortet mit seinem Glauben, seiner Andacht, seinem Gehorsam. Das ist jenes »hier bin ich!«, durch welches er an den heiligen Ort tritt - und er kann es überall, auch in der widrigsten äußeren Ortslosigkeit vollziehen.“ (Vorschule des Betens, S. 35 f.)

Unnötige Streitfragen aus dem Umfeld Guardinis

Zur Typologie des „katholischen“ Raumes

Abschluss: Ulrich Schaffer „Das Kunstwerk“