"In der Kraft des inneren Wölbens"

Aus Romano-Guardini-Handbuch
„In der Kraft des inneren Wölbens."
Geist, Sinn und Wesen "katholischer" Räume nach Romano Guardini
Vortrag am 13. November 2024 in Berlin von Helmut Zenz
Über das Verhältnis von christlicher Innerlichkeit und Kunst-Raum im sakral-liturgischen Kultraum, im heilig-religiösen Andachts-Raum und im profan-spirituellen Alltags-Raum

Im Aufbau

Übung: Das Kreuzzeichen als Heiliges Zeichen des Innenraums

In der Übung "Das Kreuzzeichen" im Anschluss an Guardinis "Von heiligen Zeichen: Das Kreuzzeichen" richten wir den Blick auf das christliche Dreifach-Gebot der Selbst-, Nächsten und Gottesliebe mit allen vier inneren Vermögen des Menschen.

In der Vertikale liegt:

  1. äußerlich die Stirn, hinter der das Gehirn der Sitz unseres Verstandes, unseres Denkens, unserer Gedanken ist - wir sollen mit ganzem Verstand, allen Gedanken (ganzem Wissen) lieben
  2. äußerlich die Bauchdecke, hinter der die Verdauungsorgane sitzen, die als Sitz unserer Gefühlskräfte angesehen werden - wir sollen mit allen (Gefühls-)Kräften lieben

In der Horizontale:

  1. äußerlich leicht links der größte Teil unseres Herzens, gemeinhin als Sitz unseres Gewissens betrachtet - wir sollen mit ganzem Herzen (ganzem Gewissen) lieben
  2. äußerlich leicht links der größere unserer beiden Lungenflügel, auch als Sitz unserer frei atmenden Seele angesehen - wir sollen mit ganzer Seele (ganzem Gemüt) lieben.

Das unterscheidend Christliche liegt dabei zum einen:

  1. in der - im Unterschied zum Egoismus - positiv gesehenen Selbstliebe (bei Guardini: Selbstannahme) als Voraussetzung der Nächsten- und Gottesliebe!
  2. in der Betonung, dass wir Gott und den Nächsten wie uns selbst auch mit ganzem Verstand, allen Gedanken lieben sollen!

Das Kreuzzeichen umgreift daher zeichenhaft den gewölbten geistigen Innenraum des menschlichen Daseins. Diesen Raum ausfüllend erfüllt der Mensch seinen eigenen Sinn.

Im Ritual des Kreuzzeichen können wir uns diese Daseins-Wahrheit vergegenwärtigen und somit immer wieder an den Beginn unserer Daseins-Verwirklichung stellen.

Die christliche Anthropologie des „katholischen“ Raumes

Der menschliche Daseinsraum und die Achse der christlichen Innerlichkeit

Nun werden - wie Guardini im Anschluss an Augustinus betont - durch die „Orte“ im schlechthinnigen „Innern“ und „Oben“ der göttlichen Entrücktheit die Achse des menschlichen Daseins bestimmt und mit ihm ebenso jedes von Menschen gebildeten Raumes. Guardini schreibt nämlich über eine Stelle im dritten Buch der „Confessiones“ des hl. Augustinus:

„Du aber warst innerlicher als mein Innerstes und höher als mein Höchstes. Wo warst Du nur damals, und wie fern von mir? Und fern wanderte ich, von Dir ausgeschlossen. (3, 6, 11) Die christliche Innerlichkeit ist jener lebendige Raum, der entsteht, wenn die tiefer als alles Menschliche liegende Tiefe Gottes sich im wirklichen Menschen zur Geltung bringt; von diesem - wie, steht dahin - erfahren, mitvollzogen, angeeignet wird. [….] In der […] Stelle tritt auch das Gegenphänomen zum "Drinnen" hervor: das "Darüber". Beide Bestimmungen zusammen ergeben erst das Ganze der geistlichen Transzendenz. Deren Polrichtungen gehen nach "Innen" und nach "Oben", den Strebungszielen des Geistes. [8: So liegen die echten Pole des existentiellen Raumes und der Welt der Werte nicht im "Oben" und "Unten". Die Bestimmungen "Oben" und "Unten" bedeuten Verhältnisbeziehungen und Maßunterschiede. Polarität ist etwas anderes. Zu ihr gehört die Wert-Ebenbürtigkeit in der Sinn-Verschiedenheit. Dadurch unterscheidet sich z.B. die christliche Gegensätzlichkeit, wie sie dem johanneischen Daseinsbau zugrunde liegt, von jeder dualistischen.] Dort, im schlechthinnigen "Innern" und "Oben" ist Gott. Diese "Orte" der göttlichen Entrücktheit bestimmen die Achse des menschlichen Daseins. Daran wird der Mensch "aufgebaut" - und in dem Grade wird er eigentlicher Mensch, als diese Ordnung in ihm zur Geltung kommt.“ (Die Bekehrung des Aurelius Augustinus, 37)

Guardini spricht daher vom "Räumigwerden des konkreten Menschen" von Gott her:

„Christliche Innerlichkeit ist kein Raum in uns, der bereitstünde und in den Gott kommen könnte; sondern der zur Verwirklichung seines Reiches kommende Gott wirkt selbst die innere Tiefe und Weite, in der er wohnen will. Sie hängt an Gott und kann nur von ihm empfangen werden. Wenn aber Gott sie gibt, dann wird sie im leibseelischen Sein verwirklicht, und das bedeutet zugleich auch ein Räumigwerden des konkreten Menschen, ein Erstarken und Innigwerden der Akte und Zustände, ein Aufsteigen innerer Welt, worin der Mensch überhaupt erst zu dem wird, was der Schöpfer gewollt hat.“ (Welt und Person, S. 56)

Dieses Erstarken und Innigwerden wird durch den Glauben an den Heiligen Geist weiter verstärkt: Denn im Bewusstsein, dass der im Heiligen Geist gebildete neue christliche Raum die Innerlichkeit sowohl des glaubenden Einzelnen als auch der Kirche ist und zwar wechselseitig bezogen und eins, gibt eine Sicherheit, dass "Er [Christus] aufs neue bei uns Menschen" ist; "an den Wurzeln alles Geschehens; im Innersten jedes Glaubenden; im Innersten des gläubigen Gesamts, der Kirche; als Gestalt, Macht, Führung und Einheit":

"Indem Er den allgemeinen geschichtlichen Raum des offenen Dastehens verläßt, bildet sich im Heiligen Geiste der neue christliche Raum: die Innerlichkeit des glaubenden Einzelnen und der Kirche, wechselseitig bezogen und eins. Darin ist Christus »bei uns alle Tage bis ans Ende der Welt« (Mt 28,20).“ (Der Herr, S. 525)

Der Herzraum Gottes als "Spurbild" des "katholischen" Raumes

Diese doppelte, aufeinander bezogene Innerlichkeit glaubenden Einzelnen und der Gemeinschaft der Glaubenden wurzelt gemäß der christlichen Schöpfungslehre in Gott selbst. Denn "Im Anfang" steht das „Herz Gottes“, der Innen-, Sinn- und Liebesraum der ganzen Schöpfung und das draus strömende Liebes- und Wahrheits-Logos. Logos dabei verstanden sowohl als "Wort Gottes" als auch als "Sinn" und "Geist", als "Wesen".

„Das „beständige Sich-Aufmachen, Sich-Überschreiten, Hinübergehen, Beim-Andern-Anlangen und ebendarin Sichselbst-Finden setzt aber eines voraus: eine ursprüngliche Vertrautheit alles Seins; eine unter aller Fremdheit, unter allem Widerspruch, ja selbst noch unter allem Nicht-sein-Sollenden hingehende Einstimmung. Das ganze Dasein kommt von Gott; ist von seiner Abbildlichkeit durchwaltet; von seiner Liebe durchwirkt. So ist das Dasein nirgendwo in ein absolutes Draußen preisgegeben, sondern steht, als Ganzes, in einer objektiven Innerlichkeit. Es ist von einem Sinn- und Liebesraum umfangen. Dieser Raum ist "Herz" in einem objektiven Sinne, als Hut des Daseins, als Charakter der Welt, und führt zum Begriff des "Herzens Gottes", aus dem alle Schöpfung hervorgeht und in dem alles Geschaffene bewahrt bleibt. Das ist jenes Gewaltige und Selige zugleich, das sich in der Geschichte der Offenbarung schrittweise enthüllt und in der Vaterschaft Gottes, in Kindschaft und Vorsehung seinen entscheidenden Ausdruck erhält.“ (Die Bekehrung des Aurelius Augustinus, S. 72)

Daher stehen alle geschaffenen "Dinge", auch lebendige "Dinge", also Lebewesen im Raum absoluter Erkanntheit Gottes. Im Sinne des Herrschaftsauftrags in der Schöpfungsgeschichte gehört dazu nach christlicher Schöpfungslehre auch das menschlich, also durch Menschen Geschaffene.

Jeder Mensch und jedes geschaffene Ding ist daher ein „katholischer“ Raum. Jeder Mensch ist Kind Gottes und somit Ebenbild des dreifaltigen Gottes und der Leib jedes Menschen ist „Tempel des Heiligen Geistes“ (1 Kor 6, 19) [„templare“, „templatus“, „templum“ hatte ursprünglich mit hoher Wahrscheinlichkeit die Bedeutung „wölben“, „gewölbt“,„Wölbung“!] Jeder Mensch nimmt im menschlichen Schaffen teil an der Schöpferkraft Gottes und kann deshalb selbst „schöpferisch tätig“ werden. Daher liegt aber in jedem menschlichen Werk, insbesondere im Kunstwerk, auch das Spurbild und die Verheißung Gottes zum Ausdruck, wenn vielleicht auch noch so unscheinbar.

In Bezug auf Dantes Vision schreibt Guardini:

„Bei schärferem Zusehen zeigt sich, daß das Leib-Seele-Verhältnis und der darauf beruhende Ausdrucksvorgang auch noch über die Beziehung zwischen Mensch und Aufenthaltsbereich hinausgreift. Das geschieht einmal durch die allgemeine Beziehung, in welcher alles Geschaffene Abbild Gottes, genauer des Logos – des diese Wesensfülle aussprechenden ewigen »Wortes« ist. Die Tatsache, daß das Geschöpf Ebenbild, Abbild, wenigstens Spurbild Gottes ist, tritt an unzähligen Stellen zu Tage ... Das ist der »absolute Akzent«, der auf der Endlichkeit liegt, und durch den sie den begrenzten ewigen Sinn erhält.“ Dann würde Dante „in schönen Gedankenfolgen den Weg der schöpferischen Abbildung von den Sphären bis zum letzten irdischen Ding. Auch dieses trägt noch den »segno ideale«, das Spurzeichen der All-Idee, des Logos in sich. (Par 13,52–78) Der Gedanke wird auch dynamisch ausgedrückt: Durch die Dinge kommt Gottes Sinnfülle auf den Menschen zu.“ (Dantes Göttliche Komödie, S. 191)

Aus Sinn-Raum des Geistes führt der Weg durch Wort und Handlung zum Existenz-Raum des Anderen:

„Das menschliche Gesamtdasein ist nicht so gebaut, daß dem Sein nach fertige und dem Sinn nach zu Ende bestimmte Größen aufeinander bezogen wären. Die Menschen stehen vielmehr im Werden, sind also beständig sich verändernde, sie stehen im Ausdruck, sind also beständig sich selbst mitteilende Größen. Und das alles aus der schöpferischen Innerlichkeit des Geistes und der freien Selbstverfügung der Person, so daß eine ganz andere Art des Aufeinandertreffens und wechselseitigen Beeinflussens entsteht: Begegnung, Selbstmitteilung, Gemeinschaftsbindung, Schicksal. Immerfort tritt das Innere aus der Vorbehaltenheit der Seele, aus dem Sinn-Raum des Geistes, aus der Freiheit der Person durch Wort und Handlung zum anderen hinaus. Immerfort öffnet ein Existenzbereich sich dem anderen, vertrauend, daß jener in den Bezug eintreten, die Selbstoffenbarung verstehen und die Selbstschenkung aufnehmen werde.“ (Die Offenbarung - Ihr Wesen und ihre Formen (1940), S. 4)

Doch diese Selbstschenkung hat eine wichtige Grenze: Um jede Persönlichkeit – und somit um jeden intimen Raum - liegt ein heiliger Ring. Das hat Guardini bereits 1916 festgehalten:

„Der Mensch kann dem Menschen nie Mittel zum Zweck, sondern nur Selbstzweck sein; die Freiheit seines Gewissens, seines Urteils, seines Entschlusses darf nicht angetastet werden. Um jede Persönlichkeit liegt ein heiliger Ring, den niemand überschreiten darf, es sei denn, er öffne sich von selbst; ja, bis zu einem gewissen Grade darf er sich selbst nicht öffnen, ohne sich zu entweihen. Und während der reine Gemeinschaftswille die hinstrebende Bewegung zur freien Hingabe, zum edlen Verlangen, zur sicheren Treue adelt, schafft er ihnen das bändigende Gegenspiel in der Haltung der Ehrfurcht vor der anderen und der geistigen Schamhaftigkeit vor der eigenen Persönlichkeit.“ (Die Bedeutung des Dogmas vom dreieinigen Gott für das sittliche Leben der Gemeinschaft (1916), in: Wurzeln eines großen Lebenswerks - Band 1, S. 50)

Nun hat sich aber "die neuzeitliche Vorstellung vom Erkennen der Welt" ausgebildet, die nach Guardini in etwa so aussieht:

"Hier bin ich, mit meiner Kraft zu sehen und zu denken. Vor mir, um mich, in mir ist die Natur. Die ist denkfremd. Sie ist bloß seiend. Nun greife ich sie sehend und denkend an und soweit mein Akt reicht, entsteht eine Helligkeit; die heißt Wahrheit. Um deren Bereich her, über ihr, unter ihr ist die Dunkelheit des bloßen Seins ...“ (Ethik, S. 1090).

Die nach-neuzeitliche Vorstellung möchte, ohne restaurative Absichten und im Wissen um eine Erneuerung auf die gegenwärtigen Situationen hin, an „Bewährtem“ und „Menschlich-Unerlässlichen im Neuen“ anknüpfen. So setzt Guardini ein am Bewährten anknüpfendes Konzept gegen das aus seiner Sicht extrem einseitig, dialektisch ausschlagende Konzept der Neuzeit: „Die Welt ist in allem und jedem erkannt. Sie ist aus Erkenntnis heraus geworden.“ Anders als beim Menschen gilt bei Gott:

„Der Schöpfungsakt ist selbst ein Erkenntnisakt. Akt eines Erkennens, der die Dinge schafft, indem er sie in ihre Wahrheit gründet. Alle Dinge stehen im Raum absoluter Erkanntheit. So ist jedes Denken des Menschen das Nachdenken einer Wahrheit, die schon in den Dingen ist; das Nachdenken des Gedankens Gottes. Von diesem Satz müssen wir alles fernhalten, was nach kindischem Nachsprechen eines Vorgesprochenen aussieht. Es ist vielmehr das Höchste, was gesagt werden kann. Ebenso sind alle Dinge gewürdigt. Wenn es in der Genesis heißt: "Gott sah alles, was Er geschaffen hatte, und siehe, es war sehr gut", so ist das ein in seiner Einfachheit gewaltiger Ausdruck der Tatsache, daß die Dinge voll von Sinn, voll von Wert sind. Das Seinsurteil: das Ding dort ist das und das - ist zugleich ein Werturteil: das Ding dort ist durch jede seiner Eigenschaften sinnvoll; ist würdig, zu sein.“ (Ethik, S. 1091)

Damit steht die Welt als Werk Gottes in der Wahrheit, in der Gott sie erkennt:

„Es ist nicht wahr, daß die Welt von sich aus keine Beziehung zur Erkenntnis hat. Es ist nicht so, daß die Welt an sich in der Unerkanntheit stünde, im Dunkeln, in der Verschlossenheit - und erst, wenn der Mensch fragt, würde Wahrheit, öffnete sich das Sein. Das träfe zu, wenn sie Natur wäre. Sie ist aber Werk, und als solches ist sie von vornherein erkannt. Nie war die Welt wesenhaft dunkel. Nie verschlossen. Mit ihrem ganzen Sein steht sie im Licht: in der Wahrheit, in der Gott sie erkennt. Ganz ist sie offen: aufgeschlossen seinem Blick. Der Seinsraum ist zugleich ein Wahrheitsraum, ein Lichtraum, ein Sinnraum. Zum Dunkel wurde er erst im Blick des Menschen, der nicht mehr von Gott wußte. Verschlossen wurde er erst aus dem Herzen heraus, das sich gegen Gott empörte.“ (Über den christlichen Sinn der Erkenntnis (1951), in: Unterscheidung des Christlichen - Band 1: Aus dem Bereich der Philosophie, S. 286)

Dabei sieht Guardini die "Ideen" als Wesens- und Wertbegriff, Urbild, Maßstab des Endlichen, als „Wahrheit der Dinge“. Seine Vorstellung von "Ideen" grenzt er aber von der platonischen Vorstellung ab:

„Ein Ding begegnet mir in der Zeit, im Hier und Da, im Wandel des Werdens und Vergehens. Seinen eigentlichen Ort aber hat es in der Ewigkeit, im "währenden Nun", und der ist seine Idee. Die Idee drückt aus, wie das Bedingte im Absoluten steht. Die Ideen sind aber nicht selbständige Wesenheiten, letzte Substanzen wie bei Platon, sondern lebendige Gedanken Gottes. Sie sind Ausdruck der Tatsache, daß der ewig-unendliche Gott das Zeitlich-Endliche will; und zwar will als Bild von ihm selbst, als Teilgabe an seiner eigenen Wesens- und Wertfülle. Die Ideen sind also der Wesens- und Wert-Inbegriff des Endlichen; sein Urbild und Maßstab. Sie sind "die Wahrheit" der Dinge.“ (Eine Denkergestalt des hohen Mittelalters: Bonaventura (1930), in: Unterscheidung des Christlichen - Band 3: Gestalten, S. 16)

Von diesem "Sinnraum der Wahrheit" geht Guardini über in das "Freiwerden des Geistes in der Wahrheit". Auch hier betont Guardini den Unterschied seiner Vorstellung von der neuzeitlichen, der durch Nietzsche und dem Pragmatismus Vorstellung, die von ihm als verhängnisvoller Irrtum gesehen wird. Diese hätten geglaubt, "der Sinn der Wahrheit bestehe in ihrer sichernden, stärkenden, steigernden Wirkung auf das Leben. Danach wäre wahr der Gedanke, der dem Leben nützt; unwahr, der diesem schadet. Dadurch wird die Wahrheit dem Leben untergeordnet und in ihrem Wesen zerstört." Dagegen gilt nach Guardini:

"Die Wahrheit hat aber ihren Sinn rein in sich selbst, in ihrer inneren Gültigkeit und Hoheit. Wahr ist nicht, was nützt, sondern was wahr ist. Und ebendarin besteht der wirkliche Nutzen, den die Wahrheit dem Leben bringt. Denn es ist für dieses von schlechthin entscheidender Bedeutung, an etwas zu gelangen, das ihm nicht dient, sondern vor dem es sich beugen muß; sich beugen nicht seiner Gewalt, noch seiner Vorteile, sondern seiner Hoheit wegen. Tut der Erkennende so, dann gelangt er in den Raum der Wahrheit. So lange er nicht erkennt, ist das Seiende für ihn bloße Vorhandenheit, und der Sinnraum bleibt verschlossen. Noch schlimmer, wenn er Falsches für richtig hält, also irrt; dann ist das Seiende verworren, und der scheinbare Sinn trügt und führt ins Verkehrte. Sobald richtig erkannt wird, wird das Wirkliche in das Licht seines Wesens gestellt, und der Sinnraum der Wahrheit öffnet sich. Der Erkennende tritt ein, richtet sich auf, atmet und entfaltet sich. Dieses Sich-Aufrichten, Sich-Weiten und -Festigen, dieses Freiwerden des Geistes in der Wahrheit ist es, was die platonischen Schriften so mächtig erfüllt; vor allem die Apologie, in welcher Sokrates, vom Erlebnis des Erkennens getragen, sagen kann, der Tod sei kein Übel mehr, und den Phaidon, worin der gleiche Sokrates die kühne Aussage wagt, der Erkennende werde im Schauen der Wahrheit selbst wahrheitsartig und ewigkeitsfähig.“ (Freiheit - Gnade – Schicksal, S. 41)

Durch die Fortführung des Schöpfungsaktes Gottes in die Welt hinein geschieht nach Guardini eine Geburt der „zweiten Welt“. So wie Erkennen gleich bedeutend ist mit: Schauen und Erkennen, was ist! gilt auch für das Gestalten: Es ist gleichbedeutend mit Schaffen und Tun, was ist!

„Ja mehr und tiefer: Der ethische Auftrag besteht ja in der Verantwortung für das Dasein. Der Mensch soll es "bewahren und bebauen". Er soll den Schöpfungsakt Gottes in die Welt hinein fortführen. Er soll die eigentliche, zweite Welt hervorbringen, die aus der Begegnung des Menschen mit der ersten wird. So bedeutet Tun die Gestaltung dessen, was ist. Das bedeutet es sogar schon in seiner inneren Konzeption; denn wenn ich die Tat plane, oder das Werk entwerfe, arbeite ich ja bereits mit den Bildern, die ich aus der Wirklichkeit gewonnen habe. Hierin wurzelt die tiefste Problematik alles Tuns: Er steht einerseits unter der Unerbittlichkeit der Realität, welche fordert, daß ich nicht ins Phantastische, sondern ins Wirkliche hinein handle (Don Quixote); daß das, was ich tue, vom Wirklichen festgehalten werde und Dauer habe - andererseits aber auch unter den Widerständen dieser Realität; der Zufälligkeit und Unzulänglichkeit des jeweils Gegebenen; der Tatsache, daß es oft nicht verfügbar ist, einem anderen gehört usw. Tun bedeutet also, aus dem Innenraum der Erkenntnis und Entscheidung in den des Seienden hinauszutreten.“ (Ethik, S. 148).

Die Gesinnung kommt in einer Haltung zum Ausdruck – der erkannte Sinn erhält seine ihm eigene Gestalt. Beim Menschen also gilt: Erkennen und Gestalten bilden eine zentrale, polare Spannungseinheit christlicher Verwirklichung. Sie sind zu unterscheidende Vorgänge, allerdings nicht zu trennende oder zu vermischende.

Der Sinn technischer Werkzeuge und menschlicher Werke

In dieser „zweiten Welt“ bilden nun Wissenschaft und Technik seit jeher und ständig neue Räume. Guardini macht dies am "Sinn der Werkzeuge" deutlich:

„Der Sinn der Werkzeuge und ihrer Einheit, der Technik, ist scheinbar die Befriedigung der Zwecke. In Wahrheit erhebt sich aber aus den so entstehenden Gebilden und dem Menschen, der an ihnen arbeitet, etwas Neues: eben eine "Welt". Der wahre Sinn der Technik ist Eroberung und Schöpfung. Trieb und Zweck sind Motoren, die das Ganze in Gang bringen und eine besondere Logik erzeugen, nach der es besteht, die ökonomische. Hinter ihnen aber steht ein Wille, der jenem der Wissenschaft ähnlich ist. Wie es dort darum ging, das Gegebene als Wirklichkeit aufzulösen und es als Erkanntes im Raum der Bedeutung aufzubauen, so auch hier; die Natur in ihre Stoffe, Energien, funktionelle Einheiten aufzulösen und als Werkzeug und Maschine neu aufzubauen. Daraus entsteht eine neue Schönheit. Sie stellt sich ein, sobald Werkzeug oder Maschine zur Vollendung gelangen. Sie liegt nicht in der Zweckerfüllung als solcher, sondern darin, daß die Sinnhaftigkeit einer neuen, in sich gültigen Welt anschaubar wird.“ (Die Bereiche des menschlichen Schaffens (1938), in: Unterscheidung des Christlichen - Band 1: Aus dem Bereich der Philosophie, S. 232)

Der Sinn und Wille der Wissenschaft ist demnach, „Erkanntes im Raum der Bedeutung aufzubauen“. Der Sinn und Wille der Technik ist es, diese „Bedeutung“ der Natur im Raum der Konstruktion wieder neu sichtbar zu machen. Dies ist „theoretisch“ auch „ohne Sinn“ möglich, wäre dann aber im Letzten eben auch sinn-los.

Nun ist gerade durch die moderne Technik der Teleskop- und Mikroskop-Fotografie der Welt-Innenraum als Makro- und Mikrokosmos „abbildbar“ und spirituell wahrnehmbarer geworden. Dies hat Guardini schon für die Bilder von der Milchstraße und den kosmischen Nebeln beschrieben, nämlich in seinem Text „Die Entfernung des Andromedanebels". Dabei handelt es sich um Gedanken zu der von Max Wolf 1925 in der Reihe "Das Weltall im Bild" veröffentlichten Bilder. Ähnliches könnte er auch für Proteine aus der „Nano-Welt“, die jüngst (2023) durch Mikroskop-Fotografie noch einmal wesentlich deutlicher und detailreicher wahrnehmbar geworden sind.

Die Kirche und mit ihr die darin versammelten glaubenden Einzelnen nehmen daher "die Welt sehr ernst".

„Sie weiß, alles ist von Gott geschaffen, von seiner Macht getragen und von seinem Sinn erfüllt. Sie weiß aber auch, daß die Welt voll bannender Macht ist und den Menschen in sich hineinzuziehen sucht. So sehr sie also alles als Gottes Eigentum erkennt und in sein Reich heimholen will, hebt sie doch aus dem Zusammenhang der Welt einen Raum heraus, der in besonderer Weise, losgelöst von allen sonstigen Zwecken und Verwendungen, Gott gehören soll. In ihm soll dem Menschen etwas zu Bewußtsein kommen, was anders ist als Natur und Menschenwerk sonst: das Heilige.“' (Besinnung vor der Feier der heiligen Messe, S. 50)

Guardini bestimmt daher das Wesen des „katholischen“ Raums als „Welt“, der man in der Begegnung teilhaftig werden kann. Dies gilt für Guardini aber eben nicht nur in Bezug auf andere Personen, sondern auch in Bezug auf jedes angeschaute Ding, dessen Innenraum wir betreten. Auch dem Ding, dem (Kunst-)Werk, dem (Kunst-)Raum gegenüber braucht es diese Haltung der Ehrfurcht. Diese Christenpflicht zur Diskretion und Achtung der „Intimsphäre“ besteht gegenüber allen Sinn-Räumen. So teilt Guardini die Ansicht von Francis Jammes:

„Die Gewißheit, daß die Dinge Seelen haben, lebt in den Kindern, in den Tieren und in den Einfältigen.“ (Francis Jammes, Von den Dingen, in: In Spiegel und Gleichnis, S. 65)

Und Buchliebhaber zeichnen sich für Guardini dadurch aus, dass sie in ihren Büchern "lebendige Wesen" erkennen:

„Liebe zum Buch hat jener, der abends in seinem Zimmer sitzt, und es ist still geworden – vorausgesetzt freilich, daß es um ihn, den Glücklichen, dann wirklich still wird – und auf einmal sind ihm die Bücher im Zimmer wie lebendige Wesen. In seltsamer Weise lebendig. Kleine Dinge und doch erfüllt von Welt. Ohne Regung und Laut dastehend, und doch bereit, jeden Augenblick die Seiten zu öffnen und ein Zwiegespräch zu beginnen: stark oder zart, voll Freude oder Trauer, von Vergangenheit erzählend, in die Zukunft weisend oder Ewigkeit rufend, und um so weniger zu erschöpfen, je mehr der zu schöpfen vermag, der zu ihnen kommt.“ (Lob des Buches (1951), Wurzeln eines großen Lebenswerks - Band 4, S. 84)

Der Sinn der Kunstwerke und die Verheißung in den Kunstwerken

Und insbesondere gilt dies gerade auch für das Kunst-Werk, gleich ob literarisch, anschau- oder anhörbar:

„In Wahrheit ist das Kunstwerk eine "Welt"; ein Inbegriff, von dem man in so vielfacher Weise handeln kann, als es Weisen gibt, ihm zu begegnen und es ins eigene Leben aufzunehmen. Der Leser kann in ihm jenes nur sich selbst gleichende Gebilde sehen, das aus dem Strom der gemeinsamen Sprache und aus dem einmaligen Erfahren des Dichters aufsteigt, Offenbarung der Welt und Selbstausdruck der schaffenden Persönlichkeit zugleich; worin das Dasein frei wird und in die gleiche Freiheit den aufnimmt, der fähig ist, seinen Raum zu betreten und darin zu atmen.“ (Vorbemerkung zu: Gegenwart und Geheimnis, in: Sprache - Dichtung – Deutung / Gegenwart und Geheimnis, S. 153)

„Zum Wesen des Kunstwerks gehört weiter, daß es vom Betrachtenden und Hörenden mitvollzogen werden kann. Jene Wesensbefreiung, die der Künstler vollbracht hat, ist in ihm fixiert; so kann der Mensch, der sie selbst nicht schöpferisch zu bewirken vermag, an ihr Anteil haben. Auch jene Selbstverdeutlichung des Künstlers, von der wir sprachen, ist stellvertretend. Es gehört zum Wesen des echten Künstlers, daß er etwas ins Klare bringt, was den Menschen überhaupt angeht. Auch das ist fixiert und kann von dem Menschen, der dieser Selbstverwirklichung aus Eigenem nicht fähig ist, mitvollzogen werden. So öffnet das Kunstwerk den Weg zu einer Welterfassung, der nun jedem offensteht. Es bildet einen Raum, in welchen der nichtschaffende Mensch eintreten und der Welt, die darin entstanden ist, teilhaftig werden kann.“ (Die Bereiche des menschlichen Schaffens (1938), in: Unterscheidung des Christlichen - Band 1: Aus dem Bereich der Philosophie, S. 238)

Und so kann der Mensch die Verheißung des „katholischen“ Kunstwerks und Raums erkennen und nachgestalten, mitvollziehen und für das eigene Leben verwirklichen. Denn für Guardini gilt:

„Hinter jedem echten Kunstwerk öffnet es sich. Man weiß nicht, was da ist, fühlt aber die Verheißung. Diese Verheißung erhält erst von Gott her ihren eigentlichen Sinn. Sie redet von der "neuen Schöpfung" - freilich so, daß sie zugleich die alte, zusammen mit allem Menschwerk und also auch dem Kunstwerk selbst, unter das Gericht stellt. Die Gefahr der Kunst aber besteht darin, diesen Hinweis nach vorn abzubrechen, sich in die gegebene zurückzuwenden und sich dort niederzulassen. Oder gar jene Sehnsucht zu entehren und als ästhetischen Reiz zu genießen. Aus alledem kommt der oft falsch gesehene religiöse Charakter der Kunst. Einmal aus dem Hereinwirkenden der "Bilder". Für die frühe Kunst, die einen unmittelbar religiösen, ja sakralen Charakter hatte, waren sie das eigentlich Gemeinte. Dann verschwinden sie aus dem bewußt gesehenen Bereich; sprechen aber immer noch aus dem Unterbewußten herauf. Von dorther hat jedes echte Kunstwerk eine Beziehung zum Religiösen, gleichgültig, was es darstellt und ob das helle Bewußtsein es weiß ... Dann aber auch durch jenen Hinweis in die Zukunft; eine Zukunft, die nicht in der Welt liegt. Jedes echte Kunstwerk ist seinem Wesen nach eschatologisch; über die Welt hinaus auf ein Kommendes bezogen.“ (Über das Wesen des Kunstwerks (1947), in: Wurzeln eines großen Lebenswerks, Bd. 3, S. 349)

Guardini versucht dies näher zu bestimmen am Beispiel einer steinernen Plastik:

„Nur in der Kunst deutet sich eine höhere Einheit an. In der Kunst gehen Innen und Außen – der Künstler ist derjenige, der imstande ist, das Innere viel reiner und voller vorzutragen in den Ausdruck, als wir es können –, Welt und menschliche Seele, Wunsch und Erfüllung auf einer höheren Stufe zusammen. Freilich im Bereich des Unwirklichen, denn das eigentliche Kunstwerk ist nicht da, wo das Greifbare ist. Die eigentliche Realität einer Plastik ist nicht der Stein, sondern die Vorstellung. Der Stein ist das Verständigungszeichen zwischen dem Künstler und Beschauer, damit aufleuchte die Vorstellung. Wer die Zeichen versteht, in dessen Geist leuchtet das Kunstwerk auf. Diese wunderbare Einheit von Innen und Außen, zwischen Sein und Wunsch existiert im Nichtwirklichen, zugleich hat sie aber eine Verheißung auf kommende Verwirklichung hin. Im Nichtausgesprochenen des Kunstwerkes, rein in seiner Struktur, wird dem, der in das Kunstwerk wirklich einzugehen vermag, der die Chiffreschrift lesen kann, dem sie zugedacht ist, eine Verheißung inne: Einmal wird alles so sein in Wirklichkeit, wie es hier ist in der Vorstellung, im Traum, in der Phantasie. Das ist die eigentlich tiefste Verheißung des Kunstwerkes.“ (Dantes Göttliche Komödie, S. 468)

Dabei sieht Guardini das Plus der Kunst darin nicht selbst Wirklichkeit zu sein, sondern der als Kunstwerk gestaltete und angeschaute Raum verdichtet und verwandelt die Wirklichkeit und steht dadurch selbst außerhalb der Wirklichkeit. Bereits 1924 betont Guardini:

„Kunst ist nicht Wirklichkeit, Erziehung nicht künstlerisches Schaffen. Arbeit ist keine Nächstenliebe; Berufsleistung keine menschliche Fürsorge. Jedes Gebiet wächst aus dem eigenen Wesen. Wenn aber ein solcher Mensch durch den Tag hindurchgeschritten ist; ein jedes getan hat, wie es getan sein wollte und jede Stunde genommen, wie sie es fordert, dann bildet alles von selbst eine lebendige Einheit. Wie kommt das? Weil diese Sinnesart dem Wesen der Dinge offen ist. Sie hat Ehrfurcht. Sie macht keine gewalttätigen Systeme zurecht, nach denen das Leben sich richten soll, sondern läßt sich von der Ordnung leiten, die in ihm selbst wirkt. Für sie [diese Sinnesart] liegt in den Dingen eine tiefe Vernunft vom Schöpfer her, und Bildung bedeutet für sie, diese Vernunft zu vernehmen und ihr handelnd Raum zu geben.“ (Von Goethe und Thomas von Aquin und vom klassischen Geist (1924), In Spiegel und Gleichnis, S. 22)

Und im Blick auf das "Problem des Films" ergänzt er 1953:

„Kunst ist nicht Wirklichkeit. Die Kunst faßt eine Erscheinung der Welt auf, arbeitet sie auf ihr Wesen - auf irgendein Wesentliches in ihr - durch und stellt sie im irrealen Raum der Vorstellung dar. Natürlich gibt es im Kunstwerk Elemente von Wirklichkeit: die Farbe, den Stein, den Ton, das gesprochene oder gedruckte Wort und so fort – das eigentlich Gemeinte aber, die geschaute, gehörte, gesprochene Gestalt, ist dahinter, in der Phantasie, und muß vom Betrachter, Leser, Hörer des Werkes herausgeschaut, herausgehört werden.“ (Überlegungen zum Problem des Films (1953), in: Sorge um den Menschen - Band 2, S. 113)

Schon für das Gemälde gilt:

„Wirklich sind die Leinwand, die Farben, die Meßbarkeit der Proportionen. Das eigentlich Gemeinte aber ist die innere Gestalt; und die war im Bewußtsein des Malenden, und ist wieder in dem des Betrachtenden. Was draußen ist, im Rahmen, an der Wand, bildet sozusagen ein System von Signalen, die den Beschauer zu dem auffordern und befähigen, was das Eigentliche der Kunsterfahrung ausmacht: daß er in seiner Vorstellung das Wesensbild aufrufe."

Das Kunstbauwerk als geistiger Weltraum

Das gilt nun in besonderem Maße für Kunst-Bauwerke. Der eigentliche Raum selbst des Kunst-Bauwerks ist für Guardini ein „geistiger Weltraum“. Denn das Gesagte „gilt sogar für solche Kunstwerke, in denen überwältigend viel Wirkliches ist, zum Beispiel das Bauwerk":

"Die Steine der Kathedrale sind aufgetürmt und ihre Räume gewölbt. Man kann sich am Material stoßen, kann in den Räumen herumgehen, kann in ihnen liturgische Handlungen vollziehen. Dennoch ist die eigentliche Kathedrale anderswo, denn sie ist ja lebendig: ein beständiges Aufsteigen von Kräften, ein Überwinden der Schwere, ein geistiger Weltraum, in welchem der Herr der Welt die Huldigung empfängt. Daß wir so aus der unmittelbaren Wirklichkeit der Dinge, des Menschen, der Beziehungen hinaustreten und in den Raum der Vorstellung hinübergehen können, bedingt eine der wichtigsten Wirkungen des Kunstwerks: die Befreiung. Der Wille spannt aus, die reine Betrachtung setzt ein, und das schafft Frieden.“ (Ethik, S. 801)

Dieser geistige Weltraum wird verstanden als „Weltinnenraum“ (Rilke), in dem alles verbunden ist. Etwas, was vor-neuzeitliches Weltverständnis von Dante bis Michelangelo und nach-neuzeitliches Weltverständnis der lebensphilosophisch-phänomenologischen Denker, Künstler und Dichter wie Simmel, Rodin, Marc/Kandinsky, Francis Jammes oder eben auch Rainer Maria Rilke, den Guardini ansonsten für einen typischen Vertreter einer Säkularisation christlicher Errungenschaften hält, miteinander verbindet, ist die Vorstellung, dass alle „Dinge“ leben, gleich ob es sich bei diesen „Dingen“ um natürliche gezeugte oder künstlich geschaffene Werke, Gestalten oder auch menschliche Personen handelt. Guardini sagt:

„Nach Rilkes Weltverständnis leben alle Dinge; sie empfinden und wissen. Nicht nur das: sie kommunizieren mit dem Herzen des Menschen und gelangen in dessen Verinnigungsakt zur Fülle bewußten Seins. Damit vollendet sich, was im Zusammenhang der ersten und zweiten Elegie über jene Tiefendimension gesagt worden ist, welche die Dinge aus der Seele des Menschen empfangen. Das alles kann deshalb geschehen, weil unter den Getrenntheiten der unmittelbaren Welt der Innenbereich des „tiefen Seins“, der „Weltinnenraum“ [Vgl. „Es winkt zu Fühlung fast“] liegt, in dem alles verbunden ist." (Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins, S. 305).

In Rilkes Gedicht heißt es:

„Durch alle Wesen reicht der eine Raum: / Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still / durch uns hindurch. O, der ich wachsen will, / ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum. Ich sorge mich, und in mir steht das Haus. / Ich hüte mich, und in mir ist die Hut. / Geliebter, der ich wurde: an mir ruht / der schönen Schöpfung Bild und weint sich aus.“

Ähnlich wie bei Franz Marcs „Die Mystik erwacht in den Seelen“ sieht Guardini darin einen ersten, aber nicht konsequent zu Ende gegangenen Schritt in die Nach-Neuzeit. Nur in der Polarität zur „Kirche in uns“ wird klar, dass der raum-gebende Schöpfer-Gott not-wendig ein relationales, trinitarisches Du ist. Guardini greift also die nachneuzeitliche Wende im zum Du-Gott im Expressionismus des 20. Jahrhunderts, insbesondere des "Blauen Reiters" auf, führt sie aber zu einem "Katholischen Expressionismus" des "Weißen Reiters" weiter (vgl. Sammelband "Der Weiße Reiter" mit Guardinis "Liturgie als Spiel" als katholisch-expressionistischem Text).

Guardini fordert dazu auf: "Gib Raum den Dingen" und zwar in der Stille; erkenne den Sinn, den Geist, das Wesen eines Dinges, statt kenne den Zweck und Nutzen ihrer Gestalt und "gebrauche" sie. Der Herrschaftsauftrag umfasst vor allem einen Schutz- und Bewahrungsauftrag:

„Wie tief ist die Stille! Sei doch still auch du. Schweige, Denken. Lege dich, ewiges Verlangen! Gib Raum den Dingen. Sieh, wie sie sacht aus der Verschlossenheit hervortreten; aus dem stummen Dastehen, in das wir sie binden, wenn wir sie nur kennen und brauchen. Sieh, wie jedes in sich selbst tritt; Mitte sich in ihm auftut; alles sich gleichsam selbstet. Und nun gehst du unter wirklichen Wesensdingen. Sie stehen da, und haben ihren Sinn in sich. Sie wesen - mit welch inniger Tiefe fühlt man das Wort! Du tust die Enge weg, mit der sonst dein Auge und dein Griff die Dinge um dein Selbst herum zwingen ...“ (Tagebuch - Kanal an der Iller, in: In Spiegel und Gleichnis, S. 35)

Gerade hier verweist nun Guardini auch den Zusammenhang von Stille und der Entdeckung und Einübung der "Kraft des inneren Wölbens":

Die „Stille“ ist in Wahrheit nicht "Leere", sondern „etwas Volles und Reiches", also "Fülle":

"Sie ist die Ruhe des inneren Lebens. Sie ist die Tiefe des verborgenen Stroms. Sie ist gesammelte Anwesenheit, Offenheit und Bereitschaft. Daraus ergibt sich auch, daß sie nichts Dumpfes bedeutet, keine Trägheit, kein untätiges Lasten in sich selber. Die echte Stille ist wach und voll Bereitschaft.“

Die Stille als Aufmerksamkeit führt uns also zur Stille vor Gott. In diese Überlegungen hinein fragt nun Guardini:

„Was ist denn eine Kirche? Zunächst ein Bau: Wände, Wölbung, Säulen, Raum. Der bildet aber nur erst einen Teil von dem, was »Kirche« eigentlich bedeutet, ihren Körper. Wenn wir sagen, die heilige Messe vollziehe sich »in der Kirche«, gehört noch etwas anderes dazu, nämlich die Gemeinde. »Gemeinde« — nicht nur Leute. Damit, daß die Besucher zur Tür hereinkommen und in den Bänken knien oder sitzen, ist noch keine Gemeinde da, sondern nur ein Raum mit mehr oder weniger frommen Menschen. Gemeinde entsteht, indem diese innerlich anwesend werden, miteinander Fühlung bekommen und zusammen in den geistlichen Raum treten, ja ihn überhaupt erst öffnen und wölben. Dann ist »Gemeinde« da und bildet — zusammen mit dem äußeren Bau, der sie ausdrückt — jene »Kirche«, in der sich die heilige Handlung vollzieht. Das alles geschieht nur in der Stille. Aus ihr erhebt sich das eigentliche Heiligtum. Es ist wichtig, das einzusehen. Die äußeren Kirchen können zerfallen oder verlorengehen; dann kommt alles darauf an, ob die Gläubigen fähig sind, »Gemeinde« zu bauen, »Kirche« aufzurichten, wo sie gerade sind, wenn auch der äußere Ort noch so armselig oder preisgegeben ist. Also muß diese Kraft des inneren Wölbens entdeckt und geübt werden.“ (Besinnung vor der Feier der heiligen Messe, S. 19)

Die Erfordernisse beim Auffassen des Kunstwerkes und Raumes sind nach Guardini: Stille, Sammlung, respektvolles Eintreten mit wachen Sinnen und offener Seele, „Mitleben“:

„Im Raum des Werkes sind die Dinge untereinander und ist der Mensch ihnen allen in einer Weise nahe, wie das in der unmittelbaren Welt nicht der Fall ist. So kann der Betrachter, indem er in diese Welt eintritt und sie mitvollzieht, selbst im Ganzen leben. […] Das Kunstwerk öffnet […] einen Raum, in welchen der Mensch eintreten, in dem er atmen, sich bewegen und mit den offen gewordenen Dingen und Menschen umgehen kann. Darum muß er sich aber bemühen – und damit wird, an einem besonderen Punkt, jene Aufgabe deutlich, die für uns Heutige so dringlich ist wie kaum eine sonst, nämlich die der Kontemplation. Wir sind Aktivisten geworden und stolz darauf; in Wahrheit haben wir verlernt, still zu werden, uns zu sammeln, zu öffnen, zu schauen und die Wesenheiten in uns aufzunehmen. Darum haben auch, trotz allen Redens von Kunst, so wenige ein echtes Verhältnis zu ihr. Die meisten fühlen wohl irgend etwas Schönes; oft kennen sie Stile und Techniken; manchmal suchen sie auch nur nach stofflich Interessantem oder sinnlich Anreizendem. Das echte Verhalten vor dem Kunstwerk hat damit nichts zu tun. Es besteht darin, daß man still wird, sich sammelt, eintritt, mit wachen Sinnen und offener Seele schaut, lauscht, miterlebt. Dann geht die Welt des Werkes auf.“ (Über das Wesen des Kunstwerks (1947), Wurzeln eines großen Lebenswerks - Band 3, S. 350)

Hinzu kommen muss die Bereitschaft, mit sich selbst etwas geschehen zu lassen, sich „aufhellen“ zu lassen:

„In ihrem Raum erfährt der Betrachtende aber auch, daß mit ihm selbst etwas geschieht. Er kommt in einen anderen Zustand. Die Verschlossenheit, welche sein Wesen umgibt, lockert sich – mehr oder weniger, je nachdem, wie tief er in das betreffende Kunstwerk eingeht, wie lebendig er es versteht, wie nahe er ihm zugeordnet ist. Er wird sich selber deutlicher; nicht theoretisch reflektierend, sondern im Sinne unmittelbarer Aufhellung. Die Schwere des eigenen undurchlebten Vorhandenseins leichtet sich. Er wird tiefer der Möglichkeit inne, selbst echt, rein, erfüllt und ausgeformt zu werden.“ (Über das Wesen des Kunstwerks (1947), Wurzeln eines großen Lebenswerks - Band 3, S. 350)

Für Guardini ist somit insbesondere die Stille die erste Voraussetzung jedes heiligen Tuns, besonders auch des liturgischen Lebens. Denn nur darin könne der eigentliche „christliche Ort des Daseins“, der „christliche Daseinsraum“ durch Gottes Ruf und durch die Antwort des Angerufenen entstehen. Gerade heute, wo es nach Guardini „keinen objektiv christlich geformten Raum mehr" gebe, sondern dieser "immer neu vom glaubenden Menschen aufgebaut werden":

"Vor allem müßte jedem Gläubigen die Kirche in neuer Weise wichtig werden. Nicht nur als Ort des gemeinschaftlichen Gottesdienstes, von dem ja hier nicht gehandelt wird, sondern als Haus des Vaters, in dem er Heimatrecht hat. Er müßte das Bewußtsein dieses Heimatrechts in sich ausbilden; auf seinen täglichen Wegen hin und wieder in die Kirche eintreten; in ihr Ruhe, Sammlung und innere Lösung, Trost, Mut und Stärkung suchen.“

Über das "Wo" dieses Ortes lässt sich nicht mehr viel "Allgemeingültiges" sagen, da die Verhältnisse, in denen der Einzelne lebt, so verschieden geworden seien. Und es kann daher auch bestimmte Orte nicht mehr als mögliche "heilige Orte" ausschließen, selbst in der widrigsten äußeren Ortlosigkeit kann Gott diesen auftun:

„Der eigentliche »christliche Ort«“ – also der „katholische Raum“ – „ist aber keine feste Stelle, sondern entsteht von Mal zu Mal aus dem lebendigen Verhältnis Gottes zum Menschen. Es ist der Ort des Daseins, den Gott diesem auftut, indem Er sich ihm in Liebe zuwendet und ihn durch den Gang seiner Vorsehung anruft. Der Angerufene aber antwortet mit seinem Glauben, seiner Andacht, seinem Gehorsam. Das ist jenes »hier bin ich!«, durch welches er an den heiligen Ort tritt - und er kann es überall, auch in der widrigsten äußeren Ortslosigkeit vollziehen.“ (Vorschule des Betens, S. 35 f.)

Zusammenfassung und Folgerungen

Zusammenfassend gilt: Jedes „echte“ Kunstwerk und somit auch jedes Kunst-Bauwerk ist ein Sinn-Raum. Jedes Kunstwerk ist „vorläufig“ echt:

„Jedes echte Kunstwerk, auch das kleinste, ist welthaft: ein geformter, von Sinngehalten erfüllter Raum, in den man schauend, hörend, sich bewegend eintreten kann. Dieser Raum ist anders gebaut als jener der unmittelbaren Wirklichkeit. Er ist nicht nur richtiger, schöner, tiefer, lebendiger als jener des täglichen Daseins, sondern hat eine eigene Qualität: Ding und Mensch in ihm sind offen. Im Raum des täglichen Daseins sind Ding und Mensch gebunden und verhüllt. Was von ihnen wahrgenommen werden kann, drückt ihr Wesen aus, verbirgt es aber auch. Jede Beziehung geht, durch Ferne und Fremde hindurch, aus einer Verschlossenheit in die andere. Der wesenschauende und -darstellende Akt des Künstlers hat das Wesen zu vollerem Ausdruck gebracht. Das Innere ist nun auch „außen“, ist Erscheinung und kann angeschaut, das Äußere ist nun auch „innen“, ist gefühlt und erlebt und kann ins eigene Erleben aufgenommen werden. Durch eben diesen Vorgang aber ist die Einheit mächtig, das Ganze gegenwärtig und fühlbar geworden.“ (Über das Wesen des Kunstwerks (1947), in: Wurzeln eines großen Lebenswerks - Band 3, S. 349)

Was aber ist ein „echtes“ Kunstwerk im Unterschied zu einem „nicht echten“ Kunstwerk? Es gibt kein weltliches Kriterium über die „Echtheit“ eines Kunstwerks zu entscheiden; und daher ist im Jetzt bei jedem erklärten Kunstwerk davon auszugehen, dass es ein echtes Kunstwerk ist. Die „Echtheit“ eines Kunstwerks und auch die Authentizität der Person erweist sich erst „vor Gott“, nur dem Schöpfer aller Dinge steht ein endgültiges Urteil über die „Bewährung“ eines Kunstwerkes zu.

Es gibt daher für Guardini sogar die Christenpflicht zur Offenheit und Wachsamkeit für neue Ausdrucksweisen. So antwortet Guardini auf Frage eines Interviewers: „Wie beurteilen Sie die Versuche der modernen Kunst? Bemüht man sich dort nicht ebenfalls, das Unsichtbare auszudrücken?“:

„Die abstrakte Kunst? Sie beschäftigt mich stark. Manchmal bringt mich diese Kunst zur Verzweiflung, macht mir Sorgen. Manchmal aber auch übt sie einen seltsamen Einfluß auf mich aus. Ich bin mir über die Kräfte, die sie auslöst, nicht im klaren. Und dennoch ist es für einen Christen eine Pflicht, keinen Versuch des Menschen abzulehnen; wir müssen jedoch sehr wachsam sein, was aus diesem Suchen entstehen kann. Ich nehme an, daß es sich hier um Proben einer neuen Ausdrucksweise handelt.“

Auch um das „Innerste“ des „Innen“ eines „katholischen“ Raumes gibt es eben jenen „heilige Ring“, der auch das menschliche Personsein in sich trägt, bewahrt und schützt. Dieser Ring besteht unabhängig vom Künstler, und muss bestehen bleiben. Daher ist es auch unerheblich, wie bzw. in welchem „Stil“ das Kunstwerk gestaltet ist, ob es sich um gegenständliche oder um abstrakte Kunst handelt. Jeder vielleicht noch so abstoßenden oder moralisch unsittlich erscheinenden Person und jedem ebensolchen Werk, insbesondere dem Kunstwerk, kommt mindestens der Schutz des Kainsmals und des Respekts vor dem „heiligen Ring“ um die Personalität (Ebenbildlichkeit) bzw. Spurbildlichkeit zu. Es steht keinem anderen Menschen zu, über den Innenraum einer Person oder eines Werkes zu urteilen und es vor der Zeit „auszureißen“ oder „abzureißen“, mag einem die Handlungs- oder Ausdrucksweise noch so verwerflich vorkommen.

Erst recht gilt dies für die subjektive Einschätzung dessen, was sittlich oder unsittlich ist, und auch für die Absicht, das Gemeinwohl vor den Einzelinteressen oder die „Orthodoxie“ vor der „Häresie“ und „Heterodoxie“ zu schützen.

Guardini schrieb über den Geist der Liturgie, den Sinn der Kirche, das Wesen des Kunstwerkes oder des Christentums in der Absicht, dass die in der gegenwärtigen Situation und für den gegenwärtigen Menschen festgestellte „Krise“ der Liturgie, der Kirche, des Kunstwerks, des Christentums in der gegenwärtigen Situation und für den gegenwärtigen Menschen durch eine liturgische, kirchliche, künstlerische, christliche „Bewegung“ überwunden wird und es durch eine „Metanoia“ zu einer „Renovatio“, einer liturgischen, kirchlichen, künstlerischen, christlichen Erneuerung kommt.

Am Beginn dieses Erneuerungsprozesses braucht es eine gemeinsame Vergewisserung darüber, was der Geist, Sinn, das Wesen, Spurbild, die Verheißung des in die Krise Geratenen für die gegenwärtige Situationen und gegenwärtigen Menschen ist und zwar in einer Sprache „ausgedrückt“, die der gegenwärtigen Situation und den gegenwärtigen Menschen entspricht. Diese Grundlegung in Wort, Schrift und Bild ist das Kennzeichen des jeweiligen „Expressionismus“. Das Bewusstsein für die Notwendigkeit, einen jeweils „gültigen“, „authentischen“ Ausdruck zu finden, ist am Beginn des 20. Jahrhunderts den expressionistischen Strömungen gemeinsam.

Das "Katholische" im Expressionismus

Dabei unterscheiden sich die einzelnen expressionistischen Richtungen in der Betonung eines oder eines anderen „Poles“ des gegensätzlich wahrgenommenen Lebens, während nach der Überzeugung der „katholische Expressionismus“ das Sowohl-als auch, die Spannungseinheit komplementärer Gegensätze hervorgehoben wird. Katholisch sein ist daher für Guardini eine Gesinnung und Haltung, die das Einzelne und das Ganze sieht, ohne das eine oder das andere zu vernachlässigen.

Guardini weist schon im Zusammenhang mit der Jugendbewegung darauf hin, „daß zwischen einer vom rechten Grunde her erlebten Jugend und katholischem Geist kein Gegensatz bestehen kann. Ist katholisch doch nach Nam' und Wesen jene Gesinnung und Geistesordnung, die das Ganze im Auge hat, und jedes einzelne in diesem Ganzen sieht.“ (Neue Jugend und katholischer Geist (1920), in: Wurzeln eines großen Lebenswerks - Band 1, S. 306)

„Katholisch ist also für den Einzelnen nicht ein besonderer Typus des Seins oder Lebens, aber auch nicht eine - immer unmögliche und seinsunfähige - Synthese der Typen, sondern eine bestimmte Haltung, die jeder Typus haben kann. Ein bestimmtes Eingeordnetsein des besonderen Wesensbildes, der geschichtlichen Tatsache oder Situation in das Ganze, ruhend auf der Gemeinschaft der Kirche. Und um nicht sofort wieder zu einer neuen Relativierung Gelegenheit zu geben, füge ich hinzu: Daß aber der einzelne Typus diese Einordnung bejahe, oder sie ablehne und sich auf sich selber stelle, sind nicht wieder gleichgeordnete typische Möglichkeiten. Noch weniger steht es so, daß die Ablehnung als "autonome" Haltung der Katholischen als der "heteronomen" überlegen wäre. Vielmehr bedeutet letztere eine Selbstabschnürung des Lebens aus dem gottgewollten Zusammenhang. Bedeutet das nämliche, als wenn die Hand sich weigern wollte, im Leibe zu stehen. Ehrfurcht und Liebe für anders gerichtete Überzeugung darf nicht hindern, die Wahrheit zu sagen. Welche Problematik freilich aus dem katholischen Standpunkt erwächst, dessen ist der Katholik sich tief bewußt.“ (Vom Wesen katholischer Weltanschauung (1923), in: Unterscheidung des Christlichen, Bd. 1: Aus dem Bereich der Philosophie, S. 42)

Der Geist, Sinn, das Wesen, Spurbild, die Verheißung ist also immer dann „katholisch“, wenn die Spannungseinheit der Gegensätze gewahrt bleibt und - anders als beim analysierenden und separierenden Blick (der neuzeitlichen Wissenschaften) oder dem integralistischen Blick (der Restauration) - das Ganze wieder neu in den Blick kommt, ohne das Einzelne damit zu vermischen, zu verschmelzen oder darin aufgehen zu lassen.

Unnötige Streitfragen aus dem Umfeld Guardinis

Die Unterpunkte werden noch weiter ausgeführt.

Umstrittene Kunstwerke

Die Nacktheit des Jesuskindes (Kölner Volkszeitung)

Im Streit um die Nacktheit des Jesuskindes im Weihnachtsbild von Hieronimus Bosch, das die Kölnische Volkszeitung für die Weihnachtsausgabe gewählt hatte, bat die Zeitung auch Guardini dazu Stellung zu nehmen. Guardini folgte der Aufforderung und schrieb:

„Sie schreiben, gegen das Titelbild Ihrer Weihnachtsnummer sei Einspruch erhoben, die unbekleidete Gestalt des Jesuskindes auf dem Bild von Hieronimus Bosch sei als sittlich-religiös anstößig bezeichnet worden, und regen eine Erörterung über die Frage an. Ich kann darauf nur sagen: Wie man die rührende Hilflosigkeit des Kindes überhaupt unter diesem Gesichtspunkte betrachten, ja gar sie so beurteilen könne, ist mir unverständlich. Auf dieser Grundlage eine Erörterung zu beginnen, sehe ich keine Möglichkeit. Abgesehen von allem anderen; aber ich würde mich scheuen, die Frage auch nur zu stellen, ob Meister wie Jan van Eyck (siehe die Madonna des Kanzlers Rolin und die Madonna von Luccca); der Meister von Flémalle (Geburt Christi in Dikon); Rogier van der Weyden (Anbetung der König in München; der Evangelist Lucas, Maria zeichnend, in München; die Anbetung des Kindes in Berlin); Petrus Christus (Anbetung des Kindes in Berlin); Dirk Bouts (Maria mit dem Kinde in London); Hugo von der Goes (Anbetung des Kindes in Florenz); Hans Memling (Maria mit Heiligen in Chatsworth; die Madonna in Brügge; die Madonna mit dem Kinde in Wien) und viele andere, vor deren Frömmigkeit und Seelenreine ich in Ehrfurcht stehe – ob diese Anstößiges gemalt haben! Mir scheint, vor solchen Werken haben wir zu lernen."

Die Provokation wider den idealisierten oder romantischen „Kitsch“ (Max Ernst)

Der Streit um ein Bild „Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind vor drei Zeugen: André Breton, Paul Éluard und dem Maler“ (1926) von Max Ernst, musste auf Geheiß von Kardinal Schulte noch aus einer Kölner Ausstellung entfernt werden.

Heute ist der Deutung von Andreas G. Weiß (2018) rundweg zuzustimmen, der schreibt:

„Das Bild des Dadaisten Max Ernst entsetzt – es fordert die romantischen Perspektiven, die die himmlische Familie als das Idyll jeglicher Zwischenmenschlichkeit zeigen, heraus. Der Maler benutzt bewusst dieselben Farbtexturen, welche in vielerlei Kitschdarstellungen der heiligen Familie vorkommen. Doch wendet er die Farben gegen die Vorbilder. Max Ernst hat die idealisierten Darstellungen von Maria mit dem Kind zu zerschlagen versucht. Sein Bild wirkt als eine visuelle Inversion jener theologischen Unerschütterlichkeit, die sich in den romantischen Darstellungen idyllischer Heiligkeit abbildet. Damit wird Ernsts Werk aber zu einer realen Gefahr. Die Konterkarierung jener Bilder, die ein harmonisches Weihnachten zu ermöglichen scheinen, erschüttert bis ins Mark. Der Zufluchtsort vieler Menschen wird auf das Äußerste exponiert. Das Innere menschlichen Seelenlebens wirkt angreifbar und entblößt wie das Gesäß des jungen Messias. Die Reaktionen der kirchlichen Würdenträger, aber auch weiter Teile der Bevölkerung sprechen Bände. Der Künstler trifft mit seinen Pinselstrichen eine verborgene Wunde. Sein Kunstwerk legt etwas frei, das sich nicht in den religiösen Sicherheiten weihnachtlicher Idealvorstellungen abbilden, aber auch nicht dauerhaft zudecken lässt.“

Der Sinn einer Mariengestalt im 20. Jahrhundert (Maria Eulenbruchs Rothenfelser Madonna)

Maria Eulenbruch schuf 1930 für die Burgkapelle auf Burg Rothenfels eine Madonna. Guardini hat sich bei der Aufstellung in einer auch veröffentlichten Interpretation zu diese Muttergottes-Skulptur als „katholischem“ Raum bekannt, der zur Frage nach dem Sinn einer Mariengestalt im 20. Jahrhundert einlädt und in das man genauso eintreten kann wie in Marienskulpturen einer „gewöhnteren“ Darstellungsweise.

Dennoch leistete auch Guardini dem Würzburger Bischof Ehrenfried gehorsam, der die Skulptur aus der Kapelle verbannte. Während des Dritten Reiches wurde die Figur zerstört. Nur ein Kopf-Torso der Madonna konnte wieder aufgefunden werden und wurde wieder in die Kapelle aufgenommen.

Vorurteile in der Kunstkritik: Krönungsmantel oder Kleidungsstück von Dior? (gegenüber Maria Elisabeth Stapps Kreuzigungsgruppe)

Der Streit um die Kreuzigungsgruppe von Maria Elisabeth Stapp (1955), die nachdem sie in einer Ausstellung in Rom gezeigt wurde, schließlich Teil der Ravensburger Christkönigskirche wurde.

In einer Zeitungskritik von einem katholischen Journalisten zur Ausstellung wurde Stapp unterstellt, sie habe den Gekreuzigten mit einem „Kleidungsstück von Dior“ verhüllt.

Guardini hat diese befremdliche Kritik aufgrund des Wunsches seiner Freunde richtig gestellt, zwar nicht öffentlich, um der unsäglichen Kritik nicht zusätzliches Gewicht zu geben, aber gegenüber dem Pfarrer von Ravensburg zur Verwendung für künftige Kirchenführer und Kirchenführungen. In seiner, bislang noch nicht publizierten Stellungnahme hat er den Mantel in der Tradition der Krönungsmäntel interpretiert.

Von der Wolfratshausener Brückenmadonna zur „Crowning“-Skulptur im Linzer Dom

Auch heute noch kommt es immer wieder zu Gewalt gegenüber "umstrittenen" Kunstwerken, gerade auch dann, wenn sie den Anspruch erheben spirituell, heilig-religiösen oder sakral-liturgisch zu sein. So wurde die Wolfratshausener Brückenmadonna 1991 in die Isar gestürzt. Sie wurde 2020 wieder aufgestellt. Heftiger öffentlicher Kritik war auch die Skulptur „Crownig“ von Ester Strauß ausgesetzt, die im als "Kunstraum" deklarierten Bereich des ehemaligen Baptisteriums im Linzer Dom aufgestellt wurde.

Umstrittene Kunst-Bauwerke

Ästhetizistische Kritik an „Abstraktheit“ und „Brutalismus“ (Le Corbusier)

Immer wieder stießen auch sakrale Bauten auf Unverständnis, wie sich am Beispiel von Le Corbusier aufzeigen lässt, zu dessen Umfeld Guardini persönliche Beziehungen hatte. Er hatte auch die entsprechenden Kirchenführer in seiner Bibliothek.

Dabei standen im Fokus der Kritik nicht so sehr Form und konkrete Gestaltung, sondern dass auch Künstler herangezogen wurden, deren „Kirchlichkeit“ umstritten war.

Bei dem „Brutalismus“ zugerechneten Beton-Kirchen Le Corbusiers und anderen Architekten bezog sich die Kritik vor allem auch auf die fehlende „Schönheit“ der Bauten.

Weder Kritiker noch Analysten stellten dagegen die Frage nach dem Sinn, dem Geist, dem Wesen eines "brutalistischen Kirchenbaus". Ablehnung oder Zustimmung erfolgten somit entweder "rein wissenschaftlich" oder "rein ästhetisch", nicht aber mit jener mental-kontemplativen Erkenntnis, wie sie Guardini in seiner katholischen Weltanschauungslehre einforderte.

„Das ist keine Leere; das ist Stille!“ (Zur Aachener Fronleichnamskirche von Rudolf Schwarz)

Mit derartiger Kritik hatte bereits die von Guardini stark beeinflusste Architektengeneration von Dominikus und Gottfried Böhm, Rudolf Schwarz, Emil Steffan, Hans Schwippert, Otto Bartning, Hans Scharoun.

Guardini stimmt in der äußeren Gestalt (Stichwort „Fabrikcharakter“) den Kritikern mitunter sogar zu, für das Innere verteidigte er vehement, die Missdeutung der Reduktion als „Leere“. Guardini: „Das ist keine Leere; das ist Stille! Und in der Stille ist Gott“.

Das Projekt war von der Kölner Kirchenbehörde abgelehnt worden. Da Köln aber für das neu entstehende Bistum Aachen nicht mehr zuständig war, schufen Pfarrer und Architekt „Fakten“.

Integration in die Umgebung statt Heraushebung (St. Michael in Berlin von Rudolf Schwarz)

Gibt es „kontaminierte" Kunst(bau)werke mit „toxischer Zumutung“? Der Streit um Kunst(bau)werke von Missbrauchstätern

Das bisher Gesagte gilt daher auch für Kunstwerke, deren Künstler in der öffentlichen Wahrnehmung oder auch rechtlichen Verurteilung ein moralisch unsittliches oder kriminelles Verhalten gezeigt hat (vgl. aktuelle Diskussionen Lieder von Norbert Weber/Winfried Pilz, Mosaike von Rupnik). Nach Ende des Schaffensaktes hat jedes Kunstwerk eine eigenständige Existenz mit eigenständiger Daseinsberechtigung. Die Rede davon, es handle sich um „kontaminierte Werke“ oder seien eine „toxische Zumutung“, wäre für Guardini nicht nachvollziehbar. Auch im Werkbereich gibt es keine Sippenhaftung und ebensowenig im Bereich der Kunst.

Oder mit Guardini formuliert: „Denn die Gestalten des großen Dichters“ – so auch die Werke aller Künstler – „gehorchen nicht ihm, sondern folgen ihren eigenen Gesetzen, und sind tiefer als er selbst.“

Dass die Kunstwerke von Missbrauchstätern nicht in der unmittelbaren Umgebung der Opfer zu zeigen sind, versteht sich im Sinne des konkreten Opferschutzes von selbst; auch dass man diese in Zukunft nicht mehr provokant „zur Schau trägt“. Aber mit der gleichen Begründung der nicht verwirkbaren Ebenbildlichkeit, mit der man kirchlicherseits die Todesstrafe sogar für verurteilte Straftäter verworfen hat, ist eine Vernichtung der Werke von Straftätern aufgrund der Nicht-Verwirkbarkeit ihrer Spurbildlichkeit und ihrer Verheißungsträgerschaft abzulehnen.

Zur Typologie des „katholischen“ Raumes

Die Links zu den Bildern der angeführten Beispiele werden noch eingefügt.

Der gebaute Raum und seine „Sendung“

Wie schon angedeutet, kennt Guardini besonders abgegrenzte Räume. Weltlich erfolgt dies meist vorrangig nach den Kriterien des Zwecks und des Nutzens, überweltlich vorrangig unter den Kriterien der Sendung und des Sinnes.

Seit jeher spielen dabei „für die Begegnung mit Gott“ abgegrenzte Räume eine besondere Rolle, also sakral-liturgische Kultbauten einer religiösen Gemeinschaft, heilig-religiöse Andachtsräume einzelner Glaubenden oder eines Zusammenschlusses von Glaubenden („Volksfrömmigkeit“)

Aber auch jeder andere Raum hat immer eine profan-spirituelle Bedeutung und eine allgemeine heilig-religiöse „Verheißung“; und kann darüber hinaus aber eine spezifische, heilig-religiöse Sendung erhalten.

Bei Guardini findet sich in der Beschreibung der Zuordnungen ein ganz klares "Babuschka-Prinzip". Daher ist mit Guardini gegen die Tendenz zu plädieren, alles Mögliche als „liturgisch“, „sakral“ und „kultisch“ zu bezeichnen und stattdessen die Begriffe „sakral“ (ital. sacro) und „heilig“ (ital. santo) wieder klarer zu unterscheiden. Es gilt also:

  1. Jeder profane Alltagsraum ist auch ein spiritueller Raum.
  2. Er bleibt ein solcher, auch wenn es von Einzelnen oder einer Gemeinschaft zu einem öffentlichen oder privaten religiös-heiliger Andachtsraum erklärt oder als solcher geschaffen wird.
  3. Wird ein solcher Andachtsraum im christlichen Kontext von einer Kirchengemeinde als sakral-liturgischer Kultraum anerkannt und als solcher „bekräftigt“ (zum Beispiel in Form einer „Kirchweihe“) bleibt dieser dennoch immer auch noch religiös-heiliger Andachts- und profan-spiritueller Alltagsraum.

Guardini hat dies vor allem für die Unterscheidung von Kult- und Andachtsbildern entwickelt, sein Konzept des "katholischen" Raumes gilt aber natürlich auch für die Typologie von "Kult- und Andachtsräumen". Das Babuschka-Prinzip in den Worten Guardinis:

„Der Raum des Andachtsbildes hingegen steht von vornherein in Fortsetzung zum privaten. Sofern es sich in der Kirche befindet, ist diese nicht sosehr die ausgesonderte und geweihte Stätte des Gottesgeheimnisses und der offizielle Ort der objektiv verfaßten Gemeinde, als vielmehr das Heim der betenden Gemeinschaft und des andächtigen Einzelnen. So kann das Bild ohne weiteres in die private Sphäre hinübergetragen oder von vornherein in sie eingefügt werden. Es kann „zu Hause“, im Wohnraum sein; und nicht nur tatsächlich, was auch bei der Ikone an der Wand oder einem vor der Zerstörung geretteten Bilde der Fall wäre, sondern sinnhaft. Es steht von vornherein im Raum des Menschen und ist dessen Gefährte. Es teilt sein Leben, und der Gläubige fühlt sich in ihm ausgedrückt.“ (Kultbild und Andachtsbild (1937), in: Wurzeln eines großen Lebenswerks - Band 3, S. 144)

„Vor allem müßte jedem Gläubigen die Kirche in neuer Weise wichtig werden. Nicht nur als Ort des gemeinschaftlichen Gottesdienstes, von dem ja hier nicht gehandelt wird, sondern als Haus des Vaters, in dem er Heimatrecht hat. Er müßte das Bewußtsein dieses Heimatrechts in sich ausbilden; auf seinen täglichen Wegen hin und wieder in die Kirche eintreten; in ihr Ruhe, Sammlung und innere Lösung, Trost, Mut und Stärkung suchen. Schwieriger wird es sein, den Gedanken des heiligen Ortes im Hause zur Geltung zu bringen - besonders dann, wenn der Raum sehr beschränkt ist und die anderen Familienmitglieder sich gleichgültig oder ablehnend verhalten. Vielleicht ist aber doch das eine oder andere möglich. Etwa so, daß in einer Ecke des Zimmers das Kreuz hängt und man sich in seiner Nähe niedersetzen kann. Oder daß sich an einer Wand ein Bild befindet, dem man mit Ehrfurcht entgegentritt. Das heilige Bild dient ja nicht nur der Erinnerung oder Vergegenwärtigung; es ist mehr.“ (Vorschule des Betens, S. 35)

Zur Auswahl der verwendeten Raum-Beispiele

Im Folgenden werden als der Veranschaulichung dienende Raum-Fotografien verwendet, die im 20. und 21. Jahrhundert entstandene und gestaltete Räume verwendet. Grundsätzlich gilt das gesagte aber auch für alle Räume, die in früheren Epochen entstanden und gestalten oder auch aus verschiedenen Epochen heraus gestaltet sind. Der damalige „grundgelegte“ Sinn verliert nichts an seiner Bedeutung, muss aber aufgrund von Überlagerungen dieses Sinnes durch Verzweckungen oder Verfälschungen wieder „ent-deckt“ werden. Diese Idee entwickelt Guardini insbesondere in seiner Arbeit über „heilige Zeichen“ und seine begriffsphänomeologischen Arbeiten, die aber auch für Kunstwerke und –räume, die aus vergangenen Epochen stammen.

Im Folgenden werden zur Veranschaulichung vor allem Beispiel aus dem christlichen Kontext verwendet. Der von Guardini und in seinem Sinne hier verwendete Begriff des „Katholischen“ ist aber nicht spezifisch auf christliche Kunstwerke und -räume begrenzt und auch nicht konfessionalistisch misszuverstehen („katholisch“ meint hier ja nicht das konfessionelle „römisch-katholisch“!), sondern kann analog auch auf anderen religiöse Kontext übertragen werden, also zum Beispiel auf sakrale Kulträume anderer Religionen wie Synagogen, Moscheen, Schreine, Tempel sowie auf Andachtsräume und Alltagsräume, die kulturell von anderen religiösen Kontexten geprägt sind.

Im Folgenden werden zur Veranschaulichung besonders auch „Berliner Beispiele“ herangezogen, die im Nachgang der Veranstaltung von den Teilnehmern besucht werden könnten.

Der sakral-liturgische Kultraum

Die Kirche als Volk Gottes hat das Recht, im Einklang von Bischof und Ortsgemeinde für den sakral-liturgischen Kultraum bestimmte „Mindeststandards“ für den Kultraum und unabdingbaren Kultbilder und –gegenstände zu erlassen; auch zu bestimmen, dass ein Raum, um sakral-liturgischer Raum sein zu können, eine „Kirchweihe“ braucht.

Für den Andachtsraum „im“ Kultraum kann dagegen die Gemeinschaft der Glaubenden zu den Kultbildern hinzu auch „Andachtsbilder“ im weitesten Sinne (also auch Licht-Installationen) mit hineinnehmen, wie sie es immer schon getan hat (biblia pauporum, Kreuzwegbilder, Heiligenskulpturen)

Punktuell und „ad hoc“ kann jeder Raum, sogar ein öffentlicher Platz oder ein Ort in der Natur, von der feiernden Gemeinde als sakral-liturgischer Kultraum genommen werden. Er verliert diesen Charakter aber mit dem Ende der liturgischen oder sakramentalen Feier oder einer entsprechenden temporären Aufgabe.

Der Begriff „Kapelle“ ist dagegen ambivalent. Kapellen können zum Beispiel für Ordensgemeinschaften oder örtliche Gegebenheiten als „Kirche geweiht“ und somit sakral-liturgische Kulträume sein. Häufig findet sich der Begriff heute aber auch für öffentliche oder private Andachtsräume, insofern sie ausschließlich der Andacht dienen.

Guardini betont zwar, dass - im Sinne des Minimalismus und der Reduktion - auf den Kult ausgerichteten Räume, nicht als „Leere“, sondern als Stille zu verstehen sind, aber für Menschen die in einer „Kirche“ vor allem auch einen Andachtsraum sehen, der einem gegenständlichen Andachtsbilder „zur Verfügung“ stellt, ist das natürlich „ästhetisch“ nur schwer nachvollziehbar. Ihren „Sinn“ als Kultraum tangiert das aber nicht.

Diese Entwicklung gilt konfessionell nicht nur für den römisch-katholischen Bereich, sondern auch für den evangelischen.

Dies ändert sich auch dann nicht, wenn der Raum zugleich allgemeiner Erinnerungsraum ist. So war zum Beispiel die Berliner Versöhnungskirche vor ihrer Zerstörung eine evangelische Kirche, die sich in der Bernauer Straße 4 im Berliner Bezirk Mitte befand. Sie wurde 1892 errichtet und im Jahr 1985 auf Veranlassung der DDR-Regierung gesprengt. An der Stelle des zerstörten Kultraums der evangelischen Kirche entstand ein neuer sakral-liturgischer Raum, der aber als „Kapelle der Versöhnung“ in besonderem Maße auch ökumenischer „Andachtsraum“, in diesem Fall „Gedenk- und Erinnerungsraum“ ist. Sie ist Teil der Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße.

Ähnliches gilt für den Neubau sakral-liturgischer Kulträume als Nachfolgebauten zerstörter Vorgängerbauten, wie zum Beispiel die neue, im Jahr 2000 eingeweihte Herz-Jesu-Kirche an Stelle der 1994 ab- und ausgebrannten Vorgängerkirche aus der Nachkriegszeit.

Mittlerweile gibt es in Deutschland einige sogenannte „Doppelkirchen“, die von mehreren Konfessionen gemeinsam genutzt werden. In diesem besonderen Fall gibt es zwei unterschiedliche stabile Gemeinden, die im Vorfeld für die Bestimmung als sakral-liturgischer Kultraum einzubeziehen.

Zu erwähnen ist der wohl bislang einzigartige Fall der „Transferierung“ eines ökumenisch genutzten Sakralraums. Der Christus-Pavillon, die gemeinsam von der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche von Hannover und dem Bistum Hildesheim verantwortete Expo-Kirche bei der Expo 2000 wurde vom Messegelände in Hannover ins Kloster Volkenroda überführt, das von der ökumenischen Jesus-Bruderschaft getragen wird.

Der heilig-religiöse Andachtsraum

Ökumenisch genutzte heilig-religiöse Andachts- und sakral-liturgische Kulträume finden sich oft als Autobahnkirchen, Krankenhäusern oder an Flughäfen. Als in der Regel „multi-funktionale“ Räume dienen sie nicht primär sakral-liturgischem Kult, sondern der persönlichen Andacht unterschiedlicher konfessioneller Ausprägung. Dies setzt in der Regel einen ökumenischen Dialog- und Einigungsprozess zwischen Trägern und Architekten. Aufgrund der hohen Besucherfluktuation und einer fehlenden stabilen Gemeinde ist eine vorheriger Einbezug der Besucher selten möglich.

Ein allgemein anerkannte, öffentlich zugängliche, heilig-religiöse Andachtsraum hat aus Sicht der römisch-katholischen Kirche keine Kirchweihe und somit auch keinen geweihten Altar und auch keinen Tabernakel. Als öffentlich zugänglicher Andachtsraum kann er aber natürlich „ad hoc“ auch als Kultraum bestimmt werden kann. Ein besonders eindrückliches Beispiel ist hier die Bruder-Klaus-Feldkapelle in Wachendorf (2005/07), die von einem Bischof gesegnet wurde, aber eine „römisch-katholische“ Privatkapelle, also kein sakral-liturgischer Raum ist.

Ähnliches gilt auch für die vom Stifter ökumenisch gewollte und infolgedessen auch ökumenisch gesegnete Andachtskapelle in den Zornheimer Weinbergen (2022).

Mit der Entwidmung sakraler Bauten entsteht heute auch eine neue Fragestellung. In Guardinis Konzept und gemäß dem Babuschka-Prinzip verliert zwar das Gebäude den Status und Charakter eines sakral-liturgischen Kultbauwerkes, bleibt aber als musealer Raum für viele Besucher ein heilig-religiöser Andachtsraum und in jedem Fall ein besonderer profan-spirtueller Alltags-Raum. Im Blick auf die „Geschichte“ des Raumes bleibt ein „Hauch“ des früheren „Sinnes“ und „Geistes“ erhalten und spürbar (vgl. Francis Jammes). Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür bildet die Galerie König in der ehem. St. Agnes (seit 2015) in Berlin.

Bekanntere internationale Beispiele für Räume, die als "Kapelle" benannt werden und von nicht wenigen Besuchern als heilig-religiöse Andachtsräume betrachtet werden, sind das Musée national Pablo Picasso (1881-1973) in Vallauris, in dem sich in einer profanierten romanischen Kapelle seit 1954 zwei sich gegenüberliegende, oben am Gewölbe zwei Monumentalbilder: „Der Krieg“ und „Der Frieden“ befinden, und der vom Künstler Rothko (1903-1970) bewusst als „Rothko Chapel“ initiierte Kunst-Raum, der von ihm selbst als „interfaith sanctuary” und “a center for human rights” gesehen wurde.

Im Übergang von heilig-religiösen Andachts- zu spirituell-profanen Alltags-Räumen stehen die "Räume der Stille". Gerade im „öffentlichen Raum“ besteht offensichtlich weiterhin das Bedürfnis, abgegrenzte Andachtsräume oder „Räume der Stille“ zu haben, die mitunter auch darauf Rücksicht nehmen „müssen“, für ganz unterschiedliche Religionen und Konfessionen, Religiösitäten und Spiritualitäten als Andachts- und Gebetsraum oder mitunter sogar „ad hoc“ als liturgischer Raum dienen zu können.

Im pädagogischen oder auch psychotherapeutischen Kontext werden solche "Räume der Stille" als als profan-spirituelles Angebot in sozialen Einrichtungen als „Snoezel-Raum“ bezeichnet.

Im privaten Wohnhaus wiederum kann es auch eigene Gebets- und Meditationsräume geben. Als Beispiel sei eine „Hauskapelle“ in Niederaltaich (Architekt: Theo Keller). Im Bereich des Buddhismus und Islam ist die Einrichtung von eigenen Gebets- und Meditationsräumen im Privathaus sogar weiter verbreitet als im christlichen Kontext. In diesem gab es früher und auch regional unterschiedlich akzentuiert hingegen häufig einen privaten Andachtsbereich „im“ profan-spirituellen Alltagsraum, zum Beispiel im Ess- und Wohnzimmer. Der sogenannte „Herrgottswinkel“ oder auch ein „Hausaltar“ waren und sind zum Teil noch bekannte Andachts-“Ecken“ innerhalb von Wohnräumen. Auch wenn sie nur Teile eine Alltagsraumes sind, handelt es sich dabei um private, persönliche oder familiäre Andachtsräume. Auch Sie sind im christlich-europäischen Kontext „aus der Mode“ gekommen und wurden daher leider auch kaum künstlerisch weiterentwickelt.

Übriggeblieben ist mitunter noch das private Andachtsbild im profan-spirituellen Alltagsraum (Arbeitszimmer). Guardini selbst hatte in seinem Berliner Arbeitszimmer einen Abguss der heute in den Staatlichen Museen Berlin befindlichen Sigmaringer Christus-Johannes-Gruppe vor seinen Augen. Wenn er 1947 eigene Gedanken zu ihr äußert und damit „das Fortleben des religiösen Gehalts der Gruppe bis in die Gegenwart" bezeugt, schließt sich ein Kreis:

„Was ich an diesem Bildwerk immer zuerst empfunden habe, war seine tiefe Ruhe und Stille. Diese gehen vom innersten Kern der Gruppe aus; von dem, was zwischen den beiden Gestalten lebt (24). Der Meister ist von einem tiefen, fast schweren Ernst des Daseins erfüllt. Er weiß, wie sonst keiner wissen kann. In diesem Wissen ist er ganz einsam. Ohne Beistand noch Trost trägt er die Last des Daseins. Der Jünger aber ist vertrauend bei ihm; innerlich unterwegs zu ihm. Er scheint zu schlafen; es ist aber kein körperlicher Schlaf, sondern jener Zustand, den die geistlichen Geister den ,mystischen Schlummer' nennen: die Entrücktheit nach innen, das vollkommene Hingegebensein des losgelösten Gemütes an das Ewige. Darin hat er, unwissentlich wissend, Anteil am Leben seines Meisters (26). … dass er, der Jünger, an der Brust seines Meisters gelegen hat, geliebt war und durch diese Liebe befähigt, selbst zu lieben; dass er geborgen war in einer alles beantwortenden heiligen Wahrheit, und in einem Frieden, der aus der letzten Überwindung kam, hat ihn ein anderes Beieinander ahnen lassen: ein Geborgensein in einer absoluten Sinnfülle und Liebe, worin der ewige Sohn an der Brust des ewigen Vaters in der Innigkeit des Heiligen Geistes ruht. Das ist es, was letztlich hinter der Gruppe steht. Das drängt aus der Ewigkeit in die Erscheinung (29).“

Gerade auch religiös geprägte Künstler kennen solche privaten Andachtsbilder auch in ihrem privaten Arbeitsbereich (Atelier). Ein bekanntes historisches Beispiel ist dafür das gemeinsam von Franz Marc und August Macke an die Atelierwand des Wohnhauses von Macke in Bonn gemalte Bild "Paradies" (1912). Heute gehört dieses Atelier samt dem Bild zum Museum.

Häufig finden sich solche für den privaten Andachtsbereich geschaffene Gemälde auch im Museum wieder und können dort ad hoc oder dauerhaft auch als Andachtsbilder wahrgenommen werden. So war Franz Marcs "Tirol mit Schutzmantelmadonna" (1914/15), das heute in der Sammlung Moderne Kunst der Pinakothek der Moderne München hängt, im Rahmen der Ausstellung „AU RENDEZ-VOUS DES AMIS. KLASSISCHE MODERNE IM DIALOG MIT GEGENWARTSKUNST AUS DER SAMMLUNG GOETZ“ zusammen mit Michael Buthes "Im Zeitalter der Fische" (1988) aus der Sammlung Goetz, München, ausgestellt. Gerade in dieser Zusammenstellung wurden beide Werke als Andachtswerke wahrnehmbar.

Der profan-spirituellen Alltagsraum

„Feng Shui“ als Spiritualität für profane Alltagsräumen ist auch im „Westen“ immer mehr „populär“ geworden, ebenso wie Zen-Gärten, denn auch „Gärten“ sind in dem hier grundgelegten Raumverständnis „Räume“. Solche Zen-Gärten gibt es immer häufiger sogar in römisch-katholisch geprägten Umgebungen, wie zum Beispiel den einer Benediktinerpropstei Holzkirchen bei Würzburg.

Gibt es aber nicht auch eine christliche Spiritualität profaner Alltagsräume wie Wohnzimmer und Garten oder müsste es sie zumindest geben?

Unter dem Einfluss Guardinis haben sich verschiedentlich Architekten um eine solche bemüht. Zum Beispiel hat Mies van der Rohe, der mit Romano Guardini persönlich bekannt und vor allem von Guardinis „Briefen vom Comer See“ beeindruckt war, 1928 in der Staatlichen Kunstbibliothek Berlin seinen bekannten Vortrag „Die Voraussetzungen baukünstlerischen Schaffens“ gehalten, in dem er Guardini teilweise wörtlich zitiert. Im Sommer 1928 begannen dann auch die Planungen der Villa Tugendhat in Brno, die als Verwirklichung dieses Vortrags angesehen wird, zumal auch die Auftraggeber Fritz und Grete Tugendhat mit Guardini bekannt und stark von dessen Werk beeinflusst waren. Der Bau wurde nach intensiven Gesprächen 1929/30 verwirklicht. Demnach kommt von Guardini die Vorstellung der befreienden Wirkung großer Räume, die in ihrem Rhythmus eine ganz besondere Ruhe haben, und die damit dem Geist die Existenzmöglichkeit bieten und zur Steigerung des seelischen Lebens beitragen.

Auch Guardinis Gegensatzlehre hat wohl in Mies van der Rohes architektonisches Schaffen Eingang gefunden. So heißt es in der Sekundärliteratur:

„Das architektonische Schaffen von Ludwig Mies van der Rohe hat viel mit Gegensätzen zu tun. Aber diese Gegensätze sind keine Widersprüche in sich oder Kontraste, die einen szenografischen Charakter haben. Diese Gegensätze bedingen sich gegenseitig. Erst durch sie erfüllt sich die Gegensätzlichkeit zur Architektur.“

In diesem Sinne werden der Barcelona-Pavillon (1929, heute in Rekonstruktion von 1984) und die neue Nationalgalerie in Berlin (1968) als Museum für die Kunst des 20. Jahrhunderts als Beispiele dafür genannt.

Aber auch das ehemaliges Guardini-Haus in Berlin-Schlachtensee - von Rudolf Schwarz 1935/36 nach den Wünschen und Vorstellungen Romano Guardinis gebaut, kann als solches Beispiel betrachtet werden. Leider gibt es von der Gestaltung der Innenräume im unbewohnten oder bewohnten Zustand wohl keine zeitgenössischen Bilder mehr.

Beispielhafte Anschauungs-Räume: Die Lichtinstallationen von James Turrell

Besonders unter dem Thema des Vortrags angeschaut werden können die Lichtinstallation in der ehemaligen Seminarkapelle im Diözesanmuseum Freising, also einem entwidmeten sakral-liturgischen Kultraum in einem Museum christlicher Kunst, der nun als eigener Andachtsraum selbst zum Kunstwerk wird. Eine andere Lichtinstallation von Turrell in der Kapelle Dorotheenstädtischer Friedhof (2015), die auch als heilig-religiöser Raum noch genutzt wird, aber deren für die Abendstunden konzipierte Lichtinstallation von Turrell ein eigenes Kunst-Raum-Werk bildet.

Abschluss: Ulrich Schaffer „Das Kunstwerk“ (2007)

Ulrich Schaffer hat dies in einem meditativen Text, den er 2007 unter dem Titel "Das Kunstwerk" veröffentlicht hat, in einzigartig poetischer Weise auf den Punkt gebracht. Ich erlaube mir, drei Sätze dieses Textes zu zitieren und verweise für den ganzen Text auf Ulrich Schaffer: Du. Zusprüche, 2007:

"Vor dir liegt deine Zukunft. Du weißt nicht, ob sie kurz oder lang sein wird. Du kannst ihre Härte, ihr Glück, ihre Gestalt nicht abschätzen. Sie ist dir verborgen. Aber sicher ist, dass du berufen bist, aus dir ein Kunstwerk zu machen. [...] Nichts, nicht deine Begrenzungen, nicht die Widerstände, die sich hartnäckig aufbauen, nicht die Meinung derer, die dir nicht viel zutrauen, auch nicht dein fortschreitendes Alter, kann dich daran hindern, dein Leben zu einem Kunstwerk zu machen. [...] Das Leben hat es dir in deine vorsichtigen Hände gelegt. Es ist deine Zukunft. Du bist ein Gefäß für Gott. Du bist der Ausdruck Gottes. In dir bewegt Gott sich durch die Welt."