Romano Guardini und Mainz
Vorbemerkungen
Der grundsätzliche, dreifache Einfluss von Mainz auf Guardini
Guardini ist im Laufe seines Lebens immer bewusster geworden: „Niemand weiß, aus welchen - vielleicht räumlich entfernten oder zeitlich vergangenen - gläubigen Existenzen heraus sein eigener Glaube gespeist wird, sein Tun Kraft bekommt - ebensowenig wie er weiß, welche Menschen er selbst mitträgt“[Romano Guardini: Die Existenz des Christen, München/Paderborn/Wien (2)1977, S. 409]. Gerade weil Guardini sowohl einen Sinn für die „Ahnenschaft im Glauben“ als auch einen für die lebendig-konkrete Tradition hatte, war er sich der prägenden Wirkung der Stadt und des Bistums von Mainz als Symbol-Ort auf seinen eigenen Weg immer bewusst und nahm sie auch mehrfach dankbar in den Blick.
Dies gilt auch noch in jener Zeit, als er als Autor, der sich als „Europäer von Geburt“ und „geborener Europäer“ verstand, längst schon weit über die Stadt und das Bistum hinaus deutschland-, europa- und weltweite und vor allem auch weltkirchliche Bedeutung erlangt hatte, also faktisch „größer“ und „bekannter“ war als die Stadt und das Bistum. Weltweit gesehen kannten schon zu seinen Lebzeiten und kennen erst recht heute viele Menschen die Stadt und das Bistum Mainz aufgrund von Guardinis Biographie und nicht umgekehrt. Er war und ist also faktisch weltweit gesehen „bekannter“ als die Stadt und das Bistum Mainz.
Dennoch stellte er sich - wie schon der Mainzer Bischof Willigis in den Schatten seines hölzernen Pflugrades an seiner Bettstätte - aus Demut ebenfalls in den „Schatten des Mainzer Domes“ als Symbol für wesentliche Traditionsströme des deutschen Katholizismus. Max Müller (1906-1994) - Philosoph in Freiburg und München, zunächst Quickborner, dann Bund Neudeutschland, Guardini- und Heidegger-Schüler, der 1954 gemeinsam mit Johannes Spörl Guardinis philosophische Ehrenpromotion in Freiburg erwirkte - macht dabei in seinem 1954 erschienenen Beitrag über Guardini als „Gestalter unserer Zeit“ „drei große Traditionsströme“ aus, die in der Sicht des deutschen Katholizismus Mainz in sich vereinige:
- Erstens stehe es für den Strom „des `SYMBOL-KATHOLIZISMUS´ des alten Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, in welchem der Glaube die Verantwortung für eine ganze Welt zu tragen bereit war."
- "Dann aber sei Mainz auch jene Stadt, in der es zum erstenmal `KATHOLIKENTAGE´ gab, d.h. die Stadt der sich hier formierenden schlagkräftigen konfessionellen Organisationen und des damit verbundenen `politischen Katholizismus´".
- "Schließlich aber habe in Mainz der `SOZIALE KATHOLIZISMUS´, dessen größtes und leuchtendes Symbol im 19. Jahrhundert der sozialreformerische Wille des großen Mainzer Bischofs Wilhelm Emmanuel von Ketteler war, seinen Ursprung gehabt"[Max Müller: Romano Guardini, in: Gestalter unserer Zeit, 1954, Band 1: Denker und Deuter im heutigen Europa. Europäische Köpfe, S. 65].
Müller ging 1954 noch davon aus, Guardini sei dem „politischen Katholizismus” und seinen Organisationen „immer fern und fremd geblieben”. Diese Aussage ist historisch aber nicht mehr haltbar. Zuzustimmen ist Müller jedoch in der Einschätzung, dass sich bei Guardini „die beiden anderen Linien, die des konservativen Symbolkatholizismus, der das Unsichtbare und Ewige dauernd in konkreter Verleiblichung wirklich unter uns erlebt, und die des vorwärtsdrängenden und reformerischen Sozialkatholizismus, der auf die Forderung der geschichtlichen Stunde fühlig und erregt hinhört, ... in selten harmonischer Synthese” geeint hatten [vgl. ebd.]. Allerdings hätte Guardini selbst dabei wohl nicht von „harmonischer Synthese“ gesprochen, sondern stattdessen - als A-Hegelianer, aber nicht als Anti-Hegelianer! - im Rahmen seiner Gegensatzlehre von „lebendig-konkreter Spannungseinheit“.
Die ausstehende systematische Erforschung dieser drei Einflüsse
Es wäre aber durchaus lohnend fundamentaltheologisch und sozialethisch folgendes herauszuarbeiten:
- 1) wie nahe sich Kettelers und Guardinis Vorstellungen wirklich sind, zum Beispiel in Bezug auf „Dialogik“ versus „Dialektik“ und die Unterscheidung echter Gegensätze unter Ausschluss von Widersprüchen, was bei beiden gegen Hegels Dialektik gerichtet ist; konkret aber auch im Blick auf das Verhältnis von „Autorität und Freiheit“, „Autonomie und Heteronomie“ in ihrem Verhältnis zur „Ordnung unter Personen“ und zur „Theonomie“, bis hin zur Idee des „Solidarismus“ und der „solidarischen Verantwortung“ sowie der dazugehörenden krisenbewältigenden Erneuerungs- und Reformprogramme;
- 2) wie stark Guardinis Analogien zwischen Kirche und ihrem Vollzug der Liturgie als „Gesamtkunstwerk“ einerseits, Staat und seinem Vollzug der Politik als „Kunst des Möglichen“ andererseits im Mainzer Symbolkatholizismus verankert sind (z.B. Mainzer Evangeliar, Mainzer Choral, Mainzer Dom St. Martin nach Willigis-Ideal, das Willigis- bzw. Martins-Rad, der Mystiker-Bischofs „Bruder Bardo“); und zwar bis hinein in die Polarität von „Oben“ und „Innen“, die eine „Kirche von oben“ bzw. einen „Staat von oben“ und eine „Kirche von innen“ bzw. einen „Staat von innen“ als lebendig-konkrete Gegensätze einander gegenüberstellt, worin denn auch die eigentliche Bedeutung von Guardinis Aussprüchen einer „Kirche, die in den Seelen erwacht“ und eines „Staates in uns“ liegt;
- 3) mit welcher theologischen, mystischen und weltanschaulichen Motivation Guardini sich von Jugend an und somit von Mainz ausgehend im organisierten Katholizismus engagiert hat (Juventus, Piusverein, Unitas, Katholischer Akademikerverband „I“ (der studentische) und „II“ (der nach-studentische) und dies obwohl er tatsächlich alle nicht langfristig vor- und nachbereitete Großveranstaltungen mit unzureichender „Methodik“ für völlig unfruchtbar hielt; gerade weil seine Vorstellung von „Participatio actuosa“ sich keineswegs nur auf die Liturgie bezog und weil sich seine Vorstellung von „Akademie“ keineswegs nur auf eine rein platonische Akademie bezog und auch nicht auf eine „bessere“ Volkshochschule oder verlängerten Arm der Universität ins Volk hinein.
Zur Entschuldigung des Mainzer Bischofs Karl Lehmann anlässlich der Verleihung des Guardini-Preises 2014
Lehmann bei der Guardini-Preis-Verleihung 2014
Kardinal Lehmann machte bei der Verleihung des Guardini-Preises 2014 in München das Verhältnis von Guardini zu Mainz ausdrücklich zum Thema seiner Dankesrede [„Seine zahllosen Bücher begleiten mich bis heute". Kardinal Lehmann in München mit dem Romano-Guardini-Preis ausgezeichnet, Rede online: Rede auf Bistum Mainz - Ehemalige Bischöfe - Zur Debatte, 8/2014.
Kardinal Lehmann sagte zunächst: „Anfangs wusste ich wenig um das schwierige Verhältnis zwischen Mainz und Romano Guardini. Frau Professorin Dr. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz hat dann in ihrer großen Guardini-Biografie, die zum 100. Geburtstag im Jahr 1985 erschien, diese problematische Beziehung weitgehend aufhellen können.“
Das Kapitel über Mainz von Gerl-Falkovitz erschien übrigens schon im Dezember 1984 als Vorabdruck im Guardini-Heft des Gymasium Moguntinum Rabanus-Maurus-Gymnasium Mainz unter dem Titel „Eine nicht ganz glückliche Beziehung“ [Hanna-Barbara Gerl: Eine nicht ganz glückliche Beziehung: Romano Guardini und Mainz, in: Romano Guardini. 1885-1968. Gymnasium Moguntinum Rabanus-Maurus-Gymnasium, Mainz, Nr. 46, Dezember 1984, S. 9-17]. Sie plädierte darin, die frühen und nachhaltigen Prägungen Guardinis „nicht zu unterschätzen. Zugleich muss aber gesagt werden, dass diese Prägungen eher im seltenen Fall sich in Guardinis Erinnerung freundlich oder gar glücklich spiegelten.“ Nach ihrer Darstellung schließt sie: „Von allen Verwundungen abgesehen, ob sie nun aus Enge und Unverstand, ob sie aus der eigenartigen Abgeschirmtheit der Kindheit und Jugend stammten – Mainz war doch die Stadt der ersten, unbewußten und um so nachhaltigeren Begegnung mit dem Leben.“
Gerl-Falkovitz spricht hier aber anders als Kardinal Lehmann nicht von einem „Zerwürfnis“. Der Kardinal hingegen fährt in seiner Rede fort mit dem Satz: „Das Zerwürfnis zwischen Mainz und Romano Guardini hat mich im Lauf der folgenden drei Jahrzehnte jedoch nie losgelassen.“
Nach einer sehr gediegenen, ausgewogenen Darstellung der verschiedenen, bis dahin bekannten Erfahrungen Guardinis in Mainz zwischen 1908 und 1923, wird Guardinis eigener Rückblick von 1943/45 angeführt. Guardini hatte bekanntlich geschrieben: „Damals habe ich mich innerlich von der Mainzer Diözese gelöst, umso mehr, als mein Vater im Jahr 1919, kurz nach seiner Rückkehr aus der Schweiz gestorben war und meine Mutter sich entschloss, nach Italien zurückzukehren. Ich bin dann noch einmal nach Mainz gegangen, als ich die Berliner Professur (1923) bekommen hatte; die Enttäuschung, welche ich damals erfuhr, hat die Trennung definitiv gemacht.“
Kardinal Lehmann kommentierte dazu: „Der Ärger saß sehr tief, sodass Romano Guardini nach 1923 erst wieder im Jahr 1944 Mainzer Boden betrat. Ausdrücklich schreibt er, dabei habe er `keinen Groll empfunden´.“ Dennoch kommt Kardinal Lehmann nach einer Bewertung des Verhältnisses nach 1945 dann zu dem Schluss: „Trotz der langsam entspannten Atmosphäre verlassen einem, wenn man aus Mainz kommt, nicht Scham und Beklemmung. Die Verehrung für Romano Guardini in Mainz ist gewiss auch heute immer noch sehr hoch. Viele wissen freilich nichts mehr von den Verwicklungen und Verletzungen der frühen Jahre. Aber es muss doch von Mainz im Blick auf diese Zeit, soweit so etwas überhaupt möglich ist, ein Wort der Entschuldigung und der Bitte um Vergebung erwogen werden. So habe ich als Bischof von Mainz schon in meinem ersten Wort über Guardini, wohl etwas erschrocken über das Missverhältnis, gesagt, als damals 1984 „Die Berichte über mein Leben" erschienen sind: „Es war mir (erst recht nach dem Erscheinen dieses Buches) klar, dass wir nicht nur zu danken, sondern auch etliches wieder gut zu machen hatten, soweit dies menschenmöglich ist." Seither sind über 30 Jahre vergangen. Bei der Entgegennahme des Preises mit seinem Namen hier in München fühle ich mich - ganz im Sinne von Bischof Albert Stohr - gerade als Bischof von Mainz - nicht nur persönlich, sondern dienstlich-amtlich - zutiefst verpflichtet, fast 50 Jahre nach Romano Guardinis Tod angesichts der Verletzungen von damals um Entschuldigung, Nachsicht und Vergebung zu bitten.“
Solidarische Verantwortung statt Entschuldigung
Als ich in Vorbereitung dieses Vortrages Kardinal Lehmanns sicher gut gemeinte Worte noch einmal gelesen habe, war meine neuerliche Reaktion darauf: „Das hätte Guardini nicht gewollt!“ Entschuldigen kann man sich nach Guardinis eigenem Verständnis – deutlich geäußert in seiner hoch-aktuellen Rede „Verantwortung. Gedanken zur jüdischen Frage“ (1952) – nur für etwas, wofür man persönlich eine Schuld trägt, unabhängig davon ob als Einzelperson oder als Teil einer Institution und natürlich in besonderem Maße, wenn man in dieser Institution zum Zeitpunkt der Schuld ein Leitungsamt innehatte. Guardini lehnte sowohl die Existenz einer „Kollektivschuld“ ab, somit aber auch die Notwendigkeit einer „Kollektiventschuldigung“, erst recht über Generationen hinweg.
Was Guardini sehr wohl einforderte – auch über Generationen hinweg – war eine „solidarische Verantwortung“ für die Folgen von Schuld innerhalb einer Familie oder eines Volkes, innerhalb derer man ja auch ganz selbstverständlich die Freude über Ehre und Erfolg teile. Diese Verantwortungsübernahme erfordert zunächst vor allem ein ehrliches Aufarbeiten der Vergangenheit, ein klares Benennen der Schuld und der damals Schuldigen sowie ein klares Vorhaben, aus den Fehlern der Geschichte zu lernen und die richtigen Schlüsse für die Zukunft daraus ziehen zu wollen. Nicht weniger, aber auch nicht mehr [Romano Guardini: Verantwortung. Gedanken zur jüdischen Frage, in: Hochland, München, 44, 1951/52, 6 (August 1952), S. 481-493, hier S. 490 (Rede am 23. Mai 1952 vor der Tübinger Studentenschaft anlässlich der sog. Ölbaumspende)].
Gerade deshalb muss man es aber ernst nehmen, wenn Guardini selbst schreibt, er sei 1944 „ohne Groll“ nach Mainz zurückgekehrt. Er hat also gar keine Entschuldigung erwartet.
Der von Guardini benannte, sozusagen „hauptschuldige“ Domkapitular, bis 1901 Kirchenrechtsprofessor und von 1920 bis 1922 Generalvikar Ludwig Bendix – war noch im Jahr der „Trennung aus Enttäuschung“ am 28. September 1923 gestorben, dessen Bruder Karl im Jahr 1929. Der für die Ereignisse 1909/10 hauptverantwortliche Domkapitular und ehemaligen Regens des Mainzer Priesterseminars Joseph Blasius Becker starb im Jahr 1926. Der betroffene Spiritual Josef Siepe SJ, der durch seine Informationsweitergabe an den Regens die Verschiebung der Priesterweihen für Guardini und Neundörfer heraufbeschworen hat, war nur von 1909 bis 1912 im Amt und nach 1912 nicht mehr in Mainz tätig. Wer konkret wann und wie dafür gesorgt hat, dass der im Juli 1917 bei Karl Braig promovierte und am 7. März 1919 habilitierte August Reatz den Vorzug vor Guardini erhielt, bedarf noch weiterer Erforschung. Auch wer konkret ihn 1922/23 im Ordinariat und Priesterseminar enttäuscht hat, bleibt unklar.
Es gab dann zwischen 1945 und 1952 zwar so etwas wie eine Phase der „Retraumatisierung“ im Zusammenhang mit der ausbleibenden Ernennung zum Hausprälaten. Ich kann aber nicht erkennen, dass er dem Nutznießer und abermals Bevorzugten August Reatz eine Mitschuld gegeben hätte. Aber eine Schuld lag ja ohnehin weder beim Bistum Mainz noch gar bei Bischof Stohr persönlich, denn dieser war im Grunde in dieser Situation selbst, wie wir heute wissen, ein Opfer kirchlicher „Erwartungshaltungen“ im Vatikan. Einige nach 1945 dort mächtige Kurienvertreter hatten Stohr auflaufen und Guardini „vorführen“ wollen; andere sahen Guardini als Teil einer reformistischen Bewegung innerhalb des deutschen und französischen Katholizismus. Weitergehende Schlussfolgerungen lassen die neuen Erkenntnisse meines Erachtens nicht zu.
Insgesamt gibt es also keine „spezielle“ Schuld von Angehörigen oder Verantwortlichen der Stadt Mainz oder des Bistums Mainz. Die Haltungen und Behandlungen entsprachen sowohl bezüglich der Stadt denjenigen in ganz Deutschland als auch bezüglich des Bistums dem restaurativ-antimodernistischen Katholizismus in den meisten deutschen Bistümern bzw. im Vatikan, oder anders ausgedrückt: die von Guardini empfundene „Enge“ im Mainzer Seminars entsprach der Situation in den meisten anderen Priesterseminaren, die restaurativ-antimodernistischen Tendenzen im Katholizismus gab es nicht nur im Bistum Mainz und die völkischen Ressentiments waren in der Stadt Mainz sicher nicht stärker als andernorts.
Und: Guardini ist immer Mainzer Diözesanpriester geblieben. Er hat nie um die Inkardinierung in ein anderes Bistum gebeten, weder in das Bistum Breslau oder das neugegründete Bistum Berlin noch später ins Erzbistum München.
So kann Alfred Schüler 1969 betonen: „Seine Anfänge, wenn auch nicht seine allerersten, liegen im Mainzer Raum, und er blieb dieser Diözese auch in all den späteren Jahren inkardiniert“[Alfred Schüler: Romano Guardini. Eine Denkergestalt an der Zeitenwende, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte, 21, 1969, S. 133-138].
Das bisher „Bekannte“ zu den Mainzer Kapiteln seiner Biographie
Quellen des bisher „Bekannten“
Bislang schöpfte die Guardini-Forschung biographisch:
- auf den zwei bisher veröffentlichten autobiographischen Texten „Berichte über mein Leben“ (1984)
- auf den veröffentlichten Erinnerungen von Zeitgenossen, vor allem Adam Gottron, Philipp Harth („Mainzer Viertelbuben“) und Erinnerungen und Archivalien im Umfeld des „Gymnasium Moguntinum“.
- auf die Auswertung der Personalakten Guardinis und Neundörfers der Diözese Mainz.
In der Guardini-Biographie von Hanna-Barbara Gerl von 1985 wird ein großer Teil der Korrespondenz in der Bayerischen Staatsbibliothek sowie des Nachlasses von Alfred Schüler bzgl. Juventus ausgewertet.
Hinzu kommen einige, sich aber zum Teil widersprechende Erinnerungen Dritter an Guardinis Verhältnis zu Mainz, insbesondere von Alfred Schüler, Hans Waltmann, Werner Becker und Felix Messerschmid.
Die Problematik der bisherigen Hauptquellen
Die „Berichte über mein Leben“ waren, wie wir heute wissen, auf mehrere Durchläufe angelegt. Bislang sind nur zwei Durchläufe 1985 publiziert worden [Romano Guardini: Berichte über mein Leben. Autobiographische Aufzeichnungen. Aus dem Nachlaß hrsg. von Franz Henrich, Düsseldorf 1984; eingegangen ders.: Stationen und Rückblicke (1965)/Berichte über mein Leben, Mainz/Paderborn 1995]. Sie waren alle nicht für die Veröffentlichung gedacht, auch nicht durchkorrigiert oder überarbeitet und enden 1943/45. Das Nachkriegsverhältnis wird nicht weiter in den Blick genommen.
Die ersten beiden Durchläufe sind gewidmet: I. Professur und Lehrtätigkeit und II. Die Suche nach dem Beruf – Priestertum und seelsorgliche Tätigkeit. Beide Berichte behandeln Themen, die eher das kritische Verhältnis zu Mainz in den Vordergrund rücken. Zahlreiche positive Erfahrungen dagegen bleiben außen vor. Problem der „Berichte über mein Leben“ ist außerdem, dass manche Erinnerungen des 60jährigen Guardini bezüglich Daten, Abfolgen oder z.B. Vornamen fehlerhaft sind.
Die 1985er-Biographie von Hanna-Barbara Gerl basiert wesentlich auf Guardinis Nachlass in der Bayerischen Staatsbibliothek sowie einem aus dem Nachlass von Messerschmid dorthin gelangtem Konvolut von weiteren Briefen [Hanna-Barbara Gerl: Romano Guardini, 1885 - 1968. Leben und Werk, Mainz 1985]. Die dortigen Korrespondenzen beginnen mit ganz wenigen Ausnahmen alle frühestens 1943. Früher beginnende Korrespondenzen lagen ihr 1985 nicht bzw. noch nicht vor (Weiger, Kempner, Waltmann, Schwarz, Messerschmid, Spörl, vor allem aber auch Herwegen, Mohlberg usw.). Mitunter konnte sie wohl v.a. aus zeitlichen Gründen nicht in die Tiefen der Korrespondenzen gehen (z.B. Verlagskorrespondenzen mit Knies und Laubach) oder Bibliotheksanalysen vornehmen (Widmungsexemplare in der Mooshausener und der erhaltenen Privatbibliothek in Schloß Suresnes). Auch den Nachlassteil, der sich ab 1983/84 in der Katholischen Akademie in Bayern befand, hat sie nicht mehr herangezogen. Bei den Zeitzeugen lag ihr Schwerpunkt v.a. bei Guardinis Rothenfelser Freunden. Auch hier waren dadurch für bestimmte Kontexte und Zeiträume große Lücken gegeben, während andere stärker vertreten waren. Dieses Manko betrifft gerade auch einige Mainzer Bezüge. Leider übernahm sie die ihr zugänglichen zwei, erstmals 1984 edierten „Berichte über mein Leben“ oft ungeprüft und ohne Tiefenrecherche.
Hans Waltmanns (1903-1981) Erinnerungen gegenüber Walter Heist (1907-1984) [Walter Heist/Felix Messerschmid (Mitarb.): Romano Guardini. Der Mensch. Die Wirkung. Begegnung, hrsg. von der Stadt Mainz, Mainz 1979, darin: Walter Heist: Gespräche in Bayrischzell. Hans Waltmann erzählt von Romano Guardini, S. 59-68] betreffen folgende Aspekte:
- Zum Plan des von Heist geplanten Guardini-Buches meinte Waltmann, „das Verhältnis Guardinis zu Mainz sei doch eher ein gespanntes gewesen, und er, Waltmann, wisse nicht recht, ob man Guardini überhaupt als Mainzer vereinnahmen dürfe.“
- "Als Grund für Romano Guardinis „gestörtes Verhältnis“ zur Stadt seiner Kindheit nannte Waltmann unter anderem Erfahrungen der Familie Guardini im Ersten Weltkrieg. Die Guardinis hätten, obwohl sie schon über zwei Jahrzehnte aus Verona nach Mainz zugezogen gewesen seien und dort festen Fuß gefasst, und obwohl sie nicht nur sich eingelebt, sondern auch gesellschaftlichen Anschluss gefunden hätten, niemals daran gedacht, ihre italienische Staatsbürgerschaft aufzugeben; als dann 1915 Italien den Dreierbund verlassen und sich auf die Seite der Gegner Deutschlands geschlagen hätte, da hätten sie das auf die krasseste Weise zu spüren bekommen: sie wurden von früheren Freunden geschnitten, man warf ihnen „treuloses Italienertum“ vor, und Vater Guardini, musste schließlich Mainz verlassen, um von Zürich aus seine Geschäfte weiterzuführen; in Zürich sei er 1918 gestorben. Nach Kriegsende verlegten die Guardinis ihre Firma wieder nach Italien. Das alles habe Romano Guardini nie vergessen.“
Nie wurde die Frage gestellt, wie viele wirklich hinter diesem „man“ des Vorwurfs stehen? Guardini selbst berichtet zwar von verändertem Verhalten der Familie und ihm gegenüber, aber nicht von einer unmittelbaren Ausgrenzung. Nicht eine diskriminierende Behandlung in Mainz oder eine Entscheidung der Stadt Mainz war verantwortlich für das Verlassen von Mainz, sondern eine Entscheidung der Reichsregierung, alle italienischen Konsulatsmitarbeiter auszuweisen.
Die fehlende „Qualität“ der Erinnerungen Waltmanns zeigt sich auch daran, dass er davon ausgeht, dass Guardini von Zürich aus seine Geschäfte weiterführte, dies geschah aber in Mainz durch einen deutschen Mitarbeiter und durch Romano Guardini jun., der ja deutscher Staatsangehöriger und deutsche Uniform tragender Soldat war. Hier wurde eine zum Teil unsichere, zum Teil überbetonte, spät erinnernde Schilderung an Erzählungen Guardinis als pars-pro-toto-Zeugnis für ein „gespanntes“ bis „gestörtes“ Verhältnis von Romano Guardini zu Mainz genommen.
Aktueller Vergleich: Sollte man mitbekommen, dass einzelne Mainzer schon lange in Deutschland arbeitende und in Mainz wohnende Ausländer als „treulos“ bezeichnen und ausgrenzen, sollte man – und das sollte man aus menschenrechtlichen Gründen tatsächlich – dagegen vorgehen, aber vor allem auch deshalb, damit eigenen Nachkommen später nicht einmal vorgehalten wird, dass „man“ als Mainzer und als Stadt daran „Schuld“ habe, dass ein berühmt gewordenes Familienmitglied einer dieser ausländischen Familien, der schon vor Ausbruch des Krieges deutscher Staatsangehöriger wurde, mit einem angeblich „gestörten“ Verhältnis zur Stadt von Mainz weggegangen und nicht mehr wirklich zurückgekehrt sei. Und dies auf der Basis, dass ein jüngerer Freund dieser Berühmtheit mit Migrationshintergrund, dies im Jahr 2085, lange nach dem Tod dieser Berühmtheit, einem Zeitzeugen-Befrager gegenüber formuliert, der das Gesprächsprotokoll dann veröffentlicht. Das wäre zwar dann nicht „unerheblich“ oder „unwahr“, aber eben auch in keinster Weise aussagekräftig oder repräsentativ. Und dies sollte daher auch einmal in Bezug auf Waltmann geäußert werden. Die Details und die Bewertungen Waltmanns in Bezug auf Guardini sind zwar weder „unerheblich“ noch „unwahr“, aber eben auch weder aussagekräftig noch repräsentativ.
Waltmann nennt in diesen Erinnerungen als weiteren Grund für Guardinis angeblich „gespanntes“ oder „gestörtes“ Verhältnis seine Rückstellung von der Weihe, die später noch dargestellt wird. Schließlich erinnert er sich, dass auch die Kaplanszeit Guardini nicht befriedigt habe. Diesen Grund verankert er aber nun ausdrücklich nicht mit der in Aussicht gestellten Stelle im Priesterseminar, sondern mit Guardinis Gefühl, wofür er sich „bestimmt fühlte“: „“Es stand eigentlich von Anfang an für ihn fest, daß nicht die Praxis der Seelsorge, sondern das Schreiben und die wissenschaftliche Arbeit das Gebiet war, für das er sich bestimmt fühlte.“ Zwar hat sich der Kaplan ein Jahrfünft lang mit viel Begeisterung und Erfolg für die Mainzer „Juventus“ eingesetzt, aber als sich auch hier „konservative Gegenkräfte“ geltend machten, griff er gern zu, als 1923 [sic! HZ: Das war aber 1920], auf Veranlassung von Abt Ildefons Herwegen von Maria Laach [HZ: Herwegen hat vermittelt, aber nicht veranlasst!] – Guardini stand mit ihm durch ihrer beider Teilnahme an der neuen liturgischen Bewegung in Verbindung – die Aufforderung an ihn erging, sich an der Universität Bonn zu habilitieren. […] „Er war eben über Mainz hinausgewachsen“, meinte Waltmann lakonisch. Als erster habe ihn übrigens Bischof Dr. Stohr – einst Guardinis Kursgenosse – für die Mainzer Diözese zurückgewonnen, ihn sozusagen rehabilitiert.“
Waltmann selbst schwankt also zwischen Gründen, die in Guardini selbst wurzelten, sowie den widrigen Umständen in Mainz. Dies spricht immerhin dafür, dass Waltmann – im Unterschied zu manchen, die sich später dazu äußerten, die „Schuld“ am angeblich „gespannten“ und „gestörten“ Verhältnis nicht allein in Mainz, sondern auch bei Guardini sah, der aus Waltmanns Sicht ohnehin längst „über Mainz hinausgewachsen“ war.
Dass die Erinnerungen Waltmanns vor allem auch die Chronologie betreffend unzuverlässig sind, zeigt unter anderem die einflussreiche Erinnerung Waltmanns, Guardinis Studienfreund Heidegger habe zu Pfingsten 1933, also kurz nach seinem Amtsantritt und seinen ersten umstrittenen Reden als Freiburger Rektor, Guardini auf Burg Rothenfels besucht. Dieser Besuch fand aber nachweislich bereits an Pfingsten 1930 statt, also vor und nicht zu Beginn des Dritten Reiches. Abgesehen von den auch zu Mainz enthaltenen Erinnerungsfehlern, scheint Waltmann also insgesamt gesehen einige Dinge zu stark zu pointieren, andere zu vernachlässigen oder falsch einzuordnen.
Es gab auch Kritik an Waltmanns Darstellung, allerdings bislang nicht publizierte. So gibt es Äußerungen von Felix Messerschmid und Werner Becker, die das von Waltmann bei Messerschmid etwas, bei Becker relativieren.
Felix Messerschmid sagt zum Beispiel über das Protokoll Heists zum Gespräch mit Waltmann: „Nichts darin ist völlig unrichtig, […] Es mag sein, daß ich zu dieser oder jener Formulierung eine Anmerkung zu machen habe, wenn ich zu meinem eigenen Betrag komme; sicher aber keine, die für Ihre Niederschrift von ändernder Bedeutung wäre.“
Deutlicher ist dagegen der Widerspruch von Werner Becker in einem Brief an eine Inge vom 16. November 1979: „Das Interview mit H.W. ist aber einfach traurig. ... Was für ein Unsinn ist es, ausgerechnet in diesem Mainzer Buch von einem gestörten Verhältnis zur Stadt Mainz zu sprechen (S. 60). Wie gern, wenn auch selten, sprach Guardini von dem Mainzer Kreis um die sozusagen mystisch veranlagte Frau Schleussner, usw. Die fünf Mainzer Jahre, in denen er auch Domprediger war, standen wohl als glückliche Zeiten in seinem Bewusstsein. – Daß ihn seine Lehrer zur wissenschaftlichen Laufbahn ermutigten, hat nie sein Verhältnis zur Praxis der Seelsorge gestört. Die Jugendarbeit Guardinis hat in Mainz ihren Anfang genommen und ist organisch weiterentwickelt worden. Er braucht dort auch nicht „rehabilitiert“ zu werden“ [Brief von Werner Becker an Inge, Leipzig, vom 16.11.1979 (Archiv Rothenfels)].
Es ist noch zu überprüfen, ob Beckers Erinnerung stimmt, dass Guardini während seiner Juventus-Jahre auch im Dom predigte.
Ohne Frage ist Guardinis Mainzer Zeit politisch wie kirchlich von den für Katholiken schwierigen Zeiten geprägt worden, aber diese Zeiten waren für alle Reformen gegenüber offeneren Katholiken besonders schwierig, zum Teil – gerade auch in den Freundeskreisen von Guardini – sogar bedeutend existentieller als bei Guardini selbst. Und ohne Frage ist auch Guardinis Verhältnis zu Mainz geprägt worden durch die schwierigen Zeiten des Ersten Weltkrieges, die für Guardini mit einer Mehrfachbelastung besonders anstrengend waren. Gerade aber, wie Becker zurecht betont, waren ihm hierbei der Kreis um Josephine und Wilhelm Schleußner und die älteren Jugendlichen der Juventus um Alfred Schüler und Ludwig Neundörfer, und lange Zeit eben durchaus auch Adam Gottron ein große Stütze. Das einige seiner jüngeren Wegbegleiter die „Zeichen der Zeit“ dabei falsch interpretierten und durch ungeschicktes Verhalten Guardinis Mainzer „Hängepartie“ um eine mögliche Dozentur am Priesterseminar noch weiter verschärften, führte letztendlich zu einer Erleichterung des Abschiednehmens.
Angesichts der Gesamtentwicklung bliebe dann aber auch die Frage zu klären, was aus Guardini geworden wäre, wäre er nicht nach Bonn, Rothenfels und Berlin gegangen, sondern hätte sich weiter in Mainz um die Juventus und um die Theologenausbildung im Priesterseminar in der Systematischen Theologie (Dogmatik und Apologetik) gekümmert und dies unter den nicht nur in Mainz wieder konservativer, kongregationalistischer und integralistischer werdenden Tendenzen im Katholizismus der zwanziger Jahre; wenn also schwerpunktmäßig nicht der Breslauer Erzbischof Adolf Bertram für die Berliner Universitätstätigkeit Guardinis Verantwortung getragen hätte, sondern der Mainzer Bischof Ludwig Maria Hugo für seine Tätigkeit im Mainzer Priesterseminar, der dann zudem für das Imprimatur aller Werke Guardinis und nicht nur für die im Matthias-Grünewald-Verlag erschienenen Werke zuständig geworden wäre.
[Für das Imprimatur seiner im Hegner-Verlag erschienenen Werke war zum Beispiel der Meissner Bischof Petrus Legge zuständig. Nachdem Pius XI. im September 1932 Legge zum Bischof ernannt und er am 28. Oktober 1932 zum Bischof geweiht wurde, hat er am 7. November 1932 das Imprimatur für Guardinis „Der Mensch und der Glaube“ gegeben, obwohl er erst am 8. November 1932 im Dom St. Petri zu Bautzen feierlich eingeführt wurde. Später hat er das Imprimatur durch den Domdekan und Apostolischen Protonotar Alexander Hartmann geben lassen. Das Imprimatur für Mainz hat ab 1923 im Übrigen immer der Generalvikar Mayer gezeichnet.]
Das „Unbekannte“ zu den Mainzer Kapiteln seiner Biographie
Woher kommen nun aber die neuen Erkenntnisse?
Seit 1985 gab es umfangreiche weitere Forschungen durch Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, der auch zum großen Teil veröffentlicht ist. Dazu gehören insbesondere die Erkenntnisse aus Briefen an Josef Weiger [„Ich fühle, daß Großes im Kommen ist.“ Romano Guardinis Briefe an Josef Weiger 1908-1962, aus dem Nachlaß hrsg. von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Mainz/Paderborn 2008].
Vieles an Neuem verdankt sich auch der akribischen, sozialbiographisches Forschung des leider bereits verstorbenen Prof. Berthold Gerner, größtenteils nur im Typoskriptdruck veröffentlicht, teilweise aber auch noch unveröffentlicht. Sein Guardini-bezogener Nachlass liegt in der Katholischen Akademie in Bayern und konnte daher jetzt auch vertieft ausgewertet werden.
Hinzu kommen bisher unveröffentlichte autobiographische Erinnerungen Guardinis, vor allem ein dritter „Bericht über mein Leben“; ebenso Neufunde von Korrespondenzen und Archivalien in anderen Nachlässen und Archiven. [Berthold Gerner: Romano Guardini in München. Beiträge zu einer Sozialbiographie, Bd. 1: Lehrer an der Universität, hrsg. von der Kath. Akad. in Bayern, München 1998; Bd. 2: Referent am Vortragspult, hrsg. von der Kath. Akad. in Bayern, München 2000; Bd. 3/A: Mann der Kirche, Teil A: Prediger in St. Ludwig, hrsg. von der Kath. Akad. in Bayern, München 2002; Bd. 3/B: Mann der Kirche: Teil B: Förderer der Liturgie, hrsg. von der Kath. Akad. in Bayern, München 2005 (alle im Typoskriptdruck und mit ausführlichem Register); außerdem das Typoskript „Guardinis theologische Studienzeit: Erläuterungen zu seinen autobiographischen Aufzeichnungen“ (München 2005); weitere Typoskripte zur Ökumene, zu seinen Berliner Sekretärinnen und Sekretären, dazu Auflistungen seiner Predigten und Vorträge].
Auch die Funde aus seiner Kindheit und Schulzeit im Nachlass seiner Mutter auf Isola Vicentina sind mittlerweile ausgewertet. Auszüge davon wurden veröffentlicht in italienisch-deutschem Ausstellungskatalog „Sulle tracce di Romano Guardini/Auf den Spuren von Romano Guardini“ [2020].
Schließlich sind da noch die Ergebnisse einer grundlegenden Auswertung der Guardini-Privatbibliothek, die schon bald nach dem Tod Guardinis in der Katholischen Akademie in Bayern im Schloß Suresnes aufgestellt wurde. Insbesondere wurden die in den Büchern enthaltenen Widmungen durch mich dokumentiert [vgl. meinen Aufsatz: Romano Guardini im Spiegel seiner Bibliothek. Eine historische Spurensuche im Rahmen eines Seligsprechungsverfahrens, in: Beiträge zur altbayerischen Kirchengeschichte, 61, 2021, S. 211-330], womit auch die Auswertung der Weiger-Stapp-Bibliothek in Mooshausen durch Gerl-Falkovitz vervollständigt wird [Siehe Briefe an Josef Weiger, aber auch: Gerl-Falkovitz (Hrsg.): Lauterkeit des Blicks, Heiligenkreuz 2013; Gerl-Falkovitz, Geheimnis des Lebendigen, Heiligenkreuz 2019].
Mittlerweile kam es auch noch zu umfassenderen Auswertungen der bereits vorhandenen Quellen, insbesondere die vorhandenen Korrespondenzen im Guardini-Nachlass der Bayerischen Staatsbibliothek, der Katholischen Akademie in Bayern sowie der vorhandenen oder schon veröffentlichten Dokumente und Bezugs-Korrespondenzen. Auch bisher schon veröffentlichte, aber in der Guardini-Forschung (noch) nicht oder nur unvollständig herangezogene, oder auch neu veröffentlichte Erinnerungen von den jeweiligen Gefährten konnten einbezogen werden.
Darüber hinaus gab es intensivere Nachrecherchen zu bereits veröffentlichten Hinweisen. Für Mainz betrifft dies vor allem den Schleußner-Kreis, den Pius-Verein, die Seminarzeit, die Freunde Josef Weiger und Karl Neundörfer, die Juventus, den Matthias-Grünewald-Verlag usw. usf.
Worum es dabei oft geht, soll an einem Beispiel aufgezeigt werden: Klaus Reinhardt, der frühere Regens des Priesterseminars, hat in der 1980 Jubiläumsschrift „Augustinerstrasse 34. 175 Jahre Bischöfliches Priesterseminar Mainz“ viele historische Fakten zusammengetragen. Darin wird auch Guardini mehrfach erwähnt, z.B. in Bezug auf einen Vortrag, den Guardini im Priesterseminar vor dem Piusverein über das „Wesen des Kunstwerks“ bereits im Jahr 1908 gehalten hat. Der Vortrag wurde zwar erstmals aufgegriffen bei Gerner (2000), dann bei Weiger-Briefen in Fußnote (2008). Allerdings wurde dieser Hinweis nie im Blick auf Piusverein nachrecherchiert. Dies wurde mittlerweile begonnen, verbunden mit weiteren Funden, die nun im Folgenden auch einbezogen werden können.
Kapitel I: Die Kindheit (1885-1896)
I.1. Der Umzug im Sommer 1885
Ein weiteres Beispiel für die Holprigkeiten in der Guardini-Forschung bildet bereits die Suche nach den Mainzer Adressen der Guardinis, mit denen nun die konkreten Darstellungen begonnen werden sollen. Dies beginnt bereits mit einer Korrektur des Umzugsjahres der Familie nach Mainz.
Guardini selbst berichtet in seinem „Bericht über mein Leben“ aus der Erinnerung von 1943/45: „Meine Eltern kamen im Jahre 1886, als ich ein Jahr alt war, nach Deutschland, und zwar nach Mainz. Wenn man den großen Unterschied zwischen der damaligen italienischen und der deutschen Welt ins Auge faßt, bedeutete das so viel, als ob sie aus dem Jahre 1856 heraus in das von 1886 gekommen wären“ [Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, Mainz 1995, S. 56].
Diese Erinnerung wurde so ungeprüft übernommen von Gerl, 1985, aber auch von allen anderen biographischen Darstellungen zu Guardini.
Beim Studium der Archivalien zum Antrag auf deutsche Staatsbürgerschaft (1910) ergibt sich dazu aber ein Problem: Im Fragebogen zu diesem Antrag steht eindeutig: „Seit 10. Juni 1885, in Mainz“.
Auch im von Guardini handschriftlich auf Latein angefertigten lateinischen Lebenslauf heißt es: „Primo vitae meae anno“ („in meinem ersten Lebensjahr“)
Eine Bestätigung kommt auch aus dem Nachlass der Mutter in Italien, Isola Vicentina: Denn auch aufgrund des gewidmeten Abschiedsgeschenks von Marta Bernardinelli (1847-1921), eine Tante väterlicherseits von Paola Bernardinelli, also unverheiratete jüngere Schwester ihres Vaters Michele, ergibt sich, dass die Emigration nach Deutschland schon im Juni/Juli 1885 erfolgt sein dürfte. Der Historiker Berlaffa vermerkt dazu: “1885, giugno/luglio. Probabile emigrazione della famiglia Guardini-Bernardinelli in Germania.”. Denn die Widmung lautet: «Cara Paolina/ Nel lasciarti ti offro questo piccolo libro perché esso ti ricordi la tua zia Marta e perché nel aprirlo tu la raccomandi al Signore insieme a tutta la tua famiglia. E così separate da tanta distanza ci riuniremo ogni giorno ai piedi del Crocifisso che è il rifugio di tutti i cuori. Tua zia Marta 29 giugno 85».
Dazu kommt der zeitgenössische Bericht von Giuseppe de Botazzi aus dem Jahr 1895: «A Magonza, graziosa città del Granducato di Assia, sulla riva sinistra del Reno, fin dall’anno 1885 la solerte ditta Esportazione Uova Bernardinelli, Dolci, Bampa, Narizzano & C., di Verona, fondò una filiale pel commercio del pollame vivo e delle uova, prodotti che vanno a poco a poco conquistando il mercato tedesco, mercé l’opera indefessa del signor Guardini Romano, di Verona, rappresentante della Ditta accennata» [Giuseppe de Botazzi: Italiani in Germania - Als Italiener im Deutschland del Jahrundertwende, Roux Frassati & C.,1895. Giuseppe De Bottazzi war Dozent für italienische Sprache in Stuttgart seit 1887.]. In der deutschen Neuausgabe von 1993 fehlt zwar die Angabe: «Ende des Jahres 1885», ist aber durch die italienische Originalausgabe verbürgt.
Außerdem erhält die Firma Guardinis bereits im März 1886 den „I. Preis für Verdienstvolle Leistungen Ausstellung März 1886“ durch den „Verein für Geflügel und Vogelzucht – Mainz, noch erhalten in der Villa Guardini auf Isola Vicentina. Dies wäre schwer vorstellbar, wäre die Familie erst im Frühjahr 1886 umgezogen.
Und nicht zuletzt: Die Familie ist bereits im Adreßbuch der Stadt Mainz für das Jahr 1886 verzeichnet (siehe unten), was aufgrund der Erhebung der Daten für den Druck einen Umzug erst im Frühjahr oder Sommer 1886 ausschließt.
Warum ist diese Korrektur wichtig? Vor allem für ein besseres Verständnis der psychischen Belastung der Mutter. Sie hatte am 11. Dezember 1883 ihre neugeborene Tochter Giovanna nach nur sechs Stunden verloren. Das Glück, gut 14 Monate später am 17. Februar erneut einen Sohn zur Welt zu bringen, wurde also dadurch getrübt, dass nach der offiziellen Tauffeier am 3. Mai 1885 im Juni 1885 der Umzug von Verona nach Mainz mit einem nur vier Monate alten Säugling stattfand. Die Anmeldung in Mainz erfolgte wie gesehen am 10. Juni 1885. Guardinis Mutter (* 23.9.1862) war zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 22 Jahre alt. Sie geht auf Wunsch ihres Vaters mit ihrem Mann also nur unter mehrfach starken Vorbehalten nach Deutschland, und dies also wohl keineswegs, wie bisher angenommen, „nur“ wegen ihrer aus Jugenderfahrungen im Internat resultierenden Abneigung gegen die deutsch-österreichische Sprache und Kultur, sondern aus Angst um das junge Familienglück. So ein Einschnitt stellt darüber hinaus natürlich auch für die erblich bedingte Vorbelastung mit einer Neigung zur Schwermut bis hin zur Depression einen zusätzliche Last und Belastung dar.
I.2. Die Adressen
Die bisher bekannten Wohnungen (nach Gerl, 1985) waren zunächst bis 1900 Frauenlobstr.; dann ab 1900 Gonsenheimer Hohl bzw. Straße 18, heute Fritz-Kohl-Straße 18. Bei Max Oberdorfer wird ergänzt: „Ecke Frauenlobstr./Kurfürstenstraße“. Dieser Ergänzung liegt zwar richtigerweise die Formulierung „Ecke Frauenlobstr.“ zugrunde. Aber bei Frauenlobstraße und Kurfürstenstraße handelt es sich um Parallelstraßen. Es muß daher heißen: Frauenlobstr./ Ecke Kaiser-Wilhelm-Ring. Die Postadresse auf einigen erhaltenen Briefen und Postkarten (vor allem in der erhaltenen Postkartensammlung aus Guardinis Schulzeit in Isola Vicentina) lautete dann auch: Kaiser-Wilhelm-Ring 8 - Fotografie in Wikipedia.
Dennoch hat seit 1985 die unbequellten Angaben von Gerl wohl nur noch einer überprüft, nämlich Berthold Gerner. Selbst dieser hat sie aber nicht mehr richtiggestellt. 1995 hatte Gerner nämlich das Stadtarchiv Mainz gebeten, nach Meldedaten oder Adressen der Guardinis in Mainz zu recherchieren. Er hat auch eine Antwort erhalten, die damaligen Angaben aber in seinen Veröffentlichungen nicht verwendet. Aus dem Gerner-Nachlass ist mir aber aufgrund der Kopie des Dankbriefes Gerners bekannt geworden, dass es eine solche Antwort gab, auch wenn sie bei Gerner wohl „verlegt“ wurde und so nicht mehr im Nachlass erhalten geblieben ist. Ich habe kürzlich beim Stadtarchiv nachgefragt und bekam prompt die damalige Antwort als Kopie wieder zugesandt.
Daraus geht hervor:
- 1887 wird ein „Romano Guardini“ erstmals genannt und zwar unter der Adresse Bahnhofstraße 3. Dort war auch die Filiale Mainz der Firma Esportazione Uova (Eier und Geflügel) untergebracht, als deren Prokurist Guardini bezeichnet wird.
- 1890/1892 findet sich der Eintrag „Guardini, Romano und Aleardo, Kaufleute, Hauptweg 50“, 1891 fehlt Aleardo Guardini. 1892 ist die Firma auch im „Eilgüterexpeditionsmagazin“ des Bahnhofs zu finden. 1893 ist Aleardo Guardini erstmals in Stuttgart gemeldet (bis 1915).
- 1893 wohnte die Familie privat in der Schulstraße 24 (heute Adam-Karrillon-Straße). Als Firmenadresse ist angegeben: Kaiser-Wilhelm-Ring 14.
- 1895-1903 lautet dann sowohl Privat- als auch die Firmenanschrift: Kaiser-Wilhelm-Ring 8.
- 1903/04 wird erneut auch der Kaufmann Aleardo Guardini genannt, nämlich in der Schulstraße 22. Er wird 1904 als „Meardo Guardini“ als Mitinhaber und (Mit-)Prokurist der Mainzer Filiale der Esportazione Uova, Eier und Geflügelhandlung, Südfrüchte, bezeichnet.
- 1904 wird als Geschäfts- wie als Privatadresse Mombacher Straße 17/19 geführt.
- Ab 1905 ist dann als Privatadresse Gonsenheimer Straße 18 (heutige Fritz-Kohl-Straße) eingetragen.
- 1906 lautet die Firmenbezeichnung: „Esportazione Uova, Bernardinelli, Guardini u. C., Eier und Geflügelhdlg., Südfrüchte, Romano und Aleurdo [sic!] Guardini, ab 1907 nur noch Romano als Inhaber.
- 1908 heißt es bei den Inhabern ergänzend: Aleardo Guardini, Stuttgart; B.M. Bernardinelli, Orosháza.
- 1916/17 ist Philipp Gebhardt als Bevollmächtigter für die Firma geführt.
- 1920 und 1920/21 heißt es noch: Guardini, Romano, Kfm., Gonsenh. Str. 18E (nicht mehr im Adreßbuch 1924/25).
- 1924/25 heißt es: „Gebhardt u. Stockmann, Wild, Geflügel und Eier.“, genauer: Phil. Jos. Gebhardt u. Josef Stockmann.
Durch meine Nachrecherche im Internet wissen wir, dass die Familie auch schon im Adressbuch von 1886 steht, ebenfalls mit der Privat- und Firmenadresse - Bahnhofstraße 3/Neustadt.
I.2.1. Die Wohnadressen
Das „Adreßbuch der Provinzial-Hauptstadt Mainz mit Zahlbach, der Stadt Kastel und der Gemeinde Mombach“ zeigt für die Jahre von 1886 bis 1889 folgende Einträge zu „Romano Guardini“ :
- 1886: „Guardini, Romano, Geflügelhd., Bahnhofstr. 3“
- 1887: „Guardini, Romano, Geflügelhd., Bahnhofstr. 3“
- 1888: „Guardini, Romano, Eier- u. Geflügelhdl., Bahnhofstr. 3“
- 1889: „Guardini, Romano, Procurist, Bahnhofstr. 3.“
[Adreßbuch der Provinzial-Hauptstadt Mainz mit Zahlbach, der Stadt Kastel und der Gemeinde Mo-mbach 1886, Mainz 1886 - https://www.dilibri.de/stbmz/content/pageview/2546137; Adreßbuch der Provinzial-Hauptstadt Mainz mit Zahlbach, der Stadt Kastel und der Gemeinde Mombach 1887, Mainz 1887 - https://www.dilibri.de/stbmz/content/pageview/2490733; Adreßbuch der Provinzial-Hauptstadt Mainz mit Zahlbach, der Stadt Kastel und der Gemeinde Mombach 1888, Mainz 1888 - https://www.dilibri.de/stbmz/content/pageview/2456092; Adreßbuch der Provinzial-Hauptstadt Mainz mit Zahlbach, der Stadt Kastel und der Gemeinde Mombach 1889, Mainz 1889 - https://www.dilibri.de/stbmz/content/pageview/2491180]
Wo sich diese Adresse Bahnhofstraße 3 befand, können wir aufgrund einer Postkarte rekonstruieren - Fotografie auf Ansichtkarten-Center. Der Schreiber der nachfolgenden Postkarte hatte ein Appartement in Bahnhofstraße 5. Davor befindet sich Bahnhofstr. 3 (heute Neubau Sparkasse) und 1 (Altbau Sparkasse). Gegenüber befindet sich das Hauptpostamt, das auch heute – nach dem Krieg neu aufgebaut – dort steht.
Dann folgt 1890 die Adresse: Hauptweg 50. Der Hauptweg war früher eine etwas verwinkelte Parallelstraße zwischen der Frauenlobstraße und Kurfürstenstraße bzw. zwischen Kurfürstenstraße und Pankratiusweg (heute Josefsstraße). Er führte an dann an der Josephskirche vorbei zum Feldberg-Platz (heute Josefsstraße und Feldbergstraße).
Die nachfolgende Adresse von ca. 1893 bis ca. 1895 lautete: Schulstraße 24. Die damalige Schulstraße (22 und 24) ist die eine Parallelstraße zur Frauenlobstraße und verbindet die 1894 fertig gestellte Kirche von St. Bonifaz und Guardinis Gymnasium. Heute heißt sie Adam-Karillon-Straße.
Von dort zog die Familie dann eben 1895 an den Kaiser-Wilhelm-Ring.
Erst nach zehn Jahren im Jahr 1905 ging es für die Familie in die Gonsenheimer Hohl. Dies hätte man auch schon aus einem Brief an Josef Weiger vom 29. August 1913 rückrechnen können. Dort schrieb Guardini: „Ich sitze hier in meinem Dachstübchen, seit acht Jahren bald wohne ich darin.“ Dies spricht für einen Bezug des Dachstübchens im Herbst 1905. In diesem Brief beschreibt Guardini: „Was hat das schon Wandlungen gesehen! Was ist hier schon gesprochen worden, wer hat hier schon gesessen! Es ist klein, aber traulich. In der ersten Zeit sah es ganz abenteuerlich aus. Da hatten wir es selber mit Sackleinen tapeziert, denn wir hatten das Gefühl, das sei modern und originell. Es kam eine Art von Indianerzelt schließlich heraus, und daß die ganze Geschichte nicht einmal Feuer fing, ist nur sehr zu verwundern. Aber uns wars wohl darin. Nebenan hatte Bruder Gino sein Atelier, da stehen Modelliertisch und Gipsgüsse herum. Jetzt ist er Kaufmann. Hier in meinem Zimmerchen ist alles voller Bücher und Bilder und Statuetten. So ein wenig eine Rumpelkammer, in der sich die Überreste meiner verschiedenen »Zeiten« abgelagert haben. Sehr theologisch siehts gerade nicht aus, wenigstens nicht auf den ersten Blick. Aber es soll so bleiben. Und ich freue mich beim Gedanken, daß ich es Dir vielleicht einmal zeigen kann.“
In einer viel späteren Erinnerung (1985) wird das Elternhaus Guardinis im Kirschgarten verortet. Dies ist mittlerweile sehr unwahrscheinlich, sei der Vollständigkeit aber hier mit aufgeführt. Vgl. KAB 2046: Begleitschreiben; zwei photokopierte Briefe von Marianne Werz; Postkarte mit dem Kirschgarten in Mainz (mit ehemaligem Elternhaus Guardinis); 1985 von Elisabeth Dressler erhalten:
„Von Gertrud hab ich mir Bilder vom Kirschgarten in Mainz schicken lassen. Zu diesem Ensemble gehört auch das einstige Elternhaus Guardini´s. Es ist ein Rundhaus im Vordergrund und leider nicht auf Postkarten, bis jetzt.“
Der Beschreibung nach müsste es sich um das Anwesen Augustinerstr. 61/Ecke Kirschgarten, da es als einziges Haus aufgrund des Erkers als „Rundhaus“ bezeichnet werden könnte. Da Marianne Werz erst 1919 geboren ist, hat sie diese Erinnerung wohl aus zweiter Hand.
I.2.2. Die Geschäftsadressen
Die Geschäftsadressen lauteten:
- 1886: „Esportazione Uova, Filiale Mainz, Eier und Geflügel, Proc. Romano Guardini Bahnhofstraße 3.“ [Adreßbuch der Provinzial-Hauptstadt Mainz mit Zahlbach, der Stadt Kastel und der Gemeinde Mo-mbach 1886-1889, Mainz 1886-1889 - https://www.dilibri.de/stbmz/content/pageview/2546137].
- 1890/1892 findet sich der Eintrag „Guardini, Romano und Aleardo, Kaufleute, Hauptweg 50“.
- 1892 lässt sich die Firma auch im „Eilgüterexpeditionsmagazin“ des Bahnhofs nachweisen,
- 1893 mit der Adresse: Kaiser-Wilhelm-Ring 14.
- Von 1895 bis 1903 lautete auch Firmenanschrift: Kaiser-Wilhelm-Ring 8.
Außerdem hatte Guardinis Vater wohl nach der Jahrhundertwende eine Zeit lang Lagerräume beim Velodrom (heute Wasserspielplatz Planschbecken) gemietet - Fotografie auf Wikipedia. Adam Gottron erinnert sich an die dortigen „Karl-May-Spiele“: „… die Guardinis hatten auch draußen vor der Stadt, gegenüber dem Friedhof, das ehemalige Velodrom gemietet, ein größeres Grundstück mit Rasenfläche, einen etwas verwilderten Garten, durch den ein dünnes Wässerlein floß. Mitten in der Herrlichkeit stand eine vieleckige Holzbaracke mit vielen Glasfenster: das eigentliche Velodrom. … Dieses diente der Esportazione nuova Guardini & Bernadelli (!) zur Aufbewahrung ihrer leeren Hühnerkäfige.“
1903 stellte die Firma ein Gesuch um Bewilligung eines Freilagers für Maronen und Hülsenfrüchte an die Firma Esportazione Uova Bernardinelli Guardini & Co., Stadtarchiv Mainz, 70 / 7431 XV 5d Best. 70: Großherzogliche Bürgermeisterei Mainz
Ab 1904 schließlich befand sich die Firma dann fortlaufend in der Mombacher Straße 17/19 - siehe Fotografie auf Wikipedia
1903 stellte die Firma ein Gesuch um Bewilligung eines Freilagers für Maronen und Hülsenfrüchte an die Firma Esportazione Uova Bernardinelli Guardini & Co., Stadtarchiv Mainz, 70 / 7431 XV 5d Best. 70: Großherzogliche Bürgermeisterei Mainz
Ab 1904 schließlich befand sich die Firma dann fortlaufend in der Mombacher Straße 17/19.
Aus dieser Zeit findet sich dann auch ein Paket- und Rechnungsbrief, benannt auf „Import-Gesellschaft Grigolon-Guardini & Bernardinelli G.m.b.H.“ [Siehe Abbildung bei Max Oberdorfer].
Ab 1906 lautet dabei also die Firmenbezeichnung: „Esportazione Uova, Bernardinelli, Guardini u. C., Eier und Geflügelhdlg., Südfrüchte.
Im „Landes-Adreßbuch für das Großherzogtum Hessen“ (II. Band: Provinz Rheinhessen, Darmstadt 1906, S. 98) steht verkürzt und ohne Verweis auf Eier- und Geflügelhandlung: „Bernard, Guardini & Co., Fil. Mainz (Obst- u. Südfrüchte)“
Im „Adreßbuch der Stadt Mainz und der Stadtteile Mainz-Bischofsheim, -Bretzenheim, -Ginsheim, -Gustavsburg, -Kastel, -Kostheim, -Mombach, -Weisenau und -Zahlbach“ (Band 56, 1934, S. 65) heißt es schließlich: „Gebhardt, Phil. Jos., Wild- und Geflügel-Großhandlung. Vertret. D. Fa. Guardini u. Fanimani, Mailand, Gonsenheimer Straße 18E, F. 33109, B.R.: Deutsche Bank u. Disc. Ges., Telegr.-Adr. Gebhardt, Gonsenheimer Straße 18.“
I.2.3. Das Viertel
Alles spielt sich aber weitestgehend in der Mainzer Neustadt ab. Angesichts dieser räumlichen Grenzen in seiner Kindheit verwundert es nicht mehr, wenn Guardini 1955 unter den drei expliziten Orten – neben der Gonsenheimer Straße und dem Seminar – ausgerechnet und ausdrücklich seine Heimatpfarrkirche St. Bonifatius nennt, die ihn von der Firmung bis in die Seminarzeit begleitete.
Die Pfarrkirche seiner unmittelbaren Kindheit, nämlich bis 1894 war schließlich auch seine Primiz-Kirche, die Bilhildis-Kapelle.
Zu den Pfarreien wird noch ausführlicher zu berichten sein.
I.3. Die Eltern
I.3.1. Der Vater
Vom Vater waren bisher nur die eher negativen Erinnerungen an die Kindheit in den ersten beiden „Berichten über mein Leben“ wahrgenommen worden:
- „Mein Vater, der das Geschäft des Großvaters nach Mainz verpflanzte, hat Deutschland sehr geschätzt, sich aber doch immer als Gast empfunden“ [Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, Mainz 1995, S. 57].
- „Mein Vater lebte eigentlich überhaupt nicht mit uns. Er hatte uns sehr gern, und wir ihn auch, aber wir bekamen ihn kaum zu sehen. Sein Geschäft nahm ihn ganz in Anspruch, und er war oft auf Reisen. Zum Ferienaufenthalt auf dem Lande kam er nie mit; überhaupt erinnere ich mich nicht, daß er sich je eine Erholung gegönnt hätte. Er war sehr begabt, hatte aber schon als Vierzehnjähriger die Schule verlassen und für den Unterhalt seiner Eltern sorgen müssen. Eigentlich hatte er Jurist und Volkswirtschaftler werden wollen, mußte aber darauf verzichten. Nachdem er dann jahrelang versucht hatte, sich neben einer anstrengenden Berufstätigkeit weiterzubilden, muß er die Unmöglichkeit erkannt und alles aufgegeben haben. Die Wirkung war, daß er nie über geistige Dinge sprach; die Türen waren zugefallen. Auch von seinem inneren, persönlichen Leben erfuhr niemand etwas. Als er 1919 starb, war ich 34 Jahre alt; ich glaube aber, daß ich in dieser ganzen Zeit nicht mehr als zehn oder fünfzehn tiefergehende persönliche oder sachliche Gespräche mit ihm gehabt habe. Sein Leben muß furchtbar einsam gewesen sein. Für ihn gab es im Grunde nur die Arbeit. Mich berührt es immer wieder, daß unter den wenigen Möbeln, die ich gut erhalten aus meinem Berliner Hause gerettet habe, sein Schreibtisch ist – der, an dem ich diese Erinnerungen schreibe. Wie oft habe ich ihn in seinem Büro daran sitzen sehen! So hat auch er die geschlossene Welt unserer Kindheit und Jugend nicht ausgeweitet“ [ebd., S. 58].
- Den Vater bezeichnet Guardini „was das Religiöse angeht“ als „gläubig“, „vielleicht mit dem leisen skeptischen Einschlag, der beim Italiener sehr häufig ist. Er ging jeden Sonntag zur Kirche, sprach aber über religiöse Dinge so gut wie nie“ [ebd., S. 58].
Immerhin hat aber insbesondere durch den Vater allem Anschein nach eine bibliophile und auch kulturelle Erziehung erfahren, wie auch schon Gerl-Falkovitz 1985 im Blick auf die Widmung des ersten Bandes der Dante-Studien, die 1937 unter dem Titel „Der Engel in Dantes Göttlicher Komödie“ erschienen sind, betont: „Alla memoria di mio padre dalle cui labbra fanciullo i primi versi di Dante colsi“ [Der Engel in Dantes Göttlicher Komödie, Deckblatt].
In einem Brief an Josef Weiger vom Juli 1924 berichtet -seit 2010 veröffentlicht - Guardini von den ersten Berliner Erfahrungen: „Wie tief mir doch »liberale Art« im Blut steckt. Ob ich mich nicht selbst mißverstanden habe? Mein Vater war ein italienischer Liberaler alten Schlags. Heißes Blut und kühler Kopf. Heikel in allen Dingen politischer Ehre und zugleich Skeptiker, durch und durch. Voll Respekt gegen das Religiöse und mit einer tiefen Abneigung gegen das Klerikale. Freigebig, wohltätig, aber ganz im Geheimen. Unendlich empfindlich gegen jeden Versuch, seine Freiheit anzutasten, sich einzumischen, auch nur zu fragen. Und ebenso unbedingt zurückhaltend und Freiheit lassend gegen die anderen. Ich habe von seiten meines Vaters kaum je eine Bindung in jenen Dingen gespürt, die Inneres, Berufswahl, Anschauungen betreffen? Mir war's, als habe das Blut meines Vaters in mir geschlagen. Ich habe früher immer mitgeschimpft auf den Liberalismus. Du, es läßt sich aber frei atmen in der Luft! Dahingegen alle die »charaktervollen« und »entschiedenen« Lüfte - - - Aber ich will nichts festlegen. Mir ist zuweilen seltsam in dieser Zeit. Als wisse ich gar nicht mehr recht, woran ich bin mit mir selbst! Als stünden allerhand Ideen und Bilder, die ich wacker mit stürzen geholfen, so sachte wieder auf. Individualismus - - aber ich weiß nicht. Will abwarten“ [Briefe an Josef Weiger 1908-1962, Mainz 2008, S. 252].
Neue Erkenntnisse gibt es nun aber aus dem dritten, bislang unpublizierten „Bericht über mein Leben“: Vater [III, 11]: „Vater war [also] sehr begabt, hat aber aus wirtschaftlichen Gründen auf das Studium verzichten müssen und dann, wohl damit das Opfer nicht zu schwer würde, sich auch kein Privatstudium mehr erlaubt. Über sein inneres Leben wußten wir Kinder nichts, denn er sprach nicht darüber. So ist tatsächlich von ihm her nichts zu mir gekommen, dessen ich mich erinnern könnte.“ [GAKAB, Nr. 152, S. 11, zitiert nach Wendt, 2024]
Die Mainzerin Polly Winter, die laut Helmut Link in jungen Jahren bei der Familie Guardini verkehrte, erinnerte sich zu Guardini und seinem Vater: „Der Vater war die Güte selbst; der alte Guardini, der war ein ganzer, netter, lieber Mann. … Romano hatte viel von seinem Vater. …“ [Helmut Link: Priester, Philosoph und prophetischer Mahner. Biographische Fragmente zum 100. Geburtstag von Romano Guardini, in: Mainz. Vierteljahreshefte, 5, 1985, 1, S. 66-70, hier S. 70]
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I.3.2. Die Mutter
Bisher waren bekannt: Die eher negativen Erinnerungen an die Kindheit in den ersten beiden „Berichten über mein Leben“: „Meine Mutter war noch radikaler. Sie war in Südtirol geboren und hatte schon als Kind die leidenschaftliche Liebe der Irredenta zu Italien in sich aufgenommen. Zwar wurde sie in Meran in einem deutschen Institut erzogen; dort verstärkte sich aber diese Gesinnung noch mehr. Als sie drei Jahre nach ihrer Verheiratung mit Vater übersiedelte, tat sie es nicht gern, und ihre Ablehnung des deutschen Wesens wurde dadurch immer schärfer. In Mainz verkehrte sie, einige unerläßliche Höflichkeitsbeziehungen ausgenommen, mit niemandem. Sie liebte ihre Kinder leidenschaftlich und wendete sich so ganz ins Haus hinein. Am Sonntag ging sie zur Kirche, Werktags zu den notwendigen Besorgungen, im Übrigen lebte sie im Hause. In diesem geschlossenen Bereich hat sie, soviel an ihr lag, auch uns gehalten. So wuchsen wir ganz im Hause auf. Das Kinderzimmer, dann, als wir größer wurden, das eigene Zimmer mit seinem Bett, seinem Arbeitstisch und seinem Schrank, bildeten unsere Welt. Die Tatsache, daß wir eine deutsche Erzieherin hatten, änderte daran nichts. Was bei den anderen Jungen selbstverständlich war, in Spiel und allerlei Unternehmungen zusammen zu sein, fiel bei uns fast ganz weg. Praktisch gesprochen, gingen wir zu niemand, und niemand kam zu uns. Die Wirkung war, daß ich von den Dingen des Lebens, die der junge Mensch ganz von selbst kennen lernt, indem er mit anderen verkehrt, so gut wie nichts erfuhr“ [Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, Mainz 1995, S. 57].
Ausnahmen bildeten in den späten Gymnasialzeiten offensichtlich nur Philipp Harth, einige Juvenen (Markert) und dann vielleicht auch noch Karl Neundörfer, mit dem er nach eigener Erinnerung „gegen Ende unserer Schulzeit“ Freundschaft schloss. Diese Strenge hat sich wohl erst für die jüngeren Geschwister erleichtert. [vgl. die Gebrüder Gottron mit den jüngeren Brüdern Guardinis und Daniel Neundörfer]: „Die Mutter war fromm in einem sehr innerlichen und herben Sinne. Ich erinnere mich, wie sie Morgens nach der, damaliger Sitte gemäß seltenen, Kommunion an unser Bett kam und uns küßte, was ich wie etwas Geheimnisvolles-Heiliges empfand“ [ebd., S. 59].
Neue Erkenntnisse über Guardinis Haltung zu seiner Mutter ergeben sich - 2010 veröffentlicht - aus einem Brief an Josef Weiger vom 10. April 1915: „Meine Mutter lerne ich mit jedem Mal mehr verehren. Wirklich, in Dingen des Menschlichen hat man lang eine Haut auf den Augen“ [Briefe an Josef Weiger 1908-1962, Mainz 2008, S. 164].
Auch der der dritte, bislang unpublizierte „Bericht über mein Leben“ erlaubt ein differenzierteres Bild der Mutter [III, 11]: „Mutter war […] menschlich bedeutend. Ihre Erziehung war aber die des damaligen italienischen Bürgertums, Haus und Institut. Durch ihre Übersiedlung nach Deutschland verlor sie den Zusammenhang mit der italienischen Heimat und Kultur, in denen sie ganz verwurzelt war, und hat dann in der so entstehenden Vereinsamung nicht mehr die Förderung erfahren, deren sie bedurft hätte. Viel später zeigte sich, daß sie starke Interessen für geschichtliche Dinge hatte, doch konnte sich das dann nicht mehr so entfalten, wie es an sich nötig gewesen wäre“ [GAKAB, Nr. 152, S. 11, zitiert nach Wendt, 2024].
Hinzu kommen neu zugängliche Quellen, so die Darstellung der Mutter in den Weiger-Erinnerungen II (21. Februar 1955): „Ich fragte Romano, ob die Mutter keine große Freude hätte, wenn sie sehen könnte, wie Universität und Stadt München ihn ehren. Er war um die Antwort nicht verlegen: Die Mutter würde höchstens sagen: Was hast du da droben verloren, du gehörst herunter. Die Mutter sei noch sehr mobil. Sie glaube, sie habe ein Opferleben geführt. Das stimme auch. Aber was Opfer sei, bestimme sie. Fast vermute ich, daß Romano unter dem ungebrochenen Nationalismus der Mutter leidet. Ich sprach von der verhaltenen Religiosität der Mutter; bzw. der Familie. Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, hingen im Zimmer keine Bilder. Eine Scheu, die Achtung verdient. Und diese tiefe religiöse Scham wirkte sich im Sohn der Familie als Lebensgesetz aus“ [Weiger-Erinnerungen II (21. Februar 1955), zitiert nach: Gerl-Falkovitz (Hrsg): Lauterkeit des Blicks]
Auch die Mainzerin Polly Winter erinnert sich: „Die Mutter war sehr hart; eine ganz kleine Zierliche war das, aber sie war sehr resolut; sie war schon eigen“ [Helmut Link: Priester, Philosoph und prophetischer Mahner. Biographische Fragmente zum 100. Geburtstag von Romano Guardini, in: Mainz. Vierteljahreshefte, 5, 1985, 1, S. 66-70, hier S. 70].
Insgesamt bleibt aber die bereits von Gerl 1985 herangezogene Einschätzung von Felix Messerschmid intakt. Er sieht durch die Mutter ein „italienisch matriarchales Hauswesen“ begründet, „das auf die Besucher und Freunde des jungen Romano einen oft bezeugten starken Eindruck machte; einen um so stärkeren, als in dieser Frau Autorität und Güte sich im gleichen Anteil durchdrangen. In den sparsamen Äußerungen des erwachsenen Guardini über seine Mutter war schwer auszumachen, was darin überwog. Respekt oder Anhänglichkeit; darauf befragt, antwortete er mit einem Lächeln, das bedeutete, einem Deutschen könne ein solches Verhältnis zur Mutter nicht wirklich begreiflich gemacht werden“ [Felix Messerschmid, Romano Guardini, in: Romano Guardini. Der Mensch – Die Wirkung – Begegnung, a.a.O., S. 10].
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I.3.3. Im Blick auf beide Elternteile
Bereits von Gerl-Falkovitz 1985 wurde Guardinis Traum aus einem Tagebucheintrag verwendet: „Vom Vater geträumt; er war so traurig, daß mir ganz elend wurde. Von Vater wie von Mutter habe ich zwei Bilder: eins, das dem Tag angehört, realistisch, auch kritisch, von ruhiger Normalität. Ein anderes gehört dem Traum an und ist ein Bild der Schwermut“ [Tagebuch vom 24.6.1953, in: Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, Mainz 1995, S. 57; bei Gerl, 1985, S. 19].
Hinzu kommen jetzt die Darstellungen in den Weiger-Erinnerungen vom 28. September 1952 über die Ähnlichkeit Guardinis mit seinen Eltern: „Die Mutter Guardini lernte ich anno 1916 in Mainz kennen – R. verwaltete dort einen Kaplansposten -, und ich weiß noch ganz gut, daß es zum Kaffee Heidelbeerkuchen gab. R. Mutter muß in der Jugend schön gewesen sein. Sie empfing mich überaus lieb, eine Frau mit warmen grauen Augen. So wenigstens trage ich sie in der Erinnerung. […] Sieht R. der Mutter gleich? Ich würde die Frage sehr wohl bejahen, wenn ich den Vater gekannt hätte. […] Ich habe bei R. eine größere Fotografie des Vaters gesehen. Beide, Vater und Mutter, waren auffallend hochstirnig. Deshalb sagte ich vorher, ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, wem der Sohn gleich sieht. Der Vater machte auf dem Bild einen ungewöhnlich klugen sympathischen Eindruck“ [Weiger-Erinnerungen II (28. September 1952), in: Gerl-Falkovitz (Hrsg.): Lauterkeit des Blicks].
Bekannt waren bereits Guardinis eigene Erinnerungen in seiner Dankrede bei der Feier seines 70. Geburtstages 1955 über "Europa" und "Christliche Weltanschauung"“: „Aus beruflichen Gründen siedelte meine Familie nach Deutschland über; und während man zu Hause italienisch sprach und dachte, wuchs ich geistig in die deutsche Sprache und Kultur hinein. […] Ich fühlte mich innerlich dem deutschen Wesen zugehörig. Also hätte die damals gebotene Lösung einfach sein müssen: das deutsche Staatsbürger-recht und damit auch die äußere Gemeinschaft des Lebens und Werkes zu gewinnen. So zu tun, war aber in Wahrheit durchaus nicht einfach, denn ich konnte den Zusammenhang mit Italien nicht aufgeben. Das machte einmal die Lebensluft, die ich von Kind auf eingeatmet hatte. Mein Vater hatte das Risorgimento – er gehörte geistig der Schule Cavours an – leidenschaftlich nach- und miterlebt. So war ihm der Gedanke, sein ältester Sohn könne die staatliche Gemeinschaft seines Landes aufgeben, schwer zu fassen“ [Romano Guardini: "Europa" und "Christliche Weltanschauung"“. Aus der Dankrede bei der Feier meines siebzigsten Geburtstags in der Philosophischen Fakultät der Universität München am 17. Februar 1955, in: ders., Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, Mainz 1995, S. 295].
Das Erlebnis dieser Rede findet ihren Niederschlag in den Weiger-Erinnerungen II vom 21. Februar 1955: „Nie habe ich ihn so persönlich sprechen hören. Zum erstenmal erfuhr die Öffentlichkeit von seiner Familie; daß der Vater Parteigänger Cavours war; daß er sich selbst nur schweren Herzens entschloß, sich von der Heimat zu trennen und doch den Zug nach dem Norden fühlte; daß er gar nichts anderes als Europa wünschen und in sich tragen konnte“ [Weiger-Erinnerungen II (21. Februar 1955), in: Gerl-Falkovitz (Hrsg): Lauterkeit des Blicks]
Schließlich heißt es noch in Guardinis zweiter Europarede „Europa - Wirklichkeit und Aufgabe“ nach der Verleihung des »Praemium Erasmianum« zu Brüssel am 28. April 1962: „Meine Eltern waren Italiener und leidenschaftliche Patrioten. Eine wirtschaftliche Unternehmung führte meinen Vater nach Deutschland; aber auch dort suchte er für sein Land zu wirken, indem er die ihm übertragenen konsularischen Aufgaben mit einer Anteilnahme erfüllte, die über das Pflichtgemäße weit hinausging“ [Romano Guardini: „Europa - Wirklichkeit und Aufgabe“ Rede nach der Verleihung des »Praemium Erasmianum« zu Brüssel am 28. April 1962, in: ders., Sorge um den Menschen - Band 1, Mainz 1988, S. 238].
I.4. Die Erziehung
In seiner Brüsseler Rede vom 28. April 1962 berichtet Guardini: „Ich selbst stand, als wir nach Deutschland kamen, im ersten Kindesalter. Zu Hause wurde italienisch gesprochen; die Sprache der Schule und der geistigen Bildung aber war das Deutsche. Dieses gewann, wie es nicht anders sein konnte, als die Sprache, in der Wissen und Lebenskenntnis zuflossen, die Oberhand“ [Europa - Wirklichkeit und Aufgabe, a.a.O.., S. 239].
Hinzu kommt die bereits durch Gerl bekannte Erinnerung Philipp Harths im Blick auf Guardinis Elternhaus: „Es ging aber nicht allzu förmlich zu. Wenn der Vater zu seinen drei (sic!) Söhnen ins Kinderzimmer kam, um nach dem Rechten zu sehen und sie an die Hausaufgaben zu treiben, sprachen sie, um ihn zu necken, im Mainzer Dialekt; diesen verstand er nicht und trat unverzüglich den Rückzug an" [Philipp Harth, zitiert von Elisabeth Wilmes-Merz, Jahre auf Burg Rothenfels, 1926-1937. Erinnerungen II B und II C, Januar 1984, S. 38. Bei Gerl, 1985, S. 20].
Aus den Weiger-Erinnerungen vom 28. September 1952 wissen wir nun außerdem: „Es waren ihrer vier Brüder, Romano, Gino <Ferdinando>, Alliardo <!Aleardo>, Mario. Sie lebten für sich, da die Mutter ihre Familie zusammenhielt, nur zu begreiflich, da Deutschland ja nicht die Blutheimat der Familie war. So wuchsen die Brüder in zwei Völker-Familien und in zwei Kulturkreisen zugleich auf; darin sehe ich eine besondere Fügung, die dem künftigen Beruf des Ältesten einen ungewöhnlich günstigen Start fürs Leben sicherte“ [Weiger-Erinnerungen II (28. September 1952), in: Gerl-Falkovitz (Hrsg): Lauterkeit des Blicks]
Weiger berichtet in diesen Erinnerungen auch über ein von Guardini mitgeteiltes „Schwarzpulver-Experiment“, das die Kehrseite des „Zu-Hause-Haltens“ der vier Brüder durch die Mutter aufzeigt: „Keine Mutter behält vier Buben ungestraft zu Hause. Was der eine nicht weiß, fällt dem anderen ein. Eines Tages waren die Viere im Besitz von Schwarzpulver. Sie kauften sich eine Bleybüchse (oder fanden sie daheim), umwickelten sie mit Draht, legten eine Zündschnur an und in einer geschützten Ecke des Zimmers warteten sie das Weitere ab. Der Knall war hanebüchen. Ein Stück Decke flog herab und dann herrschte, wie in solchen Fällen immer, Schweigen. Die Mutter stürzte schreckensbleich ins Zimmer – bis hierher hat mir Romano die Geschichte erzählt. Den Epilog zum Drama hörte ich nie“ [Ebd.].
Bislang nicht ausgewertet wurde Gottrons Bericht über die Auffälligkeit, daß Romano Guardini schwarze, die anderen drei Brüder rote Haare hatten, der zudem die gemeinsame Freundschaft mit Franz-Theodor Klingelschmitt dokumentierte: „Später löste Franz Theodor Klingelschmidt [sic!] dies Phänomen auf seine Art: „Das ist doch ganz einfach. Die Guardinis sind Langobarden. Der auf italienischem Boden in Verona geborene Romano ist nach Landessitte schwarz geworden, die drei anderen in Stuttgart und Mainz Geborenen sind auf dem Boden ihrer Ahnen wieder in die alte langobardische Rasse zurückgeschlagen““ [Gottron, Ein Leben im Schatten des Domes, 1973, S. 38].
Nun kommen aber auch noch die neuen Erkenntnisse aus dem dritten, bislang unpublizierten „Bericht über mein Leben“ (1945) hinzu: „Wenn ich [also] zurückzudenken suche, habe ich das Gefühl, als ob alles wie unter einem See liege. Natürlich wäre es eine Täuschung, sagen zu wollen, in jener Zeit sei nichts geschehen. Mit einer entsprechenden psychologischen Technik könnte man sicher alles Mögliche wieder heraufholen. [III, 11] Ich fühle aber gar keine Neigung dazu. So soll alles weiter unter dem Wasser der Vergessenheit bleiben“ [GAKAB Nr. 152, S. 10 f.].
Und er wiederholt diese Erfahrung: „Was meine bewußte Erinnerung mir über die Kindheit und Jugend sagt, ist, daß alles in einer Art Dämmerung lag. Vielleicht war das notwendig, damit die nach meinem dreißigsten Jahre beginnende intensive Produktivität die nötigen Voraussetzungen finde“ [Ebd.].
Im Blick auf die religiöse Erziehung erinnert sich Guardini in den ersten beiden Berichten, wie schon bei Gerl 1985 dargestellt: „Morgen- und Abendgebet, der sonntägliche Kirchenbesuch usw. waren für uns selbstverständlich: im Übrigen wurde über Religiöses nicht ohne besonderen Anlaß geredet“ [Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, Mainz 1995, S. 59].
Nun kennen wir neuerdings noch eigene Erinnerungen über seine Sozialisation. Guardini war sich schon früh seiner materiellen Privilegien bewusst, wie aus folgender Erinnerung aus dem noch unveröffentlichten Lebensbericht hervorgeht, der sich mit seinem „Interesse für soziale Probleme“ beschäftigt: „Auch hat sich damals schon bei mir eine Neigung geltend gemacht, die nachher immer deutlicher wurde: ich habe mich stets gefühlsmäßig auf die Seite der Schwächeren gestellt. (Ich entsinne mich vom Gymnasium aus der Lektüre Homers, daß ich nie, wie es doch, eigentlich die Regel ist, für die glänzenden Griechen, sondern immer für die eingeschlossenen Trojaner Partei genommen haben, die der großen Zahl achaischer Helden nur den einen Hektor entgegenzustellen hatten). Mehr zu haben, als andere, in der Macht zu sein, durch Gesundheit, Vitalität, Begabung zu triumphieren, ist mir immer als etwas Anstößiges erschienen. Ebenso wie es mir immer ein Problem gewesen ist, mehr zu haben, als andere oder Dienste anderer entgegenzunehmen. Allerdings muß ich hinzufügen, daß dieser Haltung auch ihr Gegenteil gegenüberstand: ich habe sehr früh ein unmittelbares Verhältnis zur großen Existenz empfunden und hätte großen Reichtum und - um es einmal romantisch auszudrücken - das Leben als Herr eines Schlosses ohne Schwierigkeit führen können. Das ist ein Widerspruch, den ich nicht weiter aufzulösen vermag. Vielleicht hätte ich im Halle einer solchen Existenz die Aufgabe gefühlt, sie so zu führen, daß die anderen, besonders die von mir Abhängigen, mir das Recht dazu zugestanden hätten. Diesen Widerspruch kann ich auch so ausdrücken: ich habe immer gegen Privilegien opponiert; immer Sympathie mit denen gehabt, welche gegen verfestigte Standesvorrechte angingen; andererseits habe ich mich nie gleichordnen können, sondern mit Selbstverständlichkeit getan und in Anspruch genommen, was mir gemäß war, wie ich denn auch tatsächlich, trotz der Einordnung in einen so strengen Stand wie den Geistlichen, durchaus das Leben eines Einzelgängers geführt habe. Das sind Widersprüche, die ich nicht auflösen kann, die ich aber heute, nach so vielen Jahren, genauso in mir vorfinden, und durchaus nicht mit dem Gefühl, daß sie einander stören“ [GAKAB Nr. 152, S. 13 ff., zitiert nach Wendt, 2024].
Kapitel II: Die Schulzeit (1891-1903)
II.1. Der Schüler
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II.2. Die Pfarrei
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II.3. Die Klasse
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II.4. Die Ferien
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II.5. Guardini als Juvene und als Präfekt der Juventus
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II.6. Die Insel
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II.7. Erste Italienfahrt 1899
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II.8. Zeugnis 1900
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II.9. Der Vater als Konsularagent
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II.10. Die Freunde des Vaters
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II. 11. Der Banknachbar: Friedrich Erhard Becht
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II.12. Das Reifezeugnis
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Kapitel III: Der „Alter ego“ Karl Neundörfer
III.1. Mitschüler seit 1891
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III.2. Religiöse Krise 1905
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III.3. In Tübingen
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III.4. „Vom Geist des kanonischen Rechts“
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III. 5. Dreiecks-Freundschaft mit Josef Weiger
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III.6. Gemeinsames Thema „Befehlen und Gehorchen“
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III.7. Gemeinsames Engagement im Quickborn
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III.8. Tod im Fextal 1926
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III.9. Würdigung
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III.10. Neundörfer-Bibliographie
Kapitel IV: Studium in München und Berlin (1904-1906) - Mainzer Bezüge
IV.1. Studienfreunde aus Mainz
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IV.2. Berliner Krise
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=== Kapitel V: Der Schleußner-Kreis und Semesterferien (1903-1908)
V.1. Das Ehepaar Schleußner
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V.1.1. Wilhelm Schleußner
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V.1.2. Die Gießener Freunde
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V.1.3. Die Gießener Familie Wiegand
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V.1.4. Renate Josephine Schleußner
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V.2. Die Schleußners und der Reformkatholizismus
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V.3. Die Mitglieder des Schleußner-Kreises
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V.3.1. Franz Theodor Klingelschmitt
V.3.2. Karl Heinz Herke
V.3.3. Daniel Neundörfer
V.3.4. Adam Gottron
V.3.5. Joseph Hammer
V.3.6. Richard Knies (?)
V.4. Die Treffen
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V.5. Autobiographischer Zugang zu Parzival
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V.6.Urteil über die Persönlichkeit Wilhelm Schleußners
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Kapitel VI: Das Studium in Tübingen (1906-1908)
Kapitel VII: Die Seminarzeit (1908-1910)
Kapitel VIII: Deutsche Staatsbürgerschaft (1910/11)
Kapitel IX: Die erste Kaplanszeit (1910-1912)
Kapitel X: Die Promotionszeit (1912-1915)
Kapitel XI: Die zweite Kaplanszeit (1915-1920)
Kapitel XII: Die Juventuszeit (1915-1920)
Kapitel XIII: Festungslazarett (Herbst 1916 bis Frühjahr 1918)
Kapitel XIV: Familiäre Situation und Tod des Vaters (1917-1919)
Kapitel XV: Mainzer Wegbegleiter und Ereignisse
Kapitel XVI: Der Matthias-Grünewald-Verlag
Kapitel XVII: Von Mainz nach Bonn
Kapitel XVIII: Die Bonner Zeit (1920-1923)
Kapitel XIX: Die Berliner Pause (1923-1939)
Kapitel XX: Das Wiederanknüpfen (1935-1944)
Kapitel XXI: Die einmalige Rückkehr (1944)
Kapitel XXII: Das Jahr des Herrn
Kapitel XXIII: Die Causa „Päpstlicher Hausprälat“ (1945-1952)
Kapitel XXIV: Der ambivalente Glückwunsch Gottrons (1952)
Kapitel XXV: Die Fragen der Neuordnung der kirchlichen Jugendarbeit nach 1945
Kapitel XXVI. Die Tübinger Zeit (1945-1948)
Kapitel XXVII: Schüler-Briefe 1949-1967
Kapitel XXVIII: Die Causa „Diözesangebetbuch“ (1951-1953)
Kapitel XXIX: Anfragen 1953 bis 1955
Kapitel XXX: Die Causa „70. Geburtstag“ (1955) und ff.
Kapitel XXXI: Anfragen und Würdigungen 1955 bis 1957
Kapitel XXXII: Würdigung 1957
Kapitel XXXIII: Festschrift und Widmung an Albert Stohr 1958/59
Kapitel XXXIV: Anfrage der Allgemeinen Zeitung (1959)
Kapitel XXXV: Anfragen 1960 bis 1963
Kapitel XXXVI: Würdigung zum 75. Geburtstag durch Albert Stohr (1960)
Kapitel XXXVII: Fragebogen der Kanzlei (1961)
Kapitel XXXVIII.: Bischof Hermann Volk, Teil I (1962/63)
Kapitel XXXIX: Die Causa „2000-Jahr-Feier“ (1962) und Mainzer Jubiläen
Kapitel XXXX.3.: Der 3. Liturgische Kongreß in Mainz (1964)
Kapitel XXXXI: Mainzer Geburtstagsgrüße 1965
Kapitel XXXXII: Bischof Hermann Volk, Teil II (1965-1967)
Kapitel XXXXIII: Würdigungen (1968-1985)
Nachbemerkungen
Ergebnisse aufgrund der neuen Erkenntnisse
- Ergebnis 1: Guardinis eher negative Erinnerungen an seine Mainzer Kindheit und Schulzeit hatten nichts mit der Stadt, sondern allein mit seiner familiären Situation und dem damaligen Lehrpersonal zu tun. Er selbst war gut integriert und fühlte sich in Mainz wohl.
- Ergebnis 2: Guardinis Verhältnis zum Mainzer Seminar war aufgrund der dort gelebten Praxis des „Misstrauens“ und der „Denunziation“ gespalten, nicht aber sein gesamtes Verhältnis zum Bistum oder zum jeweiligen Bischof. Guardini war sich bewusst, dass auch an anderen Seminarien dieses Klima herrschte.
- Ergebnis 3: Seine Erfahrungen in der Stadt Mainz während des Ersten Weltkriegs waren ambivalent, der Umgang einiger Mainzer mit seiner Familie tat ihm weh, er selbst fühlte sich aber im Rahmen seiner Bezüge zum Schleußner-Kreis, zur Juventus und zu Maria Laach nicht „abgelehnt“. Zu einer „Zerrüttung“ kam es daher damals sogar ausdrücklich nicht.
- Ergebnis 4: Seine „Trennung aus Enttäuschung“ vom Bistum Mainz Anfang der zwanziger Jahre war allein seiner Behandlung durch die Leitung von Seminar und Ordinariat im Blick auf seine Tätigkeit beim Juventus, auf eine mögliche Dozententätigkeit im Seminar und die diesbezüglichen Vertröstungen sowie auf seine neue Berliner Arbeit geschuldet. Es handelte sich nie um eine „Zerrüttung“ seines Verhältnisses zur Stadt Mainz und erst recht nicht zu den noch in Mainz lebenden Freunden. Er fühlte sich angesichts seiner schon erworbenen, öffentlich anerkannten Verdienste nur von den dafür Verantwortlichen in Seminar und Bistum zurückgesetzt.
- Ergebnis 5: Die fehlenden Aufenthalte zwischen 1923 und 1945 lagen nicht am Bistum und der Stadt Mainz, sondern allein an Guardinis aufwendigen neuen Lebensmittelpunkten und Tätigkeiten zwischen Berlin, Burg Rothenfels, Mooshausen und Isola Vicentina. Umgekehrt erhielt er zu dieser Zeit wohl keine Einladungen durch die Mainzer Universität und Akademikerverbände bzw. es fanden in Mainz keine Großveranstaltungen von solchen Verbänden statt (anders wie bei Aachen und Köln). Hinzu kam, dass von seinen besten Mainzer Freunden und Bezugspersonen immer weniger in Mainz ansässig waren; zuletzt im Grunde nur noch sein Verlegerfreund Richard Knies, den er aber auch andernorts treffen konnte.
- Ergebnis 6: Die Wahrscheinlichkeit, dass Guardini eine Einladung zum Mainzer Katholikentag 1948 angenommen hätte, wenn dieser nicht ausgerechnet Anfang September stattgefunden hätte, wäre angesichts seines Engagements bei den nachfolgenden Katholikentagen in Passau und Berlin sehr groß gewesen.
- Ergebnis 7: Dass es bis 1952 gedauert hat, bis Guardini zum Päpstl. Hausprälaten ernannt wurde, war zwar ein „Wermutstropfen“ auf Guardinis Verhältnis zur Kirche und in der Personalie Reatz eine Art „Retraumatisierung“, aber mehr gegenüber den Verantwortlichen im Vatikan als gegenüber dem Bistum Mainz und dem mit ihm gut befreundeten Bischof Albert Stohr. Dass Stohr sich dabei mitunter ungeschickt verhalten haben mag, hat Guardini sicher nicht dem Bistum und schon gar nicht der Stadt Mainz angelastet.
- Ergebnis 8: Dass es zwischen 1945 und 1968 zu keiner Rückkehr nach Mainz kam lag zunächst an seinen Überbeanspruchungen und Doppelbelastungen, seiner allgemeinen Lebenssituation, insbesondere an seinen mehrmonatigen Italienaufenthalten im Herbst. Hinzu kam ab Mitte der fünfziger Jahre seine gesundheitliche Situation. Seine angeblich „abweisende“ Haltung gegenüber den zahlreichen Einladungen aus Stadt, Bistum und Universität lag also nicht an einer grundsätzlichen „Unversöhnlichkeit“ gegenüber „Mainz“, sondern wenn dann an der fehlenden Rücksichtnahme auf seine persönliche und gesundheitliche Situation und auf die üblichen Gepflogenheiten, eine vielbeanspruchte Persönlichkeit rechtzeitig und gezielt einzuladen.
- Ergebnis 9: Fakt ist aber auch, dass Guardini eine positive Entscheidung durch unqualifizierte Äußerungen ehemaliger Mainzer Bezugspersonen (besonders Adam Gottron) nicht gerade erleichtert wurden.
- Ergebnis 10: Eine frühzeitige und „pro-aktive“ Ehrung durch die Stadt Mainz hätte Guardini mit Sicherheit angenommen und wäre auch zu ihrer Verleihung erschienen. Die Stadt Mainz hat aber immer erst „reagiert“, als die Ehrungen durch andere schon angekündigt oder vorgenommen wurden, wie an der Diskussion um eine Ehrung anlässlich seines 70. Geburtstags dokumentiert werden konnte. Die vorfühlende Anfrage bezüglich der Ehrenbürgerschaft 1962 kam dagegen eindeutig zu spät. Nachdem diese dann Adam Gottron erhielt, wäre sie danach auch für Guardini nicht mehr in Frage gekommen.
Gesamtergebnis: Es ist Werner Becker recht zu geben, wenn er die gegenteiligen, durch Hans Waltmann, Adam Gottron oder anderen kolportierten Behauptungen einer anhaltenden „Zerrüttung“ des Verhältnisses zwischen Guardini und Mainz entschieden zurückgewiesen hat. Aufgrund einer Gesamtauswertung aller noch vorhandenen Archivalien und Schilderungen ist die These von einer anhaltenden „Zerrüttung“ des Verhältnisses von Guardini und der Stadt bzw. dem Bistum Mainz nämlich nicht aufrechtzuerhalten. Auch eine „abgeschwächte“ Fassung dieser Behauptung im Sinne einer „unversöhnten Anspannung“ oder dergleichen ist angesichts der Faktenlage nicht haltbar. Denn Guardinis Nachkriegsverhältnis zu Mainz als Heimatstadt und Heimatbistum war nicht „angespannter“ als das Verhältnis zu anderen für ihn wichtigen Städten (Freiburg, Bonn, Berlin) und schon gar nicht im Vergleich zu anderen Gelehrten, die aufgrund Ihrer neuen Tätigkeiten ihre Heimatstädte bzw. Heimatbistümer verlassen haben und es dabei zu diesen Städten gar keine familiären und nur noch wenig freundschaftliche Beziehungen mehr gab. Das Verhältnis Guardinis zu Mainz wechselte also in den „Erinnerungsmodus“ und hat sich im Laufe der Zeit „neutralisiert“. Hier nachträglich aufgrund phasenweiser Verstimmungen oder einzelner Verletzungen eine grundsätzliche „Anspannung“ oder gar eine dauerhafte „Zerrüttung“ hineinzuinterpretieren, ist meines Erachtens historisch nicht zulässig. Insofern ist Gerl-Falkovitz´ Redewendung von der „nicht ganz glücklichen Beziehung“ als solche wohl immer noch die „richtigere“ Einschätzung, da diese Formulierung auch Missverständnisse und unglückliche Umstände mit einbezieht und das, was bzw. wie viel zu einer „ganz glücklichen Beziehung“ fehlt, offen lässt.
Noch offene, Guardini-relevante Baustellen der Geschichtsforschung für die Stadt und das Bistum Mainz
Stadtgeschichte
Leider fehlen für Mainz weitestgehend eine umfassende Adressforschung und Besitzstandsforschung insbesondere für die Zeit vor dem I. Weltkrieg. Auch eine Ausweitung der Forschungen zu „Mainz und seinen italienischen Mitbürgern“ sowie zu „Mainz uns seinen jüdischen Mitbürgern“ für den Zeitraum von 1885 bis 1920. Auch die Bedeutung von Mainz als Sitz von italienischen Konsularagenten im Großherzogtum Hessen müsste näher angeschaut werden. Ebenso müsste das erweiterte personelle Umfeld der „selbständigen Rheinischen Republik“ in Mainz 1919 erforscht werden. Auch zur Frühgeschichte des Mainzer „Matthias-Grünewald-Verlages“ gibt es zu wenig Greifbares. Interessanterweise gibt es sowohl zu vielen Mainzer Zeitgenossen als zu Mainzer Organisationen der „zweiten Reihe“, zu denen Guardini Bezug hat, noch keine monographischen oder ausführlicheren und historisch gearbeiteten, lexikalischen Biographien bzw. Gründungsgeschichten, als Beispiele seien hier Johannes Moser oder Wilhelm Schleußner und Alfred Schüler, aber sogar Karl Neundörfer für die Personen, und die Ortsgruppe des Pius-Vereins, aber sogar die Juventus für Organisationen genannt.
Bistumsgeschichte
Wie in dieser Arbeit gesehen, ist die Frühgeschichte der Mainzer katholischen Jugendbewegung „Juventus“ noch stark unterbeleuchtet, ebenso wie die Geschichte des Mainzer „Piusvereins“ „vor Ort“. Es fehlt weiterhin eine ausführliche Seminargeschichte inklusive Auswertung der noch vorhandenen Vorgänge bei Aufnahme oder Beendigung von Seminar-zugehörigkeiten sowie Zulassung zu Weihen. Auch die Geschichte der Mainzer Caritas und die Rolle von Karl Neundörfer müsste noch intensiver bearbeitet werden. Eine biographische Erforschung des „Mainzer Reformkatholizismus“ ausgehend von Schleußner, Moser, usw. und ihren Kontakten wäre auch im Rahmen der Bistumsgeschichte ebenso notwendig. Schließlich fehlen auch noch historische Gesamtbiographien der Bischöfe Albert Stohr und Hermann Volk, aber auch der Guardini-relevanten Vorgänger Kirstein und Hugo.
Statt eines Schlusswortes - zwei Bitten
- Erste Bitte: Lassen wir Guardini daher nicht zu einem „Programm“, zu einem „Theologen für weitere Kreise“ werden. Guardini hat diese Bitte selbst in Bezug auf Newman formuliert. Sie kann heute durchaus auch auf ihn selbst gespiegelt werden: „Und es tut mir leid, wenn ich denke, daß Newman hier wahrscheinlich als Programm eingeführt werden wird; vermute wenigstens, daß Laros es tun wird. Denn Newman ist kein Denker für Programme, ist überhaupt kein Theologe für weitere Kreise. Er ist einer, dem man sich persönlich gegenüberstellen muß, mit viel Ehrfurcht, aber auch mit wacher Kritik; ein Mann, der in keine Diskussion hineingehört“ [Vgl. hs. Brief an Richard Knies, Mainz, 29.4.1919 <vormals Dom- und Diözesanarchiv Mainz, in Kopie im Nachlass Guardini]
- Zweite Bitte: Lassen wir Guardini und seine angebliche „Struktur“ auch nicht zur „Mode“ werden. In seiner Übersetzung Madeleine Sémer kommentiert Guardini für Kierkegaard: „Kierkegaard hat das Warnungsbild des `Dozenten´ aufgestellt; es scheint an der Zeit, das des `Dialektikers´ neuester Observanz daneben aufzurichten. Christentum ist keine Struktur, am wenigsten die jeweils aktuelle, `zeitgebotene´. Und Kierkegaard widerfährt jetzt, was er wohl als eine Prüfung empfunden haben würde, bitterer als den Spott des `Korsaren´ und die Ablehnung Mynsters, nämlich daß er Mode wird; seine `Struktur´. Damit ist wiederum gesagt, daß Christentum die Überwindung und ebendamit die Heiligung aller Strukturen in der Übernatürlichkeit des Glaubens und der Liebe ist“ [Romano Guardini: Madeleine Sémer. Eine Mystikerin unserer Tage, in: Hochland, 25/I, 1927/28, 6 (März 1928), S. 623-644 [Mercker 0277], hier S. 632].