Romano Guardini und Mainz
Vorbemerkungen
Der grundsätzliche, dreifache Einfluss von Mainz auf Guardini
Guardini ist im Laufe seines Lebens immer bewusster geworden: „Niemand weiß, aus welchen - vielleicht räumlich entfernten oder zeitlich vergangenen - gläubigen Existenzen heraus sein eigener Glaube gespeist wird, sein Tun Kraft bekommt - ebensowenig wie er weiß, welche Menschen er selbst mitträgt“[Romano Guardini: Die Existenz des Christen, München/Paderborn/Wien (2)1977, S. 409]. Gerade weil Guardini sowohl einen Sinn für die „Ahnenschaft im Glauben“ als auch einen für die lebendig-konkrete Tradition hatte, war er sich der prägenden Wirkung der Stadt und des Bistums von Mainz als Symbol-Ort auf seinen eigenen Weg immer bewusst und nahm sie auch mehrfach dankbar in den Blick.
Dies gilt auch noch in jener Zeit, als er als Autor, der sich als „Europäer von Geburt“ und „geborener Europäer“ verstand, längst schon weit über die Stadt und das Bistum hinaus deutschland-, europa- und weltweite und vor allem auch weltkirchliche Bedeutung erlangt hatte, also faktisch „größer“ und „bekannter“ war als die Stadt und das Bistum. Weltweit gesehen kannten schon zu seinen Lebzeiten und kennen erst recht heute viele Menschen die Stadt und das Bistum Mainz aufgrund von Guardinis Biographie und nicht umgekehrt. Er war und ist also faktisch weltweit gesehen „bekannter“ als die Stadt und das Bistum Mainz.
Dennoch stellte er sich - wie schon der Mainzer Bischof Willigis in den Schatten seines hölzernen Pflugrades an seiner Bettstätte - aus Demut ebenfalls in den „Schatten des Mainzer Domes“ als Symbol für wesentliche Traditionsströme des deutschen Katholizismus. Max Müller (1906-1994) - Philosoph in Freiburg und München, zunächst Quickborner, dann Bund Neudeutschland, Guardini- und Heidegger-Schüler, der 1954 gemeinsam mit Johannes Spörl Guardinis philosophische Ehrenpromotion in Freiburg erwirkte - macht dabei in seinem 1954 erschienenen Beitrag über Guardini als „Gestalter unserer Zeit“ „drei große Traditionsströme“ aus, die in der Sicht des deutschen Katholizismus Mainz in sich vereinige:
- Erstens stehe es für den Strom „des `SYMBOL-KATHOLIZISMUS´ des alten Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, in welchem der Glaube die Verantwortung für eine ganze Welt zu tragen bereit war."
- "Dann aber sei Mainz auch jene Stadt, in der es zum erstenmal `KATHOLIKENTAGE´ gab, d.h. die Stadt der sich hier formierenden schlagkräftigen konfessionellen Organisationen und des damit verbundenen `politischen Katholizismus´".
- "Schließlich aber habe in Mainz der `SOZIALE KATHOLIZISMUS´, dessen größtes und leuchtendes Symbol im 19. Jahrhundert der sozialreformerische Wille des großen Mainzer Bischofs Wilhelm Emmanuel von Ketteler war, seinen Ursprung gehabt"[Max Müller: Romano Guardini, in: Gestalter unserer Zeit, 1954, Band 1: Denker und Deuter im heutigen Europa. Europäische Köpfe, S. 65].
Müller ging 1954 noch davon aus, Guardini sei dem „politischen Katholizismus” und seinen Organisationen „immer fern und fremd geblieben”. Diese Aussage ist historisch aber nicht mehr haltbar. Zuzustimmen ist Müller jedoch in der Einschätzung, dass sich bei Guardini „die beiden anderen Linien, die des konservativen Symbolkatholizismus, der das Unsichtbare und Ewige dauernd in konkreter Verleiblichung wirklich unter uns erlebt, und die des vorwärtsdrängenden und reformerischen Sozialkatholizismus, der auf die Forderung der geschichtlichen Stunde fühlig und erregt hinhört, ... in selten harmonischer Synthese” geeint hatten [vgl. ebd.]. Allerdings hätte Guardini selbst dabei wohl nicht von „harmonischer Synthese“ gesprochen, sondern stattdessen - als A-Hegelianer, aber nicht als Anti-Hegelianer! - im Rahmen seiner Gegensatzlehre von „lebendig-konkreter Spannungseinheit“.
Die ausstehende systematische Erforschung dieser drei Einflüsse
Es wäre aber durchaus lohnend fundamentaltheologisch und sozialethisch folgendes herauszuarbeiten:
- 1) wie nahe sich Kettelers und Guardinis Vorstellungen wirklich sind, zum Beispiel in Bezug auf „Dialogik“ versus „Dialektik“ und die Unterscheidung echter Gegensätze unter Ausschluss von Widersprüchen, was bei beiden gegen Hegels Dialektik gerichtet ist; konkret aber auch im Blick auf das Verhältnis von „Autorität und Freiheit“, „Autonomie und Heteronomie“ in ihrem Verhältnis zur „Ordnung unter Personen“ und zur „Theonomie“, bis hin zur Idee des „Solidarismus“ und der „solidarischen Verantwortung“ sowie der dazugehörenden krisenbewältigenden Erneuerungs- und Reformprogramme;
- 2) wie stark Guardinis Analogien zwischen Kirche und ihrem Vollzug der Liturgie als „Gesamtkunstwerk“ einerseits, Staat und seinem Vollzug der Politik als „Kunst des Möglichen“ andererseits im Mainzer Symbolkatholizismus verankert sind (z.B. Mainzer Evangeliar, Mainzer Choral, Mainzer Dom St. Martin nach Willigis-Ideal, das Willigis- bzw. Martins-Rad, der Mystiker-Bischofs „Bruder Bardo“); und zwar bis hinein in die Polarität von „Oben“ und „Innen“, die eine „Kirche von oben“ bzw. einen „Staat von oben“ und eine „Kirche von innen“ bzw. einen „Staat von innen“ als lebendig-konkrete Gegensätze einander gegenüberstellt, worin denn auch die eigentliche Bedeutung von Guardinis Aussprüchen einer „Kirche, die in den Seelen erwacht“ und eines „Staates in uns“ liegt;
- 3) mit welcher theologischen, mystischen und weltanschaulichen Motivation Guardini sich von Jugend an und somit von Mainz ausgehend im organisierten Katholizismus engagiert hat (Juventus, Piusverein, Unitas, Katholischer Akademikerverband „I“ (der studentische) und „II“ (der nach-studentische) und dies obwohl er tatsächlich alle nicht langfristig vor- und nachbereitete Großveranstaltungen mit unzureichender „Methodik“ für völlig unfruchtbar hielt; gerade weil seine Vorstellung von „Participatio actuosa“ sich keineswegs nur auf die Liturgie bezog und weil sich seine Vorstellung von „Akademie“ keineswegs nur auf eine rein platonische Akademie bezog und auch nicht auf eine „bessere“ Volkshochschule oder verlängerten Arm der Universität ins Volk hinein.
Zur Entschuldigung des Mainzer Bischofs Karl Lehmann anlässlich der Verleihung des Guardini-Preises 2014
Lehmann bei der Guardini-Preis-Verleihung 2014
Kardinal Lehmann machte bei der Verleihung des Guardini-Preises 2014 in München das Verhältnis von Guardini zu Mainz ausdrücklich zum Thema seiner Dankesrede [„Seine zahllosen Bücher begleiten mich bis heute". Kardinal Lehmann in München mit dem Romano-Guardini-Preis ausgezeichnet, Rede online: Rede auf Bistum Mainz - Ehemalige Bischöfe - Zur Debatte, 8/2014.
Kardinal Lehmann sagte zunächst: „Anfangs wusste ich wenig um das schwierige Verhältnis zwischen Mainz und Romano Guardini. Frau Professorin Dr. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz hat dann in ihrer großen Guardini-Biografie, die zum 100. Geburtstag im Jahr 1985 erschien, diese problematische Beziehung weitgehend aufhellen können.“
Das Kapitel über Mainz von Gerl-Falkovitz erschien übrigens schon im Dezember 1984 als Vorabdruck im Guardini-Heft des Gymasium Moguntinum Rabanus-Maurus-Gymnasium Mainz unter dem Titel „Eine nicht ganz glückliche Beziehung“ [Hanna-Barbara Gerl: Eine nicht ganz glückliche Beziehung: Romano Guardini und Mainz, in: Romano Guardini. 1885-1968. Gymnasium Moguntinum Rabanus-Maurus-Gymnasium, Mainz, Nr. 46, Dezember 1984, S. 9-17]. Sie plädierte darin, die frühen und nachhaltigen Prägungen Guardinis „nicht zu unterschätzen. Zugleich muss aber gesagt werden, dass diese Prägungen eher im seltenen Fall sich in Guardinis Erinnerung freundlich oder gar glücklich spiegelten.“ Nach ihrer Darstellung schließt sie: „Von allen Verwundungen abgesehen, ob sie nun aus Enge und Unverstand, ob sie aus der eigenartigen Abgeschirmtheit der Kindheit und Jugend stammten – Mainz war doch die Stadt der ersten, unbewußten und um so nachhaltigeren Begegnung mit dem Leben.“
Gerl-Falkovitz spricht hier aber anders als Kardinal Lehmann nicht von einem „Zerwürfnis“. Der Kardinal hingegen fährt in seiner Rede fort mit dem Satz: „Das Zerwürfnis zwischen Mainz und Romano Guardini hat mich im Lauf der folgenden drei Jahrzehnte jedoch nie losgelassen.“
Nach einer sehr gediegenen, ausgewogenen Darstellung der verschiedenen, bis dahin bekannten Erfahrungen Guardinis in Mainz zwischen 1908 und 1923, wird Guardinis eigener Rückblick von 1943/45 angeführt. Guardini hatte bekanntlich geschrieben: „Damals habe ich mich innerlich von der Mainzer Diözese gelöst, umso mehr, als mein Vater im Jahr 1919, kurz nach seiner Rückkehr aus der Schweiz gestorben war und meine Mutter sich entschloss, nach Italien zurückzukehren. Ich bin dann noch einmal nach Mainz gegangen, als ich die Berliner Professur (1923) bekommen hatte; die Enttäuschung, welche ich damals erfuhr, hat die Trennung definitiv gemacht.“
Kardinal Lehmann kommentierte dazu: „Der Ärger saß sehr tief, sodass Romano Guardini nach 1923 erst wieder im Jahr 1944 Mainzer Boden betrat. Ausdrücklich schreibt er, dabei habe er `keinen Groll empfunden´.“ Dennoch kommt Kardinal Lehmann nach einer Bewertung des Verhältnisses nach 1945 dann zu dem Schluss: „Trotz der langsam entspannten Atmosphäre verlassen einem, wenn man aus Mainz kommt, nicht Scham und Beklemmung. Die Verehrung für Romano Guardini in Mainz ist gewiss auch heute immer noch sehr hoch. Viele wissen freilich nichts mehr von den Verwicklungen und Verletzungen der frühen Jahre. Aber es muss doch von Mainz im Blick auf diese Zeit, soweit so etwas überhaupt möglich ist, ein Wort der Entschuldigung und der Bitte um Vergebung erwogen werden. So habe ich als Bischof von Mainz schon in meinem ersten Wort über Guardini, wohl etwas erschrocken über das Missverhältnis, gesagt, als damals 1984 „Die Berichte über mein Leben" erschienen sind: „Es war mir (erst recht nach dem Erscheinen dieses Buches) klar, dass wir nicht nur zu danken, sondern auch etliches wieder gut zu machen hatten, soweit dies menschenmöglich ist." Seither sind über 30 Jahre vergangen. Bei der Entgegennahme des Preises mit seinem Namen hier in München fühle ich mich - ganz im Sinne von Bischof Albert Stohr - gerade als Bischof von Mainz - nicht nur persönlich, sondern dienstlich-amtlich - zutiefst verpflichtet, fast 50 Jahre nach Romano Guardinis Tod angesichts der Verletzungen von damals um Entschuldigung, Nachsicht und Vergebung zu bitten.“
Solidarische Verantwortung statt Entschuldigung
Als ich in Vorbereitung dieses Vortrages Kardinal Lehmanns sicher gut gemeinte Worte noch einmal gelesen habe, war meine neuerliche Reaktion darauf: „Das hätte Guardini nicht gewollt!“ Entschuldigen kann man sich nach Guardinis eigenem Verständnis – deutlich geäußert in seiner hoch-aktuellen Rede „Verantwortung. Gedanken zur jüdischen Frage“ (1952) – nur für etwas, wofür man persönlich eine Schuld trägt, unabhängig davon ob als Einzelperson oder als Teil einer Institution und natürlich in besonderem Maße, wenn man in dieser Institution zum Zeitpunkt der Schuld ein Leitungsamt innehatte. Guardini lehnte sowohl die Existenz einer „Kollektivschuld“ ab, somit aber auch die Notwendigkeit einer „Kollektiventschuldigung“, erst recht über Generationen hinweg.
Was Guardini sehr wohl einforderte – auch über Generationen hinweg – war eine „solidarische Verantwortung“ für die Folgen von Schuld innerhalb einer Familie oder eines Volkes, innerhalb derer man ja auch ganz selbstverständlich die Freude über Ehre und Erfolg teile. Diese Verantwortungsübernahme erfordert zunächst vor allem ein ehrliches Aufarbeiten der Vergangenheit, ein klares Benennen der Schuld und der damals Schuldigen sowie ein klares Vorhaben, aus den Fehlern der Geschichte zu lernen und die richtigen Schlüsse für die Zukunft daraus ziehen zu wollen. Nicht weniger, aber auch nicht mehr [Romano Guardini: Verantwortung. Gedanken zur jüdischen Frage, in: Hochland, München, 44, 1951/52, 6 (August 1952), S. 481-493, hier S. 490 (Rede am 23. Mai 1952 vor der Tübinger Studentenschaft anlässlich der sog. Ölbaumspende)].
Gerade deshalb muss man es aber ernst nehmen, wenn Guardini selbst schreibt, er sei 1944 „ohne Groll“ nach Mainz zurückgekehrt. Er hat also gar keine Entschuldigung erwartet.
Der von Guardini benannte, sozusagen „hauptschuldige“ Domkapitular, bis 1901 Kirchenrechtsprofessor und von 1920 bis 1922 Generalvikar Ludwig Bendix – war noch im Jahr der „Trennung aus Enttäuschung“ am 28. September 1923 gestorben, dessen Bruder Karl im Jahr 1929. Der für die Ereignisse 1909/10 hauptverantwortliche Domkapitular und ehemaligen Regens des Mainzer Priesterseminars Joseph Blasius Becker starb im Jahr 1926. Der betroffene Spiritual Josef Siepe SJ, der durch seine Informationsweitergabe an den Regens die Verschiebung der Priesterweihen für Guardini und Neundörfer heraufbeschworen hat, war nur von 1909 bis 1912 im Amt und nach 1912 nicht mehr in Mainz tätig. Wer konkret wann und wie dafür gesorgt hat, dass der im Juli 1917 bei Karl Braig promovierte und am 7. März 1919 habilitierte August Reatz den Vorzug vor Guardini erhielt, bedarf noch weiterer Erforschung. Auch wer konkret ihn 1922/23 im Ordinariat und Priesterseminar enttäuscht hat, bleibt unklar.
Es gab dann zwischen 1945 und 1952 zwar so etwas wie eine Phase der „Retraumatisierung“ im Zusammenhang mit der ausbleibenden Ernennung zum Hausprälaten. Ich kann aber nicht erkennen, dass er dem Nutznießer und abermals Bevorzugten August Reatz eine Mitschuld gegeben hätte. Aber eine Schuld lag ja ohnehin weder beim Bistum Mainz noch gar bei Bischof Stohr persönlich, denn dieser war im Grunde in dieser Situation selbst, wie wir heute wissen, ein Opfer kirchlicher „Erwartungshaltungen“ im Vatikan. Einige nach 1945 dort mächtige Kurienvertreter hatten Stohr auflaufen und Guardini „vorführen“ wollen; andere sahen Guardini als Teil einer reformistischen Bewegung innerhalb des deutschen und französischen Katholizismus. Weitergehende Schlussfolgerungen lassen die neuen Erkenntnisse meines Erachtens nicht zu.
Insgesamt gibt es also keine „spezielle“ Schuld von Angehörigen oder Verantwortlichen der Stadt Mainz oder des Bistums Mainz. Die Haltungen und Behandlungen entsprachen sowohl bezüglich der Stadt denjenigen in ganz Deutschland als auch bezüglich des Bistums dem restaurativ-antimodernistischen Katholizismus in den meisten deutschen Bistümern bzw. im Vatikan, oder anders ausgedrückt: die von Guardini empfundene „Enge“ im Mainzer Seminars entsprach der Situation in den meisten anderen Priesterseminaren, die restaurativ-antimodernistischen Tendenzen im Katholizismus gab es nicht nur im Bistum Mainz und die völkischen Ressentiments waren in der Stadt Mainz sicher nicht stärker als andernorts.
Und: Guardini ist immer Mainzer Diözesanpriester geblieben. Er hat nie um die Inkardinierung in ein anderes Bistum gebeten, weder in das Bistum Breslau oder das neugegründete Bistum Berlin noch später ins Erzbistum München.
So kann Alfred Schüler 1969 betonen: „Seine Anfänge, wenn auch nicht seine allerersten, liegen im Mainzer Raum, und er blieb dieser Diözese auch in all den späteren Jahren inkardiniert“[Alfred Schüler: Romano Guardini. Eine Denkergestalt an der Zeitenwende, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte, 21, 1969, S. 133-138].
Das bisher „Bekannte“ zu den Mainzer Kapiteln seiner Biographie
Quellen des bisher „Bekannten“
Bislang schöpfte die Guardini-Forschung biographisch:
- auf den zwei bisher veröffentlichten autobiographischen Texten „Berichte über mein Leben“ (1984)
- auf den veröffentlichten Erinnerungen von Zeitgenossen, vor allem Adam Gottron, Philipp Harth („Mainzer Viertelbuben“) und Erinnerungen und Archivalien im Umfeld des „Gymnasium Moguntinum“.
- auf die Auswertung der Personalakten Guardinis und Neundörfers der Diözese Mainz.
In der Guardini-Biographie von Hanna-Barbara Gerl von 1985 wird ein großer Teil der Korrespondenz in der Bayerischen Staatsbibliothek sowie des Nachlasses von Alfred Schüler bzgl. Juventus ausgewertet.
Hinzu kommen einige, sich aber zum Teil widersprechende Erinnerungen Dritter an Guardinis Verhältnis zu Mainz, insbesondere von Alfred Schüler, Hans Waltmann, Werner Becker und Felix Messerschmid.
Die Problematik der bisherigen Hauptquellen
Die „Berichte über mein Leben“ waren, wie wir heute wissen, auf mehrere Durchläufe angelegt. Bislang sind nur zwei Durchläufe 1985 publiziert worden [Romano Guardini: Berichte über mein Leben. Autobiographische Aufzeichnungen. Aus dem Nachlaß hrsg. von Franz Henrich, Düsseldorf 1984; eingegangen ders.: Stationen und Rückblicke (1965)/Berichte über mein Leben, Mainz/Paderborn 1995]. Sie waren alle nicht für die Veröffentlichung gedacht, auch nicht durchkorrigiert oder überarbeitet und enden 1943/45. Das Nachkriegsverhältnis wird nicht weiter in den Blick genommen.
Die ersten beiden Durchläufe sind gewidmet: I. Professur und Lehrtätigkeit und II. Die Suche nach dem Beruf – Priestertum und seelsorgliche Tätigkeit. Beide Berichte behandeln Themen, die eher das kritische Verhältnis zu Mainz in den Vordergrund rücken. Zahlreiche positive Erfahrungen dagegen bleiben außen vor. Problem der „Berichte über mein Leben“ ist außerdem, dass manche Erinnerungen des 60jährigen Guardini bezüglich Daten, Abfolgen oder z.B. Vornamen fehlerhaft sind.
Die 1985er-Biographie von Hanna-Barbara Gerl basiert wesentlich auf Guardinis Nachlass in der Bayerischen Staatsbibliothek sowie einem aus dem Nachlass von Messerschmid dorthin gelangtem Konvolut von weiteren Briefen [Hanna-Barbara Gerl: Romano Guardini, 1885 - 1968. Leben und Werk, Mainz 1985]. Die dortigen Korrespondenzen beginnen mit ganz wenigen Ausnahmen alle frühestens 1943. Früher beginnende Korrespondenzen lagen ihr 1985 nicht bzw. noch nicht vor (Weiger, Kempner, Waltmann, Schwarz, Messerschmid, Spörl, vor allem aber auch Herwegen, Mohlberg usw.). Mitunter konnte sie wohl v.a. aus zeitlichen Gründen nicht in die Tiefen der Korrespondenzen gehen (z.B. Verlagskorrespondenzen mit Knies und Laubach) oder Bibliotheksanalysen vornehmen (Widmungsexemplare in der Mooshausener und der erhaltenen Privatbibliothek in Schloß Suresnes). Auch den Nachlassteil, der sich ab 1983/84 in der Katholischen Akademie in Bayern befand, hat sie nicht mehr herangezogen. Bei den Zeitzeugen lag ihr Schwerpunkt v.a. bei Guardinis Rothenfelser Freunden. Auch hier waren dadurch für bestimmte Kontexte und Zeiträume große Lücken gegeben, während andere stärker vertreten waren. Dieses Manko betrifft gerade auch einige Mainzer Bezüge. Leider übernahm sie die ihr zugänglichen zwei, erstmals 1984 edierten „Berichte über mein Leben“ oft ungeprüft und ohne Tiefenrecherche.
Hans Waltmanns (1903-1981) Erinnerungen gegenüber Walter Heist (1907-1984) [Walter Heist/Felix Messerschmid (Mitarb.): Romano Guardini. Der Mensch. Die Wirkung. Begegnung, hrsg. von der Stadt Mainz, Mainz 1979, darin: Walter Heist: Gespräche in Bayrischzell. Hans Waltmann erzählt von Romano Guardini, S. 59-68] betreffen folgende Aspekte:
- Zum Plan des von Heist geplanten Guardini-Buches meinte Waltmann, „das Verhältnis Guardinis zu Mainz sei doch eher ein gespanntes gewesen, und er, Waltmann, wisse nicht recht, ob man Guardini überhaupt als Mainzer vereinnahmen dürfe.“
- "Als Grund für Romano Guardinis „gestörtes Verhältnis“ zur Stadt seiner Kindheit nannte Waltmann unter anderem Erfahrungen der Familie Guardini im Ersten Weltkrieg. Die Guardinis hätten, obwohl sie schon über zwei Jahrzehnte aus Verona nach Mainz zugezogen gewesen seien und dort festen Fuß gefasst, und obwohl sie nicht nur sich eingelebt, sondern auch gesellschaftlichen Anschluss gefunden hätten, niemals daran gedacht, ihre italienische Staatsbürgerschaft aufzugeben; als dann 1915 Italien den Dreierbund verlassen und sich auf die Seite der Gegner Deutschlands geschlagen hätte, da hätten sie das auf die krasseste Weise zu spüren bekommen: sie wurden von früheren Freunden geschnitten, man warf ihnen „treuloses Italienertum“ vor, und Vater Guardini, musste schließlich Mainz verlassen, um von Zürich aus seine Geschäfte weiterzuführen; in Zürich sei er 1918 gestorben. Nach Kriegsende verlegten die Guardinis ihre Firma wieder nach Italien. Das alles habe Romano Guardini nie vergessen.“
Nie wurde die Frage gestellt, wie viele wirklich hinter diesem „man“ des Vorwurfs stehen? Guardini selbst berichtet zwar von verändertem Verhalten der Familie und ihm gegenüber, aber nicht von einer unmittelbaren Ausgrenzung. Nicht eine diskriminierende Behandlung in Mainz oder eine Entscheidung der Stadt Mainz war verantwortlich für das Verlassen von Mainz, sondern eine Entscheidung der Reichsregierung, alle italienischen Konsulatsmitarbeiter auszuweisen.
Die fehlende „Qualität“ der Erinnerungen Waltmanns zeigt sich auch daran, dass er davon ausgeht, dass Guardini von Zürich aus seine Geschäfte weiterführte, dies geschah aber in Mainz durch einen deutschen Mitarbeiter und durch Romano Guardini jun., der ja deutscher Staatsangehöriger und deutsche Uniform tragender Soldat war. Hier wurde eine zum Teil unsichere, zum Teil überbetonte, spät erinnernde Schilderung an Erzählungen Guardinis als pars-pro-toto-Zeugnis für ein „gespanntes“ bis „gestörtes“ Verhältnis von Romano Guardini zu Mainz genommen.
Aktueller Vergleich: Sollte man mitbekommen, dass einzelne Mainzer schon lange in Deutschland arbeitende und in Mainz wohnende Ausländer als „treulos“ bezeichnen und ausgrenzen, sollte man – und das sollte man aus menschenrechtlichen Gründen tatsächlich – dagegen vorgehen, aber vor allem auch deshalb, damit eigenen Nachkommen später nicht einmal vorgehalten wird, dass „man“ als Mainzer und als Stadt daran „Schuld“ habe, dass ein berühmt gewordenes Familienmitglied einer dieser ausländischen Familien, der schon vor Ausbruch des Krieges deutscher Staatsangehöriger wurde, mit einem angeblich „gestörten“ Verhältnis zur Stadt von Mainz weggegangen und nicht mehr wirklich zurückgekehrt sei. Und dies auf der Basis, dass ein jüngerer Freund dieser Berühmtheit mit Migrationshintergrund, dies im Jahr 2085, lange nach dem Tod dieser Berühmtheit, einem Zeitzeugen-Befrager gegenüber formuliert, der das Gesprächsprotokoll dann veröffentlicht. Das wäre zwar dann nicht „unerheblich“ oder „unwahr“, aber eben auch in keinster Weise aussagekräftig oder repräsentativ. Und dies sollte daher auch einmal in Bezug auf Waltmann geäußert werden. Die Details und die Bewertungen Waltmanns in Bezug auf Guardini sind zwar weder „unerheblich“ noch „unwahr“, aber eben auch weder aussagekräftig noch repräsentativ.
Waltmann nennt in diesen Erinnerungen als weiteren Grund für Guardinis angeblich „gespanntes“ oder „gestörtes“ Verhältnis seine Rückstellung von der Weihe, die später noch dargestellt wird. Schließlich erinnert er sich, dass auch die Kaplanszeit Guardini nicht befriedigt habe. Diesen Grund verankert er aber nun ausdrücklich nicht mit der in Aussicht gestellten Stelle im Priesterseminar, sondern mit Guardinis Gefühl, wofür er sich „bestimmt fühlte“: „“Es stand eigentlich von Anfang an für ihn fest, daß nicht die Praxis der Seelsorge, sondern das Schreiben und die wissenschaftliche Arbeit das Gebiet war, für das er sich bestimmt fühlte.“ Zwar hat sich der Kaplan ein Jahrfünft lang mit viel Begeisterung und Erfolg für die Mainzer „Juventus“ eingesetzt, aber als sich auch hier „konservative Gegenkräfte“ geltend machten, griff er gern zu, als 1923 [sic! HZ: Das war aber 1920], auf Veranlassung von Abt Ildefons Herwegen von Maria Laach [HZ: Herwegen hat vermittelt, aber nicht veranlasst!] – Guardini stand mit ihm durch ihrer beider Teilnahme an der neuen liturgischen Bewegung in Verbindung – die Aufforderung an ihn erging, sich an der Universität Bonn zu habilitieren. […] „Er war eben über Mainz hinausgewachsen“, meinte Waltmann lakonisch. Als erster habe ihn übrigens Bischof Dr. Stohr – einst Guardinis Kursgenosse – für die Mainzer Diözese zurückgewonnen, ihn sozusagen rehabilitiert.“
Waltmann selbst schwankt also zwischen Gründen, die in Guardini selbst wurzelten, sowie den widrigen Umständen in Mainz. Dies spricht immerhin dafür, dass Waltmann – im Unterschied zu manchen, die sich später dazu äußerten, die „Schuld“ am angeblich „gespannten“ und „gestörten“ Verhältnis nicht allein in Mainz, sondern auch bei Guardini sah, der aus Waltmanns Sicht ohnehin längst „über Mainz hinausgewachsen“ war.
Dass die Erinnerungen Waltmanns vor allem auch die Chronologie betreffend unzuverlässig sind, zeigt unter anderem die einflussreiche Erinnerung Waltmanns, Guardinis Studienfreund Heidegger habe zu Pfingsten 1933, also kurz nach seinem Amtsantritt und seinen ersten umstrittenen Reden als Freiburger Rektor, Guardini auf Burg Rothenfels besucht. Dieser Besuch fand aber nachweislich bereits an Pfingsten 1930 statt, also vor und nicht zu Beginn des Dritten Reiches. Abgesehen von den auch zu Mainz enthaltenen Erinnerungsfehlern, scheint Waltmann also insgesamt gesehen einige Dinge zu stark zu pointieren, andere zu vernachlässigen oder falsch einzuordnen.
Es gab auch Kritik an Waltmanns Darstellung, allerdings bislang nicht publizierte. So gibt es Äußerungen von Felix Messerschmid und Werner Becker, die das von Waltmann bei Messerschmid etwas, bei Becker relativieren.
Felix Messerschmid sagt zum Beispiel über das Protokoll Heists zum Gespräch mit Waltmann: „Nichts darin ist völlig unrichtig, […] Es mag sein, daß ich zu dieser oder jener Formulierung eine Anmerkung zu machen habe, wenn ich zu meinem eigenen Betrag komme; sicher aber keine, die für Ihre Niederschrift von ändernder Bedeutung wäre.“
Deutlicher ist dagegen der Widerspruch von Werner Becker in einem Brief an eine Inge vom 16. November 1979: „Das Interview mit H.W. ist aber einfach traurig. ... Was für ein Unsinn ist es, ausgerechnet in diesem Mainzer Buch von einem gestörten Verhältnis zur Stadt Mainz zu sprechen (S. 60). Wie gern, wenn auch selten, sprach Guardini von dem Mainzer Kreis um die sozusagen mystisch veranlagte Frau Schleussner, usw. Die fünf Mainzer Jahre, in denen er auch Domprediger war, standen wohl als glückliche Zeiten in seinem Bewusstsein. – Daß ihn seine Lehrer zur wissenschaftlichen Laufbahn ermutigten, hat nie sein Verhältnis zur Praxis der Seelsorge gestört. Die Jugendarbeit Guardinis hat in Mainz ihren Anfang genommen und ist organisch weiterentwickelt worden. Er braucht dort auch nicht „rehabilitiert“ zu werden“ [Brief von Werner Becker an Inge, Leipzig, vom 16.11.1979 (Archiv Rothenfels)].
Es ist noch zu überprüfen, ob Beckers Erinnerung stimmt, dass Guardini während seiner Juventus-Jahre auch im Dom predigte.
Ohne Frage ist Guardinis Mainzer Zeit politisch wie kirchlich von den für Katholiken schwierigen Zeiten geprägt worden, aber diese Zeiten waren für alle Reformen gegenüber offeneren Katholiken besonders schwierig, zum Teil – gerade auch in den Freundeskreisen von Guardini – sogar bedeutend existentieller als bei Guardini selbst. Und ohne Frage ist auch Guardinis Verhältnis zu Mainz geprägt worden durch die schwierigen Zeiten des Ersten Weltkrieges, die für Guardini mit einer Mehrfachbelastung besonders anstrengend waren. Gerade aber, wie Becker zurecht betont, waren ihm hierbei der Kreis um Josephine und Wilhelm Schleußner und die älteren Jugendlichen der Juventus um Alfred Schüler und Ludwig Neundörfer, und lange Zeit eben durchaus auch Adam Gottron ein große Stütze. Das einige seiner jüngeren Wegbegleiter die „Zeichen der Zeit“ dabei falsch interpretierten und durch ungeschicktes Verhalten Guardinis Mainzer „Hängepartie“ um eine mögliche Dozentur am Priesterseminar noch weiter verschärften, führte letztendlich zu einer Erleichterung des Abschiednehmens.
Angesichts der Gesamtentwicklung bliebe dann aber auch die Frage zu klären, was aus Guardini geworden wäre, wäre er nicht nach Bonn, Rothenfels und Berlin gegangen, sondern hätte sich weiter in Mainz um die Juventus und um die Theologenausbildung im Priesterseminar in der Systematischen Theologie (Dogmatik und Apologetik) gekümmert und dies unter den nicht nur in Mainz wieder konservativer, kongregationalistischer und integralistischer werdenden Tendenzen im Katholizismus der zwanziger Jahre; wenn also schwerpunktmäßig nicht der Breslauer Erzbischof Adolf Bertram für die Berliner Universitätstätigkeit Guardinis Verantwortung getragen hätte, sondern der Mainzer Bischof Ludwig Maria Hugo für seine Tätigkeit im Mainzer Priesterseminar, der dann zudem für das Imprimatur aller Werke Guardinis und nicht nur für die im Matthias-Grünewald-Verlag erschienenen Werke zuständig geworden wäre.
[Für das Imprimatur seiner im Hegner-Verlag erschienenen Werke war zum Beispiel der Meissner Bischof Petrus Legge zuständig. Nachdem Pius XI. im September 1932 Legge zum Bischof ernannt und er am 28. Oktober 1932 zum Bischof geweiht wurde, hat er am 7. November 1932 das Imprimatur für Guardinis „Der Mensch und der Glaube“ gegeben, obwohl er erst am 8. November 1932 im Dom St. Petri zu Bautzen feierlich eingeführt wurde. Später hat er das Imprimatur durch den Domdekan und Apostolischen Protonotar Alexander Hartmann geben lassen. Das Imprimatur für Mainz hat ab 1923 im Übrigen immer der Generalvikar Mayer gezeichnet.]
Das „Unbekannte“ zu den Mainzer Kapiteln seiner Biographie
Woher kommen nun aber die neuen Erkenntnisse?
Seit 1985 gab es umfangreiche weitere Forschungen durch Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, der auch zum großen Teil veröffentlicht ist. Dazu gehören insbesondere die Erkenntnisse aus Briefen an Josef Weiger [„Ich fühle, daß Großes im Kommen ist.“ Romano Guardinis Briefe an Josef Weiger 1908-1962, aus dem Nachlaß hrsg. von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Mainz/Paderborn 2008].
Vieles an Neuem verdankt sich auch der akribischen, sozialbiographisches Forschung des leider bereits verstorbenen Prof. Berthold Gerner, größtenteils nur im Typoskriptdruck veröffentlicht, teilweise aber auch noch unveröffentlicht. Sein Guardini-bezogener Nachlass liegt in der Katholischen Akademie in Bayern und konnte daher jetzt auch vertieft ausgewertet werden.
Hinzu kommen bisher unveröffentlichte autobiographische Erinnerungen Guardinis, vor allem ein dritter „Bericht über mein Leben“; ebenso Neufunde von Korrespondenzen und Archivalien in anderen Nachlässen und Archiven. [Berthold Gerner: Romano Guardini in München. Beiträge zu einer Sozialbiographie, Bd. 1: Lehrer an der Universität, hrsg. von der Kath. Akad. in Bayern, München 1998; Bd. 2: Referent am Vortragspult, hrsg. von der Kath. Akad. in Bayern, München 2000; Bd. 3/A: Mann der Kirche, Teil A: Prediger in St. Ludwig, hrsg. von der Kath. Akad. in Bayern, München 2002; Bd. 3/B: Mann der Kirche: Teil B: Förderer der Liturgie, hrsg. von der Kath. Akad. in Bayern, München 2005 (alle im Typoskriptdruck und mit ausführlichem Register); außerdem das Typoskript „Guardinis theologische Studienzeit: Erläuterungen zu seinen autobiographischen Aufzeichnungen“ (München 2005); weitere Typoskripte zur Ökumene, zu seinen Berliner Sekretärinnen und Sekretären, dazu Auflistungen seiner Predigten und Vorträge].
Auch die Funde aus seiner Kindheit und Schulzeit im Nachlass seiner Mutter auf Isola Vicentina sind mittlerweile ausgewertet. Auszüge davon wurden veröffentlicht in italienisch-deutschem Ausstellungskatalog „Sulle tracce di Romano Guardini/Auf den Spuren von Romano Guardini“ [2020].
Schließlich sind da noch die Ergebnisse einer grundlegenden Auswertung der Guardini-Privatbibliothek, die schon bald nach dem Tod Guardinis in der Katholischen Akademie in Bayern im Schloß Suresnes aufgestellt wurde. Insbesondere wurden die in den Büchern enthaltenen Widmungen durch mich dokumentiert [vgl. meinen Aufsatz: Romano Guardini im Spiegel seiner Bibliothek. Eine historische Spurensuche im Rahmen eines Seligsprechungsverfahrens, in: Beiträge zur altbayerischen Kirchengeschichte, 61, 2021, S. 211-330], womit auch die Auswertung der Weiger-Stapp-Bibliothek in Mooshausen durch Gerl-Falkovitz vervollständigt wird [Siehe Briefe an Josef Weiger, aber auch: Gerl-Falkovitz (Hrsg.): Lauterkeit des Blicks, Heiligenkreuz 2013; Gerl-Falkovitz, Geheimnis des Lebendigen, Heiligenkreuz 2019].
Mittlerweile kam es auch noch zu umfassenderen Auswertungen der bereits vorhandenen Quellen, insbesondere die vorhandenen Korrespondenzen im Guardini-Nachlass der Bayerischen Staatsbibliothek, der Katholischen Akademie in Bayern sowie der vorhandenen oder schon veröffentlichten Dokumente und Bezugs-Korrespondenzen. Auch bisher schon veröffentlichte, aber in der Guardini-Forschung (noch) nicht oder nur unvollständig herangezogene, oder auch neu veröffentlichte Erinnerungen von den jeweiligen Gefährten konnten einbezogen werden.
Darüber hinaus gab es intensivere Nachrecherchen zu bereits veröffentlichten Hinweisen. Für Mainz betrifft dies vor allem den Schleußner-Kreis, den Pius-Verein, die Seminarzeit, die Freunde Josef Weiger und Karl Neundörfer, die Juventus, den Matthias-Grünewald-Verlag usw. usf.
Worum es dabei oft geht, soll an einem Beispiel aufgezeigt werden: Klaus Reinhardt, der frühere Regens des Priesterseminars, hat in der 1980 Jubiläumsschrift „Augustinerstrasse 34. 175 Jahre Bischöfliches Priesterseminar Mainz“ viele historische Fakten zusammengetragen. Darin wird auch Guardini mehrfach erwähnt, z.B. in Bezug auf einen Vortrag, den Guardini im Priesterseminar vor dem Piusverein über das „Wesen des Kunstwerks“ bereits im Jahr 1908 gehalten hat. Der Vortrag wurde zwar erstmals aufgegriffen bei Gerner (2000), dann bei Weiger-Briefen in Fußnote (2008). Allerdings wurde dieser Hinweis nie im Blick auf Piusverein nachrecherchiert. Dies wurde mittlerweile begonnen, verbunden mit weiteren Funden, die nun im Folgenden auch einbezogen werden können.
Kapitel I: Die Kindheit (1885-1896)
I.1. Der Umzug im Sommer 1885
Ein weiteres Beispiel für die Holprigkeiten in der Guardini-Forschung bildet bereits die Suche nach den Mainzer Adressen der Guardinis, mit denen nun die konkreten Darstellungen begonnen werden sollen. Dies beginnt bereits mit einer Korrektur des Umzugsjahres der Familie nach Mainz.
Guardini selbst berichtet in seinem „Bericht über mein Leben“ aus der Erinnerung von 1943/45: „Meine Eltern kamen im Jahre 1886, als ich ein Jahr alt war, nach Deutschland, und zwar nach Mainz. Wenn man den großen Unterschied zwischen der damaligen italienischen und der deutschen Welt ins Auge faßt, bedeutete das so viel, als ob sie aus dem Jahre 1856 heraus in das von 1886 gekommen wären“ [Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, Mainz 1995, S. 56].
Diese Erinnerung wurde so ungeprüft übernommen von Gerl, 1985, aber auch von allen anderen biographischen Darstellungen zu Guardini.
Beim Studium der Archivalien zum Antrag auf deutsche Staatsbürgerschaft (1910) ergibt sich dazu aber ein Problem: Im Fragebogen zu diesem Antrag steht eindeutig: „Seit 10. Juni 1885, in Mainz“.
Auch im von Guardini handschriftlich auf Latein angefertigten lateinischen Lebenslauf heißt es: „Primo vitae meae anno“ („in meinem ersten Lebensjahr“)
Eine Bestätigung kommt auch aus dem Nachlass der Mutter in Italien, Isola Vicentina: Denn auch aufgrund des gewidmeten Abschiedsgeschenks von Marta Bernardinelli (1847-1921), eine Tante väterlicherseits von Paola Bernardinelli, also unverheiratete jüngere Schwester ihres Vaters Michele, ergibt sich, dass die Emigration nach Deutschland schon im Juni/Juli 1885 erfolgt sein dürfte. Der Historiker Berlaffa vermerkt dazu: “1885, giugno/luglio. Probabile emigrazione della famiglia Guardini-Bernardinelli in Germania.”. Denn die Widmung lautet: «Cara Paolina/ Nel lasciarti ti offro questo piccolo libro perché esso ti ricordi la tua zia Marta e perché nel aprirlo tu la raccomandi al Signore insieme a tutta la tua famiglia. E così separate da tanta distanza ci riuniremo ogni giorno ai piedi del Crocifisso che è il rifugio di tutti i cuori. Tua zia Marta 29 giugno 85».
Dazu kommt der zeitgenössische Bericht von Giuseppe de Botazzi aus dem Jahr 1895: «A Magonza, graziosa città del Granducato di Assia, sulla riva sinistra del Reno, fin dall’anno 1885 la solerte ditta Esportazione Uova Bernardinelli, Dolci, Bampa, Narizzano & C., di Verona, fondò una filiale pel commercio del pollame vivo e delle uova, prodotti che vanno a poco a poco conquistando il mercato tedesco, mercé l’opera indefessa del signor Guardini Romano, di Verona, rappresentante della Ditta accennata» [Giuseppe de Botazzi: Italiani in Germania - Als Italiener im Deutschland del Jahrundertwende, Roux Frassati & C.,1895. Giuseppe De Bottazzi war Dozent für italienische Sprache in Stuttgart seit 1887.]. In der deutschen Neuausgabe von 1993 fehlt zwar die Angabe: «Ende des Jahres 1885», ist aber durch die italienische Originalausgabe verbürgt.
Außerdem erhält die Firma Guardinis bereits im März 1886 den „I. Preis für Verdienstvolle Leistungen Ausstellung März 1886“ durch den „Verein für Geflügel und Vogelzucht – Mainz, noch erhalten in der Villa Guardini auf Isola Vicentina. Dies wäre schwer vorstellbar, wäre die Familie erst im Frühjahr 1886 umgezogen.
Und nicht zuletzt: Die Familie ist bereits im Adreßbuch der Stadt Mainz für das Jahr 1886 verzeichnet (siehe unten), was aufgrund der Erhebung der Daten für den Druck einen Umzug erst im Frühjahr oder Sommer 1886 ausschließt.
Warum ist diese Korrektur wichtig? Vor allem für ein besseres Verständnis der psychischen Belastung der Mutter. Sie hatte am 11. Dezember 1883 ihre neugeborene Tochter Giovanna nach nur sechs Stunden verloren. Das Glück, gut 14 Monate später am 17. Februar erneut einen Sohn zur Welt zu bringen, wurde also dadurch getrübt, dass nach der offiziellen Tauffeier am 3. Mai 1885 im Juni 1885 der Umzug von Verona nach Mainz mit einem nur vier Monate alten Säugling stattfand. Die Anmeldung in Mainz erfolgte wie gesehen am 10. Juni 1885. Guardinis Mutter (* 23.9.1862) war zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 22 Jahre alt. Sie geht auf Wunsch ihres Vaters mit ihrem Mann also nur unter mehrfach starken Vorbehalten nach Deutschland, und dies also wohl keineswegs, wie bisher angenommen, „nur“ wegen ihrer aus Jugenderfahrungen im Internat resultierenden Abneigung gegen die deutsch-österreichische Sprache und Kultur, sondern aus Angst um das junge Familienglück. So ein Einschnitt stellt darüber hinaus natürlich auch für die erblich bedingte Vorbelastung mit einer Neigung zur Schwermut bis hin zur Depression einen zusätzliche Last und Belastung dar.
I.2. Die Adressen
Die bisher bekannten Wohnungen (nach Gerl, 1985) waren zunächst bis 1900 Frauenlobstr.; dann ab 1900 Gonsenheimer Hohl bzw. Straße 18, heute Fritz-Kohl-Straße 18. Bei Max Oberdorfer wird ergänzt: „Ecke Frauenlobstr./Kurfürstenstraße“. Dieser Ergänzung liegt zwar richtigerweise die Formulierung „Ecke Frauenlobstr.“ zugrunde. Aber bei Frauenlobstraße und Kurfürstenstraße handelt es sich um Parallelstraßen. Es muß daher heißen: Frauenlobstr./ Ecke Kaiser-Wilhelm-Ring. Die Postadresse auf einigen erhaltenen Briefen und Postkarten (vor allem in der erhaltenen Postkartensammlung aus Guardinis Schulzeit in Isola Vicentina) lautete dann auch: Kaiser-Wilhelm-Ring 8 - Fotografie in Wikipedia.
Dennoch hat seit 1985 die unbequellten Angaben von Gerl wohl nur noch einer überprüft, nämlich Berthold Gerner. Selbst dieser hat sie aber nicht mehr richtiggestellt. 1995 hatte Gerner nämlich das Stadtarchiv Mainz gebeten, nach Meldedaten oder Adressen der Guardinis in Mainz zu recherchieren. Er hat auch eine Antwort erhalten, die damaligen Angaben aber in seinen Veröffentlichungen nicht verwendet. Aus dem Gerner-Nachlass ist mir aber aufgrund der Kopie des Dankbriefes Gerners bekannt geworden, dass es eine solche Antwort gab, auch wenn sie bei Gerner wohl „verlegt“ wurde und so nicht mehr im Nachlass erhalten geblieben ist. Ich habe kürzlich beim Stadtarchiv nachgefragt und bekam prompt die damalige Antwort als Kopie wieder zugesandt.
Daraus geht hervor:
- 1887 wird ein „Romano Guardini“ erstmals genannt und zwar unter der Adresse Bahnhofstraße 3. Dort war auch die Filiale Mainz der Firma Esportazione Uova (Eier und Geflügel) untergebracht, als deren Prokurist Guardini bezeichnet wird.
- 1890/1892 findet sich der Eintrag „Guardini, Romano und Aleardo, Kaufleute, Hauptweg 50“, 1891 fehlt Aleardo Guardini. 1892 ist die Firma auch im „Eilgüterexpeditionsmagazin“ des Bahnhofs zu finden. 1893 ist Aleardo Guardini erstmals in Stuttgart gemeldet (bis 1915).
- 1893 wohnte die Familie privat in der Schulstraße 24 (heute Adam-Karrillon-Straße). Als Firmenadresse ist angegeben: Kaiser-Wilhelm-Ring 14.
- 1895-1903 lautet dann sowohl Privat- als auch die Firmenanschrift: Kaiser-Wilhelm-Ring 8.
- 1903/04 wird erneut auch der Kaufmann Aleardo Guardini genannt, nämlich in der Schulstraße 22. Er wird 1904 als „Meardo Guardini“ als Mitinhaber und (Mit-)Prokurist der Mainzer Filiale der Esportazione Uova, Eier und Geflügelhandlung, Südfrüchte, bezeichnet.
- 1904 wird als Geschäfts- wie als Privatadresse Mombacher Straße 17/19 geführt.
- Ab 1905 ist dann als Privatadresse Gonsenheimer Straße 18 (heutige Fritz-Kohl-Straße) eingetragen.
- 1906 lautet die Firmenbezeichnung: „Esportazione Uova, Bernardinelli, Guardini u. C., Eier und Geflügelhdlg., Südfrüchte, Romano und Aleurdo [sic!] Guardini, ab 1907 nur noch Romano als Inhaber.
- 1908 heißt es bei den Inhabern ergänzend: Aleardo Guardini, Stuttgart; B.M. Bernardinelli, Orosháza.
- 1916/17 ist Philipp Gebhardt als Bevollmächtigter für die Firma geführt.
- 1920 und 1920/21 heißt es noch: Guardini, Romano, Kfm., Gonsenh. Str. 18E (nicht mehr im Adreßbuch 1924/25).
- 1924/25 heißt es: „Gebhardt u. Stockmann, Wild, Geflügel und Eier.“, genauer: Phil. Jos. Gebhardt u. Josef Stockmann.
Durch meine Nachrecherche im Internet wissen wir, dass die Familie auch schon im Adressbuch von 1886 steht, ebenfalls mit der Privat- und Firmenadresse - Bahnhofstraße 3/Neustadt.
I.2.1. Die Wohnadressen
Das „Adreßbuch der Provinzial-Hauptstadt Mainz mit Zahlbach, der Stadt Kastel und der Gemeinde Mombach“ zeigt für die Jahre von 1886 bis 1889 folgende Einträge zu „Romano Guardini“ :
- 1886: „Guardini, Romano, Geflügelhd., Bahnhofstr. 3“
- 1887: „Guardini, Romano, Geflügelhd., Bahnhofstr. 3“
- 1888: „Guardini, Romano, Eier- u. Geflügelhdl., Bahnhofstr. 3“
- 1889: „Guardini, Romano, Procurist, Bahnhofstr. 3.“
[Adreßbuch der Provinzial-Hauptstadt Mainz mit Zahlbach, der Stadt Kastel und der Gemeinde Mo-mbach 1886, Mainz 1886 - https://www.dilibri.de/stbmz/content/pageview/2546137; Adreßbuch der Provinzial-Hauptstadt Mainz mit Zahlbach, der Stadt Kastel und der Gemeinde Mombach 1887, Mainz 1887 - https://www.dilibri.de/stbmz/content/pageview/2490733; Adreßbuch der Provinzial-Hauptstadt Mainz mit Zahlbach, der Stadt Kastel und der Gemeinde Mombach 1888, Mainz 1888 - https://www.dilibri.de/stbmz/content/pageview/2456092; Adreßbuch der Provinzial-Hauptstadt Mainz mit Zahlbach, der Stadt Kastel und der Gemeinde Mombach 1889, Mainz 1889 - https://www.dilibri.de/stbmz/content/pageview/2491180]
Wo sich diese Adresse Bahnhofstraße 3 befand, können wir aufgrund einer Postkarte rekonstruieren - Fotografie auf Ansichtkarten-Center. Der Schreiber der nachfolgenden Postkarte hatte ein Appartement in Bahnhofstraße 5. Davor befindet sich Bahnhofstr. 3 (heute Neubau Sparkasse) und 1 (Altbau Sparkasse). Gegenüber befindet sich das Hauptpostamt, das auch heute – nach dem Krieg neu aufgebaut – dort steht.
Dann folgt 1890 die Adresse: Hauptweg 50. Der Hauptweg war früher eine etwas verwinkelte Parallelstraße zwischen der Frauenlobstraße und Kurfürstenstraße bzw. zwischen Kurfürstenstraße und Pankratiusweg (heute Josefsstraße). Er führte an dann an der Josephskirche vorbei zum Feldberg-Platz (heute Josefsstraße und Feldbergstraße).
Die nachfolgende Adresse von ca. 1893 bis ca. 1895 lautete: Schulstraße 24. Die damalige Schulstraße (22 und 24) ist die eine Parallelstraße zur Frauenlobstraße und verbindet die 1894 fertig gestellte Kirche von St. Bonifaz und Guardinis Gymnasium. Heute heißt sie Adam-Karillon-Straße.
Von dort zog die Familie dann eben 1895 an den Kaiser-Wilhelm-Ring.
Erst nach zehn Jahren im Jahr 1905 ging es für die Familie in die Gonsenheimer Hohl. Dies hätte man auch schon aus einem Brief an Josef Weiger vom 29. August 1913 rückrechnen können. Dort schrieb Guardini: „Ich sitze hier in meinem Dachstübchen, seit acht Jahren bald wohne ich darin.“ Dies spricht für einen Bezug des Dachstübchens im Herbst 1905. In diesem Brief beschreibt Guardini: „Was hat das schon Wandlungen gesehen! Was ist hier schon gesprochen worden, wer hat hier schon gesessen! Es ist klein, aber traulich. In der ersten Zeit sah es ganz abenteuerlich aus. Da hatten wir es selber mit Sackleinen tapeziert, denn wir hatten das Gefühl, das sei modern und originell. Es kam eine Art von Indianerzelt schließlich heraus, und daß die ganze Geschichte nicht einmal Feuer fing, ist nur sehr zu verwundern. Aber uns wars wohl darin. Nebenan hatte Bruder Gino sein Atelier, da stehen Modelliertisch und Gipsgüsse herum. Jetzt ist er Kaufmann. Hier in meinem Zimmerchen ist alles voller Bücher und Bilder und Statuetten. So ein wenig eine Rumpelkammer, in der sich die Überreste meiner verschiedenen »Zeiten« abgelagert haben. Sehr theologisch siehts gerade nicht aus, wenigstens nicht auf den ersten Blick. Aber es soll so bleiben. Und ich freue mich beim Gedanken, daß ich es Dir vielleicht einmal zeigen kann.“
In einer viel späteren Erinnerung (1985) wird das Elternhaus Guardinis im Kirschgarten verortet. Dies ist mittlerweile sehr unwahrscheinlich, sei der Vollständigkeit aber hier mit aufgeführt. Vgl. KAB 2046: Begleitschreiben; zwei photokopierte Briefe von Marianne Werz; Postkarte mit dem Kirschgarten in Mainz (mit ehemaligem Elternhaus Guardinis); 1985 von Elisabeth Dressler erhalten:
„Von Gertrud hab ich mir Bilder vom Kirschgarten in Mainz schicken lassen. Zu diesem Ensemble gehört auch das einstige Elternhaus Guardini´s. Es ist ein Rundhaus im Vordergrund und leider nicht auf Postkarten, bis jetzt.“
Der Beschreibung nach müsste es sich um das Anwesen Augustinerstr. 61/Ecke Kirschgarten, da es als einziges Haus aufgrund des Erkers als „Rundhaus“ bezeichnet werden könnte. Da Marianne Werz erst 1919 geboren ist, hat sie diese Erinnerung wohl aus zweiter Hand.
I.2.2. Die Geschäftsadressen
Die Geschäftsadressen lauteten:
- 1886: „Esportazione Uova, Filiale Mainz, Eier und Geflügel, Proc. Romano Guardini Bahnhofstraße 3.“ [Adreßbuch der Provinzial-Hauptstadt Mainz mit Zahlbach, der Stadt Kastel und der Gemeinde Mo-mbach 1886-1889, Mainz 1886-1889 - https://www.dilibri.de/stbmz/content/pageview/2546137].
- 1890/1892 findet sich der Eintrag „Guardini, Romano und Aleardo, Kaufleute, Hauptweg 50“.
- 1892 lässt sich die Firma auch im „Eilgüterexpeditionsmagazin“ des Bahnhofs nachweisen,
- 1893 mit der Adresse: Kaiser-Wilhelm-Ring 14.
- Von 1895 bis 1903 lautete auch Firmenanschrift: Kaiser-Wilhelm-Ring 8.
Außerdem hatte Guardinis Vater wohl nach der Jahrhundertwende eine Zeit lang Lagerräume beim Velodrom (heute Wasserspielplatz Planschbecken) gemietet - Fotografie auf Wikipedia. Adam Gottron erinnert sich an die dortigen „Karl-May-Spiele“: „… die Guardinis hatten auch draußen vor der Stadt, gegenüber dem Friedhof, das ehemalige Velodrom gemietet, ein größeres Grundstück mit Rasenfläche, einen etwas verwilderten Garten, durch den ein dünnes Wässerlein floß. Mitten in der Herrlichkeit stand eine vieleckige Holzbaracke mit vielen Glasfenster: das eigentliche Velodrom. … Dieses diente der Esportazione nuova Guardini & Bernadelli (!) zur Aufbewahrung ihrer leeren Hühnerkäfige.“
1903 stellte die Firma ein Gesuch um Bewilligung eines Freilagers für Maronen und Hülsenfrüchte an die Firma Esportazione Uova Bernardinelli Guardini & Co., Stadtarchiv Mainz, 70 / 7431 XV 5d Best. 70: Großherzogliche Bürgermeisterei Mainz
Ab 1904 schließlich befand sich die Firma dann fortlaufend in der Mombacher Straße 17/19 - siehe Fotografie auf Wikipedia
1903 stellte die Firma ein Gesuch um Bewilligung eines Freilagers für Maronen und Hülsenfrüchte an die Firma Esportazione Uova Bernardinelli Guardini & Co., Stadtarchiv Mainz, 70 / 7431 XV 5d Best. 70: Großherzogliche Bürgermeisterei Mainz
Ab 1904 schließlich befand sich die Firma dann fortlaufend in der Mombacher Straße 17/19.
Aus dieser Zeit findet sich dann auch ein Paket- und Rechnungsbrief, benannt auf „Import-Gesellschaft Grigolon-Guardini & Bernardinelli G.m.b.H.“ [Siehe Abbildung bei Max Oberdorfer].
Ab 1906 lautet dabei also die Firmenbezeichnung: „Esportazione Uova, Bernardinelli, Guardini u. C., Eier und Geflügelhdlg., Südfrüchte.
Im „Landes-Adreßbuch für das Großherzogtum Hessen“ (II. Band: Provinz Rheinhessen, Darmstadt 1906, S. 98) steht verkürzt und ohne Verweis auf Eier- und Geflügelhandlung: „Bernard, Guardini & Co., Fil. Mainz (Obst- u. Südfrüchte)“
Im „Adreßbuch der Stadt Mainz und der Stadtteile Mainz-Bischofsheim, -Bretzenheim, -Ginsheim, -Gustavsburg, -Kastel, -Kostheim, -Mombach, -Weisenau und -Zahlbach“ (Band 56, 1934, S. 65) heißt es schließlich: „Gebhardt, Phil. Jos., Wild- und Geflügel-Großhandlung. Vertret. D. Fa. Guardini u. Fanimani, Mailand, Gonsenheimer Straße 18E, F. 33109, B.R.: Deutsche Bank u. Disc. Ges., Telegr.-Adr. Gebhardt, Gonsenheimer Straße 18.“
I.2.3. Das Viertel
Alles spielt sich aber weitestgehend in der Mainzer Neustadt ab. Angesichts dieser räumlichen Grenzen in seiner Kindheit verwundert es nicht mehr, wenn Guardini 1955 unter den drei expliziten Orten – neben der Gonsenheimer Straße und dem Seminar – ausgerechnet und ausdrücklich seine Heimatpfarrkirche St. Bonifatius nennt, die ihn von der Firmung bis in die Seminarzeit begleitete.
Die Pfarrkirche seiner unmittelbaren Kindheit, nämlich bis 1894 war schließlich auch seine Primiz-Kirche, die Bilhildis-Kapelle.
Zu den Pfarreien wird noch ausführlicher zu berichten sein.
I.3. Die Eltern
I.3.1. Der Vater
Vom Vater waren bisher nur die eher negativen Erinnerungen an die Kindheit in den ersten beiden „Berichten über mein Leben“ wahrgenommen worden:
- „Mein Vater, der das Geschäft des Großvaters nach Mainz verpflanzte, hat Deutschland sehr geschätzt, sich aber doch immer als Gast empfunden“ [Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, Mainz 1995, S. 57].
- „Mein Vater lebte eigentlich überhaupt nicht mit uns. Er hatte uns sehr gern, und wir ihn auch, aber wir bekamen ihn kaum zu sehen. Sein Geschäft nahm ihn ganz in Anspruch, und er war oft auf Reisen. Zum Ferienaufenthalt auf dem Lande kam er nie mit; überhaupt erinnere ich mich nicht, daß er sich je eine Erholung gegönnt hätte. Er war sehr begabt, hatte aber schon als Vierzehnjähriger die Schule verlassen und für den Unterhalt seiner Eltern sorgen müssen. Eigentlich hatte er Jurist und Volkswirtschaftler werden wollen, mußte aber darauf verzichten. Nachdem er dann jahrelang versucht hatte, sich neben einer anstrengenden Berufstätigkeit weiterzubilden, muß er die Unmöglichkeit erkannt und alles aufgegeben haben. Die Wirkung war, daß er nie über geistige Dinge sprach; die Türen waren zugefallen. Auch von seinem inneren, persönlichen Leben erfuhr niemand etwas. Als er 1919 starb, war ich 34 Jahre alt; ich glaube aber, daß ich in dieser ganzen Zeit nicht mehr als zehn oder fünfzehn tiefergehende persönliche oder sachliche Gespräche mit ihm gehabt habe. Sein Leben muß furchtbar einsam gewesen sein. Für ihn gab es im Grunde nur die Arbeit. Mich berührt es immer wieder, daß unter den wenigen Möbeln, die ich gut erhalten aus meinem Berliner Hause gerettet habe, sein Schreibtisch ist – der, an dem ich diese Erinnerungen schreibe. Wie oft habe ich ihn in seinem Büro daran sitzen sehen! So hat auch er die geschlossene Welt unserer Kindheit und Jugend nicht ausgeweitet“ [ebd., S. 58].
- Den Vater bezeichnet Guardini „was das Religiöse angeht“ als „gläubig“, „vielleicht mit dem leisen skeptischen Einschlag, der beim Italiener sehr häufig ist. Er ging jeden Sonntag zur Kirche, sprach aber über religiöse Dinge so gut wie nie“ [ebd., S. 58].
Immerhin hat aber insbesondere durch den Vater allem Anschein nach eine bibliophile und auch kulturelle Erziehung erfahren, wie auch schon Gerl-Falkovitz 1985 im Blick auf die Widmung des ersten Bandes der Dante-Studien, die 1937 unter dem Titel „Der Engel in Dantes Göttlicher Komödie“ erschienen sind, betont: „Alla memoria di mio padre dalle cui labbra fanciullo i primi versi di Dante colsi“ [Der Engel in Dantes Göttlicher Komödie, Deckblatt].
In einem Brief an Josef Weiger vom Juli 1924 berichtet -seit 2010 veröffentlicht - Guardini von den ersten Berliner Erfahrungen: „Wie tief mir doch »liberale Art« im Blut steckt. Ob ich mich nicht selbst mißverstanden habe? Mein Vater war ein italienischer Liberaler alten Schlags. Heißes Blut und kühler Kopf. Heikel in allen Dingen politischer Ehre und zugleich Skeptiker, durch und durch. Voll Respekt gegen das Religiöse und mit einer tiefen Abneigung gegen das Klerikale. Freigebig, wohltätig, aber ganz im Geheimen. Unendlich empfindlich gegen jeden Versuch, seine Freiheit anzutasten, sich einzumischen, auch nur zu fragen. Und ebenso unbedingt zurückhaltend und Freiheit lassend gegen die anderen. Ich habe von seiten meines Vaters kaum je eine Bindung in jenen Dingen gespürt, die Inneres, Berufswahl, Anschauungen betreffen? Mir war's, als habe das Blut meines Vaters in mir geschlagen. Ich habe früher immer mitgeschimpft auf den Liberalismus. Du, es läßt sich aber frei atmen in der Luft! Dahingegen alle die »charaktervollen« und »entschiedenen« Lüfte - - - Aber ich will nichts festlegen. Mir ist zuweilen seltsam in dieser Zeit. Als wisse ich gar nicht mehr recht, woran ich bin mit mir selbst! Als stünden allerhand Ideen und Bilder, die ich wacker mit stürzen geholfen, so sachte wieder auf. Individualismus - - aber ich weiß nicht. Will abwarten“ [Briefe an Josef Weiger 1908-1962, Mainz 2008, S. 252].
Neue Erkenntnisse gibt es nun aber aus dem dritten, bislang unpublizierten „Bericht über mein Leben“: Vater [III, 11]: „Vater war [also] sehr begabt, hat aber aus wirtschaftlichen Gründen auf das Studium verzichten müssen und dann, wohl damit das Opfer nicht zu schwer würde, sich auch kein Privatstudium mehr erlaubt. Über sein inneres Leben wußten wir Kinder nichts, denn er sprach nicht darüber. So ist tatsächlich von ihm her nichts zu mir gekommen, dessen ich mich erinnern könnte.“ [GAKAB, Nr. 152, S. 11, zitiert nach Wendt, 2024]
Die Mainzerin Polly Winter, die laut Helmut Link in jungen Jahren bei der Familie Guardini verkehrte, erinnerte sich zu Guardini und seinem Vater: „Der Vater war die Güte selbst; der alte Guardini, der war ein ganzer, netter, lieber Mann. … Romano hatte viel von seinem Vater. …“ [Helmut Link: Priester, Philosoph und prophetischer Mahner. Biographische Fragmente zum 100. Geburtstag von Romano Guardini, in: Mainz. Vierteljahreshefte, 5, 1985, 1, S. 66-70, hier S. 70]
Bearbeiten
I.3.2. Die Mutter
Bisher waren bekannt: Die eher negativen Erinnerungen an die Kindheit in den ersten beiden „Berichten über mein Leben“: „Meine Mutter war noch radikaler. Sie war in Südtirol geboren und hatte schon als Kind die leidenschaftliche Liebe der Irredenta zu Italien in sich aufgenommen. Zwar wurde sie in Meran in einem deutschen Institut erzogen; dort verstärkte sich aber diese Gesinnung noch mehr. Als sie drei Jahre nach ihrer Verheiratung mit Vater übersiedelte, tat sie es nicht gern, und ihre Ablehnung des deutschen Wesens wurde dadurch immer schärfer. In Mainz verkehrte sie, einige unerläßliche Höflichkeitsbeziehungen ausgenommen, mit niemandem. Sie liebte ihre Kinder leidenschaftlich und wendete sich so ganz ins Haus hinein. Am Sonntag ging sie zur Kirche, Werktags zu den notwendigen Besorgungen, im Übrigen lebte sie im Hause. In diesem geschlossenen Bereich hat sie, soviel an ihr lag, auch uns gehalten. So wuchsen wir ganz im Hause auf. Das Kinderzimmer, dann, als wir größer wurden, das eigene Zimmer mit seinem Bett, seinem Arbeitstisch und seinem Schrank, bildeten unsere Welt. Die Tatsache, daß wir eine deutsche Erzieherin hatten, änderte daran nichts. Was bei den anderen Jungen selbstverständlich war, in Spiel und allerlei Unternehmungen zusammen zu sein, fiel bei uns fast ganz weg. Praktisch gesprochen, gingen wir zu niemand, und niemand kam zu uns. Die Wirkung war, daß ich von den Dingen des Lebens, die der junge Mensch ganz von selbst kennen lernt, indem er mit anderen verkehrt, so gut wie nichts erfuhr“ [Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, Mainz 1995, S. 57].
Ausnahmen bildeten in den späten Gymnasialzeiten offensichtlich nur Philipp Harth, einige Juvenen (Markert) und dann vielleicht auch noch Karl Neundörfer, mit dem er nach eigener Erinnerung „gegen Ende unserer Schulzeit“ Freundschaft schloss. Diese Strenge hat sich wohl erst für die jüngeren Geschwister erleichtert. [vgl. die Gebrüder Gottron mit den jüngeren Brüdern Guardinis und Daniel Neundörfer]: „Die Mutter war fromm in einem sehr innerlichen und herben Sinne. Ich erinnere mich, wie sie Morgens nach der, damaliger Sitte gemäß seltenen, Kommunion an unser Bett kam und uns küßte, was ich wie etwas Geheimnisvolles-Heiliges empfand“ [ebd., S. 59].
Neue Erkenntnisse über Guardinis Haltung zu seiner Mutter ergeben sich - 2010 veröffentlicht - aus einem Brief an Josef Weiger vom 10. April 1915: „Meine Mutter lerne ich mit jedem Mal mehr verehren. Wirklich, in Dingen des Menschlichen hat man lang eine Haut auf den Augen“ [Briefe an Josef Weiger 1908-1962, Mainz 2008, S. 164].
Auch der der dritte, bislang unpublizierte „Bericht über mein Leben“ erlaubt ein differenzierteres Bild der Mutter [III, 11]: „Mutter war […] menschlich bedeutend. Ihre Erziehung war aber die des damaligen italienischen Bürgertums, Haus und Institut. Durch ihre Übersiedlung nach Deutschland verlor sie den Zusammenhang mit der italienischen Heimat und Kultur, in denen sie ganz verwurzelt war, und hat dann in der so entstehenden Vereinsamung nicht mehr die Förderung erfahren, deren sie bedurft hätte. Viel später zeigte sich, daß sie starke Interessen für geschichtliche Dinge hatte, doch konnte sich das dann nicht mehr so entfalten, wie es an sich nötig gewesen wäre“ [GAKAB, Nr. 152, S. 11, zitiert nach Wendt, 2024].
Hinzu kommen neu zugängliche Quellen, so die Darstellung der Mutter in den Weiger-Erinnerungen II (21. Februar 1955): „Ich fragte Romano, ob die Mutter keine große Freude hätte, wenn sie sehen könnte, wie Universität und Stadt München ihn ehren. Er war um die Antwort nicht verlegen: Die Mutter würde höchstens sagen: Was hast du da droben verloren, du gehörst herunter. Die Mutter sei noch sehr mobil. Sie glaube, sie habe ein Opferleben geführt. Das stimme auch. Aber was Opfer sei, bestimme sie. Fast vermute ich, daß Romano unter dem ungebrochenen Nationalismus der Mutter leidet. Ich sprach von der verhaltenen Religiosität der Mutter; bzw. der Familie. Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, hingen im Zimmer keine Bilder. Eine Scheu, die Achtung verdient. Und diese tiefe religiöse Scham wirkte sich im Sohn der Familie als Lebensgesetz aus“ [Weiger-Erinnerungen II (21. Februar 1955), zitiert nach: Gerl-Falkovitz (Hrsg): Lauterkeit des Blicks]
Auch die Mainzerin Polly Winter erinnert sich: „Die Mutter war sehr hart; eine ganz kleine Zierliche war das, aber sie war sehr resolut; sie war schon eigen“ [Helmut Link: Priester, Philosoph und prophetischer Mahner. Biographische Fragmente zum 100. Geburtstag von Romano Guardini, in: Mainz. Vierteljahreshefte, 5, 1985, 1, S. 66-70, hier S. 70].
Insgesamt bleibt aber die bereits von Gerl 1985 herangezogene Einschätzung von Felix Messerschmid intakt. Er sieht durch die Mutter ein „italienisch matriarchales Hauswesen“ begründet, „das auf die Besucher und Freunde des jungen Romano einen oft bezeugten starken Eindruck machte; einen um so stärkeren, als in dieser Frau Autorität und Güte sich im gleichen Anteil durchdrangen. In den sparsamen Äußerungen des erwachsenen Guardini über seine Mutter war schwer auszumachen, was darin überwog. Respekt oder Anhänglichkeit; darauf befragt, antwortete er mit einem Lächeln, das bedeutete, einem Deutschen könne ein solches Verhältnis zur Mutter nicht wirklich begreiflich gemacht werden“ [Felix Messerschmid, Romano Guardini, in: Romano Guardini. Der Mensch – Die Wirkung – Begegnung, a.a.O., S. 10].
Bearbeiten
I.3.3. Im Blick auf beide Elternteile
Bereits von Gerl-Falkovitz 1985 wurde Guardinis Traum aus einem Tagebucheintrag verwendet: „Vom Vater geträumt; er war so traurig, daß mir ganz elend wurde. Von Vater wie von Mutter habe ich zwei Bilder: eins, das dem Tag angehört, realistisch, auch kritisch, von ruhiger Normalität. Ein anderes gehört dem Traum an und ist ein Bild der Schwermut“ [Tagebuch vom 24.6.1953, in: Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, Mainz 1995, S. 57; bei Gerl, 1985, S. 19].
Hinzu kommen jetzt die Darstellungen in den Weiger-Erinnerungen vom 28. September 1952 über die Ähnlichkeit Guardinis mit seinen Eltern: „Die Mutter Guardini lernte ich anno 1916 in Mainz kennen – R. verwaltete dort einen Kaplansposten -, und ich weiß noch ganz gut, daß es zum Kaffee Heidelbeerkuchen gab. R. Mutter muß in der Jugend schön gewesen sein. Sie empfing mich überaus lieb, eine Frau mit warmen grauen Augen. So wenigstens trage ich sie in der Erinnerung. […] Sieht R. der Mutter gleich? Ich würde die Frage sehr wohl bejahen, wenn ich den Vater gekannt hätte. […] Ich habe bei R. eine größere Fotografie des Vaters gesehen. Beide, Vater und Mutter, waren auffallend hochstirnig. Deshalb sagte ich vorher, ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, wem der Sohn gleich sieht. Der Vater machte auf dem Bild einen ungewöhnlich klugen sympathischen Eindruck“ [Weiger-Erinnerungen II (28. September 1952), in: Gerl-Falkovitz (Hrsg.): Lauterkeit des Blicks].
Bekannt waren bereits Guardinis eigene Erinnerungen in seiner Dankrede bei der Feier seines 70. Geburtstages 1955 über "Europa" und "Christliche Weltanschauung"“: „Aus beruflichen Gründen siedelte meine Familie nach Deutschland über; und während man zu Hause italienisch sprach und dachte, wuchs ich geistig in die deutsche Sprache und Kultur hinein. […] Ich fühlte mich innerlich dem deutschen Wesen zugehörig. Also hätte die damals gebotene Lösung einfach sein müssen: das deutsche Staatsbürger-recht und damit auch die äußere Gemeinschaft des Lebens und Werkes zu gewinnen. So zu tun, war aber in Wahrheit durchaus nicht einfach, denn ich konnte den Zusammenhang mit Italien nicht aufgeben. Das machte einmal die Lebensluft, die ich von Kind auf eingeatmet hatte. Mein Vater hatte das Risorgimento – er gehörte geistig der Schule Cavours an – leidenschaftlich nach- und miterlebt. So war ihm der Gedanke, sein ältester Sohn könne die staatliche Gemeinschaft seines Landes aufgeben, schwer zu fassen“ [Romano Guardini: "Europa" und "Christliche Weltanschauung"“. Aus der Dankrede bei der Feier meines siebzigsten Geburtstags in der Philosophischen Fakultät der Universität München am 17. Februar 1955, in: ders., Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, Mainz 1995, S. 295].
Das Erlebnis dieser Rede findet ihren Niederschlag in den Weiger-Erinnerungen II vom 21. Februar 1955: „Nie habe ich ihn so persönlich sprechen hören. Zum erstenmal erfuhr die Öffentlichkeit von seiner Familie; daß der Vater Parteigänger Cavours war; daß er sich selbst nur schweren Herzens entschloß, sich von der Heimat zu trennen und doch den Zug nach dem Norden fühlte; daß er gar nichts anderes als Europa wünschen und in sich tragen konnte“ [Weiger-Erinnerungen II (21. Februar 1955), in: Gerl-Falkovitz (Hrsg): Lauterkeit des Blicks]
Schließlich heißt es noch in Guardinis zweiter Europarede „Europa - Wirklichkeit und Aufgabe“ nach der Verleihung des »Praemium Erasmianum« zu Brüssel am 28. April 1962: „Meine Eltern waren Italiener und leidenschaftliche Patrioten. Eine wirtschaftliche Unternehmung führte meinen Vater nach Deutschland; aber auch dort suchte er für sein Land zu wirken, indem er die ihm übertragenen konsularischen Aufgaben mit einer Anteilnahme erfüllte, die über das Pflichtgemäße weit hinausging“ [Romano Guardini: „Europa - Wirklichkeit und Aufgabe“ Rede nach der Verleihung des »Praemium Erasmianum« zu Brüssel am 28. April 1962, in: ders., Sorge um den Menschen - Band 1, Mainz 1988, S. 238].
I.4. Die Erziehung
In seiner Brüsseler Rede vom 28. April 1962 berichtet Guardini: „Ich selbst stand, als wir nach Deutschland kamen, im ersten Kindesalter. Zu Hause wurde italienisch gesprochen; die Sprache der Schule und der geistigen Bildung aber war das Deutsche. Dieses gewann, wie es nicht anders sein konnte, als die Sprache, in der Wissen und Lebenskenntnis zuflossen, die Oberhand“ [Europa - Wirklichkeit und Aufgabe, a.a.O.., S. 239].
Hinzu kommt die bereits durch Gerl bekannte Erinnerung Philipp Harths im Blick auf Guardinis Elternhaus: „Es ging aber nicht allzu förmlich zu. Wenn der Vater zu seinen drei (sic!) Söhnen ins Kinderzimmer kam, um nach dem Rechten zu sehen und sie an die Hausaufgaben zu treiben, sprachen sie, um ihn zu necken, im Mainzer Dialekt; diesen verstand er nicht und trat unverzüglich den Rückzug an" [Philipp Harth, zitiert von Elisabeth Wilmes-Merz, Jahre auf Burg Rothenfels, 1926-1937. Erinnerungen II B und II C, Januar 1984, S. 38. Bei Gerl, 1985, S. 20].
Aus den Weiger-Erinnerungen vom 28. September 1952 wissen wir nun außerdem: „Es waren ihrer vier Brüder, Romano, Gino <Ferdinando>, Alliardo <!Aleardo>, Mario. Sie lebten für sich, da die Mutter ihre Familie zusammenhielt, nur zu begreiflich, da Deutschland ja nicht die Blutheimat der Familie war. So wuchsen die Brüder in zwei Völker-Familien und in zwei Kulturkreisen zugleich auf; darin sehe ich eine besondere Fügung, die dem künftigen Beruf des Ältesten einen ungewöhnlich günstigen Start fürs Leben sicherte“ [Weiger-Erinnerungen II (28. September 1952), in: Gerl-Falkovitz (Hrsg): Lauterkeit des Blicks]
Weiger berichtet in diesen Erinnerungen auch über ein von Guardini mitgeteiltes „Schwarzpulver-Experiment“, das die Kehrseite des „Zu-Hause-Haltens“ der vier Brüder durch die Mutter aufzeigt: „Keine Mutter behält vier Buben ungestraft zu Hause. Was der eine nicht weiß, fällt dem anderen ein. Eines Tages waren die Viere im Besitz von Schwarzpulver. Sie kauften sich eine Bleybüchse (oder fanden sie daheim), umwickelten sie mit Draht, legten eine Zündschnur an und in einer geschützten Ecke des Zimmers warteten sie das Weitere ab. Der Knall war hanebüchen. Ein Stück Decke flog herab und dann herrschte, wie in solchen Fällen immer, Schweigen. Die Mutter stürzte schreckensbleich ins Zimmer – bis hierher hat mir Romano die Geschichte erzählt. Den Epilog zum Drama hörte ich nie“ [Ebd.].
Bislang nicht ausgewertet wurde Gottrons Bericht über die Auffälligkeit, daß Romano Guardini schwarze, die anderen drei Brüder rote Haare hatten, der zudem die gemeinsame Freundschaft mit Franz-Theodor Klingelschmitt dokumentierte: „Später löste Franz Theodor Klingelschmidt [sic!] dies Phänomen auf seine Art: „Das ist doch ganz einfach. Die Guardinis sind Langobarden. Der auf italienischem Boden in Verona geborene Romano ist nach Landessitte schwarz geworden, die drei anderen in Stuttgart und Mainz Geborenen sind auf dem Boden ihrer Ahnen wieder in die alte langobardische Rasse zurückgeschlagen““ [Gottron, Ein Leben im Schatten des Domes, 1973, S. 38].
Nun kommen aber auch noch die neuen Erkenntnisse aus dem dritten, bislang unpublizierten „Bericht über mein Leben“ (1945) hinzu: „Wenn ich [also] zurückzudenken suche, habe ich das Gefühl, als ob alles wie unter einem See liege. Natürlich wäre es eine Täuschung, sagen zu wollen, in jener Zeit sei nichts geschehen. Mit einer entsprechenden psychologischen Technik könnte man sicher alles Mögliche wieder heraufholen. [III, 11] Ich fühle aber gar keine Neigung dazu. So soll alles weiter unter dem Wasser der Vergessenheit bleiben“ [GAKAB Nr. 152, S. 10 f.].
Und er wiederholt diese Erfahrung: „Was meine bewußte Erinnerung mir über die Kindheit und Jugend sagt, ist, daß alles in einer Art Dämmerung lag. Vielleicht war das notwendig, damit die nach meinem dreißigsten Jahre beginnende intensive Produktivität die nötigen Voraussetzungen finde“ [Ebd.].
Im Blick auf die religiöse Erziehung erinnert sich Guardini in den ersten beiden Berichten, wie schon bei Gerl 1985 dargestellt: „Morgen- und Abendgebet, der sonntägliche Kirchenbesuch usw. waren für uns selbstverständlich: im Übrigen wurde über Religiöses nicht ohne besonderen Anlaß geredet“ [Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, Mainz 1995, S. 59].
Nun kennen wir neuerdings noch eigene Erinnerungen über seine Sozialisation. Guardini war sich schon früh seiner materiellen Privilegien bewusst, wie aus folgender Erinnerung aus dem noch unveröffentlichten Lebensbericht hervorgeht, der sich mit seinem „Interesse für soziale Probleme“ beschäftigt: „Auch hat sich damals schon bei mir eine Neigung geltend gemacht, die nachher immer deutlicher wurde: ich habe mich stets gefühlsmäßig auf die Seite der Schwächeren gestellt. (Ich entsinne mich vom Gymnasium aus der Lektüre Homers, daß ich nie, wie es doch, eigentlich die Regel ist, für die glänzenden Griechen, sondern immer für die eingeschlossenen Trojaner Partei genommen haben, die der großen Zahl achaischer Helden nur den einen Hektor entgegenzustellen hatten). Mehr zu haben, als andere, in der Macht zu sein, durch Gesundheit, Vitalität, Begabung zu triumphieren, ist mir immer als etwas Anstößiges erschienen. Ebenso wie es mir immer ein Problem gewesen ist, mehr zu haben, als andere oder Dienste anderer entgegenzunehmen. Allerdings muß ich hinzufügen, daß dieser Haltung auch ihr Gegenteil gegenüberstand: ich habe sehr früh ein unmittelbares Verhältnis zur großen Existenz empfunden und hätte großen Reichtum und - um es einmal romantisch auszudrücken - das Leben als Herr eines Schlosses ohne Schwierigkeit führen können. Das ist ein Widerspruch, den ich nicht weiter aufzulösen vermag. Vielleicht hätte ich im Halle einer solchen Existenz die Aufgabe gefühlt, sie so zu führen, daß die anderen, besonders die von mir Abhängigen, mir das Recht dazu zugestanden hätten. Diesen Widerspruch kann ich auch so ausdrücken: ich habe immer gegen Privilegien opponiert; immer Sympathie mit denen gehabt, welche gegen verfestigte Standesvorrechte angingen; andererseits habe ich mich nie gleichordnen können, sondern mit Selbstverständlichkeit getan und in Anspruch genommen, was mir gemäß war, wie ich denn auch tatsächlich, trotz der Einordnung in einen so strengen Stand wie den Geistlichen, durchaus das Leben eines Einzelgängers geführt habe. Das sind Widersprüche, die ich nicht auflösen kann, die ich aber heute, nach so vielen Jahren, genauso in mir vorfinden, und durchaus nicht mit dem Gefühl, daß sie einander stören“ [GAKAB Nr. 152, S. 13 ff., zitiert nach Wendt, 2024].
Kapitel II: Die Schulzeit (1891-1903)
II.1. Der Schüler
Bisher waren in der Guardini-Forschung die eher negativen Erinnerungen an die Schulzeit in den ersten beiden „Berichten über mein Leben“ bekannt, also seine Kritik an der Qualität der Lehrer, mit Einschränkung für den Französischlehrer, der ihn immerhin für Französisch begeistern konnte. An dieser Einschätzung ändert auch der dritte Lebensbericht nichts. Dort heißt es zur Schule: „Von der Schule erinnere ich mich keinerlei wirkliche geistige Anregung empfangen zu haben. Man ging hin, weil man es nicht anders wußte, und suchte mit ihr fertig zu werden, so gut man konnte“ [GAKAB Nr. 152, S. 11 f., zitiert nach Wendt, 2024]
Dazu kam die Erinnerungen von damaligen Freunden:
- Zum einen gab es die Erinnerung des Freundes Philipp Harth an den Schüler Guardini: Guardinis frühes Verhältnis zu Kunst und Literatur, speziell die Bilder an der Wand, seine eigene Gedichte, sein Verhältnis zu Dante, sowie über Guardinis von Harth illustrierte Übersetzung von Charles Dickens´ „Oliver Twist“, an dem sich Lehrer wie Mitschüler erfreut hätten [Philipp Harth, a.a.O.; so schon bei Gerl, 1985, S. 34];
- Zum anderen heißt es in der brieflichen Erinnerung von Franz Markert SVD: "Noch heute erinnere ich mich deutlich an die Betbank in Ihrem Zimmer, auf der Sie damals schon Teile des Breviers beteten. Sie sehen, wie tief und lange Eindrücke währen können.“ [Franz Markert, so schon erwähnt bei Gerl, 1985, S. 46].
Neue Erkenntnisse ergeben sich aber nun aus folgenden Quellen:
- In Isola Vicentina haben sich mehrere Schulhefte für Schreiben und Rechnen von 1890/91, ebenso ein Zeichenheft von 1892 erhalten. Er wird sowohl in der Familie als auch von Schulkameraden „Romanino“ genannt.
- Außerdem befinden sich dort Guardinis erste Zeugnisse, z. B. das erste Zeugnis: „Grossherzogliches Gymnasium zu Mainz. Vorschule. Klasse 2 H Weihnachten 1892. Außer im „Singen“ (4) überwiegend Einsen (9x) und Zweien (3x).
Guardini war also ein sehr guter Schüler, dessen negatives Bild von Schule auch an einer ständigen Unterforderung gelegen haben könnte.
Ein Kuriosum stellt im Nachlass der Mutter ein noch nicht publizierter Brief des sechsjährigen Guardinis an sein vormaliges Kindermädchen vom 25. Februar 1893 dar [Erhalten im Nachlass der Mutter auf Isola Vicentina. Liegt mir durch Herrn Berlaffa als Fotografie vor].
Paraphrasierende Zusammenfassung des Briefes wird noch erstellt
II.2. Die Pfarrei
Pfarreigründung
Die Pfarrei wurde Ende des 19. Jahrhunderts mit Erschließung der Mainzer Neustadt gegründet.
Erste Pfarrkirche
St. Bilhildis war die Kapelle des kleinen Franziskanerinnenklosters in der Neustadt. Die Kapelle war bis 1894 zugleich die erste Pfarrkirche der Neustadt.
Die Armen-Schwestern vom heiligen Franziskus (SPSF) sind eine katholische Ordensgemeinschaft, die am Pfingstfest 1845 durch Franziska Schervier in Aachen gegründet wurde. Deshalb hat sich auch der Name „Schervier-Schwestern“ oder „Aachener Franziskanerinnen“ eingebürgert. 1854 erhielten sie durch Ketteler die Genehmigung zu dieser Klostergründung. Schon nach zwei Jahren zogen die Schwestern in das kleine Kloster St. Gabriel, Stephansberg. Im Jahr 1885 errichteten sie dann in der Mainzer Neustadt eine eigene Filiale. Sie hatten dazu 60.000 Gulden von dem Druckereibesitzer Johann Falk III. erhalten. Das Kloster und die Kapelle wurden unter das Patronat der heiligen Bilhildis gestellt, die schon im frühen Mittelalter in Mainz ein Kloster gegründet und sich der Armen angenommen hatte. Kloster und Kapelle wurden 1945 bis auf die Außenmauern fast vollständig zerstört und 1950 wiederhergestellt.
Zur Frage der Erstkommunion
Da in Mainz auch unter Bischof Ketteler (1850-1877), unter Diözesanadministrator Christoph Moufang (1878-1885) und unter Bischof Haffner (1886-1899) die Erstkommunion weitestgehend an die Schulentlassung (mit 14 Jahren) geknüpft war, hat wohl auch Guardinis Erstkommunion wider Erwarten nicht vor 1894 stattgefunden, also bereits in der neuen Pfarrkirche St. Bonifatius, eventuell auch zusammen mit oder aber erst nach der Firmung 1897.
Zweite Pfarrkirche
Die ursprüngliche neugotische Basilika, die am Ostermontag 1894 durch Bischof Paul Leopold Haffner geweiht wurde, ist während der Luftangriffe auf Mainz am 27. Februar 1945 vollständig zerstört worden.
Firmung
Romano Guardini wurde im Alter von 12 Jahren gefirmt. In der Bayerischen Staatsbibliothek liegt das Firmzeugnis (BSB C-103-2: Firmungszeugnis. Auszug aus dem Firmungsregister der Pfarrei St. Bonifatius Mainz, 1897). Daraus geht hervor, dass Guardini durch Bischof Paulus Leopoldus Haffner 1897 in der Pfarrkirche das Sakrament der Firmung empfangen hat.
Pfarrzugehörigkeit bei Priesterweihe
Guardini gehörte auch zur Zeit seiner Priesterweihe (1910) noch zur Pfarrei St. Bonifatius, wie er selbst in seinen schon bekannten „Berichten über mein Leben“ schreibt: „Ein günstiger Umstand erlaubte mir, die erste heilige Messe ganz still zu halten. Karl Neundörfer und ich gehörten in Mainz der gleichen Pfarrei an; daß er die Primiz in aller Feierlichkeit begehen wollte, bewog den Pfarrer, mich freizugeben, andernfalls hätte er sich das Ereignis nicht entgehen lassen. Meine Eltern, besonders meine Mutter, waren solchen Dingen abgeneigt. Nachdem sie sich mit meinem Priesterberuf ausgesöhnt hatten und seiner froh zu werden begannen, hätte es mir leid getan, ihnen eine Veröffentlichung des Religiösen zuzumuten, die ihrem Gefühl zuwider gewesen wäre. So las ich meine erste heilige Messe in der Kapelle der Franziskanerinnen. Mit ihnen – wahrhaft armen Töchtern des heiligen Franziskus – hatte unsere Familie immer gute Beziehungen. Besonders an eine erinnere ich mich, die Jahr um Jahr mit ihrer Betteltasche zu uns kam, und mit der die Mutter, welche allen geistlichen Persönlichkeiten gegenüber sehr zurückhaltend war, über manche Dinge gesprochen hat, über die sie sonst nicht gesprochen hätte. So war die Feier schlicht und schön“ [Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, Mainz 1995, S. 91].
Karl Neundörfer wohnte wohl durchgängig mit seinen Eltern und Geschwistern in der Gartenfeldstraße 17.
Guardinis Primiz fand also in der Kapelle der hl. Bilhildis im Kloster der Franziskanerinnen, wie auch aus den bisher wiedergefundenen Primizbildern hervorgeht. Ein Primizbild in Farbe oder Golddruck wurde durch den Verfasser kürzlich in Privatbibliothek Guardinis im Schloß Suresnes, Kath. Akademie in München, wiedergefunden.
Die Pfarrer und Kapläne in St. Bonifaz/Bonifatius
Als erster Pfarrkurat und Pfarrer wurde 1894 Dr. Joseph Seitz bestellt [Vgl. Correspondenzblatt für die ehemaligen Alumnen des Collegium Germanicum und Hungaricum zu Rom, Trier, 3, 1894, 2 (18. Mai 1894), S. 27: Ernennungen: „Religionslehrer Dr. J. Seitz zum Pfarrcuraten an der neuerbauten Bonifaziuskirche zu Mainz“]. Er war 1882 zum Priester geweiht worden. Er blieb Kurat bzw. Pfarrer wohl bis 1908 und war anschließend als Religions- und Oberlehrer in Mainz tätig.
Im folgte von 1909 bis 1912 Valentin Grode, Pfarrer in der Pfarrkuratie St. Bonifaz/Bonifatius, der zuvor bis 1908 Pfarrer in Hessloch war [Für den weiteren Verlauf siehe Hof- und Staats-Handbuch des Grossherzogtums Hessen für die Jahre 1896, 1898, 1900, 1902, 1904, 1907/08].
Daher ist der in Guardinis „Berichten über mein Leben“ erwähnte „Pfarrer Dr. S.“, eben sein Heimatpfarrer Dr. Seitz: „Priester werden konnte man nur im Zusammenhang mit einer Diözese, so war es das Erste, daß ich mit meinem Pfarrer sprach und ihm auch von meinem Wunsch sagte, nach Würzburg zu gehen. Dr. S. redete seinerseits mit dem Regens des Seminars, und beide waren mit meinen Plänen nicht sehr einverstanden. Schon daß ich, statt ins Seminar einzutreten, weiter zur Universität wollte, fanden sie nicht in Ordnung; gaben es aber, wohl im Hinblick auf mein bisheriges Studium und als Zeit der Selbstprüfung, zu. Um so entschiedener widersetzten sie sich aber meiner Absicht, zu Hermann Schell zu gehen, von welchem nicht lange Zeit vorher das ganze Lebenswerk auf den Index gekommen war. Sie legten mir also nahe, nach Freiburg zu gehen, dessen Fakultät als korrekt galt, und ich tat so“ [Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, a.a.O., S. 74].
Auch Guardinis Erinnerung, sein „Wunsch, wieder die Universität zu wechseln, wurde sowohl von meinem Vater wie von Pfarrer Dr. S. mit einigem Kopfschütteln aufgenommen“ [ebd., S. 76], bezieht sich also auf Pfarrer Seitz, wie das Personenregister richtig vermerkt, der allerdings anders als dort angegeben bis 1908 und nicht „seit 1908 Pfarrer an der neu errichteten Kuratie St. Bonifatius (Guardinis Heimatpfarrei)“ war.
Dagegen bezieht sich die spätere Stelle bezüglich der Primiz auf S. 91 auf Pfarrer Grode [Hof- und Staats-Handbuch des Grossherzogtums Hessen für die Jahre 1909/10 und 1912/13].
Bislang ist für das Jahr 1905 Karl Booß als Kaplan nachweisbar, aufgrund zweier Artikel in „Pastor bonus“ im Jahr 1905, die er mit „St. Bonifaz, Mainz, K. Booß, Kaplan“ unterzeichnete.
II.3. Die Klasse
In "Gymnasium Moguntinum" findet sich ein Klassenfoto von 1899. Laut Bildunterschrift gehörten zu Guardinis Mitschülern:
- Oberste Reihe v.l.n.r.: Schwarz, Franz Spang, Karl Neundörfer, Ludwig Seibert, Georg Klepper, Georg Hahl,
- 2. Reihe: ?, Butz, Ganz, Adam Abt, E. Cordes, Adolf Wagner, Feine, Prof. Dr. Schaum,
- 3. Reihe: Ludwig Fabricius, Wilhelm Römheld, Maus, Karl Sonnenschein, Salomon, Walther Arndt, Jacob Racké,
- 4. Reihe: Romano Guardini, Fritz Becht, Herzberg, Volk, Friedrich Zimmermann, Werlé,
- Unterste Reihe: Nikolaus Gröber, Ludwig Emrich, Karl Koch, Michel Oppenheim, Ernst Weinschenk, Wilhelm Gimbel, ?
Allein die Namen machen einen Blick auf die religiöse Zusammensetzung der damaligen Klassen sinnvoll. Nachfolgende Zahlen stammen aus: Der Katholik, 278, 1903, S. 386 - https://books.google.de/books?id=Lvw5r_LvSAMC&pg=RA1-PA386:
- | Ostergymnasium | Herbstgymnasium |
---|---|---|
Gesamt | 528 [sic!] (593) | 333 [sic!] (389) |
Katholisch | 259 (43,7 %) | 185 (47,6 %) |
Protestantisch | 271 (45,7 %) | 161 (41,4 %) |
Israelitisch | 59 (9,9 %) | 41 (10,5 %) |
Freireligiös/Deutsch-katholisch | 4 (0,7 %) | 2 (0,5 %) |
In Guardinis in Isola Vicentina aufgefunden Postkartenalbum befinden sich:
- für die Jahre 1898 bi 1901 mehrere Karten von Adam Abt an Guardini in Mainz (Kaiser-Wilhelm-Ring 8, einschließlich August 1901), nachgesandt an Kailbach (1898), an Pension Stahl (1900)
- für August/September 1899
- zwei Postkarten von Ludwig Fabricius aus Lausanne
- eine Postkarte von Georg Hahl („dein Freund“) von Gau-Bickelheim an Guardini in Verona bzw. Colognola ai Colli
- für den August 1900
- eine Postkarte von Karl Neundörfer an Guardini von Beerfelden
- eine Postkarte von Georg Hahl aus Ilbesfeld nach Kailbach/Odenwald
- für den 21.12.1900 eine Karte von Maus („dein Freund“) (Adresse: Kaiser-Wilhelm-Ring 8)
Gottron spricht in seinem Gedenkaufsatz 1968 in „Gymnasium Moguntinum“ davon, es habe auch einen kleinen Freundeskreis von Mitschülern gegeben, in dem anfangshaft philosophische, religiöse und künstlerische Fragen besprochen worden seien. Als Mitglieder des Kreises namentlich genannt werden Ernst Weinschenk, Karl Koch und Karl Neundörfer [Gottron, in: Gymnasium Moguntinum, 28, Dezember 1968, S. 58]. Diese Angabe kann sich, wie wir gleich noch sehen werden, aber nur auf die unmittelbare Zeit vor der Reifeprüfung beziehen.
II.4. Die Ferien
Über die Familienurlaube im Odenwald und Taunus erfahren wir aus den „Berichten über mein Leben“ im Blick auf Vaters dauernde „Abwesenheit von der Familie“. Guardini schreibt dazu: „Auch die Ferienaufenthalte im Odenwald und Taunus änderten daran nichts“ [Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, Mainz 1995, S. 59].
Dies lag auch daran, dass der Vater zu diesem „Ferienaufenthalt auf dem Lande“ nie mitkam.
Für den Odenwald kennen wir mittlerweile zumindest eine der besuchten Unterkünfte, nämlich die Pension bzw. das Kurhaus Stahl in Kailbach. Dies geht aus noch vorhandenen Postkarten in der Sammlung von Romanino hervor.
Insbesondere der Sohn des Pensionsbesitzers, Tony Stahl, genannt „Stahlerino“, freundet sich mit Romano Guardini an (5 Karten von 1898 und 1899)
In der Sammlung Guardinis finden sich auch Postkarten des Besitzers der Pension Stahl in Kailbach im Odenwald an Guardinis Vater bezüglich Planungen von Aufenthalten.
Für den Taunus ist dergleichen noch nicht bekannt.
II.5. Guardini als Juvene und als Präfekt der Juventus
Erinnerung von Markert SVD
Die Erinnerung von Markert SVD kennt einen zweiten, von Gerl nicht berichteten Teil: "Möglicherweise erinnern Sie sich noch aus unserer gemeinsamen Gymnasiastenzeit in Mainz um die Jahrhundertwende an einen "Bub vom Lande" der, als Sie in der von Herrn Präses des Lehrlingshauses Dr. Bendix belebten "Juventus" ihr Präfekt waren, als der Sekretär fungierte, wenn mein Ämtchen diesen Namen verdiente. Sie waren in der Klasse von Nikolaus Gröber, der nun schon längst in pace Domini den Lohn für seinen Priestereifer genießt. Ich war eine Klasse unter Ihnen, kam aber manchmal durch unsere gemeinsamen Interessen und Betätigungen in der "Juventus" in Ihr Elternhaus“ (BSB).
Juventus-Geschichte
Bei Hohmann kann man über die Vorgeschichte der Frühgeschichte über das Verbot der bischöflichen Konvikte und das Verbot der marianischen Kongregationen für die höheren Schulen (1872) lesen: „Die Mitteilungen über die Anfänge der Juventus tragen daher nur den Charakter persönlicher Erinnerungen und liegen viel später, als datumsmäßig die Juventus ihre ersten zarten Fühler in die Herzen einiger frommer und tapferer höherer Schüler streckte, die selber noch von P. von Doß S. J., entlassen worden waren. Das Datum dieser Entlassung aber ist der November 1872, als der Polizeirat von Mainz in Ausführung des Jesuitengesetzes (1. Kulturkampfgesetz des neuen deutschen Reiches) der seelsorgerlichen Tätigkeit der guten Väter der Gesellschaft Jesu ein Ziel gesetzt.“ In der zugehörigen Fußnote heißt es zu Von Doß: „Die Kongregation in Mainz verdankt ihm von St. Christoph aus, wo die Jesuiten ihre Kirche hatten, eine Blütezeit, die füglich um so wichtiger wurde, als sie unmittelbar vor dem Kulturkampf liegt.“ [Hohmann]
Bei Gottron lautet diese Vorgeschichte etwas konturierter: „Zur Vertiefung des religiösen Lebens berief Bischof v. Ketteler 1858 die Jesuiten nach Mainz und übergab ihnen die Pfarrkirche St. Christoph. Dort gründeten sie sowohl eine Männerkongregation wie auch eine Kongregation für die Gymnasiasten. Einen großen erzieherischen Einfluß auf die studierende Jugend hatte P. Adolf v. Doß SJ, der nebenbei ein ausgezeichneter Musiker war, und dessen 1866 erschienenes Buch „Gedanken und Ratschläge für gebildete Jünglinge“ 1905 die 14. Auflage erlebte. Die Kongregation hatte einen großen Erfolg. Im Jahre 1869 waren von 222 katholischen Schülern des Gymnasiums 142 Mitglieder der Kongregation. Sie versammelten sich allsonntäglich von 11-12 Uhr im Domkreuzgang. Nachdem im Kulturkampf am 15.12.1872 die Jesuiten Mainz verlassen mussten, wurde auch die Gymnasiasten-Kongregation unter Strafe der Schulentlassung am 14.11.1872 verboten. Ja nicht einmal unter einem anderen Namen durfte ein religiöser Verein weitergeführt werden. Daß man es mit diesem Schlag gerade auf den Nachwuchs der katholischen Gebildeten abgesehen hatte, erkennt man daraus, daß die Lehrlingskongregation nicht verboten wurde […] Einer der eifrigsten Kongregationisten war der in Mainz geborene Michael Jäger (* 22.5.1855). Er besuchte das Gymnasium und genoß das besondere Vertrauen des Paters v. Doß. Nach Vertreibung der Jesuiten versuchte er sozusagen im Untergrund die ehemaligen Mitkongregationisten zusammenzuhalten. Nach seiner Priesterweihe in Speyer 1878 konnte er wegen des Kulturkampfes im Bistum Mainz als Seelsorger keine Anstellung finden. Er amtierte daher als Kantor im Dom und Lehrer in der Marienschule. Nach dem Abklingen des Kulturkampfes 1887 wurde er Kaplan an St. Stefan und 1889 Kaplan an St. Christoph und Präses des Lehrlingshauses, das damals in der Bauerngasse sich befand. Sein Nachfolger wurde noch im gleichen Jahr Carl Bendix (geb. 1863), der nach seinem Abitur im Mainzer Gymnasium in Mainz, Eichstätt und Rom Theologie studiert hatte. Er wohnte in Rom 1885 in der Anima und erfreute sich der besonderen Freundschaft des damals in Rom lebenden Jesuiten P. v. Doß und des Mainzers P. Beringer.“ [Gottron]
Franz Henrich hat in seiner Arbeit über die Jugendbewegung im Blick auf die Juventus darüber zusammenfassend geschrieben: „Dabei handelte es sich um eine Vereinigung, deren Anfänge bis in die Tage des P. Adolph von Doß, SJ, zurückreichten, jenes begnadeten Jugendseelsorgers und Führers der Mainzer Marianischen Kongregation, der 1872 im Zuge des Kulturkampfes diese Arbeit einstellen und im folgenden Jahr emigrieren mußte. Am 11. Juli 1890 - die Marianischen Kongregationen waren immer noch verboten - hatten sieben Mainzer Gymnasiasten einen Freundesbund geschlossen“ [Franz Henrich: Die Bünde katholischer Jugendbewegung: ihre Bedeutung für die liturgische und eucharistische Erneuerung, 1968, S. 72. Er beruft sich dabei nur auf die Darstellung von Hohmann].
1990 schreibt dann Theodor Maas-Ewerd in seinem Artikel „Auf dem Weg zur „Gemeinschaftsmesse“. Romano Guardinis „Meßandacht“ aus dem Jahre 1920“ zur Juventus: „Diese Vereinigung höherer Schüler reicht bis auf P. Adolph von Doß SJ (1825-1886) aus Pfarrkirchen (Niederbayern) zurück, Jugendseelsorger und Leiter der Marianischen Kongregation in Mainz, der 1872 infolge des Kulturkampfes diesen Dienst aufgeben mußte. Als »Ersatz« für die im Kulturkampf verbotene Marianische Kongregation entstand 1890 die »Juventus«, die unter der Leitung Guardinis nachhaltig umgeformt worden ist, als man Impulse der Jugendbewegung aufnahm“ [in: Erbe und Auftrag, 66, 1990, S. 452].
In einer im Internet inklusive einer Fehlschreibung des Namens einflussreichen Tradition durch Hermann Hoffmann heißt es dagegen zwei Jahre später: „Romano Guardini hatte in Mainz die »Juventus«, eine Gründung des bekannten Jesuiten Adolf von Goß übernommen, modernisiert und für die katholische Jugend anziehend gemacht. Ich wußte davon und habe ihn als Feldgeistlicher bei einem Urlaub von Frankreich aus aufgesucht. Ich war auch bei seiner Juventus und habe dort gesprochen“ [Hermann Hoffmann: Im Dienste des Friedens, 1970, S. 184].
Bei Reinhard Richter heißt es dann, „von Goß“ habe die „Juventus“ als Ersatz für die Marianischen Kongregationen gegründet: „Als Mainzer Kaplan hat Guardini die vom Jesuiten Adolf von Goß gegründete kleine Gymnasiastenschar „Juventus“ übernommen, die als Ersatz für die während des Kulturkampfes verbotene Marianische Kongregation entstanden ist“ [Reinhard Richter: Nationales Denken im Katholizismus der Weimarer Republik, 2000, S. 184]
Die aktuelle Wikipedia-Version des Artikels über den Mainzer Juventus lautet korrekterweise: „Die katholische Schülervereinigung Juventus (von lateinisch iuventus ‚Jugend‘) in Mainz entstand 1890 als Ersatz für die nach 1866 von dem Jesuiten Adolf von Doß gegründete dortige Marianische Kongregation, die im Kulturkampf untergegangen war.“
Tatsächlich war dieser niederbayerische Jesuit Adolf von Doß (1825-1886) 1866 nach Mainz gekommen und hat dort als Pfarrer und Renovator der Kirche St. Christoph gewirkt. Die Organisation von Schülern kirchentreuer Gymnasien in sogenannten „Marianischen Kongregationen“ hatte aber schon kurz nach der festen Niederlassung der Jesuiten 1859 begonnen, die 1862 bereits 60 Mitglieder hatte [Vgl. Fritz Vigener: Ketteler. Ein deutsches Bischofsleben des 19. Jahrhunderts, München & Berlin 1924, S. 301]. Bereits 1863 kam es zwischen dem „Frankfurter Journal“ und dem „Mainzer Abendblatt“ zu einem kirchenpolitischen Schlagabtausch über den jesuitischen Einfluss der Jesuiten an den Mainzer Gymnasien. Außerdem wurde von Doß selbst dort aber 1873 gerade wegen des Jesuitengesetzes gewaltsam vertrieben und war von 1873 bis 1884 Professor am Collège St. Servais in Lüttich. Die von ihm in Mainz zeitweise geleitete Marianischen (Schüler-)Kongregation, in der unter anderem Friedrich Elz (1848-1915) in den letzten Jahren seiner Mainzer Gymnasialzeit (Reifeprüfung 1868) eingetreten war, wurde ebenfalls verboten. Auch Guardinis Weihebischof, der ihn 1915 auch als Leiter der Juventus eingesetzt hat, ging ab 1864 in Mainz auf das Gymnasium und wurde dort Mitglied der Marianischen Kongregation, ab 1866 unter Von Doß. Ab 1872 war dann Max Gereon von Galen, Neffe von Bischof Ketteler und später Weihbischof in Münster, für Kirstein der ihn prägende Seelsorger.
Der Vorgang von 1872/73 ist mittlerweile ausführlich dargestellt: „Die blinde Wut richtete sich vor allem gegen den Prior und Leiter der Kongregationen, Pater von Doß. Die Jesuiten gehörten auch zu dem Schutt, den die Regierung Hofmanns zuerst beseitigte. Nachdem der Jesuitenorden am 4. Juli 1872 durch ein Staatsgesetz in Preußen verboten worden war, zog die hessische Regierung wenige Monate später nach. Am 19. Oktober 1872 teilte Polizeirat Künstler die gegen die Jesuiten verfügte Aufhebung ihrer Mainzer Niederlassung durch die Regierung mit. Nach vergeblichen Protest mußten die Ordensleute die Stadt verlassen59. Die Hetze gegen die Marianische Kongregation wurde mit stereotypen Mitteln unvermindert weitergeführt, sie war aber angesichts des viel bedeutsameren politischen Wandels von nachgeordneter Bedeutung. Plötzlich fand im Juli 1872 eine dreitägige Revision der Gymnasiums statt“ [Werner Pelz: Die Amtsenthebung von Heinrich Bone. Ein Beitrag zum Kulturkampf im Bistum Mainz, in: AmrhKG, 45, 1993, S. 347-358, hier S. 355].
Die Zeitspanne, die sich zwischen 1872 und 1890 auftut, lässt meines Erachtens trotz der Personalia Von Doß und seine Kontakte zu Jäger, Kirstein und den Bendix-Brüdern nicht zu, „Juventus“ daher als unmittelbare Nachfolge- bzw. Ersatz-Organisation darzustellen. Dafür war der 1890 gegründete religiöse Gymnasiastenbund, der sich unter die Fittiche der Bendix-Brüder begab, organisatorisch zu wenig kongregationalistisch veranlagt.
Ab 1890 aus den Texten von Jakob Hohmann und Adam Gottron ergibt sich folgende Abfolge:
- 1890-1895: Die unmittelbare Vorgeschichte:
- „Am 11. Juli 1890 verfaßten 7 Mainzer Gymnasiasten, Quartaner und Untertertianer, unter ihnen der verstorbene Pfarrer Hohenadel, ein Protokoll. Darin versprechen sich diese einen Freundesbund zu schließen.“ Sie wandten sich mit ihrem Anliegen an Karl Bendix, seit 1889 Präses des Lehrlingshauses.
- Als das von Karl Bendix erbaute Katholische Lehrlingshaus am 6./7. Januar 1894 eingeweiht und sein Bruder Ludwig Bendix ans Priesterseminar gekommen war, übergab Carl Bendix die kleine Schar der Obhut seines Bruders, der sie auf seinem Zimmer im Seminar zusammenkommen ließ.“
- Ludwig Bendix lud einige Gymnasiasten zu Sonntagsversammlungen ein, in denen man erst Gesellschaftsspiele spielte, dann einen Vortrag hörte und eine kleine Andacht hielt. […]
- „Da sich aber bald die Schwierigkeit zeigte, daß man mit gesunden Jungen in einem schmalen Zimmer wenig anfangen konnte, was zu einem Schwund der Gemeinschaft führte, versuchte Prof. Bendix vergeblich den Verfall am 4.3.1894 durch die Gründung eines Gesangsquartetts aufzuhalten.“ So gab Ludwig Bendix mit dieser „Neugründung“ unter dem Datum des 4. März „dem idealen Willen den organisatorischen Halt.“ Aber bereits im Sommer 1895 löste sich das Ganze wohl auf, das Interesse an einer mehr vereinsmäßigen Entwicklung, die von Seiten Älterer scheinbar angestrebt wurde, fehlte.
- 1896-1903 Von der eigentliche Gründung bis zu Guardinis Reifeprüfung:
- Im Sommer 1896 taten sich dann im Gymnasium einige Tertianer und Untersekundaner [heutige Jahrgangsstufe 8 bis 10] zusammen und versprachen sich gegenseitig, täglich für einander zu beten, damit die Gottesmutter ihre Unschuld und ihren Glauben beschütze. Da man in der Schule Spötteleien ausgesetzt war, suchte Ludwig Bendix zunächst einen Raum im Seminar, als dieser Raum zu klein wird, öffnet Karl Bendix das Lehrlingshaus. Dort ergibt sich wohl eher zufällig der Name „Juventus“. Doch zu einem Verein kam es nicht.
- Man hielt regelmäßig die Sonntagsstunde mit Vortrag und Gebet, dazu kam eine Bibliothek, die über 100 Bände verfügte. Man begann damit, Exerzitien im Priesterseminar zu halten.
- Zur 1896-Gruppe gehörten außerdem die Söhne der Familien Gerster, Eismayer, Darapsky, Schneiderhöhn, Groß, Klingelschmitt, und Klepper. [Guardini war in diesem Jahr noch in der Quarta, könnte aber bereits im darauffolgenden Jahr 1897 als Terzianer dazugestoßen sein]
- Zur Pennälergruppe 1898 im Lehrlingshaus gehören 18 Kinder, darunter Edmund von Jungenfeld, die 2 Gerster-Söhne und Peter Dörsam.
- Eine Fotografie aus diesem Jahr 1898 ist aufschlussreich: […] zeigt diese bereits eine ganze Reihe zukünftiger Theologen aus der Stadtjugend: v. Jungenfeld, Ernst Thomin (* 1879), Heinrich Hohenadel (gest. 1920), Carl Racké S. J. (auch Karl Racke), Peter Valentin Schwahn (1889-1964), Athanasius Gerster OSB (1877-1945).
- 1899 gehörten ca. 60 Jungen zur Juventus, darunter Adam Gottron.
- 1901 zeigt die Gruppenfotos 13 Ältere und 53 Jüngere.
- Ca. 1904 wurden die 14 Primaner gemeinsam mit Prof. Kneib fotografiert.
Laut Hohmann waren Obmänner [Präfekten]:
- 1896-1900 [???]: Edmund von Jungenfeld
- 1900-1902: Valentin Schorn
- 1902-1903: Jakob Racké
Laut Markert um die Jahrhundertwende, also wohl 1899-1900] war nun auch Romano Guardini Präfekt. Der Umstand, dass man Guardini hier in der Aufzählung fehlt und seine durch das Zeugnis Markert sehr glaubwürdig überlieferte Präfekten-Tätigkeit in Vergessenheit geraten ist, könnte darin liegen, dass es von 1898 an zwei Gruppen gab: die Älteren und die Jüngeren, somit aber vermutlich auch zwei Präfekten, nämlich den für die Älteren-Gruppe und den für die Jüngeren Gruppe.
Diese Frühgeschichte der Juventus ist außer den genannten historischen, meist auf Erinnerungen beruhenden und zudem wohl nicht fehlerfreien Rahmendaten historisch-systematisch noch nicht wirklich erforscht.
Bearbeiten
II.6. Die Insel
Der sieben Jahre jüngere Wolfgang Fritz Volbach (1892-1988) schreibt 1979: „Die schwierige Aufgabe, uns zu ordentlichen Menschen zu erziehen, übernahm das Herbstgymnasium im Kronberger Hof. […] Aber trotz aller Verschiedenheiten, etwa in religiöser Hinsicht, mit Kindern aus katholischen, evangelischen und jüdischen Familien, gab es keinerlei Schwierigkeiten. […] Nur eine kleine Gruppe machte eine Ausnahme: Das waren die Kinder aus den Offiziersfamilien. […] Im Gegensatz zu diesen Buben wirkte Romano Guardini nicht als Fremder, trotzdem wir wußten, daß seine Familie aus dem fernen Italien eingewandert war. Er kam jeden Morgen pünktlich, kurz vor Schulanfang von der Insel her. Ich erinnere mich noch an ihn als eine ruhige Erscheinung, meist dunkel angezogen. Er hatte zu uns sehr wenig Beziehung, war aber dabei nicht unfreundlich. Wir mochten ihn und betrachteten ihn trotz seines andersartigen Benehmens als zu uns zugehörig. Sogar daß er sich nicht in unseren Kreis einordnete, sondern gleich in die kleine Kapelle des Klosters zur ewigen Anbetung nebenan ging, um zu beten, betrachteten wir als richtig. Es paßte zu seiner Persönlichkeit“ [bei Heist]
Volbachs Vater war protestantisch und in Mainz Musikdirektor. Seine Mutter stammte aus der jüdischen, zum Katholizismus konvertierten Familie Dernburg. Die Familie lebte wohl eher „säkularisiert“.
Das Kloster zur Ewigen Anbetung der Klarissen-Kapuzinerinnen von der Ewigen Anbetung und die Klosterkapelle St. Klara (Gymnasiumstraße) lag bei der sogenannten „Insel“ (vgl. heutige Inselstraße). Noch in den Adreßbüchern der sechziger Jahre heißt es: „Gymnasiumstraße beginnt Insel, endigt Fuststraße“. Bereits 1857 heißt es dazu in Carl Kleins „Mainz und seine Umgebungen“ (S. 120): „Obez die Insel, so genannt, weil einige (4) Häuser rings von Straßen umgeben sind.“ 1864 heißt es dann bei Karl Klein (S. 150f.): „Insel, ein kleiner Bezirk, genannt nach vier Häusern, die rings von Straßen umschlossen sind, nämlich der Insel, der Inselstraße, Dominikanerstraße, der vorderen Präsenzgasse, 60, 110, 180 und 120 Schritte lang.“
Für einen jungen Katholiken durchaus üblich und vielleicht auch als Juvene besuchte Guardini dort wohl täglich die Frühmesse und kam von dort aus „pünktlich“ zur Schule.
Historische Bilder für das damalige Inselkloster siehe: https://klarissen-kapuzinerinnen-mainz.de/index.php?id=38
Im Zweiten Weltkrieg wurde das Kloster und die Kirche bei einem Bombenangriff schwer beschädigt. „Am 27. Februar 1945 hatten 41 Schwestern nach dem schweren Bombenangriff auf Mainz den Tod gefunden; sie waren im Gewölbekeller unter der Klosterkirche erstickt, kniend um den Altar versammelt, zuvor gestärkt durch den mehrmaligen Empfang der Eucharistie aus dem von der Anbetungskapelle mit nach unten gebrachten Speisekelch.“ (Kurzer Überblick über das Kloster der Klarissen-Kapuzinerinnen von der Ewigen Anbetung Mainz - https://klarissen-kapuzinerinnen-mainz.de/index.php?id=69 und https://klarissen-kapuzinerinnen-mainz.de/index.php?id=39 ). 1948 nach Mainz zurückgekehrt, bezog man 1952 an alter Stelle ein Gebäude des ersten Bauabschnittes und die Notkapelle, schließlich 1956 einen zweiten Gebäudeteil mit der provisorisch errichteten Kapelle unmittelbar an der Gymnasiumstraße. 1965 wurde das bisherig wieder aufgebaute von Bischof Volk offiziell eingeweiht. Anstelle des ursprünglich geplanten Kapellenneubaus wurde bis 1996 die provisorische Kapelle völlig umgebaut und von Bischof Karl Lehmann eingeweiht.
II.7. Erste Italienfahrt 1899
Die erste Italien-Fahrt von August bis Oktober 1899: „Ebensowenig die Reisen nach Italien zu den Großeltern, die, wie es bei wohlhabenden Familien der Fall war, außer ihrem Stadthaus in Verona einen schönen Besitz auf dem Lande hatten. Wir gingen dann nur aus einer geschlossenen Welt in die andere; denn das Haus, in welchem die mit Scheu betrachteten Gestalten des Großvaters und der Großmutter herrschten, bedeutete nur einen Wechsel des Ortes und der Dinge, nicht der Lebensführung, die sogar noch strenger war, als zu Hause“ [Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, Mainz 1995, S. 59].
Die Reise ist durch mehrere Postkarten von Mitschülern belegt.
- mit Ankunftstempeln 18. August 1899 und 2. September 1899
- Ludwig Fabricius aus der Schweiz nach Verona bzw. nach Colognola ai Colli. Mit Ankunftsstempel 3. September 1899
Die Rückerinnerungen an Colognola ai Colli fallen gemischt aus:
- Isola, Montag d. 12. Okt. 53: „Auf dem Rückweg sind wir nach Colognola di Colli gefahren und haben die Villa der Großeltern mütterlicherseits aufgesucht. Man ließ uns in den Garten eintreten – die Besitzer waren gerade abwesend –, und alles war nicht viel anders, als es gewesen, wie wir als Kinder bei den Großeltern zu Besuch waren. Nur daß doch über fünfzig Jahre vergangen waren – und zum Teil welche Jahre! ... Ich mag keine Erinnerungen. Was vorbei ist, ist für mich sehr vorbei; ganz abgesehen davon, daß auf dem Grund aller Erinnerung das Gefühl liegt: Du hättest dein Leben besser verwenden sollen; das kurze Leben, das jetzt, auch wenn es »lang« werden sollte, doch am Ausrinnen ist. Wie verkehrt sind alle Dinge ...“ [Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, Mainz 1995, S. 195].
- Isola, 25.9.54: „Seit gestern abend wieder in Isola. Wieder durch das Tor in den Garten hineingefahren, auf das weiße Haus zu, mit dem altvertrauten Gefühl, das immer Gesuchte werde da sein, das Duftende, das Nahe, das Glück – vielleicht das, was das Kind im Garten der Großeltern in Colognola empfunden hatte? Dann das erste Herumgehen, das Öffnen der Türen, das Stehen in den Zimmern, und die Enttäuschung: Es ist nicht da“ [ebd., S. 235 f.].
Das empfindende "Kind" war 1899 immerhin bereits 14 Jahre alt, also eher ein Jugendlicher.
Eine zweite Italienfahrt fand dann, wenn überhaupt, wohl erst im Sommer 1903 statt.
Guardini spricht 1953 von „über fünfzig Jahren“, was eher für 1899 als für 1903 sprechen könnte, da es sich bei Letzerem um fünfzig Jahre handelt. Und auch in den Briefen vom Comer See heißt es, er sei erst ein zweites Mal in Italien. Entweder er verknüpft 1923/24 in der Erinnerung die beiden Reisen zu seinen Großeltern oder aber es fand gar keine zweite Italienreise in der Kind- und Jugendzeit statt, sondern nur die von 1899. Da er in den Berichten nur von „Reisen nach Italien“ im Bezug auf alle Brüder spricht, kann daraus ebenfalls nicht abgeleitet werden, dass Guardini öfter als 1899 in Italien war. Für eine zweite Italienreise Ende September 1903 sprechen dagegen zwei Fotografien aus dem Archiv der Villa Guardini, Isola Vicentina, Fondo documenti di famiglia, auf deren Rückseiten jeweils ein Datum vermerkt ist, nämlich jeweils der 29. September 1903. Allerdings sowohl die Eintragungen Giuliano Guardinis als auch die Fotografien einer Straße in Verona und der Villa Nichesola-Bernardinelli nehmen nur auf die Eltern Guardinis Bezug.
II.8. Zeugnis 1900
Das "Zeugnis über die wissenschaftliche Befähigung für den einjährig-freiwilligen Dienst vom 31.07.1900" [Bayerische Staatsbibliothek C-104-01] ist vom Direktor Weihrich und vom Lehrer-Kollegium, vertreten durch den Klassenführer Schaum.
Interessant ist, dass Guardinis Name auf "Michael Anton Romano Guardini" lautet. Es bezeugt erstens regelmäßigen Schulbesuch und recht gutes Betragen, zweitens sehr gute Aufmerksamkeit und guten Fleiß und drittens den Besuch der Klasse "mit Erfolg". Für Guardini hatte dieses Zeugnis keine Relevanz, da er als ausländischer Staatsbürger dieses Jahr nicht beantragen hätte können.
Zu den Direktoren:
- Georg Weihrich (+1911) war vom 1.9.1891 bis zum 1.5.1905 Direktor des Gymnasiums, ab 1.10.1900 allerdings nur noch des Ostergymnasiums.
- Dr. Heinrich Blase (1855-1921), Altphilologe, war vom 1.10.1900 bis 1.10.1917 Direktor des Herbstgymnasiums (auch „Altes Gymnasium“ genannt). Der gleichnamige Sohn des Direktors studierte später zeitgleich mit Guardini in München und Berlin. Bild: https://sempub.ub.uni-heidelberg.de/propylaeum_vitae/de/wisski/navigate/26531/view
II.9. Der Vater als Konsularagent
Der Vater ist ab 2. August 1902 Konularagent, vermutlich mit Anredetitel „Konsul“. Er war aber nicht – wie mitunter in der Sekundärliteratur zu lesen - „Generalkonsul“ oder „Vizekonsul“. Somit erfolgt hier eine Korrektur der Angabe bei Gerl-Falkovitz, die 1985 schreibt, Guardinis Vater sei 1910 Konsul in Mainz geworden.
Beleg dafür ist unter anderem das Bollettino del Ministerio degli affari esteri, 1902, S. 639 „Guardini Romano, autorizzata la nomina ad agente consolare in Magonza (D. M. 2 agosto 1902).“ Auch im Hof- und Staats-Handbuch des Grossherzogtums Hessen, 1904, S. 110 steht: „Generalkonsulat. Sitz: Frankfurt a. M. Generalkonsul: Francis Oppenheimer. Vizekonsul: Charles W. Schwarz; … Konsularagent: Romano Guardini“; ähnlich auch 1907; 1909 und 1912, ab 1913 in Kürschners Staats-, Hof- und Kommunal-Handbuch des Reichs und der Einzelstaaten, … 1913, S. 479: unter dem Frankfurter Konsul Luigi Testa
Das Generalkonsulat hatte also seinen Sitz in Frankfurt am Main, in Mainz befand sich nur eine zu Frankfurt gehörige Agentur.
Interessanterweise erhält Guardini daher Ende November 1905 den Freistellungsbescheid vom Militärdienst durch Vater als Konsularagent übermittelt (BSB München C-105-01 Brief von Vater Guardini an Sohn Guardini nach Berlin auf Konsulatsbriefkopf vom 26.11.1905 mit der Bestätigung der Befreiung vom Militärdienst durch den zuständigen Rat in Verona, datiert mit dem 26. Oktober 1905).
II.10. Die Freunde des Vaters
wird weiter erstellt
II. 11. Der Banknachbar: Friedrich Erhard Becht
wird weiter erstellt
II.12. Das Reifezeugnis
wird weiter erstellt
Kapitel III: Der „Alter ego“ Karl Neundörfer
III.1. Mitschüler seit 1891
wird weiter erstellt
III.2. Religiöse Krise 1905
wird weiter erstellt
III.3. In Tübingen
wird weiter erstellt
III.4. „Vom Geist des kanonischen Rechts“
wird weiter erstellt
III. 5. Dreiecks-Freundschaft mit Josef Weiger
wird weiter erstellt
III.6. Gemeinsames Thema „Befehlen und Gehorchen“
wird weiter erstellt
III.7. Gemeinsames Engagement im Quickborn
wird weiter erstellt
III.8. Tod im Fextal 1926
wird weiter erstellt
III.9. Würdigung
wird weiter erstellt
III.10. Neundörfer-Bibliographie
Kapitel IV: Studium in München und Berlin (1904-1906) - Mainzer Bezüge
IV.1. Studienfreunde aus Mainz
wird weiter erstellt
IV.2. Berliner Krise
wird weiter erstellt
=== Kapitel V: Der Schleußner-Kreis und Semesterferien (1903-1908)
V.1. Das Ehepaar Schleußner
wird weiter erstellt
V.1.1. Wilhelm Schleußner
wird weiter erstellt
V.1.2. Die Gießener Freunde
wird weiter erstellt
V.1.3. Die Gießener Familie Wiegand
wird weiter erstellt
V.1.4. Renate Josephine Schleußner
wird weiter erstellt
V.2. Die Schleußners und der Reformkatholizismus
wird weiter erstellt
V.3. Die Mitglieder des Schleußner-Kreises
wird weiter erstellt
V.3.1. Franz Theodor Klingelschmitt
V.3.2. Karl Heinz Herke
V.3.3. Daniel Neundörfer
V.3.4. Adam Gottron
V.3.5. Joseph Hammer
V.3.6. Richard Knies (?)
V.4. Die Treffen
wird weiter erstellt
V.5. Autobiographischer Zugang zu Parzival
wird weiter erstellt
V.6.Urteil über die Persönlichkeit Wilhelm Schleußners
wird weiter erstellt
Kapitel VI: Das Studium in Tübingen (1906-1908)
Kapitel VII: Die Seminarzeit (1908-1910)
Kapitel VIII: Deutsche Staatsbürgerschaft (1910/11)
Kapitel IX: Die erste Kaplanszeit (1910-1912)
Kapitel X: Die Promotionszeit (1912-1915)
Kapitel XI: Die zweite Kaplanszeit (1915-1920)
Kapitel XII: Die Juventuszeit (1915-1920)
Kapitel XIII: Festungslazarett (Herbst 1916 bis Frühjahr 1918)
Kapitel XIV: Familiäre Situation und Tod des Vaters (1917-1919)
Kapitel XV: Mainzer Wegbegleiter und Ereignisse
Kapitel XVI: Der Matthias-Grünewald-Verlag
Kapitel XVII: Von Mainz nach Bonn
Kapitel XVIII: Die Bonner Zeit (1920-1923)
Kapitel XIX: Die Berliner Pause (1923-1939)
Kapitel XX: Das Wiederanknüpfen (1935-1944)
Kapitel XXI: Die einmalige Rückkehr (1944)
Kapitel XXII: Das Jahr des Herrn
Kapitel XXIII: Die Causa „Päpstlicher Hausprälat“ (1945-1952)
Kapitel XXIV: Der ambivalente Glückwunsch Gottrons (1952)
Kapitel XXV: Die Fragen der Neuordnung der kirchlichen Jugendarbeit nach 1945
Kapitel XXVI. Die Tübinger Zeit (1945-1948)
Kapitel XXVII: Schüler-Briefe 1949-1967
Kapitel XXVIII: Die Causa „Diözesangebetbuch“ (1951-1953)
Kapitel XXIX: Anfragen 1953 bis 1955
Kapitel XXX: Die Causa „70. Geburtstag“ (1955) und ff.
Kapitel XXXI: Anfragen und Würdigungen 1955 bis 1957
Kapitel XXXII: Würdigung 1957
Kapitel XXXIII: Festschrift und Widmung an Albert Stohr 1958/59
Kapitel XXXIV: Anfrage der Allgemeinen Zeitung (1959)
Kapitel XXXV: Anfragen 1960 bis 1963
Kapitel XXXVI: Würdigung zum 75. Geburtstag durch Albert Stohr (1960)
Kapitel XXXVII: Fragebogen der Kanzlei (1961)
Kapitel XXXVIII.: Bischof Hermann Volk, Teil I (1962/63)
Kapitel XXXIX: Die Causa „2000-Jahr-Feier“ (1962) und Mainzer Jubiläen
Kapitel XXXX.3.: Der 3. Liturgische Kongreß in Mainz (1964)
Kapitel XXXXI: Mainzer Geburtstagsgrüße 1965
Kapitel XXXXII: Bischof Hermann Volk, Teil II (1965-1967)
Kapitel XXXXIII: Würdigungen (1968-1985)
Nachbemerkungen
Ergebnisse aufgrund der neuen Erkenntnisse
- Ergebnis 1: Guardinis eher negative Erinnerungen an seine Mainzer Kindheit und Schulzeit hatten nichts mit der Stadt, sondern allein mit seiner familiären Situation und dem damaligen Lehrpersonal zu tun. Er selbst war gut integriert und fühlte sich in Mainz wohl.
- Ergebnis 2: Guardinis Verhältnis zum Mainzer Seminar war aufgrund der dort gelebten Praxis des „Misstrauens“ und der „Denunziation“ gespalten, nicht aber sein gesamtes Verhältnis zum Bistum oder zum jeweiligen Bischof. Guardini war sich bewusst, dass auch an anderen Seminarien dieses Klima herrschte.
- Ergebnis 3: Seine Erfahrungen in der Stadt Mainz während des Ersten Weltkriegs waren ambivalent, der Umgang einiger Mainzer mit seiner Familie tat ihm weh, er selbst fühlte sich aber im Rahmen seiner Bezüge zum Schleußner-Kreis, zur Juventus und zu Maria Laach nicht „abgelehnt“. Zu einer „Zerrüttung“ kam es daher damals sogar ausdrücklich nicht.
- Ergebnis 4: Seine „Trennung aus Enttäuschung“ vom Bistum Mainz Anfang der zwanziger Jahre war allein seiner Behandlung durch die Leitung von Seminar und Ordinariat im Blick auf seine Tätigkeit beim Juventus, auf eine mögliche Dozententätigkeit im Seminar und die diesbezüglichen Vertröstungen sowie auf seine neue Berliner Arbeit geschuldet. Es handelte sich nie um eine „Zerrüttung“ seines Verhältnisses zur Stadt Mainz und erst recht nicht zu den noch in Mainz lebenden Freunden. Er fühlte sich angesichts seiner schon erworbenen, öffentlich anerkannten Verdienste nur von den dafür Verantwortlichen in Seminar und Bistum zurückgesetzt.
- Ergebnis 5: Die fehlenden Aufenthalte zwischen 1923 und 1945 lagen nicht am Bistum und der Stadt Mainz, sondern allein an Guardinis aufwendigen neuen Lebensmittelpunkten und Tätigkeiten zwischen Berlin, Burg Rothenfels, Mooshausen und Isola Vicentina. Umgekehrt erhielt er zu dieser Zeit wohl keine Einladungen durch die Mainzer Universität und Akademikerverbände bzw. es fanden in Mainz keine Großveranstaltungen von solchen Verbänden statt (anders wie bei Aachen und Köln). Hinzu kam, dass von seinen besten Mainzer Freunden und Bezugspersonen immer weniger in Mainz ansässig waren; zuletzt im Grunde nur noch sein Verlegerfreund Richard Knies, den er aber auch andernorts treffen konnte.
- Ergebnis 6: Die Wahrscheinlichkeit, dass Guardini eine Einladung zum Mainzer Katholikentag 1948 angenommen hätte, wenn dieser nicht ausgerechnet Anfang September stattgefunden hätte, wäre angesichts seines Engagements bei den nachfolgenden Katholikentagen in Passau und Berlin sehr groß gewesen.
- Ergebnis 7: Dass es bis 1952 gedauert hat, bis Guardini zum Päpstl. Hausprälaten ernannt wurde, war zwar ein „Wermutstropfen“ auf Guardinis Verhältnis zur Kirche und in der Personalie Reatz eine Art „Retraumatisierung“, aber mehr gegenüber den Verantwortlichen im Vatikan als gegenüber dem Bistum Mainz und dem mit ihm gut befreundeten Bischof Albert Stohr. Dass Stohr sich dabei mitunter ungeschickt verhalten haben mag, hat Guardini sicher nicht dem Bistum und schon gar nicht der Stadt Mainz angelastet.
- Ergebnis 8: Dass es zwischen 1945 und 1968 zu keiner Rückkehr nach Mainz kam lag zunächst an seinen Überbeanspruchungen und Doppelbelastungen, seiner allgemeinen Lebenssituation, insbesondere an seinen mehrmonatigen Italienaufenthalten im Herbst. Hinzu kam ab Mitte der fünfziger Jahre seine gesundheitliche Situation. Seine angeblich „abweisende“ Haltung gegenüber den zahlreichen Einladungen aus Stadt, Bistum und Universität lag also nicht an einer grundsätzlichen „Unversöhnlichkeit“ gegenüber „Mainz“, sondern wenn dann an der fehlenden Rücksichtnahme auf seine persönliche und gesundheitliche Situation und auf die üblichen Gepflogenheiten, eine vielbeanspruchte Persönlichkeit rechtzeitig und gezielt einzuladen.
- Ergebnis 9: Fakt ist aber auch, dass Guardini eine positive Entscheidung durch unqualifizierte Äußerungen ehemaliger Mainzer Bezugspersonen (besonders Adam Gottron) nicht gerade erleichtert wurden.
- Ergebnis 10: Eine frühzeitige und „pro-aktive“ Ehrung durch die Stadt Mainz hätte Guardini mit Sicherheit angenommen und wäre auch zu ihrer Verleihung erschienen. Die Stadt Mainz hat aber immer erst „reagiert“, als die Ehrungen durch andere schon angekündigt oder vorgenommen wurden, wie an der Diskussion um eine Ehrung anlässlich seines 70. Geburtstags dokumentiert werden konnte. Die vorfühlende Anfrage bezüglich der Ehrenbürgerschaft 1962 kam dagegen eindeutig zu spät. Nachdem diese dann Adam Gottron erhielt, wäre sie danach auch für Guardini nicht mehr in Frage gekommen.
Gesamtergebnis: Es ist Werner Becker recht zu geben, wenn er die gegenteiligen, durch Hans Waltmann, Adam Gottron oder anderen kolportierten Behauptungen einer anhaltenden „Zerrüttung“ des Verhältnisses zwischen Guardini und Mainz entschieden zurückgewiesen hat. Aufgrund einer Gesamtauswertung aller noch vorhandenen Archivalien und Schilderungen ist die These von einer anhaltenden „Zerrüttung“ des Verhältnisses von Guardini und der Stadt bzw. dem Bistum Mainz nämlich nicht aufrechtzuerhalten. Auch eine „abgeschwächte“ Fassung dieser Behauptung im Sinne einer „unversöhnten Anspannung“ oder dergleichen ist angesichts der Faktenlage nicht haltbar. Denn Guardinis Nachkriegsverhältnis zu Mainz als Heimatstadt und Heimatbistum war nicht „angespannter“ als das Verhältnis zu anderen für ihn wichtigen Städten (Freiburg, Bonn, Berlin) und schon gar nicht im Vergleich zu anderen Gelehrten, die aufgrund Ihrer neuen Tätigkeiten ihre Heimatstädte bzw. Heimatbistümer verlassen haben und es dabei zu diesen Städten gar keine familiären und nur noch wenig freundschaftliche Beziehungen mehr gab. Das Verhältnis Guardinis zu Mainz wechselte also in den „Erinnerungsmodus“ und hat sich im Laufe der Zeit „neutralisiert“. Hier nachträglich aufgrund phasenweiser Verstimmungen oder einzelner Verletzungen eine grundsätzliche „Anspannung“ oder gar eine dauerhafte „Zerrüttung“ hineinzuinterpretieren, ist meines Erachtens historisch nicht zulässig. Insofern ist Gerl-Falkovitz´ Redewendung von der „nicht ganz glücklichen Beziehung“ als solche wohl immer noch die „richtigere“ Einschätzung, da diese Formulierung auch Missverständnisse und unglückliche Umstände mit einbezieht und das, was bzw. wie viel zu einer „ganz glücklichen Beziehung“ fehlt, offen lässt.
Noch offene, Guardini-relevante Baustellen der Geschichtsforschung für die Stadt und das Bistum Mainz
Stadtgeschichte
Leider fehlen für Mainz weitestgehend eine umfassende Adressforschung und Besitzstandsforschung insbesondere für die Zeit vor dem I. Weltkrieg. Auch eine Ausweitung der Forschungen zu „Mainz und seinen italienischen Mitbürgern“ sowie zu „Mainz uns seinen jüdischen Mitbürgern“ für den Zeitraum von 1885 bis 1920. Auch die Bedeutung von Mainz als Sitz von italienischen Konsularagenten im Großherzogtum Hessen müsste näher angeschaut werden. Ebenso müsste das erweiterte personelle Umfeld der „selbständigen Rheinischen Republik“ in Mainz 1919 erforscht werden. Auch zur Frühgeschichte des Mainzer „Matthias-Grünewald-Verlages“ gibt es zu wenig Greifbares. Interessanterweise gibt es sowohl zu vielen Mainzer Zeitgenossen als zu Mainzer Organisationen der „zweiten Reihe“, zu denen Guardini Bezug hat, noch keine monographischen oder ausführlicheren und historisch gearbeiteten, lexikalischen Biographien bzw. Gründungsgeschichten, als Beispiele seien hier Johannes Moser oder Wilhelm Schleußner und Alfred Schüler, aber sogar Karl Neundörfer für die Personen, und die Ortsgruppe des Pius-Vereins, aber sogar die Juventus für Organisationen genannt.
Bistumsgeschichte
Wie in dieser Arbeit gesehen, ist die Frühgeschichte der Mainzer katholischen Jugendbewegung „Juventus“ noch stark unterbeleuchtet, ebenso wie die Geschichte des Mainzer „Piusvereins“ „vor Ort“. Es fehlt weiterhin eine ausführliche Seminargeschichte inklusive Auswertung der noch vorhandenen Vorgänge bei Aufnahme oder Beendigung von Seminar-zugehörigkeiten sowie Zulassung zu Weihen. Auch die Geschichte der Mainzer Caritas und die Rolle von Karl Neundörfer müsste noch intensiver bearbeitet werden. Eine biographische Erforschung des „Mainzer Reformkatholizismus“ ausgehend von Schleußner, Moser, usw. und ihren Kontakten wäre auch im Rahmen der Bistumsgeschichte ebenso notwendig. Schließlich fehlen auch noch historische Gesamtbiographien der Bischöfe Albert Stohr und Hermann Volk, aber auch der Guardini-relevanten Vorgänger Kirstein und Hugo.
Statt eines Schlusswortes - zwei Bitten
- Erste Bitte: Lassen wir Guardini daher nicht zu einem „Programm“, zu einem „Theologen für weitere Kreise“ werden. Guardini hat diese Bitte selbst in Bezug auf Newman formuliert. Sie kann heute durchaus auch auf ihn selbst gespiegelt werden: „Und es tut mir leid, wenn ich denke, daß Newman hier wahrscheinlich als Programm eingeführt werden wird; vermute wenigstens, daß Laros es tun wird. Denn Newman ist kein Denker für Programme, ist überhaupt kein Theologe für weitere Kreise. Er ist einer, dem man sich persönlich gegenüberstellen muß, mit viel Ehrfurcht, aber auch mit wacher Kritik; ein Mann, der in keine Diskussion hineingehört“ [Vgl. hs. Brief an Richard Knies, Mainz, 29.4.1919 <vormals Dom- und Diözesanarchiv Mainz, in Kopie im Nachlass Guardini]
- Zweite Bitte: Lassen wir Guardini und seine angebliche „Struktur“ auch nicht zur „Mode“ werden. In seiner Übersetzung Madeleine Sémer kommentiert Guardini für Kierkegaard: „Kierkegaard hat das Warnungsbild des `Dozenten´ aufgestellt; es scheint an der Zeit, das des `Dialektikers´ neuester Observanz daneben aufzurichten. Christentum ist keine Struktur, am wenigsten die jeweils aktuelle, `zeitgebotene´. Und Kierkegaard widerfährt jetzt, was er wohl als eine Prüfung empfunden haben würde, bitterer als den Spott des `Korsaren´ und die Ablehnung Mynsters, nämlich daß er Mode wird; seine `Struktur´. Damit ist wiederum gesagt, daß Christentum die Überwindung und ebendamit die Heiligung aller Strukturen in der Übernatürlichkeit des Glaubens und der Liebe ist“ [Romano Guardini: Madeleine Sémer. Eine Mystikerin unserer Tage, in: Hochland, 25/I, 1927/28, 6 (März 1928), S. 623-644 [Mercker 0277], hier S. 632].