Volk und Europa

Aus Romano-Guardini-Handbuch

105: Aphorismen aus Guardinis Ad-hoc-Rede „Volk und Europa“ auf der Quickborn-Pfingsttagung in Grüssau, in: Quickborn, 12, 1923, S. 36-38; sowie in: Josef Aussem, Grüssau, in: Die Schildgenossen, 1923, 5/6, S. 191 f. (bisher nicht in einer Werkausgabe);

Inhaltsangabe

  1. Josef Aussem, Grüssau, in: Die Schildgenossen, 3, 1923, 5/6, S. 191 f. (zitiert und zusammengefasst nach Gerl): Guardini sei rasch gebeten worden, "weil er die besondere Gabe hat, sich in die feinsten und verästeltsten Wesensbeziehungen unserer Bewegung einzufühlen und sie in Ausdruck und Begriff zu prägen. [...]" Als Rechtfertigung, warum er als gebürtiger Italiener über ein "deutsches Thema" spreche, schickte er voraus: "Sein geistiges Wesen wurzele in der deutschen Kultur. Er habe als Soldat im Heer gestanden und der Krieg und der Zusammenbruch hätten ihn aufs Neue vor die Entscheidung gestellt, zu welchem Volk er gehöre. Er habe sich für Deutschland entschieden ... Zu seinem Volk stehen und sein Werk mitzutragen, ist innerste sittliche Pflicht. Das ergibt sich aus dem 4. Gebot, das die Forderung aufstellt, die großen Gegebenheiten und Wirklichkeiten des Lebens zu ehren: Kirche, Volk, Eltern. Diese Pflicht besteht für normale, erst recht in außerordentlichen Zeiten, wenn das Volk in Not gerät; dann muß die Treue doppelt tief und die Einheit doppelt groß sein." [...] "Bei dem Zusammenbruch hatten wir das Gefühl eines Ertrinkenden, dem es um Ehre und Sein geht. Jedem, der im besetzen Gebiet wohnt, war das Hellste dunkel, wenn er die fremden Uniformen sah." Dann greift Guardini unerwartet auf "Europa" aus, das als "Neuheit der Formulierung" empfunden wurde. Im Vorausblick formuliert er, dass es das Volk als "abgeschlossene Welt" OBJEKTIV gar nicht mehr gebe. Verkehr und Wirtschaft, materielle und kulturelle Abhängigkeit ließen ein Volk mit dem anderen wachsen und fallen: all das in besonderem Maß für Europa gültig. Dem entspreche SUBJEKTIV, daß im Geistigen bei feinfühligen Menschen ein lebendiges Ausgreifen über die völkische Ebene hinaus geschehe: "Wir meinen nicht die Verärgerten, die sich aus einem Ressentiment dahin abwenden und ablenken. Es gibt Menschen mit übervölkischem Zusammenhangsgefühl. Mit dieser geistigen Ebene darf nicht der Begriff des sozialistischen Internationalismus verwechselt werden ... Wir sehen das LEBENDIGE Europa, das in einer Anzahl Menschen aufgetaucht ist, lebt und sich auswirkt." [...] "Wer ist jugendbewegt? Es ist der, der innerlich aufgerissen, von diesen Fragen beunruhigt ist, dem sie zum Schicksal werden. Wir müssen uns entscheiden, ob wir demagogisch handeln, oder ob wir wesenhaft sehen und aus der Verantwortung der neuen Entwicklung denken und handeln."
  2. (vermutlich ebenfalls Bericht von Aussem), in: Quickborn, 12, 1923, S. 36-38: Zunächst leitet er die innerste sittliche Pflicht, zu seinem Volk zu stehen und sein Werk mitzutragen aus dem 4. Gebot ab, das die Forderung aufstelle, die großen Gegebenheiten und Wirklichkeiten des Lebens zu ehren: Kirche, Volk, Eltern. Von dort aus greift Guardini auf einen übergeordneten Zusammenhang aus: Europa. So wie Politik kein eigener Bezirk sei, so gebe es "OBJEKTIV ... das Volk als 'abgeschlossene Welt' nicht mehr. Dem entspreche SUBJEKTIV, dass im Geistigen bei feinfühligen Menschen ein lebendiges Ausgreifen über die völkische Ebene hinaus geschehe. 'Es gibt Menschen mit übervölkischem Zusammenhangsgefühl. Mit dieser geistigen Ebene darf nicht der Begriff des sozialistischen Internationalismus verwechselt werden ... Wir sehen das LEBENDIGE EUROPA, das in einer Anzahl Menschen aufgetaucht ist, lebt und sich auswirkt." Was ist dabei die Aufgabe der Jugendbewegung? Ihre Aufgabe ist es eine Verknüpfung zwischen der Wirklichkeit des Volkes und der großen übergreifenden Gemeinschaft zu finden, speziell "das Faktum Europa zu sehen. Die Lösung kann nicht aus irgend einem Ressentiment gefunden werden. Wir müssen uns entscheiden, ob wir demagogisch handeln, oder ob wir wesenhaft sehen und aus der Verantwortung der neuen Entwicklung denken und handeln."
  3. Großquickbornerin aus Hessen, in: Die Schildgenossen, 3, 1923, 5/6, S. 200 f.: "Was Guardini über `Volk und Europa´ sagte, war für mich persönlich, nachdem ich die anfängliche Befremdung über den Ausdruck `Europa´ überwunden hatte, einfach erlösend, weil es eine Reihe von Sorgen, die mich schon die ganze Zeit gequält hatte, zusammenfaßt und das einheitliche Problem aufzeigte, das dahinter steht."

Situation

  • Das Bundesthing und Pfingsttreffen fand 1923 nicht auf Burg Rothenfels, sondern in dem Benediktinerkloster Grüssau in Schlesien statt. Das Kloster Grüssau wurde als Benediktinerpropstei 1242 gegründet, war Grüssau von 1292 bis zur Säkularisation 1810 Zisterzienserabtei und 1919 von Prag aus durch die Benediktiner der Beuroner Kongregation wiederbesiedelt. Abt war zum Zeitpunkt des Treffens Albert Schmitt OSB.
  • Es handelte sich dabei um einen großen Quickborn-Bundestag mit rund 1200 Älteren und Jüngeren des Bundes (Henrich, Die Bünde katholischer Jugendbewegung, 1968, S. 128)
  • als weiterer Referent ist bekannt: Prof. Hermann Müller-Paderborn (Vgl. Archiv für schlesische Kirchengeschichte, 31, 1973, S. 216). Vgl. zu ihm auch: Der Spielmann. Mit einem vollständig neuen Teil geistlicher Lieder, besorgt von Prof. Dr. Hermann Müller (Paderborn), Rothenfels a.M. 1923). Es handelt sich dabei um eine spätere Neubearbeitung von Klemens Neumann (Hrsg.): Der Spielmann, 3. umgearbeitete Auflage der "Quickborn-Lieder", Rothenfels am Main 1920. Daraus als Sonderausgabe im gleichen Jahr: Hermann Müller: Kyrioleis, kleiner Psalter geistlicher Lieder, dem jungen Deutschland dargereicht, Burg Rothenfels 1923; 1924. Prof. Müller war in Paderborn auch Caecilienpraeses.

Bibliographie

Vgl. dazu Gerl, Romano Guardini, 1985, S. 93 f.: Exkurs: Vom Dienst am Vaterland und Europa;