Feinschwarz. Theologisches Feuilleton

Aus Romano-Guardini-Handbuch
Version vom 16. Dezember 2022, 22:10 Uhr von Helmut Zenz (Diskussion | Beiträge)
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Feinschwarz. Theologisches Feuilleton ist eine Online-Zeitschrift

Bibliographie zu Guardini

  1. Paul Metzlaff: Romano Guardini und Papst Franziskus: Denker des Gegensatzes, in: Feinschwarz. Theologisches Feuilleton, 13. Januar 2022 [Artikel] - https://www.feinschwarz.net/romano-guardini-und-papst-franziskus-denker-des-gegensatzes/
  2. Christian Bauer: Synodaler Weg – einige theologische Anmerkungen, in: Feinschwarz. Theologisches Feuilleton, 21. September 2019, darin zu Romano Guardini der Abschnitt "Romano Guardini: Der Gegensatz" mit den Teilen "Dialektik ohne Synthese" und "Lebendige Spannungen" [Artikel] - https://www.feinschwarz.net/synodaler-weg-eine-erwiderung-nicht-nur-auf-seine-bischoeflichen-kritiker/#_ftnref40

In weiteren Beiträgen wird Guardini nur kurz erwähnt -

Stellungnahme zum Beitrag "Schuld und Schuldgefühl. Gedanken zum Christsein nach der Schoa"

Schuldverschiebung bei Romano Guardini?

Der Autor leitet den Abschnitt „Schweigen über die Täter“ mit Zitaten von Karl Rahner und Romano Guardini ein, die belegen sollen, dass selbst diese beiden namhaften Theologen sich an einer „Schuldverschiebung“ von einzelnen Tätern auf das unbestimmte Volk beteiligt hätten. Es heißt: „Und der Religionsphilosoph Romano Guardini bestätigte den Deutschen zwar, dass viele nichts von den Verbrechen gewusst hätten und auch nichts dagegen hätten tun können, aber sprach trotzdem von einer Schuld, die „auf dem Gewissen des Volkes“ laste und bereinigt werden müsse.“

Diese Zuschreibung ist in dieser Verkürzung und Form aus zwei Gründen nicht haltbar und beruht zumindest auf einem groben Missverständnis.

  • Erstens ist Guardinis Intention nach 1945 eine völlig andere, als der von den Autoren konstruierte. Schon in seiner Rede „Auf der Suche nach dem Frieden“ 1948 an der Sorbonne in Paris sagt Guardini deutlich: „Wenn das vergangene Geschehen eine Erkenntnis gebracht haben müßte, dann die, daß der Satz: »Alles hat so kommen müssen« Lüge und Feigheit ist. In Wahrheit ist es so gekommen, weil es gewollt bzw. nicht verhindert wurde.“ Er versucht im Anschluss daran gerade die neuzeitliche Entwicklung zu erklären, die persönliche Verantwortung in die Anonymität von Strukturen abzuschieben: „Trotzdem hat das Geschehen so sehr den Charakter eines sich vollziehenden Prozesses, daß die unendliche Versuchung besteht, sich hinter dem Anschein der Notwendigkeit der Verantwortung zu entziehen.“. Guardini erläutert: „Beim modernen Krieg ist es umgekehrt. Wohl sind immer Menschen da, welche die Entscheidung treffen; die Struktur der Vorgänge aber ist so, daß sie nicht auf Personen, sondern auf Notwendigkeiten zurückzuweisen scheint. Das hängt wohl mit dem Charakter der Verantwortung zusammen. Der politisch Handelnde der früheren Zeit wußte, daß er vor Gott stand und Ihm Rechenschaft schuldig war; die Neuzeit hingegen leitet den politischen Auftrag vom Volke her. Die Geschichtsform des Volkes aber ist der Staat, und der Staat nimmt immer mehr den Charakter eines Apparates an, dessen Funktionär der Einzelne ist. Nun kann Verantwortung nur personal sein, im Letzten vom Menschen zu Gott; so verflüchtigt sie sich immer mehr, und das Gefühl entsteht, ein nicht zu fassendes Abstraktum, »der Staat« funktioniere durch den Einzelnen hindurch. Dem scheint das Phänomen des Diktators zu widersprechen, das ja weithin unsere Epoche charakterisiert hat. Aber nur, so lange man es mit dem des individualistischen Condottiere oder des absoluten Herrschers alten Stils verwechselt. In Wahrheit bedeutet es etwas ganz anderes. Der Diktator unserer Zeit ist, bei aller Initiative im einzelnen, Gegenpol der Masse und ihr Exponent zugleich, mit ihr zusammen das unpersönliche Funktionssystem des Staates aufbauend.“ Der Diktator stilisiert sich selbst zum Empfinder und Erfüller des Volkswillens und zum Heilbringer für das eigene Volk. Die Verantwortung für sein Handeln legt er in das Volk und die Notwendigkeiten, dieses Volk zum Heil zu führen. Man lese dazu immer noch sehr ergiebig Guardinis auf Vorarbeiten der Jahre 1934 bis 1936 aufbauende und in den letzten Kriegsjahren ausgearbeitete Schrift „Der Heilbringer in Mythos, Offenbarung und Politik“.
  • Zweitens aber liegt das Problem auch in der Entkontextualisierung des von den angedeuteten Zitates durch die Autoren selbst. Dieses stammt aus „Verantwortung. Gedanken zur jüdischen Frage“ (1952). Guardini wollte seine Zuhörer, „darauf aufmerksam machen, daß in der Geschichte unserer letzten zwanzig Jahre etwas Ungeheuerliches steht, das noch vollkommen unaufgearbeitet ist. Das ist so, ob man will oder nicht. Was immer gesagt und getan wird, um es zu leugnen oder zur Bagatelle zu machen oder gar zu rechtfertigen, ist nur Symptom für den Tiefgang des Geschehenen. Es ist Schuld. Es lastet auf dem Gewissen des Volkes, dem bewußten oder dem unbewußten, dem Lebensgewissen, und verlangt Bereinigung.“ Aus dem gesamten Duktus wird deutlich, dass es Guardini immer um die Schuld der Einzelnen geht, die aber auch“ auf dem Gewissen des Volkes“ laste, „dem bewußten oder dem unbewußten“, dem Lebensgewissen“. Guardini grenzt diese abschließende Zusammenfassung nämlich in der Rede selbst ausdrücklich von einem damals stark diskutierten Phänomen ab: „Ich hoffe auch, Sie bringen das Dargelegte in keine Verbindung mit der „Kollektivschuld" unseligen Angedenkens, denn dadurch würde alles verwirrt. Das Wort ist nicht nur sinnlos, sondern hat viel dazu beigetragen, die Gewissen von der wirklichen Verantwortung wegzudrängen. Es gibt keine Kollektivschuld. Nie kann das, was einer tut, dem anderen zur Schuld werden, wenn er nicht dabei mitwirkt oder doch unterläßt, was er dagegen tun sollte und könnte. Etwas anderes aber gibt es, und darum geht es hier: das ist die Solidarität des Einzelnen mit seinem Volk und aller Einzelnen in diesem Volke untereinander. Wenn ein Glied meiner Familie ein Unrecht begangen hat, dann darf ich sagen: ich bin daran unschuldig. Nicht aber darf ich sagen: es geht mich nichts an. Schuldig werde ich nur durch das, was ich selbst tue oder unterlasse; aber beteiligt bin ich an allem, was die Glieder meiner Familie tun. Denn ich stehe in ihr, und ihre Ehre ist - bis zu einer gewissen Grenze auch die meine. Wenn die Familie gedeiht, nehme ich mit Selbstverständlichkeit an diesem Gedeihen teil. Wenn Einzelne in ihr Großes leisten, fühle ich das mit Recht als etwas, das mich mithebt und trägt. So muß ich auch das, was in ihr an Unrecht geschieht, in meine Verantwortung nehmen, sonst bin ich ein Schmarotzer. Ich muß mich mit ihm auseinandersetzen und tun, was mir möglich ist, damit es in Ordnung komme. Das gleiche gilt für das Volk. Aus unmittelbarem Gefühl heraus weiß jeder recht geschaffene Mensch sich mit dem Leben seines Volkes verbunden. Diese Verbundenheit bildet ein Wesenselement des geschichtlichen Daseins. Jeder empfindet das Große, das im Volk geschehen ist, als auch ihm gehörig. So muß er auch das Unrecht, das da geschieht, in seine Verantwortung aufnehmen. Es trifft seine Ehre; und er ist gehalten, das Seine zu tun, damit es in Ordnung komme. Das muß geschehen, weil Unrecht nicht stehenbleiben darf. Es muß aufgearbeitet werden. Einmal sittlich, weil es Unrecht ist, weil es die Hoheit des Guten verletzt. Das Gewissen weiß das, unmittelbar. Mensch sein heißt, das wissen; von diesem Wissen geadelt und belastet sein. Die Aufarbeitung muß aber auch aus einem anderen Grunde geschehen: deshalb, weil Unrecht real ist; eine Macht, die, wenn sie nicht bewältigt und neu eingeordnet wird, weiterwirkt.“ Guardini glaubt, dass der Vollzug dieser Aufarbeitung letztlich "nur religiös möglich" sei "auf die Gnade, die Vergebungs- und Erneuerungsmacht Gottes hin". "Im übrigen muß es sittlich geschehen. Also vor allem durch die Einsicht, daß Unrecht getan worden ist und worin dieses Unrecht bestand. Durch das, von dem es in Ibsens „Brand" heißt, Menschsein bedeute, „Gerichtstag halten über das eigene Selbst". Zum eigenen Unrecht Stellung nehmen und sich von ihm lossagen. Und es in der jeweils möglichen und gemäßen Weise wieder gutmachen. Dadurch und nur dadurch wird das Unrecht bewältigt - soweit das überhaupt möglich ist und nicht auch von hier aus der Weg ins Religiöse führt. Geschieht das nicht, dann bleibt es und wirkt weiter. Es bleibt als Schuld; als Zerstörung der inneren Ehre, des personalen Heil-Seins, der Klarheit des Gewissens gegenüber Gott und dem Leben. Diese Sinnzerstörung kann durch nichts aufgewogen werden: keinen politischen Erfolg, keine Steigerung der Macht, keinen Fortschritt der Wohlfahrt. Das Unrecht bleibt aber auch als Macht, als unmittelbare geschichtliche Wirksamkeit. Die Wissenschaft vom Menschen zeigt, wie weitgehend er vom Psychischen und Ethischen her gesund oder krank ist. Eine nicht aufgearbeitete geistige Unordnung setzt sich in funktionelle Störungen um, und diese fixieren sich allmählich zu organischen. Nicht nur das: sie wird zum immer wieder verwirklichten Schema des folgenden Verhaltens ... Entsprechendes geschieht im geschichtlichen Leben. Wenn eine Schuld der „res publica" nicht erkannt, verurteilt und in irgendeiner Weise gesühnt wird, dann wird sie zur immer wiederkehrenden Form des Verhaltens und zerstört die politische Existenz.“

Worin soll daher bei Guardini die Schuldverschiebung vom einzelnen Täter auf das Volk liegen, wenn er sich doch so eindrücklich sowohl von der Kollektivschuldthese als auch von der Verantwortungsverschiebung auf das Volk durch die Täter abgrenzt? Die These von der solidarischen Verantwortung aller sich einer Gemeinschaft (ob Familie oder Volk) Zugehörigen nicht nur für Erfolg und Ehre, sondern auch für Schuld und Unrecht, ist dagegen nicht zu bestreiten, führt aber gerade nicht zu einer Schuldverschiebung, sondern zu einer Abwehr eines vorschnellen Geschichtsfatalismus ("Alles hat so kommen müssen"). Dies zeigt er bereits 1945 in seiner Gedenkrede für die Mitglieder der Weiße Rose auf, aber auch in seinen späteren Gedenkreden.