Über Sozialwissenschaft und Ordnung unter Personen

Aus Romano-Guardini-Handbuch

159 (G 25/ORG 21X/OO VI): Über Sozialwissenschaft und Ordnung unter Personen, in: Die Schildgenossen, 6, 1926, 2 (März 1926), S. 125-150 [Mercker 0218];

Auszüge und Nachdrucke

  • eingegangen in: Unterscheidung des Christlichen, Mainz 1935; (2)1963: I. Aus dem Bereich der Philosophie (G 25), (3)1994, S. 44-75 [neu aufgenommen]
  • Auszug unter dem Titel "Die Person" in: Hans Schwerte/Wilhelm Spengler (Hrsg.): Denker und Deuter im heutigen Europa. Mit einer Einleitung von Arnold Bergsträßer, Oldenburg/Hamburg 1954, S. 72-74 [Mercker 1015];

Guardini-Konkordanz

Übersetzungen (in mind. 3 Sprachen)

  1. Over sociologie en ordening van personen (1926), in: Peilingen van het christelijk denken, Verzamelde studies 1923-1963, Tielt/Den Haag 1965, S. 40-74 (Lannoo) ins Niederländische übersetzt von Piet van Antwerpen [Mercker 1656];
  2. Italienisch:
    1. ORG 21X: Sulla sociologia e l´ ordine tra persone (irrtümlich angegeben 1923, eigentlich 1926), in: Opera di Romano Guardini 21X: Natura, cultura, cristianesimo. Saggi filosofici, Brescia 1983; 2000; ins Italienische übersetzt von Adolfo Fabio, Giuseppe Scandiani, Giulio Colombi (aus: Teil 1 und 2 des Sammelbandes „Unterscheidung des Christlichen“, 1963) [neu aufgenommen]
    2. ORG 54: Persona e personalità, hrsg. von Michele Nicoletti, Brescia 2006; ins Italienische übersetzt von Omar Brino [neu aufgenommen]
    3. OO VI: Sulla sociologia e l´ ordine fra persone, in: Opera omnia VI: Scritti politici, Brescia 2005 (hrsg. von Michele Nicoletti), S. 223-252, gesichtet ins Italienische übersetzt von Omar Brino [neu aufgenommen]
  3. Spanisch:
    1. La sociología y el orden entre personas, in: Cristianismo y sociedad, Salamanca 1982, S. 29-54 (Ediciones Sígueme), ins Spanische übersetzt [Übersetzer unbekannt] [neu aufgenommen]
    2. Sobre la ciencia social y el orden entre personas, in: Escritos políticos, Madrid 2011, S. 239-278, ins Spanische übersetzt von José Mardomingo [neu aufgenommen]

Geschichte

  • Wohl am 27. November 1925 hat Guardini am Sozialwissenschaftlichen Institut der Universität Heidelberg, seit Mai 1924 offiziell „Institut für Staats- und Sozialwissenschaften“ (InSoSta) genannt, einen Vortrag zum Thema “Die Ordnung von Personen” gehalten, der dann 1926 unter dem Titel "Über Sozialwissenschaft und Ordnung unter Personen" veröffentlicht wurde.
  • Die Datierung erfolgt über die Datierung einer Widmung in Karl Mannheims "Das Problem einer Soziologie des Wissens": "Herrn Prof. Guardini in Erinnerung an seinen Vortrag und der darauffolgenden Aussprache in Heidelberg; in aufrichtiger Hochachtung überreicht vom Verf. Heidelberg d. 27.XI.25".
  • Das Institut wurde zu dieser Zeit von Alfred Weber geleitet. Es ist nicht ganz geklärt, wer den Vortrag vermittelt hat, ob Weber selbst oder aber Viktor von Weizsäcker oder Arnold Bergsträsser. Den Erinnerungen des evangelischen Theologen Hans Freiherr von Campenhausen (1903-1989) zufolge, der diesen „Gastvortrag“ über „Das Problem der Ordnung von Personen“ gehört, sich aber aufgrund seiner „scholastischen Konstruiertheit“ davon enttäuscht zeigte, hatte Alfred Weber die Diskussion, auf die Guardini „offensichtlich spekuliert hatte ... in schamloser Weise abgeschnitten“ (Ruth Slenczka: Das “Murren” des Hans Freiherr von Campenhausen. „Erinnerungen, dicht wie ein Schneegestöber“, Norderstedt 2005, S. 92). Demzufolge war Weber zumindest der Leiter der Veranstaltung. Ohne intensiveres Archivstudium in Heidelberg sind weitere Begebenheiten derzeit nicht zu klären.
  • Eberhard Demm stellt den Vortrag in den Kontext von Alfred Webers „Soziologischen Diskussionsabenden“ am Institut. (Eberhard Demm: Von der Weimarer Republik zur Bundesrepublik. Der politische Weg Alfred Webers von 1920 bis 1958, Düsseldorf 1997 (1999?), S. 105f. Siehe auch ders.: Lernen durch das „diskutati-ve Prinzip“. Zur Entwicklung der emanzipatorischen Lehrmethode in Heidelberg, http://www.europa.clio-online.de/site/lang__de/ItemID__271/mid__12205/40208771/Default.aspx ) Demnach hielt in den zwanziger Jahren dort zum Beispiel auch der Pädagoge Kurt Hahn einen Vortrag. Carl Zuckmayer sprach über „meine Fleißaufgabe", Campanellas „Civitas Solis" und der Jesuitenstaat in Paraguay; Viktor von Weizsäcker über das Recht auf Arbeit. Außerdem referierten Bergstraesser und Wolfgang Friedrich (Vgl. in: AM, WS 1925/26, 4.11.1925, S. 11 sowie Nr. 2, 18.11.), der Archäologe Ludwig Curtius, Friedrich Wolters, der Philosoph Ludwig Klages („Psychologie des Kriminellen“) und der Literaturtheoretiker Georg Lukács („Soziologie des modernen Dramas“). Studenten hielten Buchreferate über „Die Aufgabe unserer Zeit“ von Ortega y Gasset und „Deutschland und der nächste Krieg“ von Friedrich von Bernhardi oder behandelten Werke von Henri Bergson, Charles de Montesquieu und Thomas Mann. Die Diskussionsabende hatte Alfred Weber 1911 von Eberhard Gothein übernommen und ab 1912 die Organisation und den Vorsitz in die Hände von Studenten, zunächst von Edgar Salin Max Fischer: Die soziologischen Diskussionsabende, in: Studentische Monatshefte vom Oberrhein , 1913, S. 22-24). Ab Mitte der zwanziger Jahre waren diese Abende sowohl finanziell als auch personell in die Krise geraten (Demm, a.a.O., S. 106).

Inhaltliche Auseinandersetzung

  • Die Aussage Campenhausens, der Vortrag sei „scholastisch konstruiert“ gewesen, muss hingegen auf dem Hintergrund konfessioneller und soziologischer Debatten der Zeit beurteilt werden und bezieht sich wohl auf die Gegenüberstellung von Begriffen wie „aktualistisch-dynamisch“ sowie „statisch“ einerseits und die Unterscheidung von „Person“ und „Persönlichkeit“ andererseits, die für den damaligen allgemeinen wissenschaftlichen Diskurs wohl nur schwer nachvollziehbar waren. Nach Guardini beschäftigt sich nämlich “Sozialwissenschaft ... mit dem Zusammenleben der Menschen”, fragt “nach den Ordnungen im Zusammenleben der Einzelnen ...; struktureller wie funktioneller Art; für die Form des Verbandes, wie für die Art des Wirkens" (1926, S. 125; UdC, S. 34). Dabei stehe am Anfang die Tatsache, dass der Mensch Person sei. Es gebe aber verschiedene personalistische Auffassungen, die dieses Personsein nicht erfassen (1926, S. 126; UdC, S. 35). Guardini kritisierte insbesondere den aktualistischen und dynamischen Personalismus: Bei ihm erscheine “Person als etwas, was wird; als etwas was nur als Akt und im Akt ist; was in bestimmten, eben den personalen Akten (Treue, Liebe, Ehrfurcht) aufblitzt; als deren Sinnpunkt; als deren geistige, genauer ideelle, intentionale Richtung; als Akt-Subjekt und Intentions-Konstante. ... Nur darin, dass zwei personale Akte auf einander treffen, treffen Personen aufeinander; nur in bezogenen Akten sind Personen bezogen.” Diese Sichtweise sei defizitär, weil dieser “dynamische Personalismus ... Person vollkommen verflüchtigen” könne. “Wenn Person nur Akt-Inhalt und nur in Akt-Begegnungen Person da ist, dann erscheint Person als etwas stets Vorübergehendes. ... Die bloß geschehende Person ist ein `katastrophischer Begriff´ (Kierkegaard); ein Grenzbegriff. Sie ist nicht lebendig.” Das “Wesen lebendiger Personalität“ hingegen sei gerade darin definiert, „die personalen Akte zum Stehen zu bringen; als dauernde Haltungen schwingender personaler Lebendigkeit.” In diesem Sinne sei Person “nicht nur Akt-Subjekt und Intentions-Träger, sondern auch - mit aller gebotenen Vorsicht im Gebrauch dieses Wortes - Struktur-Zentrum. Sie ist dauernder Beziehungspunkt für mein währendes Sein.” (1926, S. 126f.; UdC, S. 35f.: “Zum Wesen lebendiger Personalität gehört, dass die personalen Akte zum Stehen kommen; dauernde Haltungen schwingender personaler Lebendigkeit darstellen.”)
  • An zentraler Stelle unterschied Guardini - hier wohl erstmals - zwischen Persönlichkeit und Person: “Zwei weitere Blickseiten offenbaren sich in den Begriffen 'Persönlichkeit' und 'Person'. Der Begriff Persönlichkeit hat etwas Schillerndes an sich. Er enthält einmal ein Seinsmoment; das charakteristische Eigenwesen; den Einzelnen in seiner Besonderheit. Dann ein Wertmoment, wie es der Satz meint: 'Dieser Mensch ist wirklich Persönlichkeit.' Ferner spielen die Momente der geistigen Freiheit herein, der Bewusstheit und Innerlichkeit. Dem gegenüber 'Person'. Dieser Begriff ist schärfer. Und zwar liegt das entscheidende Merkmal in der Tatsache der Eigengehörigkeit. ... Eigenständigkeit eines vernünftig-freien Wesens. ... Damit sind die Momente des Statischen und Dynamischen zu-nächst eins" (1926, S. 128f.; UdC, S. 37f.). Guardini verwies dazu ausdrücklich auf seine Schrift “Der Gegensatz”. “Das Moment der Eigengehörigkeit ist zunächst formal" (UdC, S. 38, Anm. 5).
  • Im folgenden zählte er die Bedeutungen des Person-Seins auf. Er begann mit der numerischen Einzigkeit ("Ich bin Einer; ich bin nur Einer; ich kann nicht verdoppelt werden.") und der qualitativen Einmaligkeit ("Ich bin Dieser; ich bin nur Dieser; ich allein bin Dieser. Ich kann nicht nachgemacht; ich kann nicht zum 'Fall' gemacht werden."). Schließlich gehöre dazu die Eigengehörigkeit in Bewusstsein, Freiheit und Tat im Sinne eines eigengehörigen Erkennens, Entscheidens und Handelns und die Eigengehörigkeit in Innerlichkeit (immanent) und Würde (transzendent) (UdC, S. 38) im Sinne einer Entzogenheit nach “Innen” und “Oben” gegenüber allem “Außen” und “Unten” (UdC, S. 39, Anm. 8). Hier klingt also bereits die Polarität von Oben und Innen an, die er dann in seiner Anthropologie in den Mittelpunkt rückt (siehe Welt und Person). “Person ist Eigenhörigkeit in Innerlichkeit und Würde. Innerlichkeit bedeutet, dass ich, Person seiend, in mir, bei mir, für mich bin, und zwar ausschließend. Sie bedeutet, dass niemand `hineinkommen´ kann, wenn ich ihm diese Innerlichkeit nicht öffne. Ja, von einem gewissen Punkt an kann ich sie nicht einmal weiter öffnen, selbst wenn ich wollte. Hier beginnt die innere Einsamkeit der Person, in die nur Gott Zutritt hat” (UdC, S. 38). „Innerlichkeit stellt die Tatsache der Selbstgehörigkeit nach der immanenten Seite dar. Sie hat auch eine transzendente: die Würde. Person steht wesenhaft über dem naturhaften Sach- und Wirkzusammenhang; sie ist `erhaben´. Sie ist so, dass sie Ehrfurcht fordert. Eben hierin ist sie allem Gewaltmäßigen, aller Rechnung, allem greifenden Einordnen entzogen“ (UdC, S. 39).
  • Diese “personale Eigenhörigkeit” sei aber - so Guardini - nicht gleichbedeutend mit “Autonomie.“: „Die hat nur Gott. Er ist absoluter und absolut sich gehörender, das heißt ab-solut personaler Geist. Der Mensch ist Person nur, weil Gott ihm Raum schafft für das Mysterium des sich selbst gehörenden geist-leiblichen Wesens ... Erst wenn der Blick von mir weg auf Gott geht, bin ich ich selbst. Darin, dass ich Gott anbete, werde ich. 'Wer seine Seele hergibt, wird sie gewinnen. Wer sie behält, wird sie verlieren'" (UdC, S. 39ff., Anm. 8). Ein weiteres Mal - diesmal gegenüber führenden Soziologen seiner Zeit, verweist Guardini also auf die für ihn zentrale Bibelstelle für seine persönliche Lebenshaltung und seinen persönlichen Zugang zur Personwürde aller Menschen: "Jeder Mensch ist Person. Er ist es nicht durch Begabung, oder gar durch Genialität. ... Der Mensch wird auch nicht erst Person durch seine ethisch-religiöse Haltung und Gesinnung. In solcher Anschauung wird - so in höchstem Masse durch Kierkegaard - der ontische Charakter der Person mit den ethisch-religiösen der bejahten, vollendeten, oder mit dem ariologischen der wertvollen, reichen Persönlichkeit verwechselt. Auch der Unsittliche, Unfromme ist Person. Der Mensch ist Person von Wesen. So bleibt sie unverlierbar. Er kann ihrer unwürdig werden; kann ein ihrer unwertes Leben führen; kann sie niederhalten, dass sie nicht zur Geltung komme. Alsdann wird er unwertig und wird unheil sein. Aber aufheben kann er die Person nicht" (1926, S. 130; UdC, S. 40f.).
  • Daher zeigte sich Guardini auch skeptisch gegenüber alle soziologisch-psychologischen oder mathematisch-naturwissenschaftlichen Begriffen von Ordnung, weil sie das Konkrete als solches zu erfassen versuchen, der Kritik am einseitig aktualistischen und dynamistischen Personalismus folgt eine Kritik an einem dynamistischen oder biologistischen Ordnungsverständnis. “Sie versuchen es dadurch, dass sie das Statische dynamisieren, die feste Gestalt, den umrissenen Zustand in eine gleitende Reihe von Bewegungen, Funktionen und Umformungen auflösen; dass sie das isolierte Einzelwesen auf Umwelt und Standort, den Einzelvorgang auf Wirkfeld und Maß-Rahmen be-ziehen, die selbst in Bewegung sind, so dass das Ganze ständig fließt. Dann versuchen sie es dadurch, dass das Konkrete, an sich begrifflich-wissenschaftlichem Denken unzugänglich, ein bestimmt geartetes Begriffsgefüge richten und darin den Intuitionsakt, ohne ihn selbst begrifflich zu zerstören, wissenschaftlich einordnen. Er vermag das Individuelle zu erfassen; und da er durch jenes Begriffsgefüge einen wissenschaftlichen Ort erhalten hat, ist auch sein Ertrag indirekt eingeordnet: die dialektische Methode” (UdC, S. 44. Guardini bezieht sich dazu auf Karl Mannheim: Das Problem einer Soziologie des Wissens, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 53, 3, S. 577ff. Und Cohn, Jonas: Theorie der Dialektik, Leipzig 1925). Doch das hierbei erfasste ist eben noch nicht Person und Ordnung von Personen, sondern Individuum und Ordnung von Individuen. "Das Nämliche gilt für den biologisch-organischen Ordnungsbegriff: Den Organismus als Ordnung baulich-wirkhafter Gleichzeitigkeit, wie als Form zeitlich verwirklichten Aufbaues und Zerfalles. Die systematische wie die genetische Ordnungseinheit 'Organismus' kann ohne weiteres bei einer Pflanze, beim Tier erfasst werden - Geht das beim Menschen als Person? ... Organische Ordnung besitzt wohl die biologisch-psychologische Tiefendimension; hat die Transzendenz des vitalen und psychischen Lebens. Aber das hat wiederum mit jener Innerlichkeit und Würde, die auf Person ruhen, nichts zu tun. ..." (1926, S. 135f.; UdC, S. 46). Guardini bestand also auf einem qualitativen Unterschied zwischen derartigen Anschauungen und der Bedeutung von personaler Würde und Innerlichkeit, die „aus der geistigen Tatsache des Verantwortung tragenden Selbst” stammten (UdC, S. 47).
  • Es gibt nach Guardini daher auch unpersonale Gesellschaftsordnungen, die sich nicht an dieser Selbstverantwortung der Person ausrichten. Eine solche Gesellschaftsordnung werde “in einer vollkommenen Weise im Tierstaat verwirklicht, etwa bei Bienen oder Ameisen. Da sind einzelne in sich geschlossene Wesen. Sie benehmen sich aber so, dass sie durch ihr Dasein und Tätigsein eine überindividuelle Ganzheit verwirklichen.” Diese Ordnung sei nun weder mechanisch, noch organisch, sondern gesellschaftlich, aber eben noch nicht personal. Denn in biologisch-gesellschaftlichen Ordnungsmodellen ist das Einzelne ersetzbar, das Missratene nutzlos. Dagegen bedeute die personale Eigenwertigkeit “nicht nur die unersetzbare Kostbarkeit des schönen Exemplars, des edlen Individuums. Sie haftet auch am missratensten Menschen. Sie stammt aus keiner von all den Qualitäten, die beim biologischen Individuum vorliegen" (UdC, S. 48f.).
  • In einer Anmerkung betonte Guardini daher auch ausdrücklich: “Alles bloße Rassendenken, alle Tüchtigkeitsethik usw. bleibt auch tatsächlich” im “bloßen Individualitäts-Maßstab” stecken (UdC, S. 48f. Anm. 13).
  • Sehr wohl habe die Gattung eine Bedeutung: "Ich wurzele wohl in meiner Gattung, bin von ihr getragen, verkörpere sie, aber ich decke mich nicht mit ihr. Ich bin nicht 'Fall' der Spezies 'Mensch'. Ich bin ich. Damit, dass sich eine Spezies Mensch erfüllt, ist für den Sinn meines Daseins nichts entschieden.” Darin liege gerade “die Illusion aller humanitären Lebensauffassungen“: “Der Sinn meines Daseins hängt wesenhaft an der Erfüllung meiner Person. Das Wort Christi: 'Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt' (und zur 'Welt' gehört auch die Menschheit als Gattung) 'aber an seiner Seele Schaden leidet?' - drückt nicht nur eine religiöse Wahrheit aus, sondern den natürlichen Grundbestand meines Wesens. Der Begriff 'historische Entwicklung' in seiner üblichen Anwendung vernichtet Person. Er ist ein biologischer Begriff. Das Nämliche gilt von den ihn näher bestimmenden bzw. entfaltenden Begriffen, wie Aufstieg, Höhepunkt, Niedergang; gilt von den Vorstellungen der historischen Periode oder Phase, des Wendepunktes usw. Das Nämliche ist zu sagen über den Begriff der historischen Kausalität, durch den das Verhalten eines Individuums aus dem Verhalten anderer Individuen oder aus der Umgebung bestimmt wird. Immer haben wir die Vorstellung eines Ganzheits-Wesens, d.h. eben der menschlichen Gattung, deren verschiedene aufeinanderfolgende Zustände in dieser Einheit aufgefasst und als Ordnungsablauf gedacht werden. In Wahrheit wird aber hier nicht Menschengeschichte gedacht, sondern biologische, Gattungsgeschichte. In Wahrheit arbeitet dieses Denken nicht mit menschlich-personalen, sondern mit biologischen Kategorien" (UdC, S. 50).
  • An dieser Stelle seiner Argumentation werde das Ganze auch für die Sozialwissenschaft im engeren Sinne interessant, denn “das Nämliche gilt für die Sozietät.“: „Auch hier die Vorstellung eines unbestimmten, gattungsmäßigen Gesamt-Lebewesens, des Volkes; dahinter sich noch unbestimmter abzeichnend die Menschheit. 'Die Gesellschaft' ist der Ordnungszusammenhang dieser Gattungseinheit und ihrer verschiedenen Sondergliederungen; die Individuen sind Gattungsverwirklichung; das Bleibende, Tragende, Sich-Selbst-Durchsetzende ist die Gattungsganzheit. Diese Denkkategorien sind biologisch. Das eigentlich entsprechende maßgebende Gebilde ist in Wahrheit der Bienenstaat; von ihm stammen die leitenden Vorstellungen. Ja es zeigt sich sogar die Neigung, die Ordnungskategorien nicht einmal aus dem biologischen, sondern aus dem mechanischen Bereich zu nehmen. So stoßen wir auf vielgebrauchte Vorstellungen wie die Staatsmaschine, den Beamtenstaat, das Menschenmaterial, die Mechanismen des politischen Lebens und so fort" (1926, S. 139; UdC, S. 51; 1926).
  • Während nun die Positivisten die Personalität im Unterschied zur Individualität bestreiten und die Idealisten in der Person im Unterschied zur Individualität nichts Wirkliches sehen, höchstens eine Geltungssache, die der Philosophie als Wissenschaft vom bloß Geltenden überlassen bleibe (UdC, S. 51ff.), hielt Guardini daran fest: “Allein den Menschen in eine reale, naturkausale und in eine ideelle, Wert-Sphäre auseinanderzureißen, geht nicht an. ... Als Person ist er Wirklichkeit. Als wirkliches Wesen ist er personal. Sein personales Wesen bestimmt sein ganzes, konkretes Dasein; alles, was er ist und tut. Von hier erhält alles im konkreten menschlichen Dasein seine Bedeutung. Die Personalität ist eine reale Bestimmung, dem konkreten Menschen zugehörig. Sie meint nicht nur einen auf das Sein aufgesetzten Wertcharakter, sondern einen Seinscharakter; einen Bereich der Wirklichkeit und eine Bestimmung, die von jenem auf das ganze Menschenwesen fällt. Jede Aussage, die sich mit dem Menschen als Menschen beschäftigt, muss die Bestimmung der Personalität in sich auf-nehmen. Tut sie das nicht, dann fasst sie nicht den Menschen, sondern irgend etwas anderes” (UdC, S. 53)
  • Diesen Gedankengang abschließend antwortete Guardini daher konsequenterweise auf die Frage: Wenn also die Personalität als gegebene Größe gelten kann, was bedeutet dann “personale Ordnung”? Guardini klärte diese Frage Guardini zunächst negativ: "Personale Ordnung bedeutet in keiner Weise weniger feste, gelockerte, verfallende Ordnung. Sie bedeutet keine Relativierung ins Subjektive. Freundschaft, Familie, Kreis, Werkgenossenschaft, Bund, Gemeinde, Staat sind objektive Ganzheitsformen, in ihrer Ganzheit qualitativ eigenständig gegenüber den Einzelpersonen ('Körperschaften').” Positiv gewendet bedeute dies dann aber: “Jener Ganzheitsverband, in welcher die Person steht - und sie steht mit ihrer Personalität in ihr, in der Ehe, in der Gemeinde, im Staat; nicht nur mit ihrer Physischen! - greift viel tiefer, ist voller, stärker, als der Organismus, in dem Organe, oder der 'Staat', in dem nur Ameisen stehen. Um wieviel stärker, rein dynamisch gesehen, ist die Bindung des Einzelwesens durch die Ordnung und die Selbsteinsetzung des Einzelwesens in sie, wenn der wirklich personal gebundene Einzelne für die Familie, für den Staat eintritt, als wenn es die Ameise für den Bau tut!” Und gerade in dieser Erkenntnis würden nun “wichtige Folgerungen für politische Theorie und Erziehung” liegen (1926, S. 46; UdC, S. 59).
  • Vor allem müsse sich personale Ordnung immer in ihrer Zweipoligkeit zeigen: „Impersonale Ordnung ruht im Ganzhaften, Überindividuellen: das Einzelne wird eingezwungen. Personale Ordnung als solche ist ganzheitlich-objektiv, aber zugleich individuell-subjektiv. Sie tritt an das Einzelwesen heran, muss aber zugleich von ihm hervorgebracht werden. Der Personal-Einzelne muss sie in seine Innerlichkeit, in seine Eigenart hereinnehmen, und sie von dort frei als Eigenordnung herausstellen. Nicht als von ihm geschaffen; nicht als autonom gesetztes Gesetz, das er der Wirklichkeit vorschriebe. Dann würde das Wesensmoment der entgegentretenden Objektivität zerstört - und das wird auch nicht gewahrt, wenn es in das transzendentale Subjekt verlegt wird. Zum Wesen der Ordnung gehört, dass der Einzelne gehorche, im reinen Sinne des Wortes; ... Aber diese objektive Ordnung, die eben damit für alle Geordneten gilt, wird personale Ordnung nur dann, wenn sie zugleich von jedem Einzelnen aus seinem einmaligen Sein heraus zur Freiheitsordnung gemacht wird. Ja genauer noch: Sie ist nur dann personal, wenn sie jene Produktion aus dem Einmaligen heraus nicht nur zulässt, erlaubt, erträgt, sondern fordert” (UdC, 1963, S. 60. Josef van der Velden wird sich später in seiner Volksvereins-Studie von 1932 auf diese Passagen berufen, siehe Josef van der Velden: Die berufsständische Ordnung. Ideen und praktische Möglichkeiten, 1932 (Volksverein für das katholische Deutschland), S. 73: „Sondern wiederum soll die für den Einzelnen wie für die Gesamtheit notwendige Bindung schon in der Freiheit nach Möglichkeit vorausgenommen und verwirklicht werden. `Der Personaleinzelne muß sie, wie R. Guardini einmal gesagt hat, in seine Innerlichkeit, seine Eigenart hereinnehmen und sie von dort frei als Eigenordnung herausstellen´“).
  • In einer Anmerkung versuchte Guardini dabei deutlich zu machen, dass in der Reihe der Ordnungsformen über der Kategorie der personalen Ordnung noch die der 'heiligen Ordnung stehe, “die 'Hierarchie', im eigentlichen Sinne des Wortes“: „Sie ist unmittelbar, seinsmäßig von Gott her gebildet, durch Gnade und Wiedergeburt, als Ordnung von 'Kindern Gottes' in der 'Kirche', in Christi Corpus mysticum. Sie ist mit natürlichen Personalkategorien schon nicht mehr zu fassen, sondern bedarf der geoffenbarten Kategorien des Kindes Gottes und der Kirche, qualitativ von jenen verschieden, und nur natürlicher Messung entzogen. In dieser Ordnung nun kommt die höchste, ja, religiös gesehen, die eigentliche Ordnung zum Ausdruck: Jene, die durch das innere Leben Gottes selbst gebildet wird; durch die Beziehung des göttlichen Wesens und seiner Personen, und dieser Personen untereinander (Trinität)" (UdC, S. 61, Anm. 17).
  • Wenn nun die neuzeitliche Ordnungslehre in der Reihe der Ordnungsformen sowohl die personale als auch die heilige Ordnung auszumerzen versuche, trage sie mit zur “im weitesten Sinne so zu nennende soziale Krisis” bei, die sich in der „Auseinandersetzung mit bestimmten gegebenen Ordnungen z.B. Kirche, Ehe usw.” zeige (UdC, S. 61). Guardini wies deutlich darauf hin, dass der Personalismus gerade keine Erfindung der Neuzeit sei, sondern bereits seit dem 13. Jahrhundert „das Faktum der Person - frei-gemacht schon durch die Erlösung - immer deutlicher hervorgetreten“ und sich die Person „ihrer Eigenständigkeit immer klarer bewusst geworden“ sei. In der Neuzeit sei lediglich die damit implizierte „Frage, wie sie in Ordnungen stehen, wie sie von Ordnungen gebunden sein könne", besonders scharf „in einem Angriff gegen die Autorität ausgedrückt; in einer Bezweiflung von deren Recht“: „Formuliert wurde dieser Zweifel im Satz, Bindung von Person durch Autorität sei wesensmäßig unmöglich, un-wertig, wider-wertig, Heteronomie.“ Nach Guardini handelt es sich dabei aber um ein Missverständnis im Blick auf die Frage nach dem Verhältnis von Ordnung und Person „Die Frage: Kann Ordnung die Person binden? lautet in Wahrheit: Welche Ordnung kann Person binden? Wenn ich unsere Zeit richtig verstehe, so ist das Eigentliche nicht der Zweifel an der Möglichkeit und Berechtigung personaler Ordnung überhaupt, der Angriff gegen eine Autorität überhaupt, sondern die Frage nach der echten, d.h. personenbezogenen Ordnung und Autorität im Unterschied von sachhaftem Denken und Verhalten. Dabei wird dann oft auch noch das Wort 'echte' Autorität missverstanden. Es wird der Versuch gemacht, die Echtheit ins Psychologisch-Mitreißende zu setzen; die Gültigkeit der Autorität abhängig zu setzen von der konkreten Eignung des Trägers; der Versuch, 'Amt' durch 'Führerschaft' zu ersetzen usf. Allein auch dies ist nur erst eine Vorform der Lösung. Ordnung, mithin auch Autorität, kann in ihrer Gültigkeit nicht an die konkreten Qualitäten des Trägers gebunden sein, sondern entstammt eigenem Bereich. Sie ist immer irgendwie 'von Gottes Gnaden'” (UdC, S. 62).
  • In der Aufsatzfassung wies Guardini in einer abschließenden Anmerkung geradezu prophetisch auf die Bedeutung hin, “die darin zu liegen scheint, dass gerade jetzt die Frauen in breiter Reihe in die Ordnungen des Staates, der Gesellschaft, des Schaffens usw. aktiv und mit unmittelbarer Verantwortung eintreten. Zum Wesen der Frau gehört, dass sie nicht, wie der Mann, die Bereiche scheidet, sondern Einheit ist. Sie wird das Absehen vom Personalen, das jenem leicht fällt, und mit dem er die Probleme umgeht, nicht so leicht vollziehen. Sie wird fordern, als Person in Staat, Werk, Beruf zu stehen. Und damit werden jene Probleme elementar aufgerührt (1926, S. 146-150). Die bis heute zu beobachtende unterschiedliche Zugangsweise zur Politik wird mit dem größeren Sinn von Frauen für die Personalität begründet.

Rezeption

  • Außer Spuren in einigen pädagogischen Werken (Aloys Henn, August Haag, Manfred Saller, Winfried Böhm, Berthold Gerner) bzw. philosophischen Werken (Peter Wust) hat der Aufsatz auch in der Christlichen Soziallehre Spuren hinterlassen, unter anderen bei Josef van der Velden: Die Berufsständische Ordnung, 1932; Elsbeth Niedenthal: Stand und Klasse in der katholisch-sozialen Auseinandersetzung, 1934; Franz Hermann Mueller: Soziale Theorie des Betriebes, 1952; Paul Jost: Die Auswirkungen des Mitbestimmungsrechtes der Arbeitnehmer, 1957; Nikolaus Monzel: Solidarität und Selbstverantwortung, 1959; Franz Klüber: Naturrecht als Ordnungsnorm der Gesellschaft, 1966; Franz Klüber, Katholische Gesellschaftslehre - Band 1, 1968; Friedrich Hermann Mueller: Heinrich Pesch, sein Leben und seine Lehre, 1980.
  • Bemerkenswert sind die Anführungen bei Joseph Klein in "Skandalon: um das Wesen des Katholizismus" (1958, S. 193), bei Hans Räber in "Othmar Spann's Philosophie des Universalismus" (1961, S. 177) und bei Annette Kuhn in "Die Kirche im Ringen mit dem Sozialismus, 1803-1848" (1965, S. 17)

Sekundärbibliographie

  • Aloys Henn: Vom Wesen und Wert der Jugendfreundschaft, Münster/Westfalen, Helios, 1928, zu Romano Guardini S. 7f., 17 und 105 (zu: Guardini, Der Gegensatz; zu: Guardini, Über Sozialwissenschaften und Ordnung von Personen; gleichzeitiger Verweis auf Georg Simmel und Romano Guardini) [Gerner 134] - [Monographie]/[Doktorarbeit] - https://books.google.de/books?id=izwVAQAAIAAJ;
  • Peter Wust: Romano Guardinis Metaphysik des Gegensatzes, in: Kölnische Volkszeitung 1926, Nr. 875 (= 28. 11. ) u . Nr . 894 ( =5.12.). Laut Gerner, Guardinis Bildungslehre, 1985, S. 31: "WUST zieht dazu den kurz nach dem Gegensatz-Buch veröffentlichten Aufsatz GUARDINIS "Über Sozialwissenschaft und Ordnung unter Personen"25 heran, in dem eine solche Metaphysik der Person „tiefbohrend“ und „in aller Breite entfaltet" sei. [26: Wust wörtlich: „Was Guardini in seinem Werk über den Gegensatz des öfteren als transempirische Tiefe oder als transempirischen Seinskern bezeichnet, das wird in diesem überaus tiefbohrenden Aufsatz in aller Breite als eine Metaphysik der Person entfaltet. Und zwar geschieht es mit einer so überraschenden Intensität spekulativer Bohrkraft, daß auch Max Schelers nach dieser Richtung gehende Versuche in der `Materialen Wertethik´, gemessen an den Gedanken Guardinis, ihre Schwerkraft verlieren. Überhaupt wird man vergeblich in der neueren philosohischen Literatur nach Gedanken suchen, die mit einer solchen Strenge und Klarheit die Metaphysik der Person herausarbeiten, wie es von Guardini in diesem Aufsatz geschieht." Weil WUST die Partien über die Frage nach dem "lebendigen Erkennen" am wenigsten gelungen scheinen, wird für ihn "Hauptkern" des Buches, der Qualität nach, das "System der Gegensätze", in dem sich GUARDINI "zu höchster philosophischer Meisterschaft" erhebe. Zu einer bestimmten Stelle innerhalb der Reflexionen zu Maß, Gleichgewicht, Harmonie meint WUST gar, GUARDINI führe zu einer "solchen Höhe spekulativer Lebensbetrachtung, daß man immer wieder staunend und ehrfurchtsvoll stillstehen muß, um in diese heiligen Mysterien des Daseins zu schauen". Merkwürdigerweise spielt aber dieser WUST-Aufsatz in der ganzen `Gegensatz´-Würdigung keine Rolle; auch die jüngere Sekundärliteratur verzeichnet ihn nicht. [27: Auffälligerweise ist dieser Aufsatz auch in der Wust-Bibliographie nicht enthalten; vgl. P. Wust: Gesammelte Werke, Bd. VIII, Leben und Werke, S. 480 f. - Ich selbst verdanke die Kenntnis dem bibliographischen Nachweis in E. Fastenrath: In vitam aeternam, St. Ottilien 1982, S. 738, Anm. 57, u. S. 747, Anm. 138.]
  • August Haag: Das Phänomen des Erzieherischen, 1936, S. 29: "Romano Guardini betont im besonderen noch das Moment der „Eigengehörigkeit in Bewußtsein, Freiheit und Tat, in Innerlichkeit und Würde“ (Schildgenossen 1926/2 „Ueber Sozialwissenschaft und Ordnung unter Personen“, S. 129)"