Anschauung

Aus Romano-Guardini-Handbuch

Anschauung ist für Romano Guardini synonym mit (einer Weise der) Kontemplation und die komplementäre Polarität zur Handlung (Aktion). Dabei gibt es eine Differenz zwischen den Begriffen Anschauung und Schau (Vision). Steht in der ersten, der mentalen Kontemplation, das AN-schauen im Vordergrund, ist es in der zweiten, der sensualen Kontemplation, das visionäre Schauen mit allen Sinnen.

Guardini entwickelt seinen Begriff der Anschauung an den lebensphilosophischen, expressionistischen, phänomenologischen, erfahrungs- und geisteswissenschaftlichen Vorstellungen seiner Zeit, insbesondere an Autoren wie Simmel und Rickert, Dilthey und Scheler, Spranger und Foerster. Im Hintergrund steht die Ideenlehre von Platon und Sokrates über Augustinus und Bonaventura.

Gegenstand der Anschauung

Den Gegenstand der Anschauung (wie auch der Schau) bilden die Gesamt-Ganzheiten: Gott, die Welt und der Mensch als Selbst, als Ganzes, aber auch in ihren Fragmenten. Damit steht Welt-Anschauung neben Gott-Anschauung und Selbst-Anschauung. Insofern wäre der Begriff Weltanschauung weniger missverständlich eben als Welt-Anschauung mit Bindestrich geschrieben.

Weitere Einordnung

  • Der Weltanschauung "geht es um Anschauung, Kontemplation, nicht um Handlung, Aktion." (Vom Wesen katholischer Weltanschauung, in: Unterscheidung des Christlichen - Band 1: Aus dem Bereich der Philosophie, Seite 27)
  • "Das Äußere, Sicht- und Hörbare am Kunstwerk ist ja nur Verständigungsmittel für das Eigentliche, für die innere Anschauung im Geiste des Künstlers. Auf die kommt es an; die muß auch in der Seele dessen aufgehen, der das Werk in sich aufnehmen will. Allein das innere, eigentliche, und das äußere, uneigentliche Kunstwerk decken sich nicht. Immer bleibt eine Kluft zwischen beiden. Im klassischen Werk ist diese auf ein Minimum beschränkt. Da geht die innere Anschauung in sehr hohem Maß in die äußere Bilderscheinung ein. Sie ist zu einem sehr großen Teil ausgesprochen. ... Das klassische Werk kann man kontemplativ aufnehmen; eine einigermaßen konzentrierte Aufmerksamkeit und Versenkung wird ihm schon sehr nahe kommen." (Wurzeln eines großen Lebenswerks - Band 1, Seite 362)

Einordnung des Anschauungsbegriffs in die Geistesgeschichte vor 1923

Einschlägige Werke (Auswahl)

Nicht aufgenommen wurden Werke, deren Titel lediglich auf Berichte "nach eigener Anschauung" Bezug nehmen, oder wo der Begriff Anschauungen synonym mit Meinungen, Ansichten bzw. Positionen zu einem Thema verwendet ist, also z.B. die Anschauungen einer Person über ein Thema. Folgende Werke setzen sich dagegen mit "Anschauung" im Kontext von, wenn auch sehr unterschiedlich gearteter Erkenntnis auseinander.

  • Kant (z.B. "Kritik der reinen Vernunft", 1781, vgl. dazu schon früh: Günther Thiele: Kant's intellektuelle Anschauung als Grundbegriff seines Critizismus, 1876; und Michael Joseph Zang: Ueber das Verhältnis der Anschauung zum Verstand in Kants Kritik der reinen Vernunft, 1892), Hegel (z.B. "Glaube und Wissen", 1802, vgl. dazu: David Barteczko: Hegels Antwort auf das kantische Verhältnis von Anschauung und Denken, in: Hegel-Jahrbuch, 2016) und Schopenhauer (z.B. "Die Welt als Wille und Vorstellung", 1819, vgl. dazu auch schon früh Johann Baptist Rieffert: Die Lehre von der empirischen Anschauung bei Schopenhauer und ihre historischen Voraussetzungen, 1914) gehören zu frühen Autoren, die über und mit dem Begriff der "Anschauung" philosophieren, diesen aber nur "mit"behandeln. Zu den frühen Werken des 19. Jahrhunderts gehören noch:
  • Johann Heinrich Pestalozzi: ABC der Anschauung, oder, Anschauungs-Lehre der Massverhältnisse, 1803, dazu: Johann Friedrich Herbart: Pestalozzi's Idee eines ABC der Anschauung als ein Cyklus von Vorübungen im Auffassen der Gestalten wissenschaftlich ausgeführt, 1802; 1804

Mit einem ersten Akzent auf dem Begriff der Weltanschauung, der ebenfalls seit Kant, Schelling, Novalis und Schleiermacher belegt ist, folgen gegen Ende des 19. Jahrhunderts zum Beispiel Arbeiten wie:

  • Carl Peters: Willenswelt und Weltwille: Studien und Ideen zu einer Weltanschauung, 1883
  • Heinrich Kratz: Das Weltproblem und seine Lösung in der christlichen Weltanschauung: Ein Beitrag zur Beförderung einheitlicher Welterkenntnis auf realistischer Grundlage, 1887

Mit der Jahrhundertwende wird der Anschauungs-Begriff im Neukantianismus, in der Phänomenologie und der Lebensphilosophie sowohl philosophisch, psychologisch und pädagogisch neu gefasst:

  • Ulrich Diem: Das Wesen der Anschauung: ein Beitrag zur psychologischen Terminologie, 1899
  • Karl Christian Friedrich Krause: Anschauungen: oder, Lehren und Entwürfe zur Höherbildung des Menschheitlebens, Band 4, 1902
  • Rudolf Eucken: Gesammelte Aufsätze zur Philosophie und Lebensanschauung, 1903
  • Heinrich Gomperz: Weltanschauungslehre: ein Versuch die Hauptprobleme der allgemeinen theoretischen Philosophie geschichtlich zu entwickeln und sachlich zu bearbeiten, 1905
  • Carl Düssel: Anschauung, Begriff und Wahrheit, 1906
  • Rudolf Eucken: Grundlinien einer neuen Lebensanschauung, 1907
  • Georg Rost: Geistiges Leben: Lebensanschauung auf Grund der Tatsache des Gewissens und der Idee der Entwicklung, eine Apologie des christlichen Glaubens, 1907
  • Ernst Eberhardt-Humanus: Die Polarität als Grundlage einer einheitlichen Lebensanschauung, 1907
  • Hermann Walsemann: Die Anschauung: Gesammelte Beiträge zur pädagogischen Psychologie, 1908
  • Ernst Seydl: Die Hauptprobleme der Weltanschauung, in: Der Katholik, 286, 1911
  • Wilhelm Dilthey: Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systeme, 1911
  • Otto Braun: Grundriss einer Philosophie des Schaffens als Kulturphilosophie: Einführung in die Philosophie als Weltanschauungslehre, 1912
  • Max Brod/Felix Weltsch: Anschauung und Begriff: Grundzüge eines Systems der Begriffsbildung, 1913
  • Clemens Baeumker: Anschauung und Denken: eine psychologisch-pädagogische Studie, 1913
  • Edmund Husserl: Wesenserschauung und individuelle Anschauung, in ders.: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Band 1, 1913
  • Wilhelm Dilthey: Weltanschauungslehre, 1914/1921
  • Heinrich Levy: Über die apriorischen Elemente der Erkenntnis. Erster Teil: Die Stufen der reinen Anschauung. Erkenntnistheoretische Untersuchungen über den Raum und die geometrischen Gestalten, 1914
  • Georg Simmel: Kant und Goethe: zur Geschichte der modernen Weltanschauung, 1916
  • Rudolf Eucken: Moral und Lebensanschauung, 1917
  • Dietrich Heinrich Kerler: Max Scheler und die impersonalistische Lebensanschauung, 1917
  • Georg Simmel: Lebensanschauung: Vier metaphysische Kapitel, 1918
  • Karl Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, 1919
  • Herman Nohl: Stil und Weltanschauung, 1920
  • Max Scheler: Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre: Moralia, 1922

Auch Heinrich Rickert setzt sich in dieser Zeit oftmals mit dem Anschauungsbegriff auseinander, auch wenn er ihm kein eigenes Werk widmete, vgl. dazu: Richard Kroner: Anschauung und Denken. Kritische Bemerkungen zu Rickerts heterothetischem Denkprinzip, in: Logos, 13, 1924/25, S. 92 ff.