Auch im ärztlichen Tun siegt die Wahrheit polyphon
Biographische Einführung
Der Internist, klinische Toxikologe und Umweltmediziner Max Daunderer (1943-2013) stammte aus einer alten Münchner Arztfamilie namens Gaenshirt. Max und Walter Daunderer nahmen nach der Volljährigkeit den Mädchennamen der Mutter an, da sie während ihrer Kindheit unter den Schmähungen der Mitschüler als „Gänsehirt, Schweinehirt“ gelitten hatten. Er war – besonders in seinem radikalen Kampf gegen die Verwendung von Pflanzen- oder Holzschutzmitteln in der Land- und Forstwirtschaft oder gegen Amalgam zur Zahnfüllung – ein keineswegs unumstrittener Arzt und Autor. Als Vorreiter eröffnete er 1974 die erste „Intensivstation für Vergiftungen“ und gab 1975 sein erstes „Giftlexikon“ für Klinikärzte heraus. Sein damit begründeter Ruf als Toxikologe machte ihn zum leitenden Notfalltoxikologen beim Dioxinunglück in Seveso. Und auch nach der Bhopal-Katastrophe behandelte er 1984 Tausende von Vergifteten. 1985 krönte er sein Wissen und seine Erfahrung mit der Habilitation als Klinischer Toxikologe an der Technischen Universität München. Während ihn der „Ökologische Ärztebund“ im Nachruf daher als Vorkämpfer der Umweltmedizin würdigte, galt er vielen Fachkollegen zunehmend als „Außenseiter“.
Unabhängig von seiner Beurteilung als Mediziner ist Daunderer für die Guardini-Nachwelt in dreifacher Hinsicht von Bedeutung:
- 1) durch seine biographische Verbindung als Kind zu seinem Vorbild Romano Guardini, die seine Berufung zum Mediziner begründen sollte;
- 2) weil er aus Gesprächen mit Guardini einiges über Guardinis Verständnis von Gesundheit und Krankheit überliefert, und
- 3) weil er – angestoßen durch seinen Vater - durch eine alternative Interpretation der Todesursache Guardinis einen Aphorismus von diesem zum Leit-Motiv für seinen eigenen Kampf gegen Gifte aller Art macht.
All dies ist seit längerer Zeit in der zunächst als Skizzen, dann auch als Einheit im Internet veröffentlichten Autobiographie Daunderers zu finden. Auf den etwas verwirrenden Seiten von Toxcenter.org finden sich sowohl die einzelnen Versatzstücke als auch eine PDF-Datei mit dem Gesamttext. http://toxcenter.org/artikel/Daunderer-Max-Autobiografie-Volltext.pdf. Zur Biographie Max Daunderers siehe auch den zugehörigen Wikipedia-Artikel: https://de.wikipedia.org/wiki/Max_Daunderer. Der Gesamttext ist mit 2011 zu datieren.
Am Krankenbett
Alles begann am Krankenbett des kleinen Max, dem Nachbarssohn des bekannten katholischen Religionsphilosophen Prof. Romano Guardini, der 1948 in den 2. Stock der Kunigundenstr. 51 in München-Schwabing eingezogen war. Im Treppenhaus dieses Hauses hatte Guardini 1950 - an anderer Stelle spricht Daunderer von „kurz nach seinem Einzug“ oder von Weihnachten 1949 oder datiert spät mit 1952 - Daunderers weinende Mutter getroffen, die gerade durch den Chefarzt der Kinderklinik erfahren hatte, dass ihr Sohn bald sterben werde. Guardini ging in die Klinik zu Max und dieser vertraute sich Guardini tatsächlich an: er habe sich bei der Visite des Chefarztes schlafend gestellt. Darauf habe dieser geantwortet, „dass Ärzte es besonders schwer hätten, die Wahrheit für ihr Tun zu finden“ und habe ihm leise zugeflüstert: „Die Wahrheit siegt!“. Guardini hat beim Chefarzt vorgesprochen, der sich daraufhin entschloss, den Jungen mit Penicillin zu behandeln – mit Erfolg. Nach dieser zeitlebens als Lebensrettung empfundenen Begebenheit durfte der Junge den gelehrten Nachbarn sogar in dessen sonst für Gäste weitgehend unzugänglichen Arbeitszimmer besuchen. „Ganz früh“ habe Guardini ihm die frohmachende Botschaft mitgeteilt, dass Max „als Kind ein Ebenbild Gottes“ sei, was Daunderer ungemein tröstete: „Denn als Kleinkind war ich – wie alle Kinder in der Großstadt - spindeldürr und nach meiner schweren Krankheit das fetteste Kind der Klasse. Aber, wenn Gott auch so aussieht, dann war es mir egal.“ Daunderer war außerdem davon überzeugt, „ohne dieses Elend und das Todesurteil des Kinderarzt-Professors hätte Romano Guardini sich sicher nie mit mir unterhalten: Glück im Unglück.“
Nicht nur im Blick auf die Zeitschiene erinnert sich Daunderer ungenau, sondern hält ihn zum Beispiel für einen „Jesuiten“. Daher sind wohl auch alle Guardini zugeschriebenen Aphorismen nachträgliche Paraphrasierungen des von Guardini Gemeinten. Was er für ihn persönlich bedeutete, scheint jedoch aufgrund der Eindringlichkeit sehr authentisch zu sein.
Zunächst sah der Junge die Schüchternheit des „Kirchenfürsten“ und Philosophen Guardini: „Ich sagte ihm einmal: „Sie sind mein Papst“, da ich von Mutter hörte, er sei ein hoher Kirchenfürst. Romano weinte daraufhin leise und sah mich glücklich an. Seither wusste ich, wie zart alte Männer sein können. Später erfuhr ich, dass er Probleme mit dem Papst hatte, nie mit Leuten im Haus oder der Strasse gesprochen hat und ich der einzige war, der in seine Arbeitszimmer gehen durfte. Ich verstand ihn kaum, da er extrem leise sprach und hoch geistig war. Damals wollte ich auch Philosoph werden. Ich fragte ihn ständig, was Philosophen tun. … Er war ein liebenswürdiger, leutescheuer, kleiner Mann.“
Dann beeindruckte ihn die Tiefsinnigkeit seiner Predigten: „Einmal ging ich mit Mutter am Sonntag zu seiner Predigt in der Ludwigskirche. Er sprach so leise, dass ihn niemand verstand. Dies sagte ich ihm dann. Daraufhin soll er einige Male lauter gepredigt haben. … Seine Predigten beeindruckten mich sehr, da er zwar leise aber sehr tiefsinnig über die Schwierigkeiten sprach, die elementaren Lebensweisheiten den Menschen zu vermitteln.“
Schließlich bewunderte er seine Großherzigkeit: „Seine zwei Haushälterinnen“ – vermutlich hielt er Guardinis Sekretärin Frau Chrzanowski für die „zweite“ Haushälterin – „hatten nach dem Krieg die Aufgabe, jedem Bettler eine heiße Suppe, ein großes Stück Brot und eine Mark zu schenken. Als Kind beobachtete ich durch das Guckloch unserer gegenüber liegenden Wohnung, wie die Armen durch ein Runenzeichen an der Türklingel nur an dessen Türe läuteten und nicht an den acht anderen im Haus. Alle bedankten sich sehr höflich für die „großherzige Spende“, jedoch warfen sehr viele das Brot in den Müll und kippten die Suppe aus dem Stiegenhausfenster, um nur mit dem Geld weiterzugehen. Verstehen konnte ich das nicht, denn alle litten damals sehr unter dem Hunger.“
Alles in allem war Guardini für Daunderer der „Handwerker der Seele“ und „Wegweiser für eine gesunde Seele“ schlechthin: „Er kam mir vor wie Albert Einstein der Seele. Unbedingt wollte ich seinen Wissensstand über die Psyche des Menschen erreichen. … Er lehrte mich, dass es außer unseren herrischen und strafsüchtigen Religionslehrern in derselben Kirche Leute gab, die mit Grips und guten Gedanken die Seele in die richtige Bahn lenken konnten. Er war für mich der beste Psychotherapeut, den es je gab. Beichte verstand er als Psychoanalyse. Meist betete er als ich ihn besuchte. Das Gebet verstand er als Eigenanamnese und Fahrplan für die Zukunft. Gott war sein fiktiver Psychoanalyst. Er lebte wie Jesus und wollte als `Handwerker der Seele´ Jedermann seine Hilfestellung anbieten. … So meinte er später, mein Vater sei für ihn ein Vorbild, da er als Arzt besonders fürsorglich mit sozialen Problemen umgeht und sich weniger mit Medikamenten befasst. Arzt sein erklärte er als `Helfer in allen Lebenslagen´, Pfarrer als `Wegweiser für eine gesunde Seele´.“
Manche von diesen nachträglichen Deutungen von Guardinis Person mögen missverständlich oder überhöht sein, aber Guardini stellte nicht nur die Weichen für den Berufswunsch des Jungen, sondern auch für dessen Werte und Haltungen in der Ausübung dieses Berufs. So führte Daunderer „lebenslang eine kostenlose Giftinformation rund um die Uhr durch – immer mit dem Gedanken an Romano Guardini.“
Einige Leitsätze und ein Leitspruch für ärztliches Tun
Guardini „hinterließ“ ihm darüber hinaus Einsichten, die Daunderer in zehn zentrale Leitsätze für das Verständnis ärztlichen Tuns fasste:
- 1. „Wahrheit (ist die) Voraussetzung für ärztliches Tun.“
- 2. „Krankheit ist ein völlig normaler Zustand bei jedem Menschen.
- 3. Kranke kennen Körper und Seele viel besser als immer Gesunde.
- 4. Voraussetzung einer Heilung ist der Wunsch danach und die volle Mitarbeit des Kranken.
- 5. Wer diese Zusammenhänge nicht sieht, dem kann ein Arzt nicht helfen.
- 6. Schwere Krankheiten kann man erst heilen, wenn schwere Komplikationen offenkundig wurden.
- 7. Dem Kranken darf sein Kranksein nicht zum Vorwurf gemacht werden.
- 8. Heilen ist ein Akt, der dem Leben hilft, nicht als Reparatur eines Maschinendefekts.
- 9. Jeden Menschen gibt es nur einmal, er ist unersetzlich.
- 10. Kranke bringen das Heilungsgeschehen in Gang durch ihr Vertrauen zum Arzt.“
Nach Guardini – so Daunderer - „ist Krankheit nicht nur ein physiologischer, sondern auch ein psychologischer, genauer gesagt, ein personaler Vorgang. Das unwillkürliche Gefühl kommt leicht in die Lage, dem Kranken sein Kranksein zum Vorwurf zu machen. Die Krankheit ist nicht nur ein biologisches, sondern auch ein biografisches Geschehen. Der Arzt muss um diese Dinge wissen. Natürlich nicht so, dass er überall Psychogenesen vermutet oder in der Biographie des Kranken herumwühlt. Angesichts gewisser Modeerscheinungen wird man sogar Zurückhaltung vor dem Innenleben des Kranken anempfehlen.“ Guardini habe demnach eine Psychiatrisierung des Patienten daher als unethisch abgelehnt. Außerdem habe sein „Tutor“ Guardini ihm gesagt: „Der ärztliche Beruf darf nur auf dem ruhen, was normalerweise verlangt werden kann: sorgfältiger wissenschaftlicher Vorbereitung, ehrlicher Prüfung, persönlicher Opferbereitschaft. Ist mehr da, dann umso besser; die Grundlage kann es nicht sein.“
Als Guardini 1954 innerhalb Münchens in die Merzstraße 2 umzog, hatte er dem nunmehr Elfjährigen zum Abschied noch einen persönlichen Leitspruch gewidmet: „DIE WAHRHEIT DES DENKENS besteht darin, einen Gedanken nach seiner ganzen Tiefe, Höhe und Breite durchzuführen und vor keiner Konsequenz zurückzuscheuen. DIE WAHRHEIT DES TUNS ist anders. Sie besteht darin, die schmale Stelle der Möglichkeit zu suchen und die eigene Kraft in das rechte Maß zu bescheiden, wissend, dass der vollzogene Ansatz durch die innere Logik des Lebens selber weitergeführt wird.“ (Eintrag vom 2.5.43, in dem posthum von Felix Messerschmid herausgegebenen Buch „Wahrheit des Denkens und Wahrheit des Tuns. Notizen und Texte 1942 – 1964. Aus nachgelassenen Aufzeichnungen“ (1980), dann auch in: Romano Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, Mainz 1995, S. 129).
Nachdem Guardini ausgezogen war, haben Daunderers Eltern auch seine Wohnung gemietet und der Sohn Max habe Guardinis Arbeitszimmer bezogen. „Meinen Schreibtisch stellte ich dort auf, wo seiner stand. Der Blick aus dem Fenster in die Abendsonne nach Westen erinnerte mich an die Spitzweg-Bilder. Sehr beeindruckt war ich vorher von seiner riesigen Bibliothek in der Garage, die wir auch bezogen.“
Wahrheit ist polyphon und braucht daher auch „alternative Diagnosen“
Nun hatte bereits Daunderers Vater die Diagnose der „Trigeminusneuralgie“ bei Guardini aufgrund der wechselnden Lokalisation, der Beteiligung der Kieferhöhlen sowie der fürchterlichen, ebenfalls wechselnden Zahnschmerzen abgelehnt. Er kam zum Schluss, dass die auf Eiter sitzenden Zähne Auslöser wären. Dem behandelnden Zahnarzt unterstellte Daunderers Vater Interesselosigkeit an einer Hilfe und sah dies darin begründet, dass Guardini nicht versichert gewesen sei. Daher sei Guardini - nach Daunderers Vater - schließlich auch an einer Sepsis durch seine unbehandelten Eiterzähne gestorben. Bei seinem Sohn Max blieb seither eine große Skepsis gegenüber seinen für die Zähne zuständigen Kollegen und setzte sich „durch das Leiden von Guardini“ das Ziel, „Eiterzähne selbst erkennen und dringend entfernen lassen“ zu können. Diese Sichtweisen des Vaters wie des Sohnes sind unter medizinischen Gesichtspunkten sicher zu hinterfragen, aber sie folgen konsequent der Guardinischen Art der Wahrheitssuche. Dort wo einzelne Stimmen der Wahrheit verdrängt oder ausgeblendet werden, gilt es diese erst recht und beharrlich ins Blickfeld zu rücken. Dieser Umgang mit der Wahrheit ist die not-wendende Folge eines Denkens im „Geist der Feinheit“. Dieser wisse, wie Guardini bereits 1924 betonte, „die Wahrheit ist polyphon, erst aus dem verschlungenen Gesträhn vieler Stimmen klingt sie heraus. Für ihn ist das Leben einer Seele mitten in ihrer Umgebung eine Sache beständig neu zu schaffenden Ausgleichs. Er weiß um die "Oikonomia" des Lebens.“ Es gehe in allem „um lebendigen Geist, der Leben spürt, Maß hält, Grenzen und Unterschiede sieht, das Gewicht von Wert und Wirklichkeit und Wort fühlt. Der Ehrfurcht hat vor dem Geschehen. Ehrfurcht vor jeder Seele; vor dem Einmaligen, was sich in ihr und nur in ihr zuträgt. Überall: Im Religiösen, im Denken, in der Kunst, im Politischen, Sozialen…“[1] - und eben auch im ärztlichen Tun, um jener umfassenden, vielstimmigen Wahrheit zu dienen, die siegt. Wie ein Mantra zieht sich Guardinis dem Kind zugeflüstertes Wort durch die Autobiographie Daunderers: „Die Wahrheit siegt!“ Angesichts aktueller Entwicklungen im Bereich von sogenannten „alternativen Fakten“ und „alternativen Wahrheiten“ sei betont, dass es für Guardini nur EINE, wenn auch eben VIELSTIMMIGE Wahrheit gibt, lediglich die Diagnosen sind alternativ und die Wahrheit eben komplex.
Vielleicht mag Daunderer in seinem konkreten Engagement mitunter über dieses Ziel und damit über Guardinis Grundhaltungen der Polyphonie in der Betonung der vernachlässigten Stimmen der Wahrheit hinausgeschossen sein, in seiner Autobiographie vermittelt er noch einmal einige weitere Facetten zu Guardinis Biographie und Gestalt.
[1 Romano Guardini, Heilige Gestalt. Von Büchern und mehr als von Büchern [1924], in: ders.: Wurzeln eines großen Lebenswerks, Band 2, 2001, S. 186. Vgl. dazu auch die Erinnerung Josef Weigers: „Schon der Student Guardini brannte von der Leidenschaft des Gedankens. Wer ihn vor bald einem halben Jahrhundert kennengelernt hat, weiß, daß er von diesem eisernen Willen zur Wahrheit in nichts abgewichen ist; im Gegenteil, dieser Wille wurde immer härter. Was ich am Freunde bewunderte, war die prachtvolle Einheitlichkeit des Denkens und dann - seine Vielseitigkeit; und zwar Vielseitigkeit der Anlage. Romano Guardini ist nie ein Vielleser gewesen, der sein Gedächtnis mit Büchern ausgestopft hätte. Eben das nicht; in ihm schlummerte der Keim zur echten Universalität, das heißt, er fand den Schlüssel zu allem. Ich entsinne mich eines Gesprächs, in dem der Student das wundervolle Wort geprägt hat, das ich nie vergaß und ungezählte Male als wahr empfunden habe: die Wahrheit ist polyphon. Es könnte als Leitspruch über seiner Lebensarbeit stehen. Diese abgründige Einsicht bewahrte ihn davor, ein Fanatiker zu werden, wozu er die Möglichkeit in sich trug; denn seine Logik war nicht danach, Zugeständnisse zu machen.“ (Josef Weiger, Erinnerungen an Romano Guardini. Zur Verleihung des Friedenspreises, in: Der christliche Sonntag 38, 21.9.1952, 298)]