Polarität
Polarität als Begriff verwendet Guardini synonym zum Begriff Gegensätzlichkeit, bevorzugt aber den Begriff "Gegensatz", weil ihm der Begriff "Polarität" ihm "zerredet" erscheint (vgl. Der Gegensatz, 1925, S. 24, FN 3). Als zusätzliches Problem kommt hinzu, dass in der dialektischen Rede auch auf Widersprüche bezogen von Polaritäten oder von polarem Aufbau gesprochen wird (siehe: Landschaft der Ewigkeit, S. 126), in der Kritik zum Beispiel auch von "gnostischer Polarität" (siehe: Das Christusbild der paulinischen und johanneischen Schriften, S. 207). Dabei spricht Guardini dann aber weniger von Polaritäten, sondern von Polarisationen. Zur Rede von den dem Gegensatz bzw. der Polarität zugrundeliegenden Polen siehe dort.
Definition
Insbesondere in seinen Ethik-Vorlesungen definiert Guardini Polarität: ""Polarität" ist ein Verhältnis zweier Momente, die einander entgegengesetzt sind, aber zugleich mit einander eine Einheit bilden. Ihr Unterschied wie ihre Einheit sind also relativ; sie bilden zusammen eine das lebendige Ganze aufbauende "Spannung"." (Ethik, S. 76)
Verwendung
Immerhin haben gibt es laut Guardini-Konkordanz dennoch 75 Textstellen, in denen von polar, Polarität oder Polarisation die Rede ist.
Der Gegensatz
Im Hauptwerk der Gegensatzlehre verwendet er den Polaritätsbegriff über die Begriffsbestimmung (S. 24) hinaus nur noch zwei Mal:
- S. 139: In Abwechslung mit dem Begriff Grundgegensatz spricht Guardini von "Grundpolarität": "Hinter den beiden Gegensatzreihen steht schließlich ein letzter einfacher Gegensatz: die Grundpolarität des Lebens überhaupt. Doch kann sie in einem einzigen Begriffspaar nicht mehr gefaßt werden. Jeder Versuch dazu würde sie entleeren. Wollen wir sie begrifflich fassen, so kann das nur durch eine Vielheit von Begriffen geschehen, eben durch die Reihen. Es handelt sich um den Grundgegensatz des Lebens selbst, der umfassend nur in Symbolen ausgesprochen werden kann. Nicht in solchen wie »Natur und Geist«, oder »Geist und Materie«. Das sind überhaupt keine Gegensätze, sondern Wirklichkeiten, die in ganz anderem Verhältnis zueinander stehen und, solange sie lebendig sind, die genannten Gegensätze jeweils in sich enthalten. Jenen letzten Gegensatz kann man nur in Bildern aussprechen."
- S. 149: Guardini sieht das "primär gedanklich Gegebene" als Füllhaftes und als Intuition mit dem Begriffsakt und Begriffssinn in einer Polarität stehend.
Polaritäten alles Menschenlebens
Polarität der moralisch-rechtlichen und der physisch-mystischen Auffassung in der Gottesbeziehung
- Die Lehre des heiligen Bonaventura von der Erlösung (1915/1921), S. 17: Bereits in seiner Doktorarbeit erkennt er in der Erlösungslehre Bonaventuras zwei "polar zueinander gestellte" Gedankenreihen: "die moralisch-rechtliche und die physisch-mystische Auffassung aller Beziehungen des Geschöpfes zu Gott."
Polarität von Beschaulichkeit und Tätigkeit
- Zum Begriff der Ehre Gottes (1918), in: Wurzeln eines großen Lebenswerks, Band 1, S. 145: "Diese innere und äußere Ehre Gottes wird gemäß einer durchgehenden Polarität alles Menschenlebens doppelten Charakter tragen: Einen beschaulichen und einen tätigen."
Polarität von Manismus und Animismus
- Religiöse Erfahrung und Glaube (1934), in: Unterscheidung des Christlichen - Band 2: Aus dem Bereich der Theologie, S. 52: Polarität des "manistischen" und des "animistischen" Theorie der religiösen Erfahrung: "In den beiden Theorien zeigt sich eine Polarität: dort ist das Numinose eine amorphe, strömende, sich überall verdichtende Macht, hier sind es "Seelen", geformte Gestalten, zentrierte Wesen mit Eigenart; ein charakterisiertes Dasein führend; mit Initiative, mit Willen und Gesinntheit, freundlicher oder feindlicher, und mit großer Macht. Sie stehen hinter den "ersten" Gestalten der Dinge, in ihnen, in Relation zu ihnen ... Vielleicht gehen die beiden Theorien auf einen Strukturgegensatz zurück, der nicht mehr aufgelöst werden kann."
Polare Ordnung von Gemeinwesen und Persönlichkeit (Individuum)
- Vom Sinn der Kirche/Die Kirche des Herrn (1921), S. 42: "So ist die Gemeinschaft der Kirche wesentlich persönlichkeitsbezogen; und die christliche Persönlichkeit richtet sich wesentlich auf die Gemeinschaft. Beides zusammen ist das neue Leben. Die Tatsache des elektrischen Stromes ist nicht anders möglich als polar geordnet. Ein Pol kann ohne den anderen nicht sein, ja nicht gedacht werden."; vgl. dazu später auch Ethik, S. 851: Demnach ist das Gemeinwesen "eine Gestalt des Bestehens und Tätigseins, die sich zu der des Individuums polar verhält."
Polarität von Nietzsche und Kierkegaard
- Der Ausgangspunkt der Denkbewegung Sören Kierkegaards (1927), in: Unterscheidung des Christlichen - Band 3: Gestalten, S. 44: Guardini erkennt in Nietzsches und Kierkegaards Positionen "nicht absolute, sondern polare Stellungnahmen."
Polarisierung von "Natur" und "Kultur"
- Briefe an Josef Weiger, S. 302 (Brief vom 28.07.1929): Guardini schreibt an seinen Freund, dass ihm die Arbeit am Kulturkolleg zwar schwer gefallen sei, er aber gut vorangekommen sei und allerlei gefunden habe, "u. a. die Polarisierung von »Natur« und »Kultur« als der beiden Sphären des Menschlichen, angeregt durch Bachofen."
Dionysische, buddhistische und romantische Polarisierungen
- Religiöse Gestalten in Dostojewskijs Werk (1932), S. 195: "Jene Seins- und Gotteserfahrung, die bei den anderen beiden in dionysischer Bejahung aufgeht, nimmt bei Kirilloff negative Form an. (37: Wie steht es mit Buddhas Nirwana? Liegt nicht zwischen dem Allgott des Brahmanismus und dem »Nichts« des Buddhismus die gleiche Polarität? Ist dessen Zeitentrücktheit und allen Spannungen enthobene Ruhe nicht ebenso ein Symptom festgehaltener Unerlöstheit, wie die brahmanische Hingabe - von welcher die Orgasmen der polytheistischen Götterkulte vielleicht doch Enthüllungen sind?)"; vgl. dazu später in: Ethik, S. 1015: Guardini sieht in der "dionysischen" und der "buddhistischen" Haltung zwei Haltungen, die "polar zueinander" stehen: "Die eine sagt: Ich will mit dem All ganz eins werden, und offenbart damit, daß die Einheit nicht da ist ... Die andere: Ich will aus allem heraus, und offenbart damit, daß die Einheit nicht angenommen werden kann ... Beides Grenzfälle, welche den wahren Charakter der angeblichen ursprünglichen Natureinheit offenbaren. Es ist die Einheit einer Bannung."
- Religiöse Gestalten in Dostojewskijs Werk (1932), S. 315: Guardini erläutert in seinem Dostojewskij-Buch die Folgen falscher Polarisationen, nennt dabei ausdrücklich die "romantischen Polarisationen" unter diesem Begriff: "Bei Dostojewskij dringt das chaoshafte Element als solches durch. Dieses Wort soll aber nichts von Un-Wert an sich haben. Es hat jeden formalistischen Affekt abgestreift und wird in dem Sinne gebraucht, den es im christlichen Dasein haben muß, worin nicht nur die »Form«, sondern auch deren Gegensatz - »Gegensatz«, nicht Widerspruch! - erlöst ist. In deutlicher Absage also an einen uralten Irrtum, der für das Abendland zu tieferem Verhängnis geworden ist, als ohne weiteres ermessen werden kann: an die Gleichsetzung nämlich von »Form« mit »Wesen«, »Wert«, »Wirklichkeit«, samt allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben - welcher Gleichsetzung die andere gegenübersteht, »Chaos«, aber nun nehme ich richtiger den Terminus meiner Gegensatztheorie, »Fülle« sei soviel wie »Unwesen«, »Unwert«, »Schein«, »Finsternis« ... Dieser Irrtum - doch er war nicht nur theoretischer Fehler, sondern auch lebendige Entscheidung, Haltung, »Politik« - hat weittragende Folgen für das Abendland gehabt, wie denn auch die Gegenbewegung all der Irrationalismen, der romantischen Polarisationen, der Verdächtigungen des Geistes von ihm gerufen ist. Die eigentlich geforderte Spannungslage hat das neuere abendländische Denken nicht mehr gewonnen. Immer hat es nach der einen oder andern Seite nachgegeben und ist so den letzten Problemen des Denkens wie des Handelns ausgewichen. Darum ist auch noch kein Europa im eigentlichen Sinne, sondern die geistigen und menschlichen Bereiche stehen, trotz aller Organisation, unverbunden und feindlich vor einander."
- vgl. dazu ausführlicher: Erscheinung und Wesen der Romantik (1948), in: Wurzeln eines großen Lebenswerkes, Band 3, S. 366 f.: "Die Romantik drückt dieses Verhältnis gern durch den Begriff der Polarität aus. Dessen Gebrauch offenbart aber auch die Grundgefahr der romantischen Haltung: Polaritäten zu sehen, wo keine sind. Der Drang in die Weite der Welt und der in die Innigkeit des Heimbereichs sind eine. Sie gehören zusammen und bestimmen das Verhältnis der Persönlichkeit zum Lebensraum. Keine Polarität aber besteht zwischen Gut und Böse bzw. dem Wollen des Guten und des Bösen. Hier ist kein dialektischer Gegensatz, der, bei aller Bevorzugung der einen Möglichkeit, im besonderen Fall doch beide als Elemente eines Ganzen begreift, sondern ein Widerspruch, der das Entweder-Oder fordert. Davon, daß er gesehen und vollzogen wird, hängt objektiv die Würde der geistigen Ordnung, subjektiv der sittliche Charakter der Existenz ab. Der Romantiker ist aber tief versucht, auch aus Gut und Böse ein dialektisches Verhältnis zu machen, und sie auf die Totalität des Daseins hin zu relativieren. Dahin zielen z.B. Gedanken wie der, das Böse sei nötig, um aus der Gebundenheit des Naturzustandes in die Mündigkeit des Bewußtseins und der Freiheit zu gelangen, und es sei weiterhin nötig, um das Leben in Bewegung zu halten. Nach der gleichen Richtung liegt die Polarisierung von Einsicht und Irrtum, wodurch Wahr und Falsch, letztlich Ja und Nein auf den Zusammenhang des Lebens hin relativiert werden, während es sich doch wieder um den absoluten Widerspruch handelt, der das Entweder-Oder fordert. (Nicht umsonst hat Sören Kierkegaard, der das romantische Existenzproblem am tiefsten durchschaut hat, mit seinem Kampf um die Selbstbefreiung des romantischen Charakters hier eingesetzt; mit dem absoluten Entweder-Oder gegen die „universelle Mediierung“ Hegels.)Eine andere, nicht viel weniger verhängnisvolle Verwechslung ist die zwischen Polen und Wesensschichten oder Seinsbereichen, z.B. Seele und Körper, Geist und Materie. Die Hintergründe und Konsequenzen dieser häufig eintretenden Verwechslung sind zu kompliziert, um sie auch nur andeuten zu können. (Auf ihr ruht der abendländische Dualismus, die Gnosis in all ihren Formen.) Jedenfalls hat ein Verhältnis wie das zwischen Geist und Stoff, Seele und Körper mit Polarität nichts zu tun."
Die Polarität von Oben und Innen
Welt und Person (Anfang 30er/1939)
- Im Rahmen seiner Darstellung der Grundpolarität des menschlichen Daseins von Oben und Innen schreibt Guardini: "Diesem Oben, welches mit dem Wertvollen zusammenfällt, darf kein Unten; dieser Höhe darf keine Tiefe gegenübergestellt werden. Geschieht das nämlich, dann entsteht sofort die dualistische Polarisation, welche die Zone des bösen Unten für das Ganze retten will, indem sie es zum notwendigen Gegenpol des guten Oben macht; beide mit Geist und Materie gleichsetzt; Wert und Widerwert als wesenhafte Tellmächte des Alls nimmt; die Ordnung ins Ästhetische verfälscht und alles, was Entscheidung heißt, aufhebt. ... sie würde dem Entscheidungscharakter ausweichen, Gut und Böse als Pole des Daseins auffassen und damit den Wert an sich verraten, der zum Widerwert nicht im polar-konstruktiven Gegensatz, sondern im Widerspruch steht." (S. 49 f.)
Die Bekehrung des Aurelius Augustinus (1935)
- S. 38: "So liegen die echten Pole des existentiellen Raumes und der Welt der Werte, nicht im "Oben" und "Unten". Die Bestimmungen "Oben" und "Unten" bedeuten Verhältnisbeziehungen und Maßunterschiede. Polarität ist etwas anderes. Zu ihr gehört die Wert-Ebenbürtigkeit in der Sinn-Verschiedenheit. Dadurch unterscheidet sich z.B. die christliche Gegensätzlichkeit, wie sie dem johanneischen Daseinsbau zugrunde liegt, von jeder dualistischen."
Die Existenz des Christen (Vorlesungen nach 1945)
- S. 364: Später stellt Guardini das Wort "Tiefe" nicht mehr zum "Unten", sondern zur Innerlichkeit und schreibt: "Übrigens wird, sobald wir die Innerlichkeit der geistigen Tiefe realisieren, noch etwas anderes deutlich. Wenn ich sage: Diese Wahrheit ist „tief“, dann polarisiert sich diese geistige Tiefe und ein Gegenbereich wird deutlich, den ich ausdrücke, indem ich sage: Die Wahrheit ist „hoch“. Diese „Höhe“ ist keine Verringerung jener „Tiefe“, sondern deren Gegenpol. Die beiden Aussagen drücken verschiedene Charaktere der Wahrheit aus. Das eine Mal die des Verborgenen, nur durch ein Eindringen zu Erschließenden, Innigen, das andere Mal die des Hoheitsvollen. Der Bereich der Innerlichkeit tritt damit in ein Verhältnis der Polarität und Resonanz zu dem des Hohen und Erhabenen."
Gnostische Polarität
Das Christusbild der paulinischen und johanneischen Schriften (1940)
- S. 143: "Sobald die grundlegenden Entscheidungen zwischen ja und Nein, Wahr und Falsch, Gut und Böse in dieses Fluidum geraten, tritt an Stelle des Entweder-Oder der Übergang, und aus der Entscheidung wird die »Synthese«. Nimmt man noch die Neigung zum Mythologischen hinzu; zur Hypostasierung der Ideen und Werte, so daß Gut und Böse, Wahr und Falsch, Oben und Unten, Sein und Nichtsein, Licht und Dunkel usw. zu Wesenheiten oder Mächten werden, die miteinander ringen und doch zugleich einander stützen, dann entsteht aus alledem eine universelle Polarisation des Daseins."
- S. 207: Dagegen betont Guardini im Blick auf die johanneischen Schriften: "In alledem fehlt aber jede Spur einer gnostischen Polarität."
Kritik des Dualismus bei Rilke
- Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins (1941/1956), S. 93: Auch dort, wo Guardini in Rilkes Duineser Elegien einen Dualismus erkennt, kritisiert Guardini: "So können wir nicht anders, als sagen, daß die Konstruktion falsch und verhängnisvoll ist – so falsch und verhängnisvoll, wie der ganze Dualismus überhaupt, der ja als Gnosis die abendländische Geistesgeschichte durchströmt. Durch sie verliert das Böse den Charakter, den es in Wahrheit hat. Es ist nicht der fruchtbare Gegenpol zum Guten, sondern dessen Negation: so besteht zwischen beiden Bestimmungen nicht die spannungshaltige Einheit der Polarität, sondern das Entweder-Oder des Widerspruchs. Dieses kann nicht zur Synthese gebracht, sondern in ihm soll entschieden werden." (S. 93)
Ethik (Vorlesungen nach 1945)
Unterscheidung zwischen Polarität, Widerspruch und Existenzschichtung
- Ethik, Zweites Kapitel: Das Böse:
- S. 67: "Wir wollen - um das bereits Gesagte zu vertiefen - schon hier auf die Gefahr aufmerksam werden, die sich im Gang der Geistesgeschichte immer wieder verwirklicht: das Gute und das Böse in das Verhältnis der Polarität zu bringen und die Ganzheit des Daseins auf diesem aufzubauen. Polar, d.h. gegensätzlich stehen zueinander Momente wie Rechts und Links, Struktur und Dynamis usw. Bestünde ein solches Verhältnis, dann wären beide polar stehenden Momente notwendig. Das Böse ist aber nicht der Gegenpol, sondern der Widerspruch zum Guten. Zwischen dem Bösen und dem Guten steht nicht die Polaritätsspannung mit ihrem relativen "Sowohl-als-auch", sondern die Entscheidung mit ihrem radikalen "Entweder-oder"."
- S. 76 f.: Guardini erläutert in dieser Passage noch einmal deutlich den Unterschied von Polarität zu Widerspruch einerseits und von Polarität und Existenzschichtung andererseits.
Polarität des Erlebnisses eines Menschenwesens und des Daseins überhaupt
- Ethik, S. 158: "Je größer der Mensch, desto weiter der Spielraum seines Fühlens. Eine Gipfelungsform erreicht es im Weltgefühl; d.h. Empfindung des Alls und des eigenen Selbst, sofern es in diesem All steht. Oft wird es durch eine menschliche Beziehung ausgelöst, sodaß sich eine Polarität zwischen dem Erlebnis dieses Menschenwesens und dem Dasein überhaupt bildet; wie das z.B. in jeder echten Liebe der Fall ist, die über das Begehren hinaus ins Personale geht."
Polarität von Sprechen/Ton und Schweigen/Stille
- S. 237: Guardini spricht "der Polarität zwischen Sprechen und Schweigen"; vgl. dazu auch zur Polarität von Ton und Stille: "Wir haben schon öfter über die innere Polarität der Lebensphänomene gesprochen. Sie vollziehen sich nicht von einem einzigen Punkt her, sondern von zweien, die sich gegeneinander unterscheiden und zugleich einander bedingen und zwischen ihren Benennbarkeiten das Unbenennbare, das Eine und Ganze umfassen. Ein solches Phänomen ist auch hier; denn der Ton braucht die Stille, um richtiger Ton zu sein – ebenso wie die Stille des Tönens bedarf, um in ihrem Wesen deutlich zu werden." (Wer ist ein Gentleman? Ein Brief (1956), in: Wurzeln eines Lebenswerks, Band 4, S. 314)
Unwillkürlich polare Ordnung der Figuren- bzw. Gestalten-Welt
- Ethik, S. 518: "So ist die ganze Wirklichkeit ein beständiges Erstehen und Zurücktreten, Erscheinen und Verschwinden von Gestalten. Sie zeigen sich in unzählbarer Menge. Jedes Ding, jeder Vorgang, jede Beziehung ist eine solche. Genauer gesagt, ein Gefüge von solchen, denn sie verbinden sich mit einander, übergreifen einander, unterbauen einander. Ein ungeheures Bild, was sich von hier aus vor dem Geiste erhebt: dieses beständige Erstehen und Zurücktreten, Sich-Verbinden und Auseinandergehen der Gestalten. Hier wollen wir mit unseren Überlegungen ansetzen: Alles Menschliche baut sich in solchen Figuren auf. Diese Figurenwelt denken wir uns unwillkürlich polar geordnet. Auf dem einen Pol steht der Jeweils-Einzelne, also für jeden von uns Er-selbst. Auch er ist bereits ein Kosmos, ein Gefüge von unabsehlichem Reichtum. Zugleich aber auch eine Einheit, die nicht zerlegt werden kann, ohne sein Leben zu zerstören: ein "Individuum", d.h. ein unteilbares Ganzes. Ihm steht als umfassendste Figur das Leben der Menschheit gegenüber - jene Gegebenheit, welche ihrem Werden nach von der Geschichte behandelt wird. Sie enthält die Gestalten der einzelnen Menschen, samt den Beziehungen, die zwischen ihnen bestehen."
Polarität von Mann und Frau
- Ethik, S. 678-682: Kapitel "4. Die Struktur des Geschlechtlichen: die Polarität"
- Ethik, S. 909: Abermals zur Polarität von Mann und Frau: "Dabei darf auch nicht vergessen werden, daß zu jeder Höflichkeitshandlung des Mannes eine entsprechende Antwort der Frau gehört. Wenn es nirgendwo einseitige Lebensbezüge gibt, dann am wenigsten hier, wo die stärkste Polarität wirksam wird, die es im Leben gibt."
Polarisierungen im Gottesgedanken
- Ethik, S. 1139: "Die Gegenvorstellung dazu ist jene, welche sagt: Der Gottesgedanke entspringt aus dem Bedürfnis des Menschen. Der Mensch bedarf eines Wesens, das alles darstellt, was er selbst noch nicht ist. Am Bild dieses Wesens kommt er allmählich zu sich selbst und wird fähig, die Aufgabe zu erfüllen, die ihm gestellt ist. Das Dasein gewinnt also seinen ersten Ausdruck im Menschen. Von ihm her polarisiert es sich; der Mensch erzeugt sich gegenüber das Absolute."
Dante
Polarität des Weggehens und Zurückkommens im Selbersein
- Dantes Göttliche Komödie (Vorlesungen nach 1945), S. 72: "Die Psychologie des Selberseins ruht auf der Polarität des »Weg-von-sich« und des »Zurück-zu-sich«. Das bloße Bei-sich-sein verkrampft. (Kleist, das Marionettentheater). Da öffnet das Weggehen den Raum, in welchem gleichsam von hinten her das Selbst frei herauskommen kann ... Andererseits bleibt aber auch wahr, daß das bloße Hinausgehen zerstreut. Dann stellt die Reflexion den Ernst des Selbst wieder her."
Polarität im Schauen von Dante und Beatrice
- Dantes Göttliche Komödie (Vorlesungen nach 1945), S. 99. Guardini sieht eine Polarität der beiden Augenpaare von Dante und Beatrice: "Was deren Geschehen trägt, ist Dantes Wandern, noch mehr aber sein Schauen. Oft ist es, als ob seine ganze Persönlichkeit sich in sein Auge konzentrierte – ebenso wie bei Beatrice Blick und Lächeln immer wieder für ihre ganze Person stehen. In der Polarität dieser beiden Augenpaare, baut sich, ich möchte sagen, der episch-visionäre Raum auf, worin das Geschehen der Göttlichen Komödie verläuft."
Polarisierung von Punkt und Allheit
- Dantes Göttliche Komödie (Vorlesungen nach 1945), S. 421: »Der Punkt«, der nicht-faßbare Kleine, jeder Bestimmung sich Entziehende, ist das Nämliche, wie die weltumfassende Weite des Empyreums. Er repräsentiert das »Nichts«, das Absolut-Einfache, alle Bestimmungen übersteigende, Unbenennbare der Mystik, sofern er zum »Etwas« einfachhin, dem Unendlich-Großen, All-Seienden polarisiert ist. Das innerweltlich Faßbare wird ebenso durch die unvollziehbare Größe wie durch die unvollziehbare Kleinheit transzendiert. Beide Male löst das Meßbare und das Vollziehbare sich ins Übermeßbare und Unvollziehbare auf und wird zum Symbol für das, was wesenhaft jenseits von Maß, Ort und Zeit liegt, das An-sich Gottes."; vgl. dazu auch: Die religiöse Sprache (1959), in: Sprache - Dichtung - Deutung/Gegenwart und Geheimnis, S. 22: "Der Mystiker will das Ganze des für ihn Wichtigen in die kleinste, aber ebendeshalb intensivste Einheit zusammenfassen. So wird "der Punkt" Ausdruck für jenen Aspekt des Göttlichen, welcher dem der umfassenden Allheit polar gegenübersteht: die vollkommene Integration ins Absolut-Kleine."
Dualistische Polarität
- Das Phänomen des Lichtes in der Göttlichen Komödie (1956), in: Landschaft der Ewigkeit, S. 126: "Für den Dualismus war das Böse ein Prinzip: eine der beiden Mächte, welche die Welt aufbauen, jener des Guten polar gegenüberstehend. Augustinus hat in langer Arbeit erkannt, daß es kein Prinzip des Bösen gibt."
Polarität von Vater- und Mutter-Gestalt
- Religion und Offenbarung (1958), S. 38: Guardini geht von der Polarität der Vater-Gestalt und der Mutter-Gestalt aus: "Aus dem großen von dorther bestimmten Zusammenhang heben sich die Gestalten heraus, in denen sich jene Mächte verdichten: die des Vaters als des Zeugenden, Schützenden, Ordnenden; des Trägers der Waffe und der Autorität. ihm gegenüber die der Mutter als der Empfangenden, Gebärenden, Nährenden, Hütenden. Von beiden gebaut und seinerseits sie umgebend, das Haus mit seinem Mittelpunkt, dem Herd. Die Polarität weitet sich ins Kosmische aus, indem der Himmel als die väterliche Urmacht und die Erde als die »große Mutter« angeschaut wird, aus deren Verbindung das Leben mit seiner Ordnung, den Gezeiten des Jahres hervorgeht."
Jedes menschliche Tun polarisiert sich
- Die Maschine und der Mensch (1959), in: Unterscheidung des Christlichen - Band 1: Aus dem Bereich der Philosophie, S. 272: "In menschlichen Dingen gibt es keine nur nach einer Richtung gehende Wirkung. Jeder Wirkung entspricht eine Gegenwirkung. Jedes menschliche Tun polarisiert sich, und zwar schon im ersten Ansatz."
Späte Verwendungen im Kontext der gnostischen Grundidee
Gebet und Wahrheit (Predigten in St. Ludwig, gedruckt 1960)
- S. 93: "Gott selbst wird entthront und in eine ebenso törichte wie lästerliche Polarität zu »Satan« gestellt. Philosophen und Dichter, selbst solche von höchstem Rang, haben so gedacht und gemeint, damit den Sinn des Daseins zu erfassen; in Wahrheit haben sie alles ästhetisiert."; vgl. dazu auch schon Ethik, S. 80: Abschließend betont er abermals: "Alle Polarisierungen von Gut und Böse kommen dadurch zustande, daß dem Guten sein letzter Ernst genommen wird, und damit dem Bösen auch. Alles wird ästhetisiert."
- S. 191: Wie immer betont Guardini auch hier, dass die "böse Ewigkeit" bzw. die "Verdammnis" keinen eigenen Sinn bedeute und daher auch nicht "polar zu dem der guten Erfüllung stünde."
Theologische Briefe an einen Freund
- S. 11: Im ersten Brief: Wie kann neben Gott Endliches sein? vom 4.8.1963 schreibt Guardini: "Wenn aber Gott die Endlichkeit und in ihr als ihre Gipfelung den Menschen erschafft, dann erschafft Er auch die Freiheit und mit ihr die Möglichkeit des Bösen. Das Böse ist aber nicht, wie die Gnostiker gemeint haben, der polare Gegensatz, gar die - psychologische oder metaphysische - Antivalenz des Guten, so daß es zur Fülle der Endlichkeit gehörte, sondern der Widerspruch zum Guten."
- S. 51: In seinem siebenten Brief "Vom Widerstand gegen Norm und Bindung" vom 21.6.1964 fasst Guardini noch einmal sein grundsätzliches Gegensatzverständnis zusammen: "Gegensatz ist das Verhältnis, in welchem die verschiedenen Elemente des Konkreten zueinander stehen. Sie spannen sich gegeneinander und setzen zugleich einander voraus. Es ist der komplementäre Gegensatz, die Polarität. Widerspruch ist die Entscheidung zwischen dem was sich gegenseitig ausschließt: Gut und Böse, Ja und Nein, Sein und Nicht-Sein usw. Die oben geschilderte Haltung leugnet den Widerspruch bzw. erklärt ihn zum schöpferischen Gegensatz, zur konstitutiven Polarität. Diese Haltung zeigt sich schon in alledem, was Gnosis heißt, in der Alchemie, Theosophie. Programmatisch tritt sie hervor bei Goethe; für ihn gehört das Satanische in Gott selbst hinein; das Böse ist eine Grundkraft der Welt, ebenso notwendig wie das Gute; der Tod nur ein anderes Element jenes Ganzen, dessen polare Gegenseite Leben heißt."
Tagebucheintrag
- Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, S. 286: Tagebucheintrag vom 20.1.64: "Die Gegensatzlehre wird noch Zukunft haben. Überall die gnostische Grundidee wirksam, daß die Widersprüche Polaritäten sind: Goethe, Gide, C.G. Jung, Th. Mann, H. Hesse ... Alle sehen das Böse, das Negative ... als dialektische Elemente im Ganzen des Lebens, der Natur."