Polyphone Wahrheit
Aus Romano-Guardini-Handbuch
Guardinis Rede von der polyphonen Wahrheit bzw. der Polyphonie der Wahrheit (auch vielstimmige Wahrheit bzw. Vielstimmigkeit der Wahrheit ist originär von ihm geprägt worden. Insbesondere Josef Weiger hat auf die Bedeutung dieses Theorems innerhalb Guardinis Denken hingewiesen.
Verwendung
- Weiger über Guardini: "Ich entsinne mich eines Gesprächs, in dem der Student das wundervolle Wort geprägt hat, das ich nie vergaß und ungezählte Male als wahr empfunden habe: die Wahrheit ist polyphon. Es könnte als Leitspruch über seiner Lebensarbeit stehen. Diese abgründige Einsicht bewahrte ihn davor, ein Fanatiker zu werden, wozu er die Möglichkeit in sich trug; denn seine Logik war nicht danach, Zugeständnisse zu machen." (Josef Weiger, Erinnerungen an Romano Guardini. Zur Verleihung des Friedenspreises, in: Der christliche Sonntag 38, 21.9.1952, 298);
- "Darum geht's, daß der "Geist der Feinheit" wieder erstehe! Der fest ist und geschmeidig, zart und stählern. Der weiß: Die Wahrheit ist polyphon, erst aus dem verschlungenen Gesträhn vieler Stimmen klingt sie heraus. Für ihn ist das Leben einer Seele mitten in ihrer Umgebung eine Sache beständig neu zu schaffenden Ausgleichs." (Wurzeln eines großen Lebenswerks - Band 2, S. 186)
- "Es ist ein Genuß, das Buch zu lesen. Aus den Quellen heraus gearbeitet, von sicherem Urteil geleitet, sagt es klare Wahrheit, zumal dem, der zu lesen versteht. Auch dieses Buch ist polyphon, und die vielen mitschwingenden Ober- und Unterstimmen geben ihm gerade den überzeugenden Klang. Man glaubt ihm." (Wurzeln eines großen Lebenswerks - Band 2, S. 189)
- "Wir sind auch primitiv geworden in der Auffassung von der Wahrheit. Wir haben keinen Sinn mehr für die Umfassenheit des Wirklichen, und dafür, daß Denken und Reden ihm nur gerecht werden kann, wenn es polyphon ist." (Wurzeln eines großen Lebenswerks, Bd. 2, S. 249)
- "Eine Grundgefahr der geschilderten Haltung besteht nun gerade in der Neigung, »Widersprüche« zu »Gegensätzen« zu machen und als notwendige Elemente des Daseinsganzen zu verstehen. Daß diese Gefahr die Kehrseite einer ebenfalls wesenseigenen Kraft, nämlich des Sinnes für den Spannungsreichtum und die Vielstimmigkeit des Daseins bildet, braucht nicht besonders betont zu werden." (Das Christusbild der paulinischen und johanneischen Schriften, S. 139)
- "Je weiter sich die Haltung der lebendigen Wahrhaftigkeit entwickelt, desto voller strömt das Leben in sie ein, und die Natürlichkeit, von welcher die Rede war, besteht dann darin, daß die verschiedenen Antriebe, Leistungs- und Überwindungsmomente zu immer selbstverständlicherer Einheit zusammenlaufen.) # [Randnotiz:] Polyphonie." (Ethik, S. 321)
- "Zum Mut und zur Klarheit des Wahrheitssprechens muß das Gefühl für den Zustand des Anderen hinzukommen; die Verantwortung für das, was in ihm auf mein Sagen hin passiert; der Wunsch, daß es von ihm richtig gehört und in sein Leben hineingenommen werde. # [Randnotiz am Übergang zum nächsten Absatz:] Polyphonie der Tugend." (Ethik, S. 323)
- "Schon die tägliche Sprache enthält diese Mannigfaltigkeit der Bedeutungen, und sie wird um so reicher, je lebendiger der ist, der sie spricht. Für die Weisheit bildet sie oft das Mittel, das eigentlich Gemeinte zu sagen. Wenn es aber eine Redeform gibt, die polyphon genannt werden muß, dann die des Dichters, und die Interpretation hat die Aufgabe, diese Vielstimmigkeit herauszuholen." (Sprache - Dichtung – Deutung / Gegenwart und Geheimnis, Seite 235)
- "Die lebendigen Dinge sind nie einfach, sondern immer Gefüge vieler Elemente; Akkorde von Eigenschaften, eingebettet in Beziehungen zur Um-Welt und Um-Zeit, auf sie wirkend und von ihnen her bestimmt. So sind auch die lebendigen Gedanken polyphon, eine Vielfalt von Schichtungen, Stufungen und Beziehungen." (Wurzeln eines großen Lebenswerks - Band 4, Seite 315)
Rezeption
- In der Guardiniforschung wurde der Satz aus einer Rezension der zwanziger Jahre und durch den frühen Verweis von Josef Weiger auf eine Begegebenheit der Tübinger Studentenzeit erst durch Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz in ihrer Guardini-Biographie (1985, S. 67 - https://books.google.de/books?id=yAUmAQAAIAAJ) aufgegriffen, so dann auch bei Lina Börsig-Hover (1987 - https://books.google.de/books?id=zh_lAAAAMAAJ).
- Ins Zentrum systematischer Überlegungen wurde dieser Gedanke bislang noch nicht.
Weitergehende Verwendung
- Ob Hans Urs von Balthasars Buch "Die Wahrheit ist symphonisch. Aspekte des christlichen Pluralismus" von Guardinis "Die Wahrheit ist polyphon" inspiriert ist, bleibt unklar, ist aber möglich.
- Joseph Rattner spricht 1996 - ohne auf Guardini zu verweisen - in seiner Schrift "Ein Therapeut gibt Antwort zweimal das Theorem "Die Wahrheit ist polyphon".
- Matthias Laarmann schreibt 2004 in einem Aufsatz zu Predigten des heiligen Bonaventura im Anschluss an Guardini, aber weiterführend davon, dass im Mittelalter durch die dreistimmige Verkündigung des Wortes Gottes durch legere, disputare und praedicare "die eine göttliche Wahrheit in dreifacher Spiegelung zwar polyphon, aber nicht polydox zur Geltung gebracht worden sei." - https://books.google.de/books?id=OsLznA0by90C&pg=PA718
- 2012 spricht - im erkennbaren Anklang an Guardini, aber ohne auf ihn zu verweisen Ugo Perone in seinem Text "Das Spiel der Philosophie. Randbemerkungen zu einem Text von Jean Greisch" (Trigon, hrsg. von der Guardini-Stiftung, Bd. 10, 2012, S. 150 - https://books.google.de/books?id=Y-tkBAAAQBAJ&pg=PA150) vom Werdegang der Wahrheit, "der die Vielfalt der Stimmen aufnimmt und bewahrt. Diese Polyphonie der Stimmen, die Anteil nehmen an der Wahrheit , ist ein entscheidendes Charakteristikum des Prozesses der Wahrheitsfindung."
- 2013 gebraucht P. Bernward Deneke FSSP zwar nur auf Hans Urs von Balthasar und nicht auf Guardini verweisend - Guardinis "Polyphone Wahrheit" neben Balthasars "Symphonische Wahrheit" - https://www.blog-frischer-wind.de/2013/06/polyphone-wahrheit.html: "Die Wahrheit muss symphonisch und polyphon sein, weil sie katholisch, allumfassend ist. Eine einzelne Stimme reicht nicht aus, solche Fülle angemessen zu verkünden. Es bedarf der verschiedenen und durchaus auch gegensätzlichen Stimmen, die sich aber – wie in einer kunstvollen Fuge Johann Sebastian Bachs – zur höheren Einheit zusammenfinden und verbinden. Ganz anders freilich liegt die Sache, wenn aus den Kontrasten und Kontrapunkten des Chorwerkes Widersprüche werden; wenn sich die einzelnen Stimmen emanzipieren, aus der Gestimmtheit und dem Rhythmus des Ganzen ausscheren; wenn sich die Spannungen nicht mehr in Harmonie auflösen wollen, sondern in trotziger Dissonanz verharren. Unter solchen Umständen noch von der „Polyphonie der Wahrheit“ zu sprechen, wäre völlig verfehlt. Auch die komplexeste Komposition bewahrt ihre Authentizität nur durch die Treue zur Partitur. Und wie könnte man das Chaos als Kosmos, den Unsinn als Logos bezeichnen? Leider geschieht aber genau dies immer wieder. Innerkirchlich wird nicht selten ein Pluralismus gerühmt, der schon längst nicht mehr von dem gemeinsamen Zeugnis für die eine geoffenbarte Wahrheit Gottes beseelt ist. Aus dem Stimmenwirrwarr kann man so ziemlich alles heraushören. Jeder findet etwas, das seinen Wünschen und Vorstellungen entgegenkommt. Auch an Wahrem und Gutem fehlt es durchaus nicht. Doch der Chor als Gesamtheit legt kein eindeutiges Zeugnis mehr ab. So verkommt die Polyphonie zur formlosen Masse, in der das Klare verschwimmt und das Leuchtende trübe wird."
- Christian Wiese hielt 2014 in Berlin und München Vorträge zum Thema "Polyphone Wahrheit und dialogisches Denken im jüdischen Denken des. 20. Jahrhunderts".