Kontinuität im Werk Guardinis
Aus Romano-Guardini-Handbuch
Version vom 2. April 2023, 19:15 Uhr von Helmut Zenz (Diskussion | Beiträge)
Kontinuität in Leben und Werk Guardinis
Bruch und Zäsur versus bruchlose Einheit
- Es ist ohne Frage richtig, dass Guardinis Nachkriegsleben und -werk "vom Geschehen des Nationalsozialismus" und von der "Entdeckung und Anwendung der Atombombe" geprägt worden ist, aber nicht - wie Horst Fuhrmans meinte (Horst Fuhrmans: Romano Guardini zum Gedenken, in: Burgbrief 31, 1968, S. 34) - im Sinne eines Zerbrechens seines Werkes und des dahinter stehenden Willens, "der zu einem neuen Menschentum drängte", auch nicht im Sinne einer "Zäsur", die Guardini vom ontologischen Denker zum geschichtsbezogenen Denker werden hätte lassen - wie Eugen Biser mutmaßte (vgl. dazu Reber, Joachim: Die Welt des Christen. Philosophische Untersuchungen zum Welt-Konzept Romano Guardinis, Paderborn/München 1999, S. 11).
- Ebenso wenig stimmt, dass Guardini versucht habe, durch die nun folgenden Vorlesungen seine bisherige unpolitische Haltung zu korrigieren, "etwas nachzuholen, etwas gutzumachen", wie Hans Maier behauptete, ohne sich wirklich quellenbasiert mit dem Guardini vor und während des Dritten Reiches auseinandergesetzt zu haben (Hans Maier: Diskussionsbeitrag, in: ders. (Hrsg.): Totalitarismus und Politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs, Paderborn u.a. 1996, S. 186).
- Auch die sogenannten "nachhaltigen Selbstkorrekturen", die Biser beobachtet haben will, entbehren jeglicher Grundlage, denn es gab weder die von ihm konstatierte Verschiebung vom Problem "Person und Welt" zu "Person und Macht", noch fehlte in Guardinis Buch "Das Ende der Neuzeit" jene Geschichtlichkeit, die Biser erst in dessen Schrift "Annahme seiner Selbst" zu entdecken glaubte (Eugen Biser: Romano Guardini. Wegweiser in eine neue Epoche, in: Seidel, Walter (Hrsg.): „Christliche Weltanschauung“. Wiederbegegnung mit Romano Guardini, Würzburg 1985, S. 226-232). Guardini hatte die Frage der "Macht in der Welt" schon in seinen politischen Aufsätzen der zwanziger Jahre gestellt und explizit beantwortet, und auch die Geschichtlichkeit wird schon lange vor dem Buch "Das Ende der Neuzeit" geklärt, so dass es einer späteren Entwicklung erst gar nicht mehr bedurfte.
- Es standen bei Guardini von Anfang an begriffs- und wesensontologische Studien neben geschichtsbezogenen Überlegungen.
- Alfons Knoll schlägt sich bei aller Relativierung am Ende doch grundsätzlich auf die Seite von Biser schlägt: Der Satz „Wieder war es EUGEN BISER, der an einigen Stellen auf interessante Akzentverschiebungen der Werkgeschichte hingewiesen hat, die auch dann wichtig bleiben, wenn sich zeigt, dass die wesentlichen Grundentscheidungen dieselben geblieben sind.“ (Knoll, Glaube und Kultur bei Romano Guardini, a.a.O., S. 25) ist ein Widerspruch in sich, da Biser nicht nur von interessanten Akzentverschiebungen an einigen Stellen des Werks ausging, sondern von einem Bruch. Von „leichten Akzentverschiebungen“ sprach dagegen von Balthasar. Auch sein Vorwurf an Schmucker-Koch und Börsig-Hover, sie würden Guardinis Werk wie einen monolithischen Block vor den Leser stellen, ist in dieser Pauschalität nicht nachzuvollziehen. Dagegen ist Knolls Kritik, sie würden einseitig intuitiv eine immanente Systematik herausarbeiten, zumindest für Börsig-Hover zutreffend. Insgesamt nimmt Knoll aber seinem Plädoyer für die werkchronologische Einordnung die gerade erworbene Glaubwürdigkeit (Knoll, Glaube und Kultur bei Romano Guardini, a.a.O., S. 25). Er übersieht dabei zudem, dass Biser sich in seinem Urteil das Recht herausnahm, bestimmte Aspekte von Guardinis Denken einfachhin als antiquiert auszublenden.
- Ein derartiges Vorgehen lehnte zum Beispiel Heinz Robert Schlette ausdrücklich und völlig zu Recht als Verfälschung ab. Schlette hielt zunächst an der Bruchlosigkeit des Denkens Guardinis fest (Heinz Robert Schlette: Romano Guardini. Werk und Wirkung, Bonn 1973, S. 22/33). Erst 1985 formulierte auch er in Bezug auf Biser und gegen Hans Urs von Balthasar gerichtet, dass es unwahrscheinlich sei, "dass Guardini ... seine Ansichten und Positionen im Grunde nicht variiert oder geändert haben sollte." Schlette rief daher zu weitergehenden "Fallstudien" auf.
- Doch Hans Urs von Balthasar sprach selbst ja ausdrücklich davon, dass zwar "eine namhafte Entwicklung seiner Gedanken, gar eine Änderung seiner Grundpositionen ... zwischen 1920 und 1960 nicht wahrnehmbar" sei, es aber sehr wohl leichte Akzentverschiebungen und eine Sprachveränderung zu mehr Nüchternheit gebe: "Akzente werden leicht verschoben, die Sprache wird nüchterner, ernster. Die Forderungen bleiben dieselben. So wird ihm gegenüber die Entscheidung leicht; zu distinguieren ist wenig; man stimmt ihm zu oder lehnt ihn ab. Die Frage stellt sich nicht, ob er heute anders geurteilt hätte als gestern und vorgestern" (Hans Urs von Balthasar: Romano Guardini. Reform aus dem Ursprung, München 1970, S. 11).
- Ich kann nicht ganz nachvollziehen, wie Gunda Brüske angesichts der Positionen von Biser und Maier davon sprechen kann, dass sich die bisher erschienenen Studien weitgehend die These von Balthasar zu eigen machen (Brüske, a.a.O., S. 27), da Balthasar seine These auf das gesamte Werk erstreckt hat und Bisers und Maiers Äußerungen zur Weltanschauung Guardinis die Anthropologie sehr wohl mit einschließen. Unabhängig davon halte ich die Schlussfolgerung für problematisch, dass der Ausgangspunkt einer „bruchlosen Einheit“ die Parallelisierung der Schriften erlaube würde, da damit ja die Kontextualisierung noch nicht geleistet ist. Die gleichen Positionen nach dem Ersten Weltkrieg und nach dem Zweiten Weltkrieg zu vertreten, besagt ja noch nichts über die Motivation und die Wirkungen dieser Äußerungen. Brüske selbst geht dagegen mit Knoll von früh gefundenen Grundpositionen aus, die in unterschiedlichen Werkphasen modifiziert werden. Während Knoll von drei Phasen (bis 1923, 1923-1939, nach 1939) ausgeht, kündigt Brüske am Beginn ihres Buches die Überprüfung dieser Phasen für Guardinis Beschäftigung mit dem Menschen an. Ich kann nicht erkennen, dass sie dies in ihrem Resümee eingelöst hätte. Auch überzeugen mich Knolls Phasen nicht wirklich, da sie eigentlich die Intensität der Beschäftigung aufgrund der Tätigkeit als Professor mit neuen Akzenten und Modifizierungen verwechselt, die ich weder bei Guardini im Blick auf die Anthropologie noch auf die Kulturphilosophie erkennen kann. Die konkretere Ausformulierung und materielle Anreicherung einer These hat nicht notwendigerweise mit einer Akzentverschiebung zu tun. Eine Modifizierung und die Setzung neuer Akzente bedeutet etwas anderes, nämlich: Veränderung, Abänderung, Neukonstruktion, Überarbeitung eines Modells. Nach der Beschäftigung mit den Frühschriften zieht Brüske genau das Resümee einer stärkeren Systematisierung und begrifflichen Abgrenzung unter Beibehaltung der Grunddimensionen, allerdings ohne auf die Frage einer Modifizierung und Akzentsetzung einzugehen (Brüske, a.a.O., S. 98). Wenn sie am Ende der werkchronologischen Entfaltung der Anthropologie abermals davon spricht, "dass er sehr früh unter verschiedenen Aspekten über die Person nachgedacht, dass er die unterschiedlichen Aspekte jedoch erst in den dreißiger Jahren in ein systematisches Gefüge gebracht" habe und darin eine Modifizierung der These Balthasars für seine Anthropologie sieht, "dass Guardini tatsächlich die Grundeinsichten seiner personalistischen Anthropologie bereits in den zwanziger Jahren gefunden hatte, dass er aber erst in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre zu einem systematischen Entwurf gelangt ist, der in der Entfaltung und wechselseitigen Durchdringung der frühen Grundeinsichten als Ganzes mehr ist als seine Teile und der deshalb durchaus als eine Entwicklung angesprochen werden kann“, sehe ich ein grobes Missverständnis der These Balthasars, da dieser ja selbst von einer leichten Verschiebung der Akzente und von einer Entwicklung des sprachlichen Stils ausgeht und ansonsten die Kontinuität allein in den Forderungen zwischen 1920 und 1960 in den Vordergrund stellt.
- Ob es sich aber um "Variationen" und "Änderungen" innerhalb einer grundsätzlich bruchlosen Einheit oder um leichte „Akzentverschiebungen“ und "Sprachveränderungen" innerhalb derselben Forderungen handelt, macht faktisch wenig Unterschied. Die eigentliche Aussageabsicht Balthasars bezieht sich ja auf die Alternative von Zustimmung und Ablehnung. Ich schließe mich daher nach den bisherigen Studien den Sichtweisen des frühen Schlette und Balthasars an.
- Auch Helmut Kuhn sprach von einer beispielhaften “bruchlosen Einheit” in Guardinis Werk (Helmut Kuhn: Romano Guardini. Der Mensch und das Werk, München 1961, S. 40ff und 51f.).
- Zuletzt betonte auch noch einmal Joachim Reber, dass der von Biser behauptete "Bruch ... nicht erkennbar" sei (Reber, Die Welt des Christen, a.a.O., S. 10).
- Markus Zimmermann wiederum unterstrich, dass zwar Balthasar zu radikal formuliert habe, Guardini sei "ein von Anfang an Entschlossener, beinah Fertiger" gewesen, aber dass Balthasars These mit den Ergebnissen seiner eigenen Studie letztlich übereinstimme (Markus Zimmermann: Die Nachfolge Jesu Christi, Paderborn/München/Wien/Zürich 2004, S. 23). Guardini habe lediglich - wie auch schon Alfons Knoll festgestellt hatte - erstmalig 1923 und dann immer wieder das Bisherige "mit dem Ziel" gebündelt, "künftig ANDERE SCHWERPUNKTE zu setzen" (ebd. unter Bezug zu Knoll, Alfons: Glaube und Kultur bei Romano Guardini, a.a.O., S. 535).
- Diese tatsächliche Bündelung und Schwerpunktsetzung ist aber immer wieder durch äußere Ereignisse zu erklären, wie zum Beispiel durch das Engagement bei Quickborn (ab 1920) im Blick auf Bildung und Mystagogie statt auf Dogmatik und Liturgiewissenschaft, die Berufung auf den Berliner Lehrstuhl (1923) im Blick auf katholische Weltanschauung und kulturelle Fragestellungen statt stärker kirchlicher Themen oder durch den Tod Karl Neundörfers (1926) im Blick auf die durch die zuvor geltende „Arbeitsteilung“ von diesem abgedeckten Themenbereiche.
- Durch die Veröffentlichung der während des Krieges, vor allem in Mooshausen entstandenen Schriften versuchte Guardini seine Gegensatzlehre also erneut auf weitere Themen anzuwenden und auch die nach 1945 entstandenen Schriften zeigen jenen unverwechselbaren Ansatz seiner Gegensatzlehre: Gegensätze und Widersprüche zu trennen, erstere als Spannungseinheiten innerhalb der menschlichen Beziehungen zu anderen Menschen - auch innerhalb von Gesellschaft und Staat - zu sich selbst - als Bürger zweier Welten - und zu Gott - als "Politikum" für und "im" Menschen aufzuzeigen. Widersprüche hingegen können nach Guardini als unversöhnliche Extreme weder in Gott noch im Menschen noch in den menschlichen Beziehungen gleichzeitig existieren und sind nur in der moralischen Gewissensentscheidung zugunsten des Guten zu lösen.
Keine "Stunde Null" im Jahr 1945
- Guardini kannte aufgrund seiner Terminierung des Endes der Neuzeit um die Jahrhundertwende auch keine „Stunde Null“ im Jahr 1945. 1945 stellte für ihn zwar das Ende der von ihm oft so bezeichneten "Zwölf Jahre" dar. Doch auch diese "Zwölf Jahre" sind für ihn nur eine Ausprägung einer verfehlten Entwicklung innerhalb der schon mit der Jahrhundertwende beginnenden Nach-Neuzeit. Diese "Ausprägung" sei, so die Auffassung Guardinis, in anderen Kontexten und in anderen Gestalten weiterhin gegenwärtig, die in ihren Auswirkungen noch gar nicht abgeschätzt werden könnten; vielmehr könnten diese aber durchaus noch schlimmer sein als die Gräueltaten des nationalsozialistischen Unrechtsregimes. Deshalb gelte es noch dringlicher den nachneuzeitlichen Menschen zu einem „neuen Menschen“ zu bilden, der jene Haltungen zeige, die zu einer zukunftsfähigen Gestaltung der Nach-Neuzeit nötig seien. Das hatte er aber, wie gesehen, so auch schon vor Beginn der „Zwölf Jahre“, also vor 1933, postuliert.
Thematische Kontinuitäten
Besonders augenfällig wird die thematische Kontinuität bezüglich der Themen:
- Der Gegensatz (1906 bis zuletzt)
- Das Wesen des Kunstwerks (1908 bis zuletzt)
- Das Ende der Neuzeit und das neue Mittelalter (1911 - 1950/51)
- Freiheit (1917 - 1928 - 1943/48 - bis zuletzt)
- Geist der Liturgie und Liturgische Bildung (1918/21 bis zuletzt)
- Vom Sinn der Kirche und Kirche des Herrn (1920 bis zuletzt)
- Ethik (1920 bis 50er Jahre)
- Weltanschauung und Kontemplation (1923 bis zuletzt)
- Anthropologie und Person/Welt (1925 bis zuletzt)
- u.v.m.
Oft kam es zu den Fehleinschätzungen durch die fehlende Kenntnis des Frühwerks und somit vielfach auch der Werkbiographie.