Dante als politisch-theologischer Dichter der irdischen Welt
Dante Alighieri als politisch-theologischer Dichter der irdischen Welt (Autor: Helmut Zenz)
Guardinis "Vorbereitung auf Dante"
In Guardinis Kinder- und Jugendzeit kam bereits die Gedanken- und Bilderwelt Dante Alighieris (1265-1321) zum Tragen, die mit der in Mainz gegenwärtigen mittelalterlichen Symbolik des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation vielfältig korrespondierte. Mainz mit seinen römischen Wurzeln wurde in mittelalterlichen Chroniken nicht von ungefähr als „das goldene Haupt des Deutschen Reiches“ angesehen (Hanna-Barbara Gerl, Romano Guardini, 1985, S. 32). Mainz war schon 870 und zwischen 1356 und 1802 Sitz des „Erzkanzlers für Deutschland“ in der Person des Erzbischofs von Mainz.
Von den Lippen des Vaters habe er „als Kind die ersten Verse Dantes” gepflückt, wird es 1937 in der Widmung des ersten Bandes der Dante-Studien Guardinis heißen. Während der Gymnasialzeit bildete sich bereits ein kleiner Kreis von Mitschülern und Freunden um Guardini, der rückblickend auch „Dante-Kränzchen” genannt wurde (Vgl. tz: Guardinis entscheidende Jahre in Mainz, in: Gymnasium Moguntinum, 24/25. November 1965, S. 44). Der spätere Bildhauer und langjährige Freund Philipp Harth (1885-1968) berichtete von dieser frühen, tiefgehenden Auseinandersetzung Guardinis mit Dantes „Göttlicher Komödie”, an der er seine Mitschüler teilhaben ließ (ebd., S. 11 in Bezug auf: Harth, Philipp: Mainzer Viertelbuben. Jugenderinnerungen, Mainz 1962, S. 54f: Mein liebster Jugendfreund): „Das größte und schönste Buch, das Romano besaß, war Dantes `Göttliche Komödie´ mit den Illustrationen von Doré. Diese Bilder betrachteten wir oft, Romano wusste sie mir zu erklären, da er dieses Buch gelesen hatte.” Gustave Doré hatte Dantes „Göttliche Komödie” 1861 gemalt, diese wurden von Eugenio Camerini der Mailänder Ausgabe von 1887 zugefügt (La divina commedia: Dichiarata con note tratte dai migliori commenti, Milano 1887). Die Freundschaft zwischen Philipp Harth und Guardini währte bis ins hohe Alter mit Begegnungen in Bayrischzell, wo Harth und seine Frau wohnten und Guardini eine Zweitwohnung besaß (vgl. dazu Walter Heist: Gespräche in Bayrischzell, in: ders. (Red.), Romano Guardini. Der Mensch, die Wirkung, Begegnung, 1979, S. 59-68). Ihm und seiner Frau Ida widmete Guardini 1961 seine Schrift „Der Anfang aller Dinge. Meditationen über Genesis, Kapitel 1-3“.
Man darf die Auswirkung der damaligen Dante-Lektüre auf die Ausbildung einer politischen Philosophie und Theologie bei Guardini nicht unterschätzen, muss allerdings auch in Rechnung Stellung, dass er nach seinem eigenem Bekunden „den Zugang zu Dantes Göttlicher Komödie” erst Ende der zwanziger Jahre wirklich gefunden hatte (Vorbereitung auf Dante, in: Spiegel und Gleichnis, (5., verm.)1953, S. 179). Da seine Freunde ihn aufgrund seiner Haltungen und Vorstellungen aber bereits von Jugend an als „zweiten Dante“ erlebten, gilt es, bereits an dieser Stelle einen Blick auf die - neben Bonaventura und Newman und noch vor Platon und Augustinus, Thomas von Aquin und Pascal - wohl einflussreichste geistesgeschichtliche Gestalt zu werfen; nicht zuletzt weil Dante vielen Interpreten auch als einflussreicher „politischer Philosoph” und „politischer Theologe” gilt (vgl. neuerdings: Roland Pietsch: Dante Alighieri als politischer Denker, in: Politische Studien, 55, 2004, Heft 394 (März/April), S. 25-34) und er gerade auch als solcher in den umfangreichen Dante-Studien Guardinis eine bislang zu wenig beachtete Rolle einnimmt.
1934 beschrieb Guardini seine „Vorbereitung auf Dante”. Der Text erschien zuerst in Schildgenossen (13, 1933/34, 3, S. 212-215). Aus der Vorbemerkung (S. 212) geht hervor, dass es sich dabei um den vollständigen "Text eines Vortrags" handle, den Guardini unter starken Kürzungen am „Tag des Buches“, im Rundfunk hielt. Später wurde der Text dann in den Sammelband "Unterscheidung des Christlichen" (Mainz 1935, S. 365 ff.) aufgenommen, weiter in der vermehren Auflage des Sammelbandes "In Spiegel und Gleichnis" (5., vermehrte Auflage, 1953) und schließlich in dem Michael Schmaus zum sechzigsten Geburtstag gewidmeten zweiten Band der Dantestudien "Landschaft der Ewigkeit" (München 1958, S. 247-254; Mainz/Paderborn (2)1996, S. 191-196). Darin erhielt er den Zusatztitel "Ein subjektiver Epilog".
In dieser Rede berichtet Guardini, dass er noch während seines Theologiestudiums gegenüber seinem damaligen Professor für Moraltheologie verneinte, dass er Dante überhaupt gelesen habe. Anders als Markus Zimmermann (Die Nachfolge Jesu Christi. Eine Studie zu Romano Guardini, Paderborn u.a. 2004, S. 62, FN 165) gehe ich hier nicht von einer „fehlerhaften Rückerinnerung“ aus, gerade weil ich auch wie er von einem Unterschied zwischen „vor-bewusstem“ Beschäftigung und bewusstem, wissenschaftlich-interpretierendem Studieren ausgehe. Gerade gegenüber umfangreichen „Standard-Werken“, auch gegenüber der Bibel, findet sich dieses eklektische Leseverhalten häufig.
Unabhängig davon hatte sich zu diesem Zeitpunkt aber - so Guardini selbst - in ihm bereits festgesetzt, "dass Dante da sei“ und er „eine Pflicht gegen ihn habe.” Zum Pflichtgedanken gegenüber Dante sei erinnert an den Ausspruch von Tommaseo: „Dante zu lesen, ist Pflicht, ihn wieder zu lesen, ist Bedürfnis, ihn zu verstehen, ist Vorgeschmack der Größe” (zitiert nach Hanns Lilje: Dante als christlicher Denker, Hamburg 1955, S. 8).
Vor allem Dantes Schrift „Vita nuova” sei ihm aber noch lange verschlossen geblieben und damit, wie sich später herausstellen sollte, auch der eigentliche Schlüssel zur „Göttlichen Komödie“. Erst in der Begegnung mit einem im Vertrauen von sich erzählenden Menschen sei ihm schließlich innerlich aufgegangen:
“Das ist ja die Weise des Erlebens in der `VITA NUOVA´! ... Nun wusste ich: Das innere Geschehen der `VITA NUOVA´ ist genaue Wahrheit, und Dantes Göttliche Komödie bleibt verschlossen, solange man das Seelenleben seines Jugendwerkes nicht begriffen hat” (Guardini, Vorbereitung auf Dante, a.a.O. (1958), S. 251; a.a.O. (1996), S. 192)
Damals sei dann zwar schon alles auf diesen Dichter hin gefügt gewesen, „aber noch blieb es stehen und wartete, denn Dante selbst war mir immer erst Forderung und Verheißung, nicht Besitz” (ebd. (1958), S. 252; ebd. (1996), S. 193). Erst bei einer Fahrt ins Engadin Mitte der zwanziger Jahre habe er die zuvor nur beobachtete Einsicht selbst erfahren. Und „eines Tages” - frühestens aber 1929 (!) - sei ihm dann die Marburger Habilitationsschrift des Kulturwissenschaftlers und Romanisten Erich Auerbach (1892-1957) empfohlen worden ((Dante als Dichter der irdischen Welt, Berlin u.a. 1929; (Neudruck)2001):
“Schon der Titel erregte: `Dante als Dichter der irdischen Welt´. Sein Inhalt war noch reicher als die Erwartung. Dante wurde als der im tiefsten Sinn christliche Dichter gezeigt. Als christlich aber ist hier jene Gesinnung gemeint, welche das Konkrete nicht ins bloß Empirische abgleiten lässt, sondern es an das Ewig-Absolute bindet; und andererseits das Dasein nicht ins Ideelle auflöst, sondern es geschichtlich hält. Die Voraussetzung aber dafür ist die Menschwerdung Gottes; und darin, ob das Denken dieses Faktum - wahrhaft `FACTUM´, Getanes, Tat und Wahrheit - als Maßstab in sich aufnimmt, ent-scheidet sich seine Christlichkeit. Da wurde mir deutlich, wie Dante jener Dichter ist, der den Menschen, die Welt, die Geschichte, das ganze Dasein ins Ewige trägt, ohne dass die endliche Gestalt aufgelöst wird. Sie wird verwandelt, bleibt aber erhalten” (Guardini, Vorbereitung auf Dante, a.a.O. (1996), S. 194).
Helmut Kuhn weiß durch persönliche Teilnahme schließlich auch von „einer philosophisch erleuchteten Dante-Lektüre” Guardinis bei Anno Schmieden-Schmidtgen (1910-gefallen 1940), Charlottenburg, der Dirigent und Komponist sowie Freund und Verwandter Auerbachs war. Kuhn hat nach eigenen Angaben dort „in langen Nächten“ Guardinis „Ringen um das Verständnis Dantes“ miterlebt (Helmut Kuhn: Philosoph der Sorge, St. Ottilien 1987, S. 31, Anmerkung 17).
Wie Auerbach und zuvor schon Paul Ludwig Landsberg wird Guardini später die Nähe von Dantes Gesängen zur Scholastik, insbesondere zu Thomas von Aquin herausstellen (vgl. Paul Ludwig Landsberg: Die Welt des Mittelalters und wir. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über den Sinn eines Zeitalters, Bonn 1922, S. 50-65). Für Landsberg verkörpern vor allem Thomas von Aquin und Dante das Wesen des Mittelalters. Die Nähe sieht er inbesondere bezüglich des „Ordo“-Gedankens (Vgl. Alfons Knoll: Glaube und Kultur bei Romano Guardini, Paderborn/München/Wien/Zürich 1994, S. 181 und S. 312 in bezug auf unveröffentlichtes Manuskript „Geordnete Welt”). Die „Divina Commedia” ruhe also auf der Ordnungslehre der Scholastik auf und führe sie in literarischer Form zu Ende. So hatte schon Auerbach geschrieben:
„Es ist keine paradoxe Laune, die uns veranlasst zu behaupten, dass die Scholastik nach Thomas des Gesanges bedurfte“ (Auerbach, a.a.O. (2001), S. 90).
Der letzte Schritt, der sich Guardini dann noch erschließen musste, war derjenige, in Dantes Werk nicht einen Traum, sondern primär eine Vision zu sehen.
“Dante sagt: `Ich habe geschaut´. Dieses Wort ist verbindlich. Seine Dichtung muss als geschaut, als ein aus ungeheurem Erfahren aufsteigendes visionäres Bild genommen werden” (Guardini, Vorbereitung auf Dante, a.a.O. (1958), S. 254).
Guardini wurde klar, dass die Größe von Dantes Werks nicht darin liege, „`Kunst´ im modernen Sinn, sondern Deutung des Daseins” zu sein, den Sinn des konkreten Menschen und der konkreten Geschichte zu erhellen (vgl. dazu auch Bernhard Hanssler: Guardinis Annäherung an Dante, in: Romano Guardini. Seine Interpretation von Dichtung. Referate der Werkwoche auf Burg Rothenfels 1.-6. Oktober 1976, hrsg. von der Vereinigung der Freunde von Burg Rothenfels, Burg Rothenfels 1977, S. 76-86).
Nun war dieser Dante aber wesentlich auch „homo politicus“ und sein Werk birgt in sich unbestritten eine ausgeprägte politisch-theologische Dimension. Diesen „Überschuss“ an „zeitlos relevantem politischen Ordnungswissen“ hat Guardini später „mit Gewinn auch für die Gegenwart herausgearbeitet und interpretiert“ (Theo Stammen: Dichtung und politische Ordnungsreflexion in Dantes „Göttliche Komödie” (1987), in: ders., Studien zum politischen Denken des Humanismus, Neuried 1999, S. 17). Stammen betont, „dass Dichtung (auch längst vergangene, mittelalterliche!) zeitlos relevantes politisches Ordnungswissen enthält, dessen Überschuss mit Gewinn auch für die Gegenwart herausgearbeitet und interpretiert werden kann.”.
Die "politische Theologie" Dantes in der Dante-Forschung
Rein historisch gesehen rechnete der „erste“ Dante in der „Göttlichen Komödie“ mit seinen damaligen politischen Gegnern ab und wollte dadurch auch bestimmte politische Wirkungen erzielen. Immerhin hatten ihn seine Gegner 1302 verbannt und mehrfach in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Ohne Frage waren seine konkreten politische Ansichten während seines Lebens auch einem starken Wandel unterworfen, doch gibt es eben auch kontinuierliche Hoffnungen, wie jene auf ein vereinigtes Europa unter der Herrschaft eines moderaten Kaisers, den er in Heinrich VII. zu erkennen glaubte. Daher versuchte Dante, in mehreren Briefen die Fürsten Italiens zur Anerkennung von dessen Oberhoheit zu bewegen. Nur so konnte in seinen Augen der erbitterte Kampf zwischen den italienischen Städten beendet werden.
Eine zweite Hoffnung Dantes war die eines harmonischen Nebeneinanders der beiden Mächte Kirche und Staat. Darin erblickte er die Garantie für eine gerechte, friedliche Weltordnung, in der sich das Heil der Menschheit vollenden kann. Seine um 1313 in lateinischer Sprache verfasste Abhandlung „De monarchia” ist ein allgemeines Bekenntnis zur Monarchie als natürlicher Herrschaftsform und ein konkretes Bekenntnis zur Erneuerung des Imperium Romanum, zur Notwendigkeit der überregionalen Versöhnung im Sinn des Heiligen Römischen Reiches, aber auch zur gleichzeitigen, völligen Trennung zwischen Kirche und Staat mit dem Ziel, die Bindung kirchlicher und geistiger Belange durch den Staat und politischer Belange durch die Kirche aufzuheben und damit die in seinen Augen unerträglichen Verquickungen aufzulösen (vgl. dazu: Pietsch, Dante Alighieri als politischer Denker, a.a.O.).
Durch den frühen Tod Heinrichs VII. fanden Dantes utopische Hoffnungen auf den „`pax univeralis´ zum Schutz und zur Entfaltung der `humana civilitas´” allerdings ein jähes Ende (Michael Seidlmayer: Dantes Reichs- und Staatsidee. Vortrag auf der Tagung der Dante-Gesellschaft in Würzburg am 28. Oktober 1951, Heidelberg 1952, S. 14).
Nun ist die politischen Philosophie und politischen Theologie Dantes in der Forschung sehr unterschiedlich interpretiert worden. Die frühen Deutungen Dantes bei Franz Xaver Kraus und Houston Stewart Chamberlain werden weiter unten in einem anderen Kontext besprochen. Man vergleiche dazu außer den bereits genannten Werken:
- Hans Kelsen: Die Staatslehre des Dante Alighieri, Leipzig 1905;
- Fritz Kern: Humana civilitas: Staat, Kirche und Kultur. Eine Dante-Untersuchung, Leipzig 1913; Aalen 1970;
- Friedrich Wagner: Dante in Deutschland. Sein staatlich-kirchliches Bild von 1417-1699, Weimar 1934;
- Bruno Opalka: Dante und die politischen Mächte seiner Zeit zur Monarchia, Berlin 1937; Nendeln (Nachdruck)1967;
- Hugo Friedrich: Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie, Frankfurt am Main 1941;
- Hermann Conrad: Dantes Staatslehre im Spiegel der scholastischen Philosophie seiner Zeit, Heidelberg 1946;
- Hermann Gmelin: Dantes Weltbild, Urach 1948;
- Robert Figge: Dante und sein Verhältnis zu Staat und Recht, Celle 1950;
- Ernst H. Kantorowicz: Dante´s Two Suns, in: Semitic and Oriental Studies in Honor of William Popper, Berkeley/Los Angeles 1951, S. 217-231; deutsch: Dantes "Zwei Sonnen", in: ders.: Götter in Uniform. Studien zur Entwicklung des abendländischen Königtums, Stuttgart 1998, S. 235-254;
- Ernst H. Kantorowicz: Man-centered kingship: Dante, in: ders., The King´s Two Bodies: A Study in Mediaval Political Theology, Princenton 1957; deutsch: Das Königtum und die Würde des Menschen: Dante, in: ders., Zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1990, S. 444-475;
- Herbert Grundmann: Bonifaz VIII. und Dante. Zur Problematik der Konstantinischen Schenkung, in: Hochland, 52, 1959/60, S. 201-220;
- Herbert Grundmann/Otto Herding/Hans Conrad Peyer: Dante und die Mächtigen seiner Zeit, München 1960;
- Hubert Stadler: Um die Möglichkeit wissenschaftlicher Politik: Eine Interpretation des ersten Buches von Dantes "De monarchia", München 1975;
- Karl Maurer: Dante als politischer Dichter, in: Poetica, 7, 1975;
- Peter Herde: Dante als Florentiner Politiker, Wiesbaden 1976;
- A. Buck: Dante als politischer Dichter, in: Deutsches Dante Jahrbuch, 51/52, 1976/77, S. 13-31;
- Brigitte Winkellehner: Originalität und geschichtliche Gebundenheit im politischen Denken Dantes, in: Deutsches Dante-Jahrbuch, 64, 1989, S. 111ff.;
- Ernest L. Fortin: Dantes Göttliche Komödie als Utopie, München 1991;
- Ruedi Imbach: Die politische Dimension der menschlichen Vernunft bei Dante, in: Otfried Höffe (Hrsg.): Der Mensch - ein politisches Tier. Essays zur politischen Anthropologie, Stuttgart 1992, S. 26ff.;
- Ruedi Imbach: „Und niemand regiert auf der Welt”. Zu Dantes politischer Philosophie, in: Jörg Splett (Hrsg.): Höllenkreise - Himmelsrose. Dimensionen der Welt bei Dante, Idstein 1994, S. 49-60;
- Anselm Haverkamp: Leo in nubibus – Dantes Allegorie der Dichter zu Zeiten politischer Theologie, in: Bernhard Dotzler/Helmar Schramm (Hrsg.): Cachaca. Festschrift für Karlheinz Barck, Berlin 1995, S. 108-110;
- Karin Brennecke: Aspekte politischen Denkens in ausgewählten philosophischen Schriften von Dan-te Alighieri, 1997 (Diss. Hannover);
- Dirk Lüddecke: Dantes Monarchia als politische Theologie, in: Der Staat, 37, 1998, S. 547-570;
- Anselm Haverkamp: Stranger than Paradise - Dantes irdisches Paradies als Antidote politischer Theologie, in: Wolfgang Ernst/Cornelia Vismann (Hrsg.): Geschichtskörper: Zur Aktualität von Ernst H. Kantorowicz, München 1998, S. 93-103;
- Dirk Lüddecke: Dantes politisches Denken. Überlegungen zur Argumentation der „Monarchia” Dante Alighieris, Neuried 1999;
- Jürgen Miethke: De potestate papae. Die päpstliche Amtskompetenz im Widerstreit der politischen Theorie von Thomas von Aquin bis Wilhelm von Ockham, Tübingen 2000;
- Jürgen Miethke: Politiktheorie im Mittelalter. Thomas von Aquin, Marsilius von Padua, Lupold von Bebenburg, in: Wilhelm Bleek/Hans J. Lietzmann (Hrsg.): Klassiker der Politikwissenschaft. Von Aristoteles bis David Easton, München 2005, S. 33-50;
- Ralf Jeremias: Vernunft und Charisma. Die Begründung der Politischen Theorie bei Dante und Machiavelli im Blick Max Webers, Konstanz 2005;
- Wolfgang Palaver: Hierarchie ist nicht gleich Hierarchie. Das Konzept der `verwickelten Hierarchie´ und seine Bedeutung für das zukünftige Verhältnis von kirchlich-hierarchischer und staatlich-demokratischer Ordnung, in: Roman Siebenrock/Willibald Sandler (Hrsg.): Kirche als universales Zeichen. In memoriam Raymund Schwager SJ, Wien 2005, S. 173-185;
- Dirk Lüddecke: Dantes Denken politischer Ordnungsformen, in: Stefano Saraciao/Manuel Knoll (Hrsg.): Das Staatsdenken der Renaissance. Vom gedachten zum erlebten Staat, Baden-Baden 2013, S. 43-67;
- Oliver Hildalgo: Wandlungen des Theologisch-Politischen und die sprachliche Geburt der Moderne. Dante Alighieri, Marsilius von Padua, Niccolò Machiavelli, in: ders.: Die Antinomien der Demokratie, Frankfurt am Main 2014, S. 155-182;
- Dirk Lüddecke: Das Dante-Verständnis bei Ernst H. Kantorowicz als Schlüssel zur politischen Theologie, in: Dietrich Schotte (Hrsg.): Die Macht der Bilder der Macht: zum Vermächtnis von Ernst H. Kantorowicz, Münster 2015, S. 11-30;
- Oliver Hidalgo: Dante Alighieri und das Säkulare im Sakralen, in: ders.: Politische Theologie. Beiträge zum untrennbaren Zusammenhang zwischen Religion und Politik, 2018 S. 28-36;
An dieser Stelle muss es daher genügen, einen Querschnitt herauszuarbeiten:
Hermann Gmelin wies in seiner Studie über „Dantes Weltbild” zu Recht darauf hin, wie eng dieses Weltbild mit dem Verbannungserlebnis Dantes zusammenhinge:
“Menschenideal und Menschheitsideal, Gemeinschaftsbeziehungen und Universalismus sind bei Dante gleichermaßen erwachsen und genährt aus seinem Verbannungserlebnis” (Gmelin, Dantes Weltbild, a.a.O., S. 49).
Daraus habe Dante eine Hierarchie der Gemeinschaftsformen, vom „domus” bis zum „genus humanum” entwickelt. Interessanterweise hatte in dieser Hierarchie „theoretisch betrachtet... die Nation keinen Platz ..., sie bildet nur als REGNUM PARTICULARE einen Teil des Ganzen, obwohl er sie in Wirklichkeit am stärksten empfunden hat neben seiner Heimatliebe. Theoretisch musste Dante wie jeder mittelalterliche Mensch universal denken und sich als Glied der Christenheit betrachten, die für ihn die Menschheit bedeutete. Dante, der Einsame, Verbannte, verkündete... sein christliches Weltbürgertum und die Auffassung, die er von dem nächsten Ring menschlicher Gemeinschaft entwickelte, seine Idee der WELTMONARCHIE, des universalen christlichen Imperiums” (ebd., S. 55) Als letzter Ring der Gemeinschaft lege sich um das Imperium „die ganze MENSCHHEIT, die für Dante die Christenheit ist" (ebd., S. 58]] Großes Ziel der Menschheit sei für Dante der Friede, der schließlich zur Glückseligkeit führe (vgl. ebd., S. 49). Diese Idee des Weltfriedens begründe die Autorität des Staates, von der aus Dante dann das Inferno-Urteil über die Angreifer, die Staats- und Gesellschaftsfeinde „schaue”. Auf der anderen Seite stünden viele „Staatsretter”, allen voran Heinrich VII., der in Dantes Jenseitsvision gleich neben den Aposteln im „Paradiso” stehe (vgl. ebd., S. 62 und 65). Abschließend betonte Gmelin, dass Dantes Menschen- und Gemeinschaftsbild von einem „Doppelgesicht” von Individualismus und Universalismus geprägt sei, wobei er den „Individualismus der Renaissance” in den mittelalterlichen Universalismus einbeziehe und er so die Gefahren des Individualismus in den „göttlichen Kosmos” zu bannen versucht habe (vgl. ebd., S. 67).
Dante hatte also – wie auch Seidlmayer hervorhob - die Frage nach Zweck und Ziel der ganzen menschlichen Gemeinschaft, der „humana civilitas”, gestellt und seine Antwort lautete:
“Dem Menschengeschlecht als Ganzem ist eine geistige Kraft eigen, aber nur als Potenz, als MÖGLICHKEIT zur Selbstentfaltung... Der Einzelne steht nur in Teilhabe an diesem potentiellen Intellekt; weder er für sich allein noch irgendeine Teilgemeinschaft (etwa in einem Einzelstaat zusammengefasst) können diese Potenz aktualisieren (diese Möglichkeit verwirklichen) - dazu ist vielmehr nur die Menschheit ALS GANZES, als Einheit imstande, und dies ist zugleich die höchste Kraft und das äußerste letzte (irdische) Ziel der `tota humanitas´.”
In dieser „tota humanitas” ist der Weltkaiser „der `Diener aller´ und durch die ihm vorgesteckten Ziele: Friede, Gerechtigkeit, Freiheit wird er in seiner Gesetzgebung geleitet, ja geradezu `genötigt´... für alle gleichmäßig da zu sein" (Seidlmayer, Dantes Reichs- und Staatsidee, a.a.O., S. 6f.).
Peter Herde ergänzte in seiner Studie, dass „Dantes politische Ideenwelt” „in einer großartigen Konzeption der Harmonie“ ende und dies „trotz der Bitterkeit des Exils geläutert durch die Erfahrung scheinbar unversöhnlicher politischer und sozialer Verwicklungen”. Dieser Konzeption könne „der Historiker den Respekt nicht versagen kann, auch wenn sie Utopie bleiben musste“ (Herde, Dante als Florentiner Politiker, a.a.O., S. 53). Für Dante stünden „das natürliche Ziel des Menschen, das tugendhafte Leben” und das übernatürliche „Ziel, zur Seligkeit Gottes zu gelangen”, „grundsätzlich gleichgeordnet nebeneinander, widersprechen sich freilich nicht, sondern sind einander zugeordnet, ergänzen einander.” Die Gewährleistungsgaranten, der Kaiser und der Papst, seien ebenfalls „unabhängig nebeneinander; der universale Kaiser garantiert der Menschheit Frieden und Ordnung, Voraussetzungen sowohl der irdischen als auch der überirdischen Glückseligkeit...” (ebd. S. 51 f.)
„In einer bestimmten Weise” bleibe der Kaiser aber auch „dem Papst untergeordnet, so, wie die sterbliche Glückseligkeit in einer gewissen Weise... auf die unsterbliche Glückseligkeit hin zugeordnet ist” (ebd., S. 53).
In dieser Frage äußerst problematisch ist die Position von Fortin, der letztlich ohne Rücksicht auf historische Gegebenheiten und Traditionszusammenhänge immer noch behauptet, „dass Dantes Entwurf die Kirche ganz dem weltlichen Herrscher preisgibt, in dessen Händen alle effektive Gewalt konzentriert ist”. Ganz in Chamberlainscher Manier missinterpretierte er:
„Nach Dantes eigenen Worten sind die Dinge wohlgeordnet, wenn sie auf ein einziges Prinzip zurückgeführt worden sind. Doch sein eigener Entwurf führte sie auf zwei voneinander unabhängige Prinzipien zurück und fügte lediglich hinzu, dass, obschon keiner dem anderen untertan sei, der Caesar dem Petrus die Ehrerbietung schulde, die ein erstgeborener Sohn seinem Vater schuldet“ (Fortin, Dantes Göttliche Komödie als Utopie, a.a.O., S. 46).
Auch viele andere Interpretationen Fortins bleiben unergründlich.
Bei nicht wenigen Interpreten wird nun völlig aus dem Blick verloren, dass die politische Geisteswelt der damaligen Zeit von theokratischen Lehren dominiert wurde, unabhängig davon, ob sie nun aus dem scholastischen oder dem augustinischen Kontext stammten. Gegen diese theokratischen Modelle, die der Kirche den absoluten Vorrang einräumten, stellte Dante also sein neues Modell, das nur noch von einem relativen Primat ausging. Dante argumentierte – so Imbach - sogar „auf der Grundlage entgegengesetzter Voraussetzungen, wenn das rein natürliche Römische Reich als Ort der Erlösung erscheint” (Imbach, Die politische Dimension der menschlichen Vernunft bei Dante, a.a.O., S. 53f. in bezug auf II, 10, 4). Infolgedessen forderte er eine relative Autonomie des Staates und die relative „Armut” der Kirche, im Sinne einer Armut an weltlichen Machtansprüchen. Nur so konnte Dante im 14. Kapitel behaupten, „die politische Macht stehe im Widerspruch zur Natur, zum Wesen der Kirche. Die weltliche Macht ist wider das Wesen der Kirche, da diese Macht dem Vorbild Christi widerspricht” (ebd., S. 58). Allerdings irrt Imbach, als er schreibt, Dante fordere eine radikale Armut der Kirche, „eine absolut arme und machtlose Kirche” (ebd.). Es geht ihm lediglich um die Zurückdrängung weltlicher Machtansprüche, nicht um eine Ablösung der weltlichen Politik von der Kirche, nicht um eine absolute, sondern um eine relative Trennung von Staat und Kirche.
Dante sei – ergänzt Conrad - dabei von einer grundsätzlichen Gleichordnung der beiden Gewalten ausgegangen, „will aber eine Unterordnung des Staates unter die Kirche annehmen, insoweit die weltliche Angelegenheit zugleich das ewige Heil berührt.” Daher sei es auch unbegründet, „Dantes Haltung in der Frage des Verhältnisses von Staat und Kirche als `unklar und inkonsequent´ zu bezeichnen” - wie noch Hans Kelsen das getan hat - „oder in bezug auf das Schlusskapitel der `Monarchia´ von Widersprüchen im politischen System Dantes zu sprechen”, wie Friedrich Schneider dies vermutete. Conrad ist überzeugt, dass Dante in seiner „Monarchia“ nicht eine beschränkte Leitungsgewalt der Kirche in all jenen weltlichen Angelegenheiten bekämpfen wollte, die das übernatürliche Heil betreffen, sondern allein den „Anspruch der Kirche auf eine absolute Oberherrschaft auch in weltlichen Angelegenheiten“. In diesem Sinne bekräftigte Dante in der göttlichen Komödie auch unmissverständlich seine Kritik am damaligen Zustand der Kirche:
“Die Kirche Roms versinkt, vom Schwergewichte der bösen Doppellast zerdrückt, im Schlamme und macht der beiden Ämter Glanz zunichte” (Conrad, Dante und die Mächtigen seiner Zeit, a.a.O., S. 45f.)
Hans Lilje, für den Dante „zweifellos zu den großen politischen Denkern Europas” gehört, betont, dass ein Grundfehler vieler Interpreten, im Glauben liege, „die Frage, ob sein politisches Denken mehr als eine museale Erinnerung für uns sein kann“, könne „von der andern Frage nach seinem gesamten Weltbild überhaupt” gelöst werden (Lilje, Dante als christlicher Denker, a.a.O., S. 30).
Genau diesen Fehler begeht auch Dirk Lüddecke in seinen jüngsten Studien zum politischen Denken und zur politischen Theologie Dantes im Blick auf „De Monarchia”. Lüddecke macht zwar völlig zu Recht in „De Monarchia“ politisch-theologische Übertragungen aus, interpretiert diese aber nicht aus Dantes Weltbild heraus, sondern nur aus der Stichhaltigkeit für eine neuzeitliche politische Theorie. So gehen natürlich auch seine Vergleiche mit Aristoteles, Augustinus und Kant ins Leere. Dante bezeichnete übrigens Aristoteles als „Meister derer, die wissen”. Wie Thomas von Aquin baut Dante seine politische Theologie ebenso auf Aristoteles auf, wie Marsilius von Padua seine säkulare Lehre von der Überordnung der weltlichen über die geistliche Gewalt. Sätze Lüddeckes wie „Mangels einer eigentlich politischen, säkularen Legitimation des Amtsträgers, Folge der Unterbestimmung des Politischen, zieht Dante noch die letzte Konsequenz seiner politisch-theologischen Argumentation und bestimmt Gott als alleinigen Wähler” (Lüddecke, Dantes monarchia als politische Theologie, a.a.O., S. 565) dokumentieren dieses Missverhältnis deutlich. Lüddecke hätte doch die „zeitgenössische Zielrichtung und Nutzanwendung der genannten Thesen gegen papalistisch-hierokratische Theorien und gegen nationale Alleingänge eines vom Kaisertum gelösten französischen Königtum” nicht vorschnell als „auf der Hand” liegend und als „historische Frage” abtun sollen (ebd., S. 549). Keineswegs ist in diesem Kontext das Politische, wie alles Irdische, bei Dante unterbestimmt, und Dantes „solus eligit Deus” (Dante, Monarchia, III, xv, 13, S. 246) kann auch für die politische Theorie einen über die neuzeitliche Legitimationsfrage hinausgehenden Fortschritt bedeuten. Aber eben nur aus Dantes Weltbild heraus und im umfassenden Blick auf die zeitgenössischen Legitimationsversuche von Papst Bonifaz VIII. oder vom französischen König sowie auf politische Theologen wie Joachim von Fiore oder politische Denker wie Machiavelli kann das „solus eligit Deus” richtig verstanden und nicht nur als „numinose, theologische Legitimation des Königs bzw. Kaisertums” aufgefasst werden (vgl. Lüddecke, Dantes monarchia als politische Theologie, a.a.O., S. 566). Marsilius von Padua war dann eben gerade nicht der Gegenpol Dantes, sondern Dante vermittelte eine Spannungseinheit zwischen den Theokraten und den Autokraten seiner Zeit.
Bernhard Hanssler betont unter Berufung auf Etienne Gilson daher auch völlig zu Recht, dass Dantes „weltliche Welt“ gerade gegenüber Marsilius „als redliche Überzeugung ernst genommen werden“ müsse. Er habe „wirklich eine Art `christlichen Laizismus´ vertreten“:
„Der Staat und die Gesellschaft sind nicht zu verkirchlichen, aber sie sind auch nicht aus der Verantwortung des Glaubens zu entlassen. Wie weltlich Dantes Staatsbegriff sein mag, eine Politik des bloßen Nutzens, des bloßen Erfolgsdenkens, der darwinistisch-naturalistischen Macht- und Interessenkämpfe wäre in seinen Augen gottloser Greuel” (Hanssler, Dante bleibt aktuell, a.a.O., S. 84).
Daher greife – so Hanssler weiter - auch die in bezug auf Dante häufig zu findende bloße Gegenüberstellung von „weltlicher Welt”, „autonomen Staatswesen”, „politischer Aktion” auf der einen und „geistlicher Kirche” und „kontemplatives Leben” auf der anderen Seite zu kurz (vgl. ebd., S. 155).
Ernst H. Kantorowicz vermied diese bloße Gegenüberstellung und das, obwohl er Dantes irdisches Paradies geradezu als Antidote politischer Theologie vorstellte. Kantorowicz ging es dabei sowohl um eine Abgrenzung vom ästhetisierenden, entpolitisierenden Dante-Bild des „Tat“-Kreises um Stefan George als auch vom Wiedererstehen des „Phantoms Bonifaz“ in der politischen Theologie Carl Schmitts.
Dante dekonstruierte und destruierte, hob auf und vernichtete das Konstrukt, den gordischen Knoten der civitas permixta, „um es dann logisch ... zu restituieren. Die Monarchia Dantes und die Divina Commedia ergänzen sich in diesem Verfahren derart, dass der Traktat die logische, die Dichtung die poetische Pointierung vornimmt“ (Haverkamp, Stranger than Paradise – Dantes irdisches Paradies als Antidote politischer Theologie, a.a.O., S. 97). Dantes Ironie ist dabei sehr scharf. Er spricht „von der allegorischen Fata morgana eines LEO IN NUBIBUS (Mon. III. iv.10) -, drängt nicht DE GENESI AD LITTERAM auf einen neuen Literalsinn und präjudiziert deshalb auch keineswegs eine naturrechtliche Ableitung, sondern insistiert auf einer angemessenen juristischen Konstruktion, für die das Bild der beiden Sonnen nun zum ironischen Emblem der Gleichursprünglichkeit umgedreht wird“ (ebd., S. 98) Indem Dante den Schritt von der Antike zum Mittelalter noch einmal nachvollzogen hatte und dabei Vergil an der „unüberschreitbaren historischen Schwelle ... der paganen Antike zum christlichen Mittelalter“ zurückließ, ging Dante eben nicht zur traditionellen „politischen Theologie des Mittelalters“ über, sondern weiter „zu einer neuen Qualität irdischer Politik“, zu einer „Seligkeit eigener Art“ (vgl. ebd., S. 95 und 100). Kantorowicz hielt nun Dantes „Monarchia“ gerade da am Stärksten, „wo sie aus der vernichteten falschen Prätention theologisch betriebener Politik die Eigengesetzlichkeit der politischen Ordnung hervortreibt.“ Er sieht darin das „Gegenteil politischer Theologie“ und auch das Gegenteil „naturrechtlich argumentierender Politik“ (ebd., S. 108-110).
Flüeler dagegen erkannte zwar einen Bruch mit der „theologischen Vorherrschaft im politischen Denken“, als Ersatz aber „eine metaphysisch geprägte politische Philosophie”. (Christoph Flüeler: Rezeption und Interpretation der Aristotelischen Politica im späten Mittelalter, Amsterdam 1992, S. 15)
Am ganz anderen Ende der Interpretationen dagegen steht Lüddeckes Behauptung, Dante halte an der politischen Theologie des Mittelalters als „römische Theokratie” oder „Epitaph eines theologisch begründeten Weltkaisertums” fest (Lüddecke, Dantes monarchia als politische Theologie, a.a.O , S. 567). Dabei kann ihm durchaus zugestanden werden, dass Haverkamp mit seiner Interpretation der Monarchia ebenfalls zu weit geht, wenn er behauptet, sie sei da am stärksten, wo sie aus vernichteten falschen Prätentionen theologisch betriebener Politik die "Eigengesetzlichkeit der politischen Ordnung" hervortreibe und somit das Gegenteil von politischer Theologie sei (Lüddecke, Das Dante-Verständnis bei Ernst H. Kantorowicz als Schlüssel zur politischen Theologie, a.a.O., S. 18 Anmerkung 35 in Bezug auf Haverkamp, Stranger than Paradise, a.a.O., S. 102).
Entsprechend stark unterscheiden sich daher die Einschätzungen bezüglich der Aktualität des Denkens Dantes.
- Kantorowicz sah die Bedeutung im Kampf gegen die Entpolitisierung und gegen die mythische Wiederaufladung von Politik. In und durch Dante sei das Mittelalter lesbar, wo es sich von der Führung der Antike Vergils und gleichzeitig von der politischen Theologie des Mittelalters in die Moderne hinein löst und dabei von Shakespeare abgelöst werde (Haverkamp, a.a.O., S. 95 und S. 103).
- Lüddecke konstatiert dagegen, dass Dante - im Unterschied zu Marsilius von Padua - nicht „neuzeitlich” sei, vielleicht nicht einmal „als vorausweisend auf neuzeitliches politisches Denken interpretiert werden” könne, sondern noch ganz dem Mittelalter verhaftet sei, weist aber gleichzeitig auf Kelsens Diktum hin, Dantes Staatslehre stelle „den vorzüglichsten Ausdruck der mittelalterlichen Doktrin und dabei - in vielen Punkten wenigstens - zugleich deren Überwindung´ dar.” Die offene Frage ist dann aber, ob nicht Lüddeckes eigene historisierende Interpretation aus der Neuzeit heraus nicht schon durch ein wie auch immer verstandenes „postmodernes” politisches Denken überholt und abgelöst sein könnte.
- Stammen betont dagegen, Dante sei auch heute noch aktuell, auch wenn „keine einfache Chance oder Möglichkeit“ bestehe, „die Resultate dantescher politischer Ordnungsreflexionen - seine `Botschaft´ an seine Zeit - unmittelbar für die Gegenwart zu übernehmen und - etwa als Beiträge zu einem Curriculum politischer Bildung - nutzbar machen zu wollen” (Stammen, Dichtung und politische Ordnungsreflexion in Dantes „Göttliche Komödie”, a.a.O., S. 57 f). Aber über eines dürfe auch heute mit Dante „keiner im Zweifel sein, dass er eine Pflichtvergessenheit begeht, wenn er zum Gemeinwesen keinen Beitrag leistet, obwohl er in politischen Fragen Bescheid weiß” (Dante, Monarchia, zitiert nach Stammen, ebd., S. 15 und 58).
Dantes unversöhnliche Papstkritik in der Commedia hat in der Forschung zu verschiedenen Deutungs- und Erklärungsmustern geführt (vgl. Jörg Oberste: Dantes Päpste. Die `Commedia´ und der kirchenkritische Diskurs des späteren Mittelalters, in: Oliver Hidalgo/Kai Nonnenmacher (Hrsg.): Die sprachliche Formierung der politischen Moderne. Spätmittelalter und Renaissance in Italien, Wiesbaden 2015, S. 125-154, hier S. 134).
[[Raoul Manselli sah im Werk Dantes eine zunehmende religiöse Radikalisierung, die sich durch die Hinwendung zum spirituellen Zweig und Gedankengut des Franziskanerordens erklären lasse (Raoul Manselli: Dante e l´Ecclesia Spiritualis, in: Dante e Roma. Atti del Convegno di Studio, 8-10 aprile, Florenz 1965, S. 115-135).
Dagegen spricht sich David Burr dafür aus, dass Dante vielmehr die „via media“ zwischen den beiden Fraktionen des Franziskanerordens vertrete (David Burr: The Spiritual Franciscans. From Protest Persecution in the Century after Saint Francis, Philadelphia 2001, S. 332: „Yet neither Philip (the Fair) nor Dante displayed any great sympathy with the spiritual Franciscans.“ Siehe jetzt auch den Sammelband von Santa Casciani (Hrsg.): Dante and the Franciscans, Leiden 2006). Der Gewährsmann für diese vermittelnde Stellung ist bei Dante der heilige Bonaventura (vgl. Burr, a.a.O. 2001, S: 36f.). Ausdrücklich lobt er ihn in „Paradiso“ 12 und zwar in Abgrenzung zur Laxheit des franziskanischen Ordensgenerals Matte da Acquasparta, der als Kardinallegat Bonifaz´ VIII. einen persönlichen Anteil an der Niederlage der Florentiner „Bianchi“ und an Dantes Schicksal nach 1301 trug, aber auch in Abgrenzung zur strikten Regelauslegung des zu seinen Lebzeiten bekanntesten Spiritualen Ubertino dal Casale.
„Wohl sag ich, wer in unserem Buche suchte / Von Blatt zu Blatt, der fände doch noch Seiten, / Wo stünde: Ich bin so, wie ich gewesen; / Doch nicht bei Acquasparta und Casale, / Wo solche zu den Schriften hingekommen, / Dass einer sie geflohn, der andere zwängte“ (Par. 12,120ff.)
Dante bezieht sich hier neben Ubertino auf den im Jahre 1287 gewählten franziskanischen Ordensgeneral Matteo da Acquasparta, dessen moderate Regelauslegung die Spaltung zwischen Konventualen und Spiritualen vertiefte.
Indem Dante den gemäßigten Bonaventura und nicht etwa den Ordensstifter Franziskus zum Protagonisten seiner eigenen Armutsauffassung stilisiert, fehlt auch einer eschatologischen Deutung jede Grundlage (vgl. Oberte, a.a.O., S. 138).
„Die `Commedia´ ist in ihrer kirchenkritischen Ausrichtung weder radikal noch innovativ. Sie verarbeitet höchst aktuelle Diskurse aus der Sicht eines Gelehrten, der mit führenden politischen Kreisen ebenso vertraut war wie mit innerkirchlichen Entwicklungen und akademischen Debatten“ (Oberste, a.a.O., S. 140).
Dante übte Kritik nicht nur an Bonifaz als Papst des „Unam sanctam“, sondern auch an seine Avignonesischen Nachfolger Clemens V., der „ohne Ordnung“ war und Heinrich VII. nach anfänglicher Förderung hat fallen lassen, und Johannes XXII. Insbesondere am Ende von „Inferno“ 19 rechnet er mit Clemens V. ab (Inf. 19, 104ff.). Letztlich macht er aber im Grunde Kaiser Konstantin und Papst Silvester I. für die Entwicklung der römischen Kirche verantwortlich:
„Daran anschließend denkt Dante über die Wurzeln der Verkommenheit der römischen Kirche nach und stößt dabei auf die Konstantinische Schenkung: `O Konstantin, wie vielen Unheils Mutter / War nicht dein Glaube, aber jene Schenkung / Die du dem ersten reichen Vater machtest!“ (Inf. 19, 115-117). Silvester I. wird zum Stammvater jener bis in die Gegenwart reichende Genealogie habgieriger und machtbesessener Päpste, die gemeinsam mit Kaisern und Königen über eine zunehmend korrumpierte `ecclesia carnalis´ herrschten und deren rechter Ort im achten Höllenkreis liegt“ (Oberste, a.a.O., S. 147 f.).
Auch Oliver Hildalgo versucht Dantes Papstkritik unter Berufung auf Oberste einem der drei Hauptlager der Debatte über die Potestas Papae zuzuordnen. Dabei zählt er auch die sogenannten Hierokraten und die Schriften von Aegidius Romanus und Jakob von Viterbo zur kurialistischen Position:
„Zu der Zeit, als Dante Alighieri (1265-1321) in die Debatte über die POTESTAS PAPAE eingriff, konnte man in jener Frage drei Hauptlager voneinander unterscheiden. Erstens die Position der Kurie, die seit Innozenz III. (1160/61-1216) entschieden den päpstlichen Anspruch auf weltliche Alleinherrschaft, das heißt die Vollgewalt (PLENITUDO POTESTATIS) über die Kirche UND alle weltlichen Autoritäten verfolgte und die am Geschlossensten von Bonifaz VIII. (1235-1303) in der Bulle UNAM SANCTAM (1302) ausgearbeitet wurde. Zweitens die sogenannte IMPERIALE Position, die – vor allem in Engelbert von Admonts DE ORTU, PROGRESSU ET FINE ROMANI IMPERII (ca. 1312/13) ausformuliert - geistige und weltliche Macht im Prinzip als zwei gleichrangige Universalmächte auffasste und damit die Zwei-Schwerter-Lehre von Papst Gelasius I. im Sinne der im Investiturstreit von Heinrich IV. verfolgten Argumentation fortsetzte. Schließlich drittens das royalistische Lager, das – angeführt von Philipp dem Schönen von Frankreich und intellektuell von Johannes Quidort unterstützt – auch die Idee der gleichrangigen Universalmächte ablehnte und stattdessen strikt auf die Eigenständigkeit der einzelnen Königreiche und Herrscher gegenüber allen weltlichen Ansprüchen der Kirche insistierte“ (Oliver Hildalgo: Der Wandel theologisch-politischer Ideen in Europa zwischen dem 14. Und 16. Jahrhundert im Kontext der Kontroverse über den Machtanspruch des Papsttums, in: ders./Holger Zapf/Philipp W. Hildmann (Hrsg.): Christentum und Islam als politische Religionen. Ideenwandel im Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen, Wiesbaden 2017, S. 115-140, hier S. 118. Er beruft sich insbesondere auf Oberste 2015, S. 128f., Tierney, 1972; Karl Ubl: Engelbert von Admont. Ein Gelehrter im Spannungsfeld von Aristotelismus und christlicher Überlieferung, München 2000).
Dante erkennt „weder in der früheren Geburt Levis (der als Patron der Priester Israels gilt) gegenüber Juda (als dem Urvater der weltlichen Regierung) (Mon. III v) noch in der Ein- und Absetzung König Sauls durch den Propheten Samuel (Mon. III vi) oder in der Reihenfolge der Gaben der heiligen drei König an Jesus (Mon. III vii) (11: Gold steht in diesem Zusammenhang für die weltlichen, Weihrauch für die geistlichen Angelegenheiten.) eine Beweisführung für den Primat der Kirche. Dabei versucht er abermals, die logischen Inkonsistenzen zu belegen, wonach „Autorität“ und „Geburt“ verschiedene Kategorien seien und sich die Befugnisse Jesu bzw. Samuels als dem „Boten“ Gottes mit denen des Papstes (als dessen unvollkommenerem `Stellvertreter´) in keiner Weise vergleichen ließen. Des Weiteren richtet sich Dante auch gegen die hierokratische Interpretation der oben schon angeklungenen Stelle aus dem Lukasevangelium (22,36-38), in welcher Jesus seine Jünger zum Kauf von Schwertern anhält, woraufhin sie deren zwei erwerben. Für die Befürworter der politischen Vormachtstellung des Papstes stehen die beiden Schwerter neuerlich für die beiden Regierungen. Und da beide Schwerter – vermittelt durch die Jünger – offensichtlich der Kirche gehören, trage diese seitdem – wie es Bernhard von Clairvaux ausdrückte – für die geistliche Regierung selbst Verantwortung, während es in ihrem Ermessen liegt, das weltliche Schwert zu übergeben oder zu nehmen. Dante negiert indes eine derartige Allegorie und pocht auf die Kontingenz der Zahl `zwei´. JEDEN Jünger habe Jesus zum Kauf eines Schwertes aufgefordert, um sich gegen die `zukünftigen Drangsale und die Verfolgung, die sie erwartete´ zu wappnen (Mon III ix). Jeder Christ müsse deshalb symbolisch EIN Schwert besitzen, da die Nachfolge Jesu ohne politische Macht nicht auskomme“ (Hildalgo, a.a.O., S. 121).
Dante zitiert hier ergänzend Mt 10,34 (`Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen, sondern das Schwert.´). Aber aus alledem sei eben gerade keine „Hierarchie zwischen Kirche und weltlichem Herrscher“ abzuleiten.
„Damit reiht sich Dante zugleich in die erwähnte `imperiale´ Argumentationslinie ein, welche die schon von Gelasius I. betonten zwei Schwerter als Zeichen der GLEICHBERECHTIGUNG zwischen Kirche und politischer Macht (und nicht der Rangordnung zwischen ihnen) bewertet wissen wollte“ (Hildalgo, a.a.O., S. 121).
Dies wird auch bestätigt durch das Kapitel III x in Dantes MONARCHIA. Dort bemüht er sich „schließlich der Widerlegung aller weltlich-politischen Ansprüche, die die Kirche aus dem berüchtigten `Constitum Constantini´ ableiten wollte. Dazu führt er einerseits die juristischen Zweifel aus, dass die im großen Stile veranschlagte Schenkung von Gütern und Rechtstitel durch Kaiser Konstantin an die Kirche tatsächlich auf rechtmäßige Weise zustande kam. Doch selbst wenn dies andererseits der Fall gewesen wäre, hätte die Kirche, die gemäß der Evangelien strikt zur Armut verpflichtet sei, das Geschenk nicht annehmen, sondern die Güter allenfalls zum Wohle der Armen verwalten und verteilen dürfen. Der Papst sei demnach nicht Besitzer, sondern lediglich der oberste `Verteiler´ (DISPENSATOR) des Kirchenschatzes (Mon. III x, 14-17), ein Argument gegen die PLENITUDO POTESTATIS, das Dante von anderen zeitgenössischen Papstgegnern übernimmt. Später ergänzt Dante diesen Aspekt noch um die Reflexion über die `Natur der Kirche´, die für ihn darin charakteristisch ist, `dasselbe zu sagen und zu fühlen (wie Christus)´ (Mon. III xiv, 8-9). Und dessen Reich sei – unter Bezug auf das Johannesevangelium (18,36) – eben `nicht von dieser Welt´ (Mon. III xiv, 5). Eine gewisse Affinität zur `Armutskirche´ der Franziskaner ist hier deutlich erkennbar. Die Stoßrichtung der POLITISCHEN THEOLOGIE Dantes (und um eine solche handelt es sich, da das Modell des Politischen bei ihm dezidiert aus der Bibel abgeleitet wird) tritt damit offen zutage“ (Hildalgo, a.a.O., S. 122)
„In der GÖTTLICHEN KOMÖDIE ist diesbezüglich sogar von zwei Sonnen (dem weltlichen und göttlichen Pfad) die Rede, die das römische Imperium einst in Harmonie zum Erfolg gebracht hätten“ (Hildalgo, a.a.O., S. 123). - „Im Ergebnis seiner Vorbehalte gegenüber einer Klerikalisierung des Politischen von einer Form der Sakralisierung des Staates/des politischen Bereichs gesäumt, welche die explizit angestrengte Trennlinie zwischen Religion und Politik sofort wieder verwischt. Denn – so muss man feststellen – die von Dante geforderte Beschränkung der Kirche auf ihre geistlichen Aufgaben (und damit die Option einer institutionellen Separierung der Sphären) ist bei ihm unauflösbar an die Idee gebunden, dass sich weltliche und geistige Macht im Hinblick auf ihre THEOLOGISCH Dignität ebenbürtig sind. Religion und Theologie werden damit einerseits aus der Politik hinauskatapultiert, wiewohl sie andererseits nicht weniger als ihre Grundlage bedeuten“ (Hildalgo, a.a.O., S. 123). - „Die gleiche Position, die zwischen einer Vermischung und Trennung von Politik und Theologie changiert und auf eine (theologische) Gleichberechtigung zwischen Papst und Kaiser aus ist, offenbart sich in der GÖTTLICHEN KOMÖDIE. In der COMMEDIA verlässt Dante die vornehmlich akademische Debatte über die beiden Universalmächte und bemüht sich unter anderem, dieses Thema einem breiteren Publikum zu vermitteln. Im Zentrum des Rundgangs durch das INFERNO steht deswegen das Anprangern persönlicher Verfehlung durch einzelne Päpste, sowohl was den politischen UNAM SANCTAM-ANSPRUCH der Kirche bei Bonifaz VIII. als auch den Ausverkauf der katholischen Kirche an die Interessen Philipps des Schönen durch die Avognesischen Päpste oder die Habgier von Silvester I. betrifft, aufgrund derer er das Geschenk Konstantins annahm. Überall dort, wo also von Päpsten (und weltlichen Herrschern) die notwendigen Trennlinien zwischen politischer und geistiger Herrschaft aufgekündigt wurden, lanciert Dante folglich seine Kritik. Auf der anderen Seite erkennt er die unumschränkte Gewalt des Papstes im Bereich der SPIRITUALIA voll an, was ihn als keineswegs radikalen, dem royalistischen Lager zugehörigen Papstkritiker ausweist, sondern das Gemäßigte seiner Position verdeutlich. Deswegen schildert die COMMEDIA auch nur die Verfehlungen von PERSONEN und liefert keine Desavouierung der INSTITUTION des Papstums oder der Kirche als solche“ (Hildalgo, a.a.O., S. 124).
Im Umfeld Guardinis wird sich dieses geradezu unhistorische Antike-, Mittelalter- und Neuzeit-Verständnis einstellen, das von weltanschaulichen Haltungen ausgeht, in denen sich die entsprechenden Weltbilder durch alle Zeitgebundenheit hindurch auswirken. In diesem Kontext stellt sich dann auch weit eher die Frage nach dem „Wert” des Mittelalters, und zwar „Wert“ mehr im Sinne des „Wesens”, weniger im Sinne des „Nutzens”. Nur so wird sich zwischen Theologie und Politologie auch die Frage nach dem wirklichen Verhältnis von göttlicher und weltlicher Legitimation polar und einvernehmlich und nicht widersprüchlich oder synthetisch lösen lassen. Alles andere würde bedeuten, „politische Theologie” nicht als rational-wissenschaftliche Reflexion zu betreiben, sondern als ideologisches Instrument zu benutzen, das eigene Politikverständnis tatsächlich oder quasi theologisch zu legitimieren und alles andere als „überholte”, „alte” politische Theologie im Sinne einer „theologia civilis“ abzutun.
Wer sich - wie Guardini - auf Dante einlässt, wird dagegen geradezu notwendigerweise selber zum politischen Theologen, der aus seinem „Bescheidwissen in politischen Fragen” einen theologischen Beitrag zum Gemeinwesen leistet. Dieser Beitrag muss gerade nicht in tagespolitischer Aktivität liegen. Er kann, wie das Beispiel Dantes beweist, gerade auch in einer politisch-visionären Prophetie bestehen. Denn wie Pietsch völlig zu recht zusammenfasst:
„Gleichgültig, wie Dantes Monarchia gedeutet wird, sie enthält ohne Zweifel bleibende Wertbestimmungen für das politische Handeln auch in der Gegenwart, nämlich die Verwirklichung von Gerechtigkeit, Freiheit und Eintracht“ (Pietsch, Dante Alighieri als politischer Denker, a.a.O., S. 33).
Guardini als Interpret von Dantes politischer Theologie
Umso mehr verwundert es, dass in der Sekundärliteratur dieses grundlegende Verhältnis Guardinis zu Dante bislang kaum auf politisch-theologische Wirkungen hin überprüft wurde. Selbst in der jüngsten, bislang umfassendsten Studie zu Romano Guardinis „Dante-Interpretation“ von Lorenz Wachinger, fehlt eine solche Auswertung. Getreu des Untertitels der posthum herausgegebenen Dante-Vorlesungen schaut er auf die "philosophischen und religiösen Grundgedanken" und "das innere Geschehen darin", sowie auf die Boten- und Führergestalten, die religiösen Grundsymbole, das Bild von Christus, die Vorstellung von Gott. Wachinger schließt:
"Seine Interpretation der Divina Commedia von der Wertphilosophie Max Schelers aus, die sich gegen den Formalismus der Kantischen Ethik behauptet, wird deutlicher. Auch hier vernachlässigt er die meisten Jenseits-Begegnungen zugunsten der großen Linien, wodurch die den Leser verwirrende Vielfalt an historischen und mythologischen Details umgangen wird. Der Prozeß der Neu-Interpretation nach 1945, parallel zu Guardinis kulturkritischen Schriften, kommt dazu" (Lorenz Wachinger: Romano Guardinis Dante-Interpretation, in: Deutsches Dante-Jahrbuch, 79/80, 2005, S. 243-269).
Immerhin verweist Wachinger aber auf den Aufsatz von Martin und Ulrike Hollender über „Die deutsche Dante-Rezeption 1933-1945 in Publizistik und Wissenschaft“, die „zwischen politischer Instrumentalisierung und menschlicher Integrität“ abgelaufen sei. Dort kann man zu Romano Guardini nachlesen:
„Der Religionsphilosoph Romano Guardini versuchte neben einer kleinen Danteschrift aus dem Jahre 1935 mit vielfältigen Vorträgen über Dante aus einer christlichen Perspektive heraus, die Zurückdrängung des Christlichen in der deutschen Gesellschaft zu verzögern, wenn nicht zu verhindern. Der Mut Guardinis, seine Position als Wissenschaftler dahingehend zu verwenden, religiöses, mithin oppositionelles Denken im kirchenfeindlichen Staat sublim zu propagieren, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Guardinis Courage schlossen sich verschiedene Journalisten an und verteidigten in oftmals riskanten Formulierungen die adäquat christliche Einschätzung Dantes gegen jeden Versuch einer politisierenden Aktualisierung im Sinne der herrschenden NS-Doktrin“ (Martin und Ulrike Hollender: Die deutsche Dante-Rezeption 1933-1945 in Publizistik und Wissen-schaft: Zwischen politischer Instrumentalisierung und menschlicher Integrität, in: Deutsches Dante-Jahrbuch, 74, 1999, S. 13-84, hier S. 60).
Dabei verweisen die Hollenders auf die Zeitschrift „Germania“:
„Dass wir diese Schau geistiger Wirklichkeiten... nicht mehr mitzuvollziehen vermögen, macht unsere Verarmung im Vergleich zu den Menschen des Mittelalters aus; alle Vermittlungs- und Übersetzungsversuche, die nicht in der eigentlichen religiösen Tiefe des Danteschen Gedichts wurzeln, sind darum von vornherein zur Unfruchtbarkeit verurteilt“ ((A.S.: Das visionäre Schauen Dantes. Ein Vortrag von Professor Guardini, in: Germania, 29. November 1934).
Ein weiterer Verweis geht zu Joachim Günthers Vortragsbericht in der Zeitschrift „Deutsche Zukunft“:
„Endlich wandte sich Guardini ganz am Schluss seines Vortrags auch noch gegen jeglichen, von der Georgeschule vertretenen Versuch, Dante unchristlich verstehen zu wollen. Erst die Vision des Menschenbildes in der Dreieinigkeit gibt den Schlüssel der ganzen Komödie“ (Joachim Günther: Die Engel bei Dante. Ein Vortrag Guardinis, in: Deutsche Zukunft, 5, 1937, Nr. 3 vom 17. Januar 1937, S. 9).
Der Schriftsteller und Priester Max Rößler (1911-1992) bestätigte aus eigenem Erleben diese Wertung, wenn er sich zum 80. Geburtstag Guardinis an dessen Dante-Kolleg erinnerte.
„Drunten, `Unter den Linden´, brauste der früh-abendliche Verkehr im unermüdlichen BERLIN. Droben aber im grau-nüchternen Hörsaal lauschten wir Guardinis Kolleg über Dante. Längst schon hatte sich für die Unverblendeten der Nazismus als die zur Staatsmacht gewordene Unmenschlichkeit demaskiert. Zwar hatten am selben Tag in den benachbarten Räumen der Universität Professoren mit glänzenden Namen unwahrscheinlich unkritisch, sogar begeistert im Sinne Hitlers gesprochen. Dieser geistliche Professor aber beschwor Dante“ (Max Rößler: „Die Möglichkeit der Rettung ...“ Zum 80. Geburtstag des bedeutenden Theologen und Denkers Romano Guardini, in: ???, 1965; nachgedruckt u.d.T. „Die Möglichkeit der Rettung …“. Zum 100. Geburtstag des bedeutenden Theologen und Denkers Romano Guardini, in: Fränkischer Hauskalender und Caritaskalender 1985, Würzburg 1984, S. 58-62. Vgl. ders., Romano Guardini, in: Fränkisches Volksblatt, München, 20. September 1952; ders.: Helle Wahrheit aus dunklem Erdreich, Zum 100. Geburtstag des großen Theologen Romano Guardini, in: Erdkreis, 35, 1985, S. 114-118.)
Gerade im Blick auf diese anti-nationalsozialistische Komponente in Guardinis Dante-Studien sollen sie im Folgenden zwar weitestgehend chronologisch, aber doch gemeinsam vorgestellt werden. Guardini hatte nämlich im Wintersemester 1930/31 – nach Abschluss seiner „Vorbereitung auf Dante“ - damit begonnen, zahlreiche universitäre Vorlesungen und Seminare, aber auch öffentliche Vorträge über Dante zu halten.
Laut Mercker (Bibliographie Romano Guardini, Paderborn/München/Wien Zürich 1978) lauten die Themen der Vorlesungen:
- „Religiöse Probleme in Dantes göttlicher Komödie“ (Wintersemester 1930/31),
- „Die religiöse Existenz in Dantes Göttlicher Komödie“ (Wintersemester 1932/33),
- „Glaube und Frömmigkeit Dantes“ (Sommersemester 1934),
- „Die obersten Daseinswerte in Dantes Göttlicher Komödie“ (Sommersemester 1936)
- „Der religiöse Vorgang in Dantes Göttlicher Komödie. Erster Teil: Das Inferno“;
- „Der religiöse Vorgang in Dantes Göttlicher Komödie. Zweiter Teil: Das Purgatorio“ (Wintersemester 1936/37)
- „Der religiöse Vorgang in Dantes Göttlicher Komödie. Dritter Teil: Das Paradiso“ (Sommersemester 1937).
- „Das Weltbild Dantes“ (Sommersemester 1939)
- „Das Weltbild Dantes“ (Sommersemester 1948)
- "Dantes Bild vom Dasein. Einführung in die Gedankenwelt der Göttlichen Komödie, Teil 1" (Sommersemester 1950)
- "Dantes Bild vom Dasein. Einführung in die Gedankenwelt der Göttlichen Komödie, Teil 2" (1951) - siehe dazu das Manuskript „Geordnete Welt. Vorlesungen über das Daseinsbild von Dantes Göttlicher Komödie im Guardini-Archiv der Katholischen Akademie in München
- "Die Gottesvorstellung in Dantes Göttlicher Komödie" (1953)
- "Das Ewige in der Geschichte – Platon, Augustinus, Dante" (Wintersemester 1955/56)
- "Grundgedanken von Dantes Göttlicher Komödie" (Sommersemester 1956)
Die Erkenntnis und der Kirchenlehrer in Dantes Göttlicher Komödie (1930)
Guardini stellte dabei von Anfang an explizit die Frage nach der spezifisch mittelalterlichen Wahrheitssuche im Unterschied zur antiken und neuzeitlichen; so zum Beispiel anlässlich des Festaktes des Albertus-Magnus-Vereins im November 1930 in der Aula der Universität Berlin, als er über „Die Gestalt des Kirchenlehrers in Dantes Paradiso” sprach. Der Vortrag erschien als Aufsatz erstmals im „Hochland“ (Romano Guardini: Die Erkenntnis und der Kirchenlehrer in Dantes Göttlicher Komödie, in: Hochland, 28, 1930/31, Bd. II, S. 212-225; eingegangen in: Unterscheidung des Christlichen, 1935; u.d.T. "Die Erkenntnis und der Lehrer der Wahrheit in Dantes Gedicht", eingegangen in: Landschaft der Ewigkeit, 1958; (2)1996, S. 152 ff.):
“Im Mittelalter lebte ein leidenschaftliches Verlangen nach Wahrheit. Dieses Verlangen war anders geartet als jene beiden Formen der Wahrheitssuche, wie sie im Bewusstsein der Gegenwart stehen: die neuzeitliche und die antike” (ebd. (1996), S. 152).
Den ersten Ausdruck finde der mittelalterliche Erkenntniswille mit seiner „konstruktiv-kontemplativen Erschließung” der Wirklichkeit bei Anselm von Canterbury mit seinem Grundwort „fides quaerens intellectum” („Glaube der vernünftige Erkenntnis zu werden strebt”) (ebd. (1996), S. 153 f.). Bereits hier folgte bei Guardini die erste politisch-theologische Korrektur gängiger Interpretationen. Denn dieses mittelalterliche Streben habe – so Guardini - nichts mit „`autoritätsgebundenem Denken´, das unfruchtbar um vorgegebene Lösungen kreise”, zu tun (vgl. ebd. (1996), S. 154). Erst der neuzeitliche Erkenntniswille richte sich „in abgelöstem Gegenüber auf den objektiven Sachverhalt und dessen rationale Aufhellung. Sein Ethos fordere, dass dieser Sachverhalt immer rein erfasst, dessen Aufhellung immer exakter vollzogen werde.” Die dazugehörige „entschieden subjektivistische Gegenrichtung” setze zum Teil „sogar `Wahrheit´ in ein Funktionsverhältnis zum `Leben´”. Im Unterschied zu diesen objektivistischen und subjektivistischen Vereinseitigungen sei dagegen „die Richtung auf das `Existentielle´” durchaus ernst zu nehmen (vgl. ebd. (1996), S. 152f., inklusive Anmerkung 1). Dante war nun für Guardini geradezu der „letzte“ exemplarische Vertreter des mittelalterlichen Erkenntniswillens, der aber selbst schon Anzeichen der heraufkommenden Neuzeit in sich trug, sowohl in Richtung einer Rationalisierung und Funktionalisierung, Objektivierung und Subjektivierung als auch in Richtung einer Existenzialisierung – eine Dichtergestalt an der Zeitwende also und gerade deshalb für Guardinis eigene Situation über 600 Jahre später so bedeutsam.
Seinsordnung und Aufstiegsbewegung in Dantes Göttlicher Komödie (1933)
1933 veröffentlichte Guardini seinen Aufsatz „Seinsordnung und Aufstiegsbewegung in Dantes Göttlicher Komödie”, wobei es sich um einen Anfang des Jahres gehaltenen Vorteag beim „Deutschen Kulturbund“ in München, zuvor aber auch schon in Freiburg an der Universität gehaltenen handelt (Romano Guardini: Seinsordnung und Aufstiegsbewegung in Dantes Göttlicher Komödie, in: Historisches Jahrbuch der Görresgesellschaft, Köln, 53, 1933, S. 1-26; eingegangen in: Unterscheidung des Christlichen, 1935; u.d.T. "Die Ordnung des Seins und der Bewegung"; eingegangen in: Landschaft der Ewigkeit, München 1958; München/Paderborn 1996, S. 42ff sowie in: Hugo Friedrich (Hrsg.): Dante Alighieri. Aufsätze zur Divina Comedia, Darmstadt 1968, S. 236-259; u.d.T. "Nachwort" in: Dante Alighieri. Die göttliche Komödie, übersetzt durch König Johann von Sachsen Philalethes, Berlin 1965, S. 529-550). In diesem Text heißt es lapidar:
“Dantes Weltbild ist, christlich umgedacht, das alte ptolemäische” (Guardini, Landschaft der Ewigkeit, a.a.O. (1996), S. 42).
Später sprach Guardini vom „ptolemäisch-mittelalterlichen Weltbild“ (Romano Guardini: Der Engel in Dantes Göttlicher Komödie, Leipzig 1937, S. 76, FN 1). In diesem Weltbild liege um die Welt mit ihren Sphären „ein Bereich, dessen Wesen mit bloß raumzeitlichen Begriffen nicht mehr ausgedrückt werden kann”, „das Empyreum, `das Brennende´”, das „die Welt und ihren Raum” umfasst. In diesem überräumlich-überzeitlichen „Ort Gottes” ist Gott „Wert der Werte, `höchstes Gut´, wobei der Begriff des `Höchsten´ nicht komparativ, sondern absolut gemeint ist” (ebd. (1996), S. 42 f.) Auch wenn das ptolemäische Weltbild vergangen sei, bleibe Dantes Dichtung daher vollziehbar und unvergänglich, „wahr“ und „gültig“, weil es „das Bild des unmittelbaren Daseins ist“ (ebd. (1996), S. 46). Später wird Guardini für die Neuzeit von einer Umkehrung der gesamten Ordnung sprechen. Im Zentrum sei nunmehr Satan; das Empyreum, d.h. der Ort des Heiligen sei in der Neuzeit sozusagen das Allerausgebreitetste. Das Irdische betrüge sich damit aber selbst.
Egal bei welcher Staatsform also, sei sie von einer monarchischen, aristokratischen oder demokratischen Hierarchie geprägt, entscheidend blieb für Guardini immer die Mitte. Wo zugelassen wird, dass sich der Satan, ob in der Form des Bösen oder eines angeblichen „Nichts“, anstelle Gottes in der Mitte breit macht, sei jede Staatsform satanisch. Die echte Ordnung enthülle sich dagegen nur im Bild „der himmlischen Rose, wo alles ineinander ist" (Romano Guardini: Dantes Göttliche Komödie, 1998, S. 473 f.).
„Die Rose enthält das Menschendasein mit seinen Persönlichkeiten und Taten, eingegangen in seine ewige Gestalt. Sie ist die zu Gott heimgeholte und in Seiner Gemeinschaft sich erfüllende Schöpfung. Die Form der Blüte aber besagt, dass der Charakter des erfüllten Seins Schönheit ist, heiliges Blühen jenseits alles Leistens und Nützens“ (Guardini, Landschaft der Ewigkeit, a.a.O. (1958), S. 39f.; (1996), S. 32).
Der Mensch, der „Reinigung“ und „Erleuchtung“ durchlebt habe, ist „für die `Vereinigung´ vorbereitet und vermag die Rose als Einbegreifung der Schöpfung und Geschichte in die Einfachheit des göttlichen Lichtes zu schauen“ (ebd. (1958), S. 42; (1996), S. 34).
Guardini fragt zum Abschluss seiner Interpretation, “warum der Dichter mit seinem mächtigen Sinn für die Wirklichkeit der Geschichte und des Staates das Letzte, das er von der Ordnung des Daseins aussagt” (ebd. (1958), S. 44; (1996), S. 35), in seine Vision von der Rose legt, und gibt selbst den Versuch einer Antwort:
“Es könnte sein, dass nach Dantes Absicht die Rose auch als esoterisch-politisches Symbol verstanden werden muss ... Tatsächlich lässt der Charakter von Mannigfaltigkeit und Einheit, von Abstufung und Ordnung, der ihr eignet, das für die mittelalterliche Sozialtheorie grundlegende Prinzip der Hierarchie anklingen” (ebd. (1958), S. 44 f.; (1996), S. 35).
Dante habe es für „das Schlimmste, was einem Menschen auf Erden widerfahren könne“ gehalten, „kein Bürger eines freien Stadtstaates zu sein”, während es im Jenseits nichts Schlimmeres gäbe, als nicht das Bürgerrecht im „sicheren und freudevollen Reich” zu haben (ebd. (1958), S. 45; (1996), S. 35). Er wählte dafür nicht “das politisch-konstruktive Bild” der himmlischen Stadt (Friedrich Schneider: Literaturbericht (Rez. von Guardini, Vision und Dichtung), in: Deutsches Dante-Jahrbuch, 26, 1946, S. 209), sondern eben das „esoterisch-politische Symbol“ der Rose (vgl. ebd. (1958), S. 45f; (1996), S. 35 f.).
=Dante durchwandere die „Fülle der geschichtlichen Menschenwirklichkeit, hingebreitet durch die Totalität der `Welt´, überall das eigene Selbst antreffend, das ebenfalls Welt ist, unergründlich in ihrer Tiefe, unabsehbar in ihrem Guten wie in ihrem Bösen. Diese Fülle ist aber nicht chaotisch ausgeschüttet, sondern geordnet” (Die Ordnung des Seins und der Bewegung, in: Landschaft der Ewigkeit (1958), S. 63; (1996), S. 50; Dantes Göttliche Komödie, a.a.O., S. 365). Immer wieder werde von Dante das Element der Ordnung besonders intensiv herausgearbeitet, wobei sich die verschiedensten Ordnungsgefüge der Astronomie, der psychologischen Anthropologie, der Soziologie, der Geschichte, der Werte und des Heils usw. einander gestuft durchdringen (ebd. (1958), S. 64 f.; (1996), S. 51; Dantes Göttliche Komödie, a.a.O., S. 366 f.).
„So entsteht eine Stufung des Seins, als Ordnung im Wert und in der Teilhabe an Gott. Diese Ordnung ist aber nicht starr. Wohl sind die Dinge gestalthaft in sich geschlossen, aber ein dynamischer Fluss geht durch sie hin“ (ebd. (1958), S. 65; (1996), S. 51f.; Dantes Göttliche Komödie, a.a.O., S. 368).
Schon von Anfang an hatte Guardini also darauf hingewiesen, dass in diesem Zusammenhang „hierarchische Ordnung“ gerade nicht Spiritualisierung ins Dualistische geschehe, weil „der mittelalterliche Mensch... alles andere als ein weltfeindlicher Dualist war“ und in einer engen Beziehung von „Rittertum und Minnedienst“ stand (vgl. Guardini, Landschaft der Ewigkeit, a.a.O. (1958), S. 87; (1996), S. 69), auch nicht ins Metaphysische oder Ekstatische bedeute, wie dies im Neuplatonismus und im „neuplatonisch kompensierten Thomismus” geschehe. Guardini grenzte die christliche Denkweise sogar ausdrücklich und deutlich gegenüber metaphysischen oder exstatischen Positionen ab: „Der Metaphysiker bezieht das endliche Sein auf `das Absolute´ und löst darin seinen Sinn auf, oder aber er macht den Sprung ins Gegenteil, nimmt die Endlichkeit allein und wirft die Wucht des Absoluten in deren tragische Intensität. Der neuplatonische Exstatiker lässt alle irdische Gestalt als unwesentlich vor dem ewigen Einen sinken, oder er wird zum Dionysiker und sieht das Eigentliche in der kurzen Kulmination des absolut vergänglichen Lebens.“ Der Christ halte dagegen daran fest, dass Gott das Heil wirke, „aber nicht durch überall geschehende Manifestation und unendlichen Prozess, sondern in unterschiedener und Entscheidung fordernder Tat.” (Romano Guardini, Der Engel in Dantes Göttlicher Komödie, Leipzig 1937, S. 131). Insofern ist es auch nicht unproblematisch, wenn Hans Mercker in Guardinis Dantedeutung einen christlichen Neuplatonismus sieht, wobei es - so Mercker - „sich hier nicht um eine unkritische Übernahme, sondern um seine Verwendung in christlich-gereinigter Form“ und Guardini verwende „viel Kraft, um die Unterschiede herauszuarbeiten“ (vgl. Hans Mercker: Die Beschäftigung mit Dante im Gesamtwerk Guardinis, Manuskript, ins Italienische übersetzt veröffentlicht unter dem Titel: Responsabilità sotto la cifra dell´eterno. L´immagine dell´uomo nelle lezione di Guardini su Dante, in: Michele Nicoletti/Silvano Zucal (Hrsg.): Tra coscienza e storia: il problema dell'etica in Romano Guardini; atti del Convegno tenuto a Trento il 15 - 16 dicembre 1998, Brescia 1999 (Religione e cultura; 12), S. 49-77). Sicherlich vollzog Guardini einerseits die christliche Assimilation von neuplatonischen Elementen, wie man sie zum Beispiel bei Bonaventura findet nach (vgl. dazu Werner Dettloff: Vorwort des Herausgebers, in: Romano Guardini: Systembildende Elemente in der Theologie Bonaventuras, hrsg. durch Werner Dettloff, 1964, S. XII), auf der anderen Seite lehnte er eben den Neuplatonismus und einen “neuplatonisch kompensierten” Thomismus als das Primäre und Bestimmende ab. Dem Neuplatonismus fällt immer nur die Funktion des “Sekundären und Instrumentalen” (Dettloff) zu. So betont Guardini, das Dantes "hierarchische Ordnung" von einem „geradezu überwältigenden Verleiblichungswillen” geprägt sei (Guardini, Landschaft der Ewigkeit, a.a.O. (1958), S. 68; (1996), S. 55; Dantes Göttliche Komödie, a.a.O., S. 371). Der Nachfolgesatz differiert leicht, er heißt in der ursprünglichen Fassung: „Von einer Tendenz ins Spiritualistische, gar Dualistische weiß er nichts.“ ((1996), S. 55), in den Vorlesungen schließlich: „Von einer Tendenz ins Leibabgewendete, Spirituelle weiß er nichts.“ ((1998), S. 371). Wie die ganze Welt sei auch Seele und Leib Dantes und damit des Menschen überhaupt „in lautloser Sehnsucht zu Gott hingespannt, die sich im Gang Dantes, des Menschen löst“ (Guardini, Landschaft der Ewigkeit, a.a.O. (1958), S. 71; (1996), S. 58; (1998), S. 374), bis er am Ende ganz frei werde:
“Die vollendete Freiheit hat ihr Gesetz im eigenen Innern.”
Dort könne Dante „sich selbst Kaiser und Papst” sein, wie Vergil es in der „Göttlichen Komödie“ ausdrückt (ebd. in Bezug auf Par 33, 133-145). Von dort aus gehe die Kontemplation in die Vision des Ewigen über. Und von der Vision her stelle sich die Frage:
“Wie kann Gott alles in allem sein, aber die Welt Welt bleiben?”
Guardinis Antwort im Geiste Dantes lautete, indem „Gott an sich hält”, könne auch der Mensch - Gottes Ebenbild mit der Bestimmung, „teilhaftig zu sein der göttlichen Natur” - in der Geschichte die „Möglichkeit der Entscheidung für oder gegen Gott” treffen (ebd. (1958), S. 79; (1996), S. 65).
Die Gestalt des Engels in Dantes Göttlicher Komödie (1936)
1936 ergänzte Guardini in seinem Vortrag „Die Gestalt des Engels in Dantes Göttlicher Komödie“ die Bedeutung dieses Weltbildes im Sinne einer zeitlosen Haltung des Christen. Diesen Vortrag hat Guardini wohl zunächst 1936 vor dem Katholischen Akademikerverband in Köln und schließlich Anfang 1937 auch vor den katholischen Akademikern in Berlin gehalten (vgl. dazu Joachim Günther: Dante und die Engel, in: Berliner Tageblatt, 1937, 12. Jan. (Vortrag im Verein katholischer Akademiker in Berlin. Der Engel in Dantes Göttlicher Komödie) und Bernhard Welte: Rez. Der Engel in Dantes Göttlicher Komödie, in: Oberrheinisches Pastoralblatt 40, 1938, S. 168-170). Darin heißt es:
„Für unsere menschliche Selbsterfahrung ist trotz aller Astronomie die Erde doch der Mittelpunkt, und für das christliche Bewusstsein ist sie das in einem noch höheren Sinne, wenn das auch vom wissenschaftlichen Bewusstsein her immer wieder in Frage gestellt wird” (Romano Guardini: Der Engel in Dantes Göttlicher Komödie, Leipzig 1937, S. 76, FN 1; (3)1995, S. 64).
Von seinem mittelalterlichen Weltbild aus habe Dante nun auch die drei Bereiche des Jenseits beschrieben, die „hierarchisch gebaut; Ordnungen von Werten oder Widerwerten; von heiligem oder verlorenem oder sich läuterndem Dasein” seien. Die Sphären seien einerseits „Räume”, in denen sich „die Fülle des Heilig-Guten” entfalten könnte, zum anderen „die Form..., wie das Gute Weltmacht ist. Sie bilden nämlich nicht nur riesenhafte Massen und Bereiche, sondern auch Energien” (ebd., S. 80; (3)1995, S. 67). Durch diese Sphären würden die Werte – „als Sonderformen und Gestalten des Guten“ – die Welt regieren. Diese „Regierung” durch die Werte „sichert den Bestand der Welt” (Ebd., S. 81; (3)1995, S. 68). Gott wirke in die Welt hinein einerseits unmittelbar „durch Strahlung, Berührung und Ein-Bildung”, andererseits eben vermittelt „durch Sendung von Personen”. Hierarchie bedeute in diesem Zusammenhang zugleich „unendliche Mannigfaltigkeit” und höchste „Ordnung der heiligen Herrschaft und des heiligen Dienstes” (ebd., S. 94; (3)1995, S. 79). Wenige Seiten später konkretisierte Guardini, dass diese „Ordnung der Werte, die sich in den Himmelsbereichen offenbart, ... im letzten der Ausdruck“ sei, „den die Wertordnung der Engel selbst in der Welt findet. In ihr, der `Hierarchie´ aber entfaltet sich die Mannigfaltigkeit und Einheit der Weisen“, in denen „die Engel ihrerseits an der Wertfülle Gottes teilnehmen.” Die Bewegungen der Himmel seien es, die nach der Vorstellung Dantes „der menschlichen Freiheit ihre Bedingungen vorgeben.” Nirgendwo herrschen in dieser Daseinsvorstellung „abstrakte Kräfte und Gesetze, sondern alles geht aus einem Tun hervor, und hinter allem Tun steht Person” (ebd., S. 94; (3)1995, S. 82).
Der neuzeitliche Individualismus dagegen – so kontrastierte Guardini – habe Schwierigkeiten mit dem Vollzug einer „wirklichen Ordnung wirklicher Personen” und könne einer „Theologie des ganzheitlichen Lebens” nichts mehr abgewinnen (ebd., S. 95; nicht in (3)1995!). Guardini sah dabei durchaus auch das Problem, dass in den mittelalterlichen Vorstellungen der himmlischen und irdischen Hierarchien „die Soziologie des betreffenden Denkers enthalten“ sei, doch hielt er daran fest, dass sich bei allen mittelalterlichen Denkern das hierarchische Leben „in Beziehungen der Ur- und Abbildlichkeit; in Verhältnissen des Eigenseins, der Vermittlung und der Mitteilung; in Akten der Unterscheidung und Vereinigung; in Gliederungen des Ranges, der Einfachheit und Fülle, der Führung und Gefolgschaft usf.” entfalte (ebd., S. 96???; (3)1995, S. 80). Letztlich konterkarierte also Guardini das neuzeitlich-individualistische mit dem mittelalterlich-personalistischen Hierarchie-Verständnis und macht – ganz in der Tradition Kettelers - den Unterschied fest an den komplementären Polaritäten Einheit und Mannigfaltigkeit als „geordnete Fülle“ auf der einen Seite, an den dialektisch umschlagenden Widersprüchen Absolutismus und Liberalismus auf der anderen Seite.
Die „äußere” Absicht der Studie über „Die Gestalt des Engels in Dantes Göttlicher Komödie“, deren Thema ihn laut Vorwort aber bereits seit 1930 beschäftigte, richtete sich in konsequenter Fortführung auf die Frage „nach dem philosophischen und christlichen Weltbild der Göttlichen Komödie”. Es handle sich um einen ersten „Längsschnitt durch die ganze Dichtung” zur Erprobung der Methode, „ob sie tief genug reicht, um das Wesentliche zu sagen und feinfühlig genug ist, um den Wendungen und Verzweigungen der Gedanken, Bilder und Formen zu folgen” (Romano Guardini: Der Engel in Dantes Göttlicher Komödie, Leipzig 1937, S. 9; (3)1995, S. 9). Guardini verwies hier auf seine Skizze „Vorbereitung auf Dante” zurück. In ihr habe er begonnen zu zeigen, dass „der Begriff der Vision... für das Verständnis der Göttlichen Komödie grundlegend” sei, „jene Vision, die nicht nur im betrachtenden Schauen, sondern im inneren Tun und Werden vollzogen werden muss.” Sie sei es, die „Dante vom ersten Augenblick unter Führung und Befehl” stehen lasse. Eine „heilige” „Kette helfender Hände”, „liebender Dienste”, göttlicher Boten, die von der Mutter des Herrn über die Märtyrerin Lucia, über Beatrice hin zu Vergil reicht, gewähre Dante Einblick in das „Ganze”, in den „Zusammenhang der Sendungen” und das „Ringen im Walde”, mit Hilfe dessen der Mensch die große Gefahr überwinden könne (vgl. ebd., S. 16f.; (3)1995, S. 14 f.).
Vergil, der Dante im „Inferno” durch die obere Hölle und durch die „civitas diaboli” führt, ist - entgegen der gängigsten Interpretation - für Guardini nicht „die Verkörperung der natürlichen Vernunft und des natürlichen Guten, sondern er dient der Gnade.... Vergil ist das Dasein, sofern es an das Reich Gottes angrenzt... Vergil ist Advent, freilich in einer Hoffnungslosigkeit, die dem Dichter durch den mittelalterlichen Objektivismus auferlegt ist.... Er ist eine wunderbar lebendige, aber christlich unmögliche Gestalt” (ebd., S. 22, FN 1.; (3)1995, S. 19, FN 1). Vergil bedarf der „echten” Gnade.
Gerade an dieser Stelle stehe aber nun bei Dante das Bild bzw. die Gestalt des Engels. Guardini konfrontierte nun diese Gestalt des Engels in seiner Interpretation zunächst mit zwei Entartungen, zwei Bewegungen, die diesem Bild bzw. der Gestalt des Engels nicht gerecht werden: zum einen die Bewegung, die „das Bild des Engels ins Weltliche verloren hat”, zum anderen die nicht weniger welthafte Bewegung, die die „Engelsgestalt ins Mythologische” umformt. Für letztere, jüngere Bewegung wurde nach Guardini „der erste entscheidende Schritt durch Hölderlin getan. Bei ihm erscheinen die Engel wieder in befremdender Größe, immer auf die Geschichte des Landes, der Stadt, der Heimat bezogen: als die `Engel des Vaterlandes´.” Rainer Maria Rilke sei diesen „Weg ins Mythologische” weitergegangen (vgl. ebd., S. 39; (3)1995, S. 33), die die Engelsgestalt „ganz positiv, aber als bloße Weltwesen” deutet: “Hölderlin als Mächte der Geschichte; Rilke als Garanten der Ganzheit einer Welt, welche das Sichtbare und das Unsichtbare zur großen Einheit zusammenfasst und `nun erst heil´ ist.” Von hier aus sei der Schritt zur Polymorphie und zum Polytheismus nicht mehr weit und nähert sich der nihilistischen Bewegung zum Über-Menschen und Menschen-Gott, „wie das Dostojewskijs Kirilloff und Nietzsches Zarathustra verkünden” (ebd., S. 40; (3)1995, S. 34).
Dagegen seien Dantes Engel noch „ganz christlich”, weder mythologisch bestimmte „numinose Wesen”, noch weltlich bestimmte „Übermenschen”, sondern geisterfüllte Geschöpfe von übermenschlicher Herrlichkeit (vgl. ebd., S. 40ff; (3)1995, S. 34f.). Das hier für die Engel entworfene gelte gleichermaßen für das „echte Jenseits”, das ebenfalls in Kunst und Dichtung entweder ins bloß Weltliche gezogen worden sei, oder, wie von Hölderlin und Rilke behauptet, nur „die andere Seite des Diesseits” bilden würde und dabei „als `Himmel´ ins Fragwürdig-Ethische oder Märchenmäßige, als `Hölle´ ins Fragwürdig-Ängstende oder Komische geglitten” sei. Das dadurch neu gewonnene „Ganze” liege zwischen dem „erdhaften Diesseits” und „dessen Gegenpol”, dem numinosen Jenseits, und sei die „Totalität der Geschichte” (ebd., S. 44; (3)1995, S. 37).
Dies stelle eine verlockende Daseinsgestalt vor, habe aber mit Dantes „Ewigkeit”, nämlich der dem heiligen Gott „allein vorbehaltenen Daseinsweise” nichts mehr gemein. Bei ihm ist sie „die wirkliche, durch keine Dialektik von Hier und Dort, Leben und Tod, Außen und Innen einzuwölbende `Andersheit´” (ebd., S. 48; (3)1995, S. 40). Und die Engel werden dann eben nicht, wie „in der Vorstellung eines bloßen Dichters... zu lyrischen Gestalten“, auch nicht, wie beim „bloßen Metaphysiker“, nur „`geistig´ gefasst“, sozusagen „als Personifikationen ewiger Prinzipien und höchster Ideen“; ebenso wenig, wie beim „Symbolisten“, nur „Bilder..., welche Sinngehalte des Daseins, Geborgenheitsbeziehungen, Tatsachen der Schwelle und Pforte, Formen der Hoheit ausdrücken“; noch weniger, wie beim „Mythiker“, bloß „höhere Weltwesen, in irgendeinem Sinne `Götter´.“
„Für Dante sind die Engel jene Wesen, von denen die Schrift redet, und die im Leben der Kirche stehen” (ebd., S. 138; (3)1995, S. 112).
Karl Vossler äußerte sich im Übrigen in seiner Besprechung der Schrift „Die Gestalt des Engels in Dantes Göttlicher Komödie“ im Literaturblatt der Frankfurter Zeitung erstaunt, dass Guardini „den Engel, den es für den aufgeklärten Menschen von heute nur noch in der Weise gebe, wie Zentauren und Riesen, ernsthaft behandele.“ Guardini verteidigte seine Übernahme von Dantes Sicht der Engel wenig später an gleicher Stelle mit einer Hinterfragung von Vosslers Aufklärungsverständnis (vgl. Vgl. Vossler, in: Literaturblatt der Frankfurter Zeitung, 1. August 1937, Nr. 31; Guardini, in: ebd., 3. Oktober 1937, Nr. 30). Durch dieses Verständnis der Engel werde – so Guardini - deutlicher, dass „Ewigkeit und Entscheidung... einander zugeordnet“ sind:
„Ewigkeit bedeutet nicht endlose Zeitdauer; auch nicht einfache Abwesenheit von Zeit, sondern zunächst die Weise, wie der lebendige Gott heilig und selig in sich selbst lebt. Dann, für den Menschen, den durch die Gnade gegebenen Anteil an diesem Leben oder die im Gericht verhängte Ausschließung davon. Sie setzt also Person voraus und Entscheidung dieser Person; sich vollziehend im Gehorsam, oder sich versagend im Ungehorsam” (Guardini, Der Engel in Dantes Göttlicher Komödie, a.a.O., S. 49; (3)1995, S. 41).
Da die Entscheidung oft erst im letzten Augenblick geschehe, bedürfe die irdische Existenz im Purgatorio der Reinigung, die bei Dante in mehreren Stufen, Terrassen bzw. Kreisen sich vollzieht (vgl. ebd., S. 49 ff.; (3)1995, S. 41 ff.). Es handelt sich dabei um Prüfungen „vor der Freiheit des neuen Menschen” (ebd., S. 68; (3)1995, S. 57). Erst dadurch sei im Paradies der „ganz gut und frei gewordene Menschenwille” im Einklang mit der Gottesschöpfung. Dieser Einklang kommt Dante im „geheimnisvollen Zug der Kirche”, in der „apokalyptischen Vision der heiligen Geschichte” entgegen (ebd., S. 70; (3)1995, S. 59). Die Freiheit, zu der die Personen - bei Dante durch Vergil - losgesprochen wurden, bedeutet hier „im letzten die Kraft zur Rechenschaft” - für Dante vor Beatrice, auf deren geschichtliche, nicht nur spirituelle Existenz Guardini großen Wert legte (vgl. ebd., S. 72; (3)1995, S. 61).
Konsequenterweise wandte sich Guardini daher auch gegen die „Dante-Ästhetik der Neuzeit”, die „den ersten Teil der Göttlichen Komödie”, also das Inferno, „als so ohne weiteres fasslich rühmt” (ebd., S. 74; (3)1995, S. 62). Erst wer verstanden habe, „was ewiges Heil und Unheil bedeuten”, könne den „eigentlichen Gegenstand” sehen (ebd., S. 74f.; (3)1995, S. 62f.), nämlich das „Geheimnis der Verschiedenheit und Einheit” (ebd., S. 115; (3)1995, S. 96). Und das Gottes Gnade „weder in der Reichweite der Macht noch des Rechtes” liege:
„Dante ist nicht `Dichter´ in unserem Sinne, sondern Weltbaumeister. Sein eigentlicher Wille geht nicht darauf, ein Gefühl auszusprechen, oder ein Bild zu schaffen, sondern eine Ordnung aufzubauen, in welcher Welt und Menschendasein so sind, wie sie vor Gott sein sollen... In Dantes Werk geht es um das gleiche Ungeheure, wie in den Domen der mittelalterlichen Architekten und den Summen der scholastischen Denker: Die Gestalt zu bauen, worin die Fülle des Daseins zur Einheit gelangt. Die Ordnung zu finden, worin jedes Ding seinen Platz hat. Heilige Herrschaft aufzurichten, in welcher alles Sein auf dem Sinn ruht, alle Macht auf dem Recht, und alles Gehorchen in die Freiheit führt. Hierarchie, die nach der Definition des heiligen Bonaventura bedeutet, dass jedes Einzelne seinen Sinn in sich trage, aber zugleich für die anderen da sei; jedes auf dem Vorhergehenden ruhe und das Folgende begründe; sich selbst ausdrücke, aber zugleich das Ganze gegenwärtig bringe. Das hat Dante bis zu einem unbegreiflich hohen Maße gestaltet. Und zwar aus der Pflicht gegen die Welt selbst” (ebd., S. 119ff.; (3)1995, S. 100f.)
Es sei ihm um ein Menschendasein gegangen, „das von der rechten Ordnung der Werte getragen ist. Da heraus gewinnt die Tatsache, dass dieses Ganze in den Werten des Nicht-Nutzhaften, des Edlen, der reinen Freiheit gipfelt, erst seine ganze Herrlichkeit” (ebd., S. 121; (3)1995, S. 101).
In dieser Denkrichtung stehe dann – so Guardini - außer Frage, „dass Gott die Heiligkeit und Wahrheit schlechthin und der letzte Sinn des menschlichen Daseins ist, von irgendwelcher Relativierung also keine Rede sein kann.“ Und so „wird die Welt entschieden endlich genannt und zugleich ewig aufrechterhalten. Das menschliche Dasein ist begrenzt und vergänglich: es bleibt aber in Gottes Ewigkeit wirklich und empfängt dort seinen letzten Sinn“ (1937, S. ???; 1951, S. 135; (3)1995, S. 109).
Notizen zu einem Bilde von Dantes Persönlichkeit (1939)
In seinen „Notizen zu einem Bilde von Dantes Persönlichkeit” aus dem Jahr 1939 (in: Die Schildgenossen, 18, 1939, S. 221-229) beschäftigte sich Guardini schließlich direkt mit der Persönlichkeit Dantes, die „in jener Weise lebendig und mächtig“ sei, „wie nur das lebendig ist, was in Spannungen besteht”. Im Unterschied zu Petrarca wende sich Dante mit seinem „Schritt über die Grenze nach der Renaissance hin” nicht vom Mittelalter ab, sondern geradezu neu dem Mittelalter zu, „um mittelalterlicher zu werden als das Mittelalter selbst.” Dante verhalte sich zum Mittelalter, wie Homer zum griechischen Altertum, wie Pindar zum dorischen Mittelalter und wie Platon zum hellenischen Stadtstaat:
“Keiner habe die Gestalt des Mittelalters so klar gesehen, so glühend geliebt, so groß aufgerichtet und mit einer solchen Entschlossenheit verteidigt, wie er - und dennoch war er kein rein mittelalterlicher Mensch mehr” (ebd., S. 221).
Guardini war davon überzeugt, dass Dante „von einem leidenschaftlichen Willen zu unmittelbarem politischen Wirken und Schaffen getrieben war.” Durch den Verlust von Raum und Macht des politischen Handelns wende er sich „aus dem Jetzt in die Vergangenheit.” Dabei „setzt er das Unrecht, das ihm persönlich geschehen ist und immer neu geschieht, mit jenem gleich, das die unwürdigen und verräterischen Menschen seiner Zeit den Ordnungen antun, in denen er die heiligen Ordnungen des Daseins schlechthin sieht. Der Kampf um sein persönliches Recht verschmilzt mit dem Kampf für die ewige Sache” (ebd., S. 222). Damit vollziehe er jenen „Schritt, den Platon tat, als ihm die Zustände im athenischen Staat das unmittelbare politische Wirken unmöglich machten, und er statt dessen in der POLITEIA das Bild des Staates an sich gestaltete” (ebd., S. 222 f.). Seine gewaltig-heroischer Persönlichkeit sei seiner schwächlichen körperlichen Gestalt dabei geradezu entgegengesetzt und münde gleichermaßen in hartem Urteil und zartem, feinem Umgang. Er wachse in der Phantasie über sich hinaus und könne auf diese Weise „sein Schicksal ertragen” und ein großes Werk schaffen. Guardini verwies auf die Parallelen dieser Spannung zu Franz von Assisi, den Dante tief verehrt habe (vgl. ebd., S. 225).
Weiter betonte Guardini, dass Dantes Bewusstsein „ganz aristokratisch” gewesen sei, überzeugt „von den tiefen, zwischen den Menschen bestehenden Unterschieden - der Geburt, der Anlage, der Begabung und Befugnis im Dasein” und davon „Einzelner und Einziger zu sein. Durch den Gang seines Schicksals wird dieses Bewusstsein in seiner schwermütigen Seele zu einem tragischen Pessimismus”, der aber „den großen Dingen” verpflichtet bleibt. Vornehm und einsam nenne er sich „parte per se stesso” (für sich allein Partei) „in der von Parteien aufgeteilten Welt” (ebd., S. 228). Zugleich sei Dante aber demütig und zwar nicht in Nietzsches Sinn, der es „mit dem Kümmerlichen, Schwächlichen, Lebensunwerten, mit Mangel an Lebenskraft und Willen zur Welt, mit Feigheit und Knechtsgesinnung in Verbindung gebracht” habe, sondern im christlichen Sinn. Diese Demut „beginnt mit dem Beugen des Hochmuts und der Überwindung der Hybris; sofort wird aber deutlich, dass sie der lebendige Gegenpol des mächtig empfundenen Selbstgefühls ist, Element in einer Daseinserfahrung, deren Fülle als Gabe der Huld gewollt wird“:
“In dieser Dialektik von Größe und Gnade, Selbstbewusstsein und Demut, Daseinsfülle und Liebe, Kraft und Beschenktheit liegt wahrscheinlich das lauterste Wesen des ritterlichen Ethos” (ebd., S. 229).
Bereits Ende 1934 hatte Guardini in diesem Sinne drei “Doppel-Vorträge” an der Lessing-Hochschule Berlin unter dem Titel “Die obersten Werte in der Göttlichen Komödie” gehalten und dabei versucht, diese Werte gegen die Selbstentwertung im nietzscheanischen Nihilismus zu schützen. Die von Guardini gesehenen Entwertung der obersten Werte bei Nietzsche geht besonders deutlich aus dem Selbstvergleich Nietzsches mit Dante und Spinoza in einem Brief an Overbeck hervor:
"Mitunter sehne ich mich danach, mit Dir und Jacob Burckhardt eine heimliche Konferenz zu haben, mehr um zu fragen, wie ihr um diese Not herumkommt als um Euch Neuigkeiten zu erzählen. Ich halte mir das Bild Dantes und Spinozas entgegen, welche sich besser auf das Los der Einsamkeit verstanden haben. Freilich, ihre Denkweise war, gegen die meine gehalten, eine solche, welche die Einsamkeit ertragen ließ; und zuletzt gab es für alle die, welche irgendwie einen Gott zur Gesellschaft hatten, noch gar nicht das, was ich als Einsamkeit kenne. Mir besteht mein Leben in dem Wunsche, dass es mit allen Dingen anders stehen möge, als ich sie begreife; und dass mir jemand meine `Wahrheiten´ unglaubwürdig mache" (Nietzsche: Sein Leben in Selbstzeugnissen, Briefen und Berichten, 1966, S. 336).
In Nietzsches Nachlass finden sich außerdem Texte, die seine Platon- und Dante-Kritik auf den Punkt bringen:
“Solche dogmatische Menschen wie Dante und Plato sind am fernsten und vielleicht dadurch am reizvollsten: die in einem zurechtgezimmerten und festgeglaubten Hause der Erkenntnis wohnen. Der Eine in seinem eigenen, der Andere im christlich-patristischen. Es gehört eine ganz verschiedene Kraft und Beweglichkeit dazu, in einem unvollendeten System, mit freien unabgeschlossenen Aussichten, sich festzuhalten: als in einer dogmatischen Welt. Leonardo da Vinci steht höher als Michelangelo, Michelangelo höher als Rafael” (Nachlass, April-Juni 1885 34 [25]).
Auch in der Genealogie der Moral findet man in Anspielung auf die göttlichen Tugenden:
“Im Glauben woran? In der Liebe wozu? In der Hoffnung worauf? Diese Schwachen—irgendwann einmal nämlich wollen auch sie die Starken sein, es ist kein Zweifel, irgendwann soll auch ihr `Reich´ kommen—`das Reich Gottes´ heißt es schlechtweg bei ihnen, wie gesagt: man ist ja in allem so demütig! Schon um das zu erleben, hat man nötig, lange zu leben, über den Tod hinaus—ja man hat das ewige Leben nötig, damit man sich auch ewig im `Reiche Gottes´ schadlos halten kann für jenes Erden-Leben `im Glauben, in der Liebe, in der Hoffnung.´ Schadlos wofür? Schadlos wodurch? Dante hat sich, wie mich dünkt, gröblich vergriffen, als er, mit einer schreckeneinflössenden Ingenuität, jene Inschrift über das Tor zu seiner Hölle setzte `auch mich schuf die ewige Liebe´ über dem Tore des christlichen Paradieses und seiner `ewigen Seligkeit´ würde jedenfalls mit besserem Rechte die Inschrift stehen dürfen `auch mich schuf der ewige Hass´ — gesetzt, dass eine Wahrheit über dem Tor zu einer Lüge stehen dürfte! Denn was ist die Seligkeit jenes Paradieses?” (Zur Genealogie der Moral, Erste Abhandlung, 15).
Vision und Dichtung (1946)
Unmittelbar nach dem Krieg gaben Hubert Armbruster und Konrad Zweigert Guardinis Schrift „Vision und Dichtung“ heraus (Romano Guardini: Vision und Dichtung. Der Charakter von Dantes Göttlicher Komödie, Tübingen/Stuttgart 1946; (2., durchges.)1951; unter dem Titel “Das visionäre Element in der Göttlichen Komödie“ eingegangen in: Landschaft der Ewigkeit, 1958; (2)1996, S. 13-41). Laut bibliographischen Vermerk hätte er im zweiten Teil der Festschrift für Heinrich Scholz im Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. 37,2 erscheinen. Während der erste Band noch 1944 erschien, wurde die Publikation des zweiten von den Nationalsozialisten verboten..
Nach Guardini schildert die „Göttliche Komödie“ „die Ordnung des Universums, wie sie durch die Schöpfung grundgelegt und dem Streben des Menschen in die Hand gegeben wurde.“ Guardini zitierte als Beleg eine Stelle im ersten Gesang des Paradiso:
„Die Dinge alle haben Ordnung zueinander, und dieses ist die Form, welche die Welt Gott ähnlich Macht. Darin erschaun die geistigen Geschöpfe das Bild der ewigen Macht, das Ziel, auf das besagte Ordnung hin geschaffen wurde (Par. I, 103-108)“ (Ebd., (2)1996, S. 34).
Datiertes Dante Vorlesungsmanuskript (1946)
Für den 15. Juli 1946 ist schließlich ein komplettes Dante-Vorlesungsmanuskript Guardinis erhalten. Darin wandte er sich nun kurz nach dem Zweiten Weltkrieg unmittelbar den politischen Auswirkungen dieser “Dialektiken“ zu und konstatierte, dass „der tiefste Grund der Staatskrise“ darin liege, dass die alte Vorstellung von der hierarchischen Bedeutung der Krone verloren gegangen sei. Es fehle „die allerletzte religiöse Garantie.“ Das werfe die Frage auf, wo ein Ersatz dafür zu finden sei?
Guardini sah sie weiterhin in einer hierarchischen Ordnung:
„Diese kann sich aber nun auch projizieren. Gesehen von oben wird das, was Spitze ist, zum Mittelpunkt, und das was Terrassen sind, wird zu Kreisen.“
Bei Dante sei bei dieser „geometrischen Projektion des Hierarchiebegriffes“ in der Mitte „der freie Punkt, der alles in sich befasst und dessen irdisches Abbild der Kaiser ist.“ Daher haben der Begriff „Geheiligte Majestät“ und das Ritual der Kaiserweihe eine besondere Bedeutung:
„Der Kaiser wird geweiht mit demselben heiligen Öl, mit dem der Priester geweiht wird und der Kelch des Altares. Er ist etwas ganz Geheiligtes. Diese Vorstellung lebt bis ganz spät hinein. Und wenn Sie hineinhorchen in den Royalismus des 19. Jahrhunderts, finden Sie darin noch die letzten Schwingungen.”
Aus diesen Äußerungen herauslesen zu wollen, dass Guardini im Grunde Monarchist gewesen sei, geht somit völlig an der offensichtlichen Absicht Guardinis vorbei. Denn Guardini ging es gerade nicht um einen Monarchen als Herrscher, sondern um die Repräsentation der „Hoheit Gottes“ in der Spitze bzw. Mitte des Staates. Diese Spitze bzw. Mitte kann ausdrücklich auch aus mehreren demokratisch gewählten Volksvertretern bestehen, die sich aber ihrer Aufgabe als Repräsentanten dieser Hoheit unmittelbar und stets bewusst sein müssen (Vgl. Romano Guardini: Dantes Göttliche Komödie. Ihre philosophischen und religiösen Gedanken, Mainz/Paderborn 1998, S. 473 f.). Die Parallelen zu Kettelers Verständnis „wahrer Demokratie“ treten hier mehr als deutlich hervor.
Über das Geschichtsbewusstsein Dantes (1947)
Dies gilt auch für Guardinis Beitrag zu einem Zyklus Tübinger Vorlesungen über „Große Geschichtsdenker” im Jahr 1947. Guardini sprach „Über das Geschichtsbewusstsein Dantes” (Romano Guardini: Über das Geschichtsbewusstsein Dantes, in: Tübinger theologische Quartal-schrift, 127, 1947, 1, S. 1-16; auch u.d.T. "Dante" in: Rudolf Stadelmann (Hrsg.): Große Geschichtsdenker. Ein Zyklus Tübinger Vorlesungen, Tübingen/Stuttgart 1949, S. 77-94; u.d.T. "Dantes Geschichtsbewusstsein" eingegangen in: Landschaft der Ewigkeit, 1958, (2)1996, S. 138-151). Im Blick auf Dantes Schrift „De Monarchia” und seine persönlichen Kämpfe und Schicksale sei bisher in Dantes Geschichtsbewusstsein vor allem die „beiden großen, in der symbolischen Realität `Rom´ verankerten Ordnungsideen `Reich´ und `Kirche´, auf die er alles Geschehen bezogen sah”, betont worden (vgl. ebd., S. 138). Guardini wandte sich in seiner Betrachtung explizit „den letzten menschlich-geistigen, richtiger religiösen Voraussetzungen” des Geschichtsbewusstseins zu (vgl. ebd., S. 138 f.). Denn Dante wollte „nicht `das Vergängliche´ abstreifen und ins Ewige eingehen”, sondern „die im Jenseits geschauten ewigen Ordnungen, welche die Zeit verloren hat, wieder in sie” hineintragen. Er wollte als dichtender Denker „direkt, geschichtlich-politisch wirken: die Gewissen erschüttern, Maßstäbe zeigen, Wege weisen.“ Dieses Verständnis von politischem Handeln in der Geschichte wird Guardini sich zu Eigen machen: Gewissenserschütterung, Maßstabsetzung, Wegweisung. Dante habe diese Aufgabe so leidenschaftlich empfunden, dass er sich in seinen Sendbriefen an das Volk in Florenz, die Regenten in Italien, die italienischen Kardinäle und Kaiser Heinrich als Richter und Prophet sah (vgl. ebd., S. 141 in Bezug auf: Le opere di Dante, Firenze 1921, S. 419 ff.).
Als „Norm aller Werte”, als „Gewähr aller Ordnungen” trete bei Dante die Tatsache hervor, „dass Gott Mensch geworden ist. Der wirkliche, personale Gott; nicht nur `das Göttliche´, oder `die höchste Idee´, oder ähnlich Unverbindliches. Und wirklicher Mensch, ein bestimmter, individueller der Geschichte, nicht nur `das Menschliche´, oder `die Idee der Menschheit´. Und Gott hat diesen Menschen nicht nur berührt, oder ihn ergriffen, oder ihn erfüllt, sondern ist mit ihm in die Einheit der gleichen personal-geschichtlichen Existenz eingetreten” (ebd., S. 147 f.) Dieses „factum, Tat-Sache” der Menschwerdung bleibe sowohl „autonomen Philosophen” als auch „selbstherrlichen Mystikern” verborgen, weil sie sich gegen dieses Faktum auflehnen. Bei ihnen muss entweder wie bei Platon, in den Mysterienreligionen oder im südlichen Buddhismus letztlich „das Endliche vor dem Absoluten” kapitulieren oder aber - wie im Positivismus und im Existentialismus - das Absolute ins Abstrakte verdrängen oder ganz aufgeben. Bestenfalls würden sie eine Vermittlung schaffen wie die idealistischen Geschichtstheorien des neunzehnten Jahrhunderts oder Max Scheler in der letzten Phase seiner Philosophie, wobei aber letztlich „alles endliche Geschehen zu einer Erscheinungs- oder gar Verwirklichungsform des Absoluten“ werde (ebd., S. 149). Alle diese, letztlich esoterischen Richtungen gehen – so Guardini - in ihrem Kern davon aus, dass „`Gott´ und `Welt´, zusammen ein Ganzes bilden” (ebd., S. 150). Anders bei Dante: In der Vision des Dreifaltigen Gottes sieht er in Gott das Menschenantlitz, was nach Guardini bedeutet, dass Gott „durch die Menschwerdung die von ihm geschaffene Endlichkeit in Sein Leben aufzunehmen vermag“ (ebd., S. 150). Dem christlichen Geschichtsbewusstsein Dantes ist daher wesentlich, „dass das Einmalig-Endliche als solches durch Gottes Willen und vor seinem Urteil ewige Bedeutung hat” (ebd., S. 151).
Leib und Leiblichkeit in Dantes Göttlicher Komödie (1950)
1950, in seinem Beitrag zu Martin Heideggers Festschrift unter dem Titel von „Leib und Leiblichkeit in Dantes Göttlicher Komödie” (in: Anteile. Martin Heidegger zum 60. Geburtstag, Frankfurt am Main 1950, S. 154-177; u.d.T. "Leib und Leiblichkeit in der Commedia" eingegangen in: Landschaft der Ewigkeit, 1958, S. 79-97), betonte Guardini, dass „für die Bewohner jener Welten... alles anders geworden“ sei, weil „die Irrtümer ... zergangen, die falschen Wertungen richtiggestellt, die Ordnungen offenbar geworden“ seien. Dennoch bleibe in Dantes Jenseits-Vision nicht „die Welt asketisch oder ekstatisch entwirklicht” oder „preisgegeben”, sondern „aufrechterhalten” (ebd., a.a.O., 102). Guardini beruft sich hier ausdrücklich auf Erich Auerbach (Dante als Dichter der irdischen Welt, Berlin 1929, S. 18 ff. und S. 79 f.). Auch die Werte der Wissenschaft, Philosophie und Dichtung, des großgebauten Lebens und der mächtigen Persönlichkeit, der Freundschaft und der Liebe würden erhalten bleiben und zwar selbst dann noch, „wenn er infolge der negativen Lebensentscheidung einer verlorenen Existenz zugehört” (ebd., S. 80). Diese Botschaft bestimme den „dichterischen Willen Dantes”:
“Er will Dasein ordnen, Geschichte bestimmen, Welt bauen. Darin kommt ihm das Weltbild seiner Zeit entgegen.”
Denn der Kosmos wurde noch nicht endlos gedacht, die Geschichte noch nicht als Prozess mit unbekanntem Anfang und unbekanntem Ende aufgefasst und das Sein noch nicht als ein Strömen ohne beherrschendes Bild gefühlt. Dies ermöglichte es Dante, ein klar durchformtes Menschen- und Weltbild zu schauen (ebd., S. 82). Daher sei auch „die Grundwirklichkeit der Danteschen Dichtung... nicht der Geist, sondern der Mensch. Wohl gibt es in ihr den Geist, er ist aber verleibt oder sucht nach Leibesgestalt.“ Die Seele wiederum werde, ganz thomasisch gedacht, zur „forma corporis“ (vgl. ebd., S. 83).
„Alles Weltsein ist auf der Spannung FORMA – MATERIA aufgebaut. MATERIA ist das jeweils Bildbare; FORMA das jeweils Bildende, das Prinzip von Eigenschaft und Tätigkeit, die Entelechie.“
Zwischen Seele und Leib, „zwischen diesen beiden Elementen des Menschen ist Spannung und Einheit zugleich“ (ebd., S. 84).
„Die Liebe des Schöpfers richtet sich nicht nur auf den Geist, sondern auch auf die Materie. Nicht nur der Geist, sondern der Mensch ist sein `Ebenbild´“ (ebd., S. 85 f. unter Bezug auf Genesis 1,26 f.).
Und daher sei der Leib für Dante auch „weder verächtlich noch böse” und mehr als „bloßer Körper”, genauso wie die „Seele” mehr ist als „bloßer Geist”. Im „Herz” werde aus Geist und Stoff, „Seele” und „Leib” und somit „der Mensch geboren” (ebd., S. 87).
Für Guardini gibt es in Dantes Welt daher auch nur eine verhüllte, aber sich ausdrückende und somit keine verschlossene Innerlichkeit.
“Das irdisch-geschichtliche Leben hat sich unter Hüllen vollzogen: aus einer Innerlichkeit in die andere; in allen Formen der Unzulänglichkeit, durchkreuzt, entstellt und abgebrochen. Darin geschehen aber in Gesinnung, Tat und Werk die Entscheidungen. Was der Mensch so auf Erden gewollt und zugelassen hat, wird in Gottes Gericht offenbar gemacht, und ihm daraus seine ewige gültige Existenzform zubeschieden. Nun verschwindet jede Möglichkeit, die Intentionen des eigenen Tuns und Lebens zu verschleiern, oder vor ihnen auszuweichen. Der Mensch schließt sich endgültig mit dem eigenen Existenzsinn zusammen” (ebd., S. 94).
Landschaft der Ewigkeit (1950)
Im gleichen Jahr 1950 findet sich in der Festschrift für Carl Georg Heise der Text „Landschaft der Ewigkeit“ (Romano Guardini: Landschaft der Ewigkeit. Der menschliche Existenzraum in der Göttlichen Komödie, in: Erich Meyer (Hrsg.): Eine Gabe der Freunde für Carl Georg Heise zum 28. Juni 1950, Berlin 1950, S. 67-83; eingegangen in: Landschaft der Ewigkeit, 1958; Mainz (2)1996, S. 98-122), in dem Guardini herausarbeitete, dass die Landschaftsschilderungen „die menschlichen Gestalten, die er schildert, und in denen sich geistige Gesinnungen und göttliche Gerichte ausdrücken“, vertiefen und ausweiten:
„Die Umwelt wird zum Ausdruck der menschlichen Gestalt, die ihrerseits geistige Gesinnungen und göttliche Urteile offenbart“ (ebd., (2)1996, S. 122).
Für Dante stellen sich in dieser Weise das Prassen und Lästern besonders schlimm dar und werden daher mit den Bildern von Sumpf und Wüste symbolisiert (vgl. ebd., (2)1996, S. 108 f.).
Die Verwandlungen in Dantes Hölle der Diebe (1950)
Guardini ergänzte die Deutung dieser Bilder dann in einem am 25. Mai 1950 im „Centro Italiano di Studi Umanistici e Filosofici“ in München gehaltenen Vortrag zum Thema „Die Verwandlungen in Dantes Hölle der Diebe“ (Guardini, Romano: Die Verwandlungen in Dantes Hölle der Diebe, in: Hochland, 43, 1950/1951, S. 45-61; eingegangen in: Landschaft der Ewigkeit, (2)1996, S. 169-190). Zu den Prassern und Lästerern kamen hier noch die „Diebe“ hinzu (ebd., Hochland, S. 47; (2) 1996, S. 172). Sie nehmen einem Menschen gerade das, „was zu seiner vollen Menschengestalt gehört” (ebd., Hochland, S. 48; (2)1996, S. 173). Sie sehen „im Anderen statt des Du die Machtgestalt”. Sie begegnen dem Anderen nicht und geben ihn nicht frei und können daher selbst nicht zur „Klarheit des Ich” erwachen. Alles bleibt unpersönlich, „bannend und gebannt" (ebd., (2)1996, S. 188). Letzten Endes sei keiner „in sich selbst zu Hause. Keiner hat das Seinige wirklich zu eigen. Das Selbst wird von einer Erscheinung in die andere gehetzt. Jede gehört allen - das heißt aber, keine keinem” (ebd., (2)1996, S. 190).
Bernhard von Clairvaux in Dantes "Göttlicher Komödie" (1953)
In einem weiteren Text über „Bernhard von Clairvaux in Dantes `Göttliche Komödie´“ aus dem Jahr 1953 heißt es dann, in einem ersten Sinne abschließend, die Divina Commedia Dantes sei „die vollkommenste literarische Synthese des mittelalterlichen Geistes. Die Gestalt eines Zeitalters pflegt am reinsten ins Licht zu treten, wenn es unterzugehen beginnt“ (ebd., (3)1995, S. 117). Der Vortrag an der Universität München zur Feier des 800. Todestages erschien zuerst gedruckt im "Hochland" (46, 1953/54, S. 55-64) und wurde öfters nachgedruckt (so in: Spörl, Johannes (Hrsg.): Die Chimäre seines Jahrhunderts, Würzburg 1953, S. 54-69; schließlich in: Unterscheidung des Christlichen, Band 3: Gestalten, Mainz (3)1995, Bd. III, S. 117-131).
Guardini ging dabei davon aus, dass Dante auf die Lehre der augustinischen Scholastik des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts vom Aufstieg der Seele zu Gott auf dem Wege einer Stufenleiter der Geschöpfe durch Läuterung, Erkenntnis und Liebe zurückgreife, insbesondere auch auf das „Itinerarium mentis in Deum“ von Bonventura.
„Dante ist von einem übermächtigen Verlangen nach personaler Freiheit getragen: `Libertà va cercando: nach Freiheit suchend wandert er´, bezeugt Vergil einem Begegnenden. In seinem Dank an Beatrice sagt Dantes selbst: `Du hast aus Knechtsstand zur Freiheit mich erhoben´ (III 31, 85) ... Diese Freiheit aber ist Frucht von Gnade. ... Das ganze Geschehen der Göttlichen Komödie drückt diesen Zusammenhang aus. Die Welt ist objektiv Stufenordnung, Weg nach oben. Dante kann diesen Weg aber nicht aus eigener Macht gehen, denn überall erscheinen Grenzen – Ausdruck eines nicht durch Quantität und Fortgang, sondern durch Qualität und Rangstufung bestimmten Daseinsgefühls. Sie bewirken, dass Zulassung und Führung nötig sind“ (Guardini, Bernhard von Clairvaux in Dantes `Göttliche Komödie´ (1953), a.a.O., Bd. III, S. 122)
Allerdings brauche Dante in diesem paradiesischen Zustand keinen Kaiser und keinen Papst mehr, denn er sei „`zum Kaiser und zum Papst über Dich selbst.´ (II, 27, 140ff)“ gesetzt. Er sei allenfalls noch auf Beatrice und ganz am Ende auf Bernhard von Clairvaux angewiesen. Nachdem Dante durch die Wiedergewinnung der geistigen Verbindung mit Beatrix die Maßgestalt seines Lebens gefunden habe, gewinne er „die Kraft, die Tragik seines Lebens, die ihn aus seiner Heimatstadt verbannt und so von der Arbeit an der Ordnung des menschlich-politischen Daseins ausgeschlossen hat, zu überwinden. Für sein Wirken findet er eine neue Form – ähnlich jener, die Platon gefunden hat, als er darauf verzichten musste, an der unmittelbaren Gestaltung der Polis mitzuwirken, und dafür seine `Politeia´ schrieb: In seiner großen Dichtung richtet er eine Daseinsordnung auf, die von den Maßstäben der Ewigkeit bestimmt ist“ (ebd., (3)1995, S. 125 f.). Der mittelalterliche „Meister der Kontemplation“ und „Doktor Marianus“ (Vgl. Guardini, Der Engel in Dantes Göttlicher Komödie, a.a.O., (3)1995, S. 92 und 96), Bernhard von Clairvaux, habe Dante nun noch zu Jener geführt, „welche die innigste Mitwisserin des erlösenden Geschehens ist, und sie erwirkt ihm die Gnade, einen Blick in das Geheimnis zu tun, das sich in ihr vollzogen hat“ (Guardini, Bernhard von Clairvaux in Dantes `Göttliche Komödie´, a.a.O., (3)1995, S. 127), oder wie es an anderer Stelle heißt, „in das Mittengeheimnis des Christentums: die Inkarnation des Sohnes Gottes in einem Menschenwesen, Maria von Nazareth.“ Übertragen auf die neuzeitliche Entwicklung beklagte Guardini im Blick auf Maria von Nazareth, dass das Leben sich immer mehr vermännliche – „wie es manchmal scheinen will, auch die Frauen selbst. Ratio, Technik, Macht übernehmen immer mehr die Führung des Daseins. Das Wissen um die stillen Dinge, die ja doch in Wahrheit die mächtigsten sind, scheint zu schwinden. Die Kräfte des Herzens scheinen abzunehmen." Darin stecke „die Gefahr, an der Herrschaft des Maskulinen nicht bloß zu erkranken, sondern zu sterben“ (Guardini, Bernhard von Clairvaux in Dantes `Göttliche Komödie´ (1953), a.a.O., Bd. III, S. 130). Hier habe dann auch Dantes Mariologie ihre lebensweltliche und durchaus politische Verortung in einer „Ritterlichkeit“ die Kontemplation und mächtige Geschichtswirkung miteinander verbindet (ebd., S. 130f.).
In diesem Zusammenhang ist auch der Vergleich Guardinis zwischen Dantes „Göttlicher Komödie“ und Goethes Faust von Interesse. So vergleicht er Dantes Gestalt der Beatrice mit dem „Ewig-Weiblichen” in Goethes Faust. Während „Faust” dieses „Ewig-Weibliche” nur behauptet habe, sei Beatrice – wie schon Maria von Nazareth - mehr als das, sie sei „die lebendige Frau, die Dante geliebt hat und die zur Rettung ihres Freundes... gesendet wird. Diese Rettung vollbringt sie aber nicht durch Leistung, sondern durch ihr Sein” (Guardini, Romano: Der Engel in Dantes Göttlicher Komödie, Leipzig 1937, S. 118; (3)1995, S. 99). Während der Schluss des „Faust” auch anders sein oder ganz fehlen könne, sei der marianische Schluss von Dantes Göttlicher Komödie notwendiges „Finis”, „von der schöpferischen Instanz dem betreffenden Seienden derart als bestimmend” gesetztes „Ziel” (ebd., S. 122; (3)1995, S. 102). Nur so könne man begreifen, „wie in dem ewigen Kreis das Bild des vergänglichen Menschenangesichtes stehe. Zu begreifen, wie sein könne, was nicht ableitbare Notwendigkeit, sondern in Freiheit gewolltes und vollzogenes `FACTUM´, Getanes, Geschichte ist: die Menschwerdung Gottes. Zu begreifen, wie innerlich sei, was... alle Denkbarkeit übersteigt: das Sein des Christus” (ebd., S. 129f.; (3)1995, S. 108f.) Bei Dante bilden „die Erkenntnis der rechten Weltordnung, die geistige Gemeinschaft” mit anderen Personen und das eigene „persönlich-religiöse Heil” eine „untrennbare Einheit” (Guardini, Romano: Das letzte Sonett der Vita Nuova, in: ders., Landschaft der Ewigkeit, a.a.O. (1958), S. 94; (1996), S. 74). Gerade deshalb löse sich aber der Held „nicht – wie das etwa in Goethes Faust geschieht - vom Irdisch-Unvollkommenen ab und entschwindet im Ewigen, sondern er kehrt in den Erdenraum und die Menschengemeinschaft zurück. Was der Geist schaut, ist das Einfachhin-Höchste; doch entfremdet das der Geschichte nicht, sondern gibt im Gegenteil Licht und Kraft, die wahre irdische Ordnung zu verwirklichen” (ebd. (1958), S. 95; (1996), S. 75f.) Oder in etwas anderen Worten:
„Das Ziel, auf welches das Geschehen der Göttlichen Komödie zugeht, bedeutet nicht, dass der Mensch – etwa wie im `Faust´ - aus dem Irdischen befreit würde, sondern dass er Einsicht in die ewigen Ordnungen gewinnt, um dann, zur Erde zurückkehrend, für sie zu wirken“ (Guardini, Bernhard von Clairvaux in Dantes `Göttliche Komödie´ (1953), a.a.O., Bd. III, S. 125).
Münchner Dante-Vorlesungen (50er Jahre)
Unter dem Titel „Dantes Göttliche Komödie. Ihre philosophischen und religiösen Grundgedanken” erschienen 1998 schließlich posthum die Vorlesungsmanuskripte und andere Texte aus dem Nachlass Guardinis (Romano Guardini: Dantes Göttliche Komödie. Ihre philosophischen und religiösen Grundgedanken, aus dem Nachlass hrsg. von Hans Mercker unter Mitarbeit von Martin Marschall, Mainz/Paderborn 1998). Geradezu zusammenschauend kann man darin über Dantes politisch-theologische Ansichten und ihre Nachwirkungen lesen:
“Im Lauf der Zeit haben Dantes politische Ansichten eine tiefgreifende Entwicklung durchgemacht. Im Laufe der Jahre ist er wohl zu einem immer entschiedeneren Ghibellinen geworden, hat sich aber zugleich immer schärfer von der gleichnamigen Partei gelöst. Er hat sich eine politische Weltanschauung `sub specie aeterni´ geschaffen; eine Idee irdischer Ordnung, die auf dem rechten Verhältnis zwischen Imperium und Sacerdotium ruht. Die Theorie ist so rein und groß durchgedacht, dass sie keine unmittelbare politische Effizienz mehr haben kann, vielmehr in jenem Bereich steht, dem Platons `Staat´ angehört. Ihren Ausdruck findet sie in der Schrift `De Monarchia´. Diese richtet sich gegen das Guelfentum und den Anspruch der Kurie auf den universellen Machtprimat; zugleich gegen Frankreich, welches um seiner nationalen Interessen willen das Imperium zu zerstören und das Papsttum sich unterzuordnen sucht” (ebd., S. 34).
Aus Dantes Werk würden sich also keine konkreten politischen Handlungsanweisungen für heute ergeben, sehr wohl aber ein „Wesensbild des Irdisch-Zeitlichen”, das gerade unter „Verzicht auf unmittelbare Wirksamkeit” entsteht, im Unterschied zu „Utopien“ des Überirdisch-Ewigen, die unmittelbar politisch eingesetzt werden.
“Indem das Schicksal maßgebender Persönlichkeiten gezeigt, ihre Gesinnung enthüllt und beurteilt wird, indem immer wieder autoritative Stimmen auf die wahre Ordnung der Mächte und Werte hinweisen, entsteht aus der Jenseitigkeit des Ewigen das Wesensbild des Irdisch-Zeitlichen - jenes Bild, das Dante in der harten Schule des Verzichts auf unmittelbare Wirksamkeit errungen hat” (ebd., S. 75).
Dieses Bild wiederum präge dann Dantes „aus platonisch-augustinischer Tradition” stammende Ethik. Nach ihr ist der ethische Akt „zutiefst ein religiöser Akt”, legt den „Nachdruck ins Geistig-Personale gegenüber dem Sensuellen”, betont die „Werte des Edlen, der Ehre, Treue” als „Haltung gegenüber der Hoheit”, verachtet in Großgesinntheit die Unentschieden, Lauen und Niedrigen. All dies nicht nur als „Ethik der bloßen Gesinnung”, sondern als „Haltung und Sein: arete, virtù, Tugend” (ebd., S. 148 f.).
Nun sei es die „Verlegenheit der `Neuzeit´”, dass sie die Frage nach dem, was nachher kommt, nicht beantworten wolle. Sie versucht damit aber letztlich, die „Grundlage aller Geschehnisordnung” zu umgehen: Das sie „Anfang und Ende” hat. Erst von Schöpfung und Erlösung her können echte Gliederungen der Geschichte ausgemacht werden. Diese wiederum „sind Entscheidungen für den Sinn der Geschichte selbst, Etappen in deren Vollzug” (ebd., S. 159f.). So ist „historisches Dasein... erst gegeben, wenn wirkliche Geschichtsträger da sind: schicksalsfähige Völker und sinntragende Institutionen, welche Auftrag und Verantwortung repräsentieren.” Und in diesen Geschichtsträgern müssen „individuelle Wesen, Personen, mit Erkenntnis und Freiheit” präsent sein (ebd., S. 160 f.). All dies werde in der Neuzeit durch den Verzicht auf die Beantwortung der entscheidenden Frage selbst in Frage gestellt. Es komme damit zu einem Erklärungsnotstand. Die Entwicklung von Augustinus zu Dante finde also keine Fortsetzung, obwohl Dante bereits den Weg aus der mittelalterlichen Geschichts-konstruktion herausgewiesen habe. In der „lehrhaft-literarische Grundlage“ dieser Konstruktion, nämlich in Augustins „Civitas Dei“ werde „die Menschengeschichte als Kampf zweier geschichtlicher Wirklichkeiten, zweier `Staaten´ gefasst, der `civitas coelestis´... und der `civitas terrena´ oder `societas impiorum´... Die Zeit aber ist die Dimension des `decursus´: der Entwicklung jener beiden `Staaten´, ihres Kampfes und der Entscheidung der Einzelnen innerhalb seiner. Dieser Gesamtvorgang gliedert sich in sechs Perioden, von denen fünf vor Christus liegen, während mit Ihm die sechste beginnt - eine Parallele zu den Schöpfungstagen, sodass sich die Geschichte als Vollzug einer neuen, durch Sünde und Erlösung bestimmten Schöpfung darstellt... Der siebente Tag, der Sabbat, ist die Ewigkeit. (Die `Collationes in Hexaemeron´ des Bonaventura)” (ebd., S. 161 f.).
Ausgangspunkt sei schon im Übergang von der Antike zum Mittelalter die Frage gewesen, wie Ewigkeit werde und die Welt in ihr enthalten bleibe, doch habe sie sich am Ausgang des Mittelalters und im Übergang der Renaissance neu gestellt. Dante – davon war Guardini überzeugt - beantwortete diese Frage aus dem christlichen Glauben heraus mit der „Menschwerdung des Logos”. Darin bestehe „die christliche Größe Dantes”. Und die fortwährenden Suche nach dieser Antwort, im Bemühen, sie „genau und rein zu wahren, sie in ihrer nicht metaphysisch-mystischen, sondern konkret-faktischen Tiefe auszuschöpfen” begründe dauerhaft „den Geist des Christentums.” Darin liege „auch - gegenüber Asien sowohl wie Amerika - die Substanz des Abendlandes bewahrt” (ebd., S. 174). Aus diesem Geist und dieser Substanz gelte es, jeweils neu die weltliche Geschichte auszubauen und zu konstruieren. Und zu diesem Ausbau bzw. Konstruktion habe Dante wesentlich beigetragen, vor allem durch sein verändertes Rom-Bild:
"`Rom´ ist für Dante keine beliebige Stadt, noch ein Staat unter anderen, sondern trägt absoluten Charakter" (ebd., S. 161 f.).
Für Dante ist „die Realität `Rom´... göttliche Setzung in weltlich-geschichtlicher Beziehung: Gründung von politischer Ordnung, von Hoheit und Recht. Ebenso in geistlich-geschichtlicher Beziehung: Sitz des Stellvertreters Christi, Autorität im Religiösen, Kirche. Hier liegt die große Korrektur, welche Dante am Geschichtsbild Augustins vornimmt. Dieser hatte den Existenzkampf der Kirche gegen den Staat noch im Gefühl. So hatte das staatliche Rom für ihn noch etwas von dem Charakter, den es in der Apokalypse trägt. Für Dante ist das heidnische Rom keine Gefahr mehr; die Gefährdungen der mittelalterlichen Christenheit liegen anderswo.” Daher entfällt bei Dante der alte „antirömische Affekt” und der neue „wird erst wieder im Norden erwachen, sobald die für das europäische Geschichtsbewusstsein notwendige Fundierung in der Antike abseits von Rom, nämlich in der griechischen Kultur gesehen und andererseits durch das nationale Moment in der Reformation `Rom´ als Feind empfunden wird” (ebd., S. 163 f.).
Immer wieder würden in diesen Zusammenhängen bei Dante jene sehr bedeutungsvollen „Sinnfiguren“ erscheinen, „welche aus Einzelwesen gebildet sind.” Die beiden größten dieser Symbole seien dabei Kreuz und Adler:
”Das Kreuz im Marshimmel... Der Adler im Jupiterhimmel” (ebd., S. 205 f.)
Tatsächlich erscheine dabei „der Adler im Rang über dem Kreuz und dem Wagen” und Heinrich VII. „in den Höhen der Himmelsrose”. Diese Abbildung habe verschiedene Interpreten dazu veranlasst, daraus abzuleiten, Dante strebe eine „politische Heiligkeit, ein göttliches Kaisertum” an. Dessen „eigentliche Position” ergebe sich aber „erst als letzte Resultante aus allen Momenten.” Der Adler wird nämlich erst „im Jenseits geheiligt“ und „was ihn heiligt, ist eben... das Jenseits, welches seinerseits auf Christus ruht” (ebd., S. 164f. - gestrichene Passage).
Diese Ausgewogenheit werde vor allem deutlich in Dantes Konzeption der „Civilitas”: Die „Civilitas” als das „von Autorität und Loyalität, von bindendem und schützendem Recht geordnete Leben hat zwei Formen: die weltliche und die geistige, Imperium und Sacerdotium. Von ihrem Wechselverhältnis handelt Dante im Purgatorio und Paradiso (...); von der weltlichen Ordnung für sich in seiner Schrift `De Monarchia´... Beide Ordnungen entspringen im göttlichen Willen und sind unantastbar”, so dass auch der Investiturstreit ins Leere gehen muss.
„Beide gehen aber direkt auf diesen Willen zurück; so kann keine von der anderen abgeleitet werden” (ebd., S. 165).
Nun haben beide Ordnungen wesentliche Aufgaben:
„Aufgabe des Imperiums ist es, die weltlichen Dinge zu ordnen; Repräsentant göttlicher Hoheit im Weltlichen durch Recht; Frieden und sinnvolle Regelung der menschlichen Beziehungen zu sein; die Menschen zu der für Welt und Geschichte geforderten Sittlichkeit zu bilden... Aufgabe des Sacerdotium, die göttliche Wahrheit zu verkünden, die heiligen Handlungen zu vollziehen, das Leben religiös zu ordnen, zur Heiligkeit zu führen, die Freiheit des geistlichen Daseins der Welt gegenüber zu wahren.”
Diese jeweiligen Aufgaben sind „spezifisch verschieden, so dürfen die Bereiche nicht aufeinander übergreifen. Sobald das geschieht, entsteht Unordnung” (ebd., S. 166).
Daher könne Dante auch Kaiser Konstantin und seinen Nachfolgern vorwerfen, „dass sie Rom verlassen haben.” Durch seine Schenkung habe er „das Sacerdotium in Versuchung gebracht..., Ansprüche auf den anderen Bereich zu machen.” In diese Richtung deutet nun Guardini seinerseits das „Mysteriengeschehen des irdischen Paradieses”: Der Vorgang der Konstantinischen Schenkung ist für Dante vergleichbar damit, „wie der Adler, d.h. der römische Kaiser, seine Federn, d.h. die weltlichen Rechte und Beziehungen über dem Wagen der Kirche ausschüttet und dieser darunter verkommt.” Die deutschen Kaiser hätten zwar „die Kontinuität wieder hergestellt”, doch seither gehe „der Kampf um das echte Imperium. Zu Dantes Zeit ist er auf den verschiedensten Fronten entbrannt“: Erstens „gegen das Sacerdotium, sofern es den Anspruch auch auf die weltliche Herrschaft erhebt (Bonifaz VIII.)” (ebd., S. 163). Ebenso scharf wie Konstantin greife Dante daher Papst Bonifaz VIII. an, „der den Anspruch auf Vereinigung der beiden Gewalten in der Hand des Sacerdotium noch einmal in extremer Form erhoben hatte.” Er wurde von Dante sogar als der „eigentliche Gegner empfunden” (ebd., S. 166 f.).
Zweitens wandte Dante sich „gegen den König von Frankreich, der seine nationale Selbständigkeit verlangt” (ebd., S. 163). In König Philipp von Frankreich, dem Schönen, sieht Dante „einen dritten Feind der Ordnung..., der gegen Imperium und Sacerdotium zugleich steht; ersteres, indem er seine nationale Eigenmacht gegen das geistig-religiös begründete Kaisertum aufrichtet; letzteres, indem er das Papsttum in Avignon hält und seinen Zwecken dienstbar macht” (ebd., S. 166).
Drittens geht Dante in Opposition zu jenen Städten, „welche sich aus dem Herrschaftsbereich des Kaisers befreien wollen” (ebd., S. 163).
Die Frage, wie Dante nun aber in diesem Kontext das Verhältnis der Ganzheiten Staat und Kirche zum Einzelnen konzipiere, beantwortete Guardini zunächst grundsätzlich:
“Wie die beiden Gewalten ihre Grenze an einander finden, so auch an der christlichen Persönlichkeit des Menschen selbst. Einmal an der Würde der Freiheit, wie sie von Gott im menschlichen Wesen begründet ist. Dann aber und endgültig, wenn der Mensch ganz frei und vollendet geworden ist. Dieser Augenblick kommt erst nach dem Tode; genauer nach dem Ende der Läuterung" (ebd., S. 166 f.)
Ganz selbstverständlich lebe im Mittelalter der Einzelne in diesen Ganzheiten:
„Diese sind nicht aus Einzelelementen zusammengesetzt - eine Formel, wie die des `contrat social´ würde der mittelalterliche Mensch nicht verstanden haben - sondern sind von vornherein da. Doch heben sie das Individuum nicht auf, denn sie stehen ihm im eigenen Gefühl und werden als selbstverständlicher Gegenpol des Sonderseins empfunden... Das Mittelalter ist sich der Totalität des menschlichen Daseins lebendig bewusst.”
Dabei kenne das Mittelalter „keine Tendenz der Typisierung... Die Individualität geht nicht unter: weder in den Naturkräften, noch im Strom seelischen Erlebens, noch in ideellen Stilisierungen.” Selbst noch in der „Göttlichen Komödie” gebe es die Isolation „nur als böse Erscheinung. Die schlimmste Zerstörung ist für Dante die Auflösung der Gemeinschaft des `non essere cive´. Es ist Wirkung der Selbstsucht, des Neides, der List, der Gier: der Wölfin, des Fuchses, des Drachen” (ebd., S. 200).
Im mittelalterlichen Dasein kenne man also weder das autonome Individuum noch die Masse. Beide haben ihre Entstehungswurzeln erst in der Renaissance, auch wenn sie damals einer gewissen Notwendigkeit entsprungen seien. Es sei „nur eine Frage der äußeren Möglichkeit“ gewesen, „wann sie zu Tage” treten. Sie begründen erst als „eine neuzeitliche Erscheinung” die „Neuzeit“:
“Der neuzeitliche Vorgang der Autonomisierung hat das Dasein aufgelöst: Individuum von Individuum, Kulturgebiet von Kulturgebiet, Naturdasein von Glauben, Staat von Kirche” (ebd., S. 198).
Soweit die Zusammenfassung von Guardinis Dante-Interpretationen. Was folgerte nun Guardini aber aus der Lektüre Dantes im Blick auf seine eigenen politisch-theologischen Vorstellungen? Scheinbar beiläufig konkretisierte Guardini in der Auseinandersetzung mit Dante zum Beispiel die Unterscheidung von Gemeinschaft und Ganzheit:
“Gemeinschaft bedeutet die Ausbreitung der individuellen Sphäre von einem Individuum auf das andere; Ganzheit meint, dass ein wie das andere Individuum von der gleichen Gesamtwirklichkeit übergriffen wird” (ebd., S. 204).
Gestalten und Ganzheiten, nicht Individuen und Gemeinschaften, sind die für ihn entscheidenden Größen, für deren geschichtliches Existieren er folgende Momente ausmacht, nämlich „Macht und Recht“ auf der einen, „Hoheit und Ehre“ auf der anderen Seite. Macht sei dabei „der Inbegriff vitaler, wirtschaftlicher, geistig-kultureller Kraft, mit der sich das Volk unter anderen Völkern durchsetzt, Herrschaft über die Wirklichkeit übt, Lebensfülle und -gestalt entfaltet“, Recht wiederum „der Inbegriff der Normen und Ordnungen, welche diese Macht als von Personen getragen und auf Personen gerichtet bestimmen, und sie vor der Würde des Personalen ausweisen.“ Hoheit dagegen sei „der Charakter, den die rechtlich geordnete Macht hat, sofern sie anerkennt, dass sie unter Gott steht, und eben damit Gottes Majestät in der Welt repräsentiert; ihre Verantwortung vor Gott anerkennt, und damit Anteil an Seiner Autorität empfängt.“ Gerade, wenn der Staat Hoheit habe „und sich unter deren Forderung“ stelle, „ist die `Ehre´ des mündigen, in ihm lebenden Menschen gewährleistet.“
Drittens kommt dann als weiteres polares Begriffspaar „Entscheidung und Gericht” hinzu:
“Das geschichtliche Geschehen ist durch alle Notwendigkeiten des naturhaften und geistigen Daseins gelenkt, geht aber wesentlicher Weise nicht aus einem anonymen Prozess, sondern aus personaler `Entscheidung´ hervor. Sie - und das Ausweichen vor ihr - bestimmt eigentlich die Geschichte... So hat das Geschehen wohl auch den Charakter kausaler Konsequenz, wesentlicher Weise aber den von personaler Urheberschaft. Was geschieht, ist letztens nicht ursachbedingte Wirkung, sondern Verantwortung und Folge. Es ist `Gericht´. Dieser Zusammenhang ist aber auf Erden verhüllt. Man kann wohl sagen, in der Geschichte geschehe Gericht, und sich darunter stellen; nicht aber kann man behaupten, dieses Geschehen sei die Folge des Gerichtsurteils über jenes Verhalten. So ist die Geschichte auf ein eigentliches, offenbarendes und vollendendes Gericht am Ende der Zeit ausgerichtet.”
Alle sechs Momente „verweben sich. Jedes wirkt in jedes hinein... Zusammen bestimmen sie den Charakter des Geschichtlichen im Unterschied zum Naturhaften” (ebd., S. 210 f.).
Schließlich gebe es aber noch „ein viertes Begriffspaar: Sendung und geschichtlicher Mythos.“
„Die eigentliche Geschichte setzt voraus, dass ein Volk nicht nur vorhanden und stark, sondern dass es zu etwas `gesendet´ sei; einen Auftrag Gottes für das irdische Dasein bekommen habe... Das drückt sich im geschichtlichen Mythos aus...” (ebd., S. 212.).
Dantes Geschichtsbild folge eben dem „Mythos Roms“:
„Für Dante muss alle Geschichte sich daran legitimieren, dass sie `Rom´ enthält... Jeder Augenblick aber ist mit der Verantwortung beladen, dass `Rom´ verloren gehe” (ebd., S. 214 f.).
Nun hätten sich – so Guardini - diese Momente innerhalb der Geschichte immer wieder verändert, auch unterscheiden sie sich zwischen den Kulturen, insbesondere zwischen Abendland und Morgenland, doch während des ganzen Mittelalters seien sie wirksam gewesen und gebunden an den Logos in seiner Polarität von natürlicher Weisheit und offenbartem Gottessohn. Die Neuzeit dagegen habe den Logos auf dessen naturalistischen Pol reduziert, indem sie die Bindung an die Offenbarung zunächst durch Abstraktion des Gottesbegriffs gelockert, dann durch Säkularisierung religiöser Zusammenhänge gelöst und schließlich im Atheismus und Nihilismus ganz gekappt habe. Dadurch werden für Guardini aber auch diese genannten acht Momente geschichtlichen Existierens obsolet. Denn Macht und Recht werden dann gleichzeitig anonym und absolut, ebenso wie Hoheit und Ehre, Entscheidung und Gericht, vor allem aber auch Sendung und geschichtlicher Mythos. Macht und Recht fallen mythisch-synthetisch in eins und werden zur anonymen Es-Macht, der man ohnmächtig ausgeliefert ist. Hoheit und Ehre fallen ebenso in eins und werden zur totalitären Obrigkeit, die blinden Gehorsam verlangt. Auch Entscheidung und Gericht fallen in eins und werden zur willkürlichen Dezision, und schließlich fallen auch Sendung und geschichtlicher Mythos wieder in eins und damit zurück in den Status der antiken Mythen, die noch keinen Logos und damit auch keine Ethik kennen, weil Mythos und Ethos noch eine ursprüngliche Einheit bilden. Ohne den klaren Primat des Logos vor dem Mythos erhalte daher aber auch ein quasi-mythischer Ethos jenen Primat über den Logos, der ihm nicht zusteht, zumal der Logos dabei irrtümlich rein naturalistisch verstanden werde. Aufgrund dieses Grundirrtums scheitern in den Augen Guardinis auch alle neuzeitlichen Konzepte der Ethik und schlagen um in neue, unheilbringende Mythen. Dies gilt bei Guardini insbesondere auch für jene politische Ethiken und jene „politische Mythen“, die keinen „politischen Logos“ anerkennen. Ohne die unbedingte Anbindung und die in Bezug auf den Mythos absolute, in Bezug auf den Ethos relative Unterordnung unter den Logos, erstünden immer neue barbarische Unheilsbringer, die sich selbst aber zum Heilsbringer stilisieren und so zu jenen „falschen Propheten“ des Reiches Gottes werden, die es mit Gewalt auf Erden herzustellen versuchen.
Im fünften Kapitel „Das Bild Jesu Christi“ beschäftigte sich Guardini zunächst mit der Frage nach der „Christlichkeit der Göttlichen Komödie“:
„Wenn Dante gefragt worden wäre, was er für das Verständnis seiner Dichtung voraussetze, so hätte er an erster Stelle die entschiedene christliche Gläubigkeit genannt ... Wohl das Eingeweihtsein in die Geheimnislehre der `fedeli d’amore´ und das Verständnis für den `dolce stil nuovo´ ... Desgleichen die Sorge um die rechte Ordnung der Dinge, wie sie sich vor allem im Imperium und Sacerdotium und ihrem wesensgemäßen Verhältnis ausdrückt ... Ganz gewiss auch die Liebe zu der viel gequälten und von Gewalthabern aller Art zerrissenen Heimat. Bedingung schlechthin aber wäre ihm der christliche Glaube in seinem echten und unabgeschwächten Sinne gewesen. Eine nur ästhetische Deutung neuzeitlicher Art hätte er wahrscheinlich überhaupt nicht verstanden – jeden Versuch aber, seine Dichtung in ein heidnisches Übermenschentum zu ziehen, mit Empörung zurückgewiesen. Die Divina Commedia ist zutiefst christlich“ (ebd., S. 394).
Guardini wandte sich gegen alle paganisierenden Deutungen und romantischen Wertungen der Göttlichen Komödie und spricht ausdrücklich von „Missverständnis oder Missbrauch“, insbesondere wenn „das ganze Gewicht in die großen Reden über die Ordnung der Weltdinge, vor allem des politischen Daseins, legt“:
„In Wahrheit ist aber Dantes Dichtung ein Weg zu Gott, eine `ascensio´ zum heiligen Oben, und ein Versuch, die Welt von dorther aufzubauen“ (ebd., S. 395).
Guardini wäre es „wäre eine Aufgabe von eigentümlichem Interesse, zu untersuchen, mit welchen Hilfsideen und Techniken der einzelne Forscher – je nachdem, ob er Protestant oder liberaler Relativist, politischer Dezisionist oder Anhänger Stefan Georges ist – mit dieser Verlegenheit fertig zu werden versucht. (Hier liegen die Wurzeln nicht nur für die Missdeutungen, sondern für die Zerstörung der Divina Commedia. Dante ist katholischer Christ. Er ist es nicht nur nebenbei, sondern ganz. Und sein Glaube hat für sein Werk nicht nur die Bedeutung – wie das etwa im Tristan-Epos der Fall ist – Voraussetzung und Atmosphäre des Ganzen zu bilden, sondern bestimmt ausdrücklich den ganzen Inhalt. Es ist vollkommen unmöglich, die Göttliche Komödie auf eine auch nur protestantische, geschweige denn liberale oder gar pagane Ebene zu bringen. Dabei geht nicht nur der `Stoff´, sondern auch der `Inhalt´ und ebenso die `Form´ verloren. Nehmen wir für einen Augenblick an, die Divina Commedia wäre keine christliche Dichtung, sondern von einem neuplatonischen Spiritualismus, oder einer provenzalischen Esoterik, oder einem politischen Herrschaftswillen getragen – wie würde sie dann schließen? Wenn wir uns zugleich bewusst sind, dass in einer so streng geformten, und zwar final geformten, Dichtung wie dieser, das Ende alles entscheidet? Es könnte mit einer ekstatischen Entrückung ins über-seiende Eine, oder mit einer letzten Apotheose, oder mit der Verkündung eines kommenden Weltreiches geschehen. Wie geschieht es aber in Wahrheit?)“ (Dantes Göttliche Komödie, ebd., S. 396).
Die hier entwickelten Impulse Dantes für das Leben des nach-neuzeitlichen Menschen, hatte Guardini – zumal seiner eigenen Einschätzung nach - sicherlich noch nicht als Abiturient schon alle gegenwärtig, aber allein durch die Lektüre sind die Motive und Symbole in seinem eigenen Leben wirkmächtig und bilden jene Grundlage, mit der er bereits bei der schwierigen Suche nach dem richtigen Studium und seiner eigentlichen Berufung die entscheidenden Antworten finden konnte, ebenso wie für seine eigenen politisch-theologischen Vorstellungen in der Auseinandersetzung mit den Dante-Interpretationen seiner Zeit. Wie unschwer zu erkennen ist, sind Dantes politisch-theologische Vorstellungen hochgradig kompatibel zu den für das 19. Jahrhundert konkretisierten Vorstellungen Kettelers, so dass es nun für Guardini und seine Freunde nur darum gehen konnte, daraus die richtigen Folgerungen für das 20. Jahrhundert zu ziehen.
Die Wirkung von Guardinis Dante-Studien
Besonders beeindruckt zeigten sich von Guardinis Dante-Interpretationen unter anderen Reinhold Schneider (Rezension zu: Guardini, Der Engel in Dantes göttlicher Komödie, in: Neue literarische Welt, Darmstadt, 3, 1952, 6, 25. März; Der Engel in Dantes göttlicher Komödie, in: Südwestfunk, Baden-Baden, 1952, 4. Mai), Hans Rheinfelder (Bericht über die neuere Dante-Literatur (Rezension zu: Guardini, Der Engel in Dan-tes Göttlicher Komödie), in: Hochland, München, 46, 1953, 4), Theoderich Kampmann (Rezension zu: Guardini, Der Engel in Dantes Göttlicher Komödie, in: Theologie und Glaube, Paderborn, 30, 1938, S. 358-359) und Matthias Laros (Guardini deutet Dante. Keine Phantome, sondern Menschen (Rezension zu: Guardini, Landschaft der Ewigkeit), in: Echo der Zeit, Recklinghausen, 1958, 30, 27. Juli).
1967 war Guardinis Dante-Interpretation Thema einer angeregten Unterhaltung zwischen Papst Paul VI. und Jean Guitton, die den Mythnezurückweisenden Charakter der „Göttlichen Komödie“ hervorhebt und das Guardini insbesondere davon beeindruckt gewesen sei, dass die Geschichte im Paradies nicht verlorengehe (Jean Guitton: Dialog mit Paul VI., Wien 1967, S. 127ff. und S. 161). Jean Guitton weist außerdem auf die Dante-Rezeption bei Newman hin. Für Newman sei die europäische Zivilisation im Bereich der Poesie durch Dante repräsentiert worden (Le siècle qui s´annonce. Entretiens avec Philippe Guyard, 1997, S. 176). Newman selbst sei ein in unsere Zeit projektierter heiliger Augustinus gewesen (ebd., S. 179).
Ansonsten ist Guardinis Haltung zu Dante durchaus kontrovers aufgenommen worden.
- Hans Urs von Balthasar sah 1970 den Kern der Dante-Studien im Versuch, Dante als „Visionär“ glaubhaft zu machen, und pflichtete ihm darin bei (Balthasar, Romano Guardini, a.a.O., 1970, S. 68-72, hier S. 71).
- Eugen Biser stellte gerade diese Erkenntnis Guardinis in Frage und stellt Dante zwischen Guardinis Deutung und dem Vorwurf Charles Péguys, Dante habe die drei Jenseitsreiche lediglich als Tourist durchwandert. Biser unterstellte Dante damit, dass er seine Schau von „vornherein in den Dienst einer orientierenden und einordnenden Wirklichkeitserfassung gestellt“ habe, und Guardini, dass er diese Indienstnahme nicht durchschaut habe (Biser, Interpretation, a.a.O., S. 41-44, hier S. 42).
- Fridolin Wechsler führte dagegen das durch Guardini vorgestellte „christliche Geschichtsbewusstsein bei Dante“ als Modellfall dafür an, dass Guardinis „Christliche Weltanschauung“ „indirekte Verkündigung“ sei (Wechsler, a.a.O., 1973, S. 148-153).
- Bernhard Hanssler sprach zwar auf einer Werkwoche auf Burg Rothenfels Anfang Oktober 1976 über „Guardinis Annäherung an Dante“ (Bernhard Hanssler: Guardinis Annäherung an Dante, in: Hanna-Barbara Gerl (Red./Hrsg.): Romano Guardini. Seine Interpretation von Dichtung. Referate der Werkwoche auf Burg Rothenfels 1.-6. Oktober 1976, hrsg. von der Vereinigung der Freunde von Burg Rothenfels. Burg Rothenfels: Vereinigung der Freunde von Burg Rothenfels, 1977, S. 76-86.
- Hanns Mercker schreibt in einem italienischen Band einen Beitrag über das Menschenbild in den Dante-Vorlesungen Guardinis unter dem Stichwort „Verantwortung unter der Chiffre der Ewigkeit“ (Hans Mercker: Responsabilità sotto la cifra dell´eterno. L´immagine dell´uomo nelle lezione di Guardini su Dante, in: Michele Nicoletti/Silvano Zucal (Hrsg.): Tra coscienza e storia: il problema dell'etica in Romano Guardini. Atti del Convegno tenuto a Trento il 15-16 dicembre 1998, Brescia 1999 (Religione e cultura; 12), S. 49-77. Die deutsche Vorlage “Die Beschäftigung mit Dante im Gesamtwerk Guardinis” liegt dem Verfasser vor).
Von der politisch-theologischen Bedeutung Dantes bei und für Guardini ist allerdings bei keinem nicht die Rede. Auch in den großen Guardini-Studien der jüngeren Autoren findet sich nur selten Ausführlicheres zur Beziehung Guardinis zu Dante.
- Immerhin Alfons Knoll widmet diesem Verhältnis einen kleineren Abschnitt unter dem Titel „Christliche Bejahung der Endlichkeit (Dante)“ (Knoll, a.a.O., S. 307-313).
- Und Markus Zimmermann spricht in seinem Kapitel über „Wahrnehmungen mittelalterlicher Vorbilds-Gestalten“ vom „Einfühlen in die `Göttliche Komödie´“ (Zimmermann, a.a.O., S. 62-64).
Keiner von ihnen führt dies aber im Hinblick auf politisch-theologische Aspekte aus. Diese spärliche Rezeption lässt die Frage aufkommen, warum man Guardinis Dante-Interpretation an sich und ihren politisch-theologischen Gehalt bislang so wenig zur Kenntnis genommen hat? Liegt es daran, dass man im deutschsprachigen Raum lieber bei Kants Karikatur des dantesken Staat-Kirche-Verhältnisses im „Ewigem Frieden“ oder Goethes Karikatur der Commedia in der Gestaltung von Fausts mystischer Himmelfahrt stehen geblieben ist?
Die Unvergleichbarkeit von Dantes Commedia mit Goethes Faust vertritt Erich Auerbach (Entdeckung Dantes in der Romantik (1928), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, Bern/München 1967, S. 176-183, hier insbesondere S. 179). Die Position einer "kreativen Rezeption" nimmt Peter Kuon ein (Die kreative Rezeption der Divina Commedia in Klassik und Romantik, in: Frank-Rutger Hausmann/Michael Koche/Harro Stammerjohann (Hrsg.): „Italien in Germanien“. Deutsche Italien-Rezeption von 1750-1850. Akten des Symposiums der Stiftung Weimarer Klassik Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Schiller-Museum 24.-26. März 1994, 1996, S. 300-317). In einem 1922 erschienen Buch mit dem Titel „Die Krisis im Leben des Künstlers“ von Albert Steffen hieß es im Kapitel „Dante und Goethe“ über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Dante und Kant:
„Beide, Kant und Dante, finden im Glauben moralische Gewissheit. Beide sind jahvistisch gerichtete Geister. ... Dantes Gerechtigkeit und Kants kategorischer Imperativ haben den gleichen Stammvater und sie führen zu einer verwandten Forderung: zur Theorie des ewigen Friedens. Bei Dante war der innere moralische Himmel noch bildhaft, bei Kant ist er abstrakt. `Das Moralische Gesetz ist in mir´ und `der gestirnte Himmel über mir´, die bei Dante noch durch die Phantasie vereinigt waren, sind durch Kant getrennt worden. Diese Kluft zwischen Ich und Weltall ist schon von Kopernikus aufgerissen worden. Er warf die Seele aus dem Kosmos hinaus. Die Aufklärer Frankreichs (Julien de la Mettrie u.a.) machten den Menschen zur Maschine. Sie entseelten den Körper. Newton trennte Auge und Licht. Die Mechanisierung begann. An die Stelle eines `weltbildenden Geistes´ (nous) setzte man Schwingungen. Derart verlor die ursprünglich moralische Imagination Dantes ihre Wirksamkeit. Sie wurde infolgedessen immer mehr ästhetisch gewertet, was man mit umso größerer Bewunderung tun konnte, da man ihren Inhalt nicht mehr zu fürchten und zu erringen brauchte. Man lernte ihn – genießen, ohne sich selbst zu verwandeln. Das aber wollte Dante nicht. `Der Zweck des Ganzen und der einzelnen Teile ist,´ sagt er in seinem Widmungsschreiben an Can Grande, `die Lebendigen in diesem Leben aus dem Zustande des Elends heraus- und zu dem Zustande der Glückseligkeit emporzuführen“ (Albert Steffen: Die Krisis im Leben des Künstlers, 1922, S. 61f.; (2-4)1925, S. 50f.).
Genau hier geht Guardini aber wieder hinter Goethe, Kant und Kopernikus zurück zu Dantes Gerechtigkeit und zur polaren Einheit von Kosmos und Seele. Nur so können der lebendig-konkrete Gott und die von ihm gewollten Lebensgemeinschaften Staat und Kirche in der Polarität „von oben“ und „von innen“ her wirken. Die Vor-stellung einer Kirche UND eines Staat „in uns“, „in unseren Seelen“, kommt als Gestalt also von Dante her. Gerade im Rückgriff auf Dante möchte Guardini die Vereinseitigungen der neuzeitlichen Philosophie und Weltanschauung korrigieren und für die Nach-Neuzeit das „Menschlich-Unerlässliche im Neuen“ betonen, gerade auch was das Verhältnis von Kirche und Staat, von Glauben und Politik angeht.