Guardini weiterdenken: Das Konzept der “Katholischen Demokratie” in der Rezeption, Antizipation und Explikation

Aus Romano-Guardini-Handbuch

Guardini weiterdenken: Das Konzept der “Katholischen Demokratie” in der Rezeption, Antizipation und Explikation (Autor: Helmut Zenz)

Guardinis Ansatz einer "verstehenden" "Wirklichkeitswissenschaft"

Tatsächlich besteht seit Guardinis Tod die von Heinz Robert Schlette beschriebene Gefahr, “dass das Gedächtnis Guardinis verfälscht, dass sein Werk und seine Person in ungeschichtlicher Weise und aus Interesse harmonisiert und stilisiert werden, dass man die schöpferische Initiative und den Willen zur Veränderung beschwichtigt, die Guardini von Anfang an erfüllt haben” (Heinz Robert Schlette: Romano Guardini – Versuch einer Würdigung, in: ders.: Aporie und Glaube. Schriften zur Philosophie und Theologie, München 1970, S. 247-287, hier S. 285. Der Text war zuerst auszugsweise erschienen in: Publik, 2, 1969, 32 (8. August 1969) und 33 (15. August 1969)). Dies geschehe zum einen durch “naive Guardini-Verehrer”, die Guardinis Position unkritisch und ungeschichtlich wiederholen; zum anderen durch Autoren, die heute über Guardini schreiben, ”die es zu seinen Lebzeiten für unter ihrer Würde gehalten haben, seine Vorlesungen zu besuchen und seine Bücher Ernst zu nehmen" (ebd., S. 264, Anmerkung 48). Zum dritten aber, so sei ergänzt, durch Autoren wie Schlette selbst, die Guardini letztlich zum historischen “Steinbruch” umfunktionieren, in dem sie aus ihrer eigenen Position heraus - im Fall Schlettes aus dem Umfeld der “neuen” Politischen Theologie - Guardinis Ansatz nicht als Ganzes weiterdenken, sondern verschiedene “prophetische” Versatzstücke herauslösen und den Rest als “zeitgebunden” ad acta legen. Insofern trifft seine Kritik an Hans Urs von Balthasars Buch über Guardini auch seine eigene Würdigung Guardinis, nur eben dass er den systematischen Kontext “nicht oder nur unzureichend analysiert”, während Balthasar “die Schriften Guardinis ... ohne die notwendige Berücksichtigung ihres historischen Ortes zitiert ...; das kritische Verhältnis Guardinis zur institutionellen Kirche ... nur gelegentlich andeutet” und ihn “in einer ... historisch, hermeneutisch und sachlich nicht vertretbaren Weise für seine eigene theologische Position und Polemik” beansprucht hatte.

Guardini hat zwar keine systematische Theologie entwickelt, wohl aber einen systematischen “katholischen” Ansatz, den er dann in einem zweiten Schritt ziemlich unsystematisch, weil situations- und gelegenheitsbedingt auf alle Gebiete der „Welt-Anschauung“ angewandt hat. Gerade dadurch ist aber sein Werk “vom Geschehen des Nationalsozialismus” eben nicht zerbrochen worden, wie Schlette im Anschluss an Fuhrmans mutmaßt. Wie bereits gesehen, hat solch ein Bruch oder gar eine “Zerstörung” des Willens, “der zu einem neuen Menschentum drängte” oder eine “Verstörung” durch “ein erschreckendes Bild tatsächlichen Menschseins” nicht stattgefunden (Horst Fuhrmans: Romano Guardini zum Gedenken, in: Burgbrief, Burg Rothenfels, 31, 1968, Dezember, S. 30-35, hier S. 31.). Insofern ist auch in den nachfolgenden systematischen Überlegungen zur Aktualität von Guardinis Position und Ansatz und zu dessen Fortentwicklung jede nicht-kontextuelle Inanspruchnahme abzulehnen, gleich ob sie von Vertretern der “neuen” Politischen Theologie (Dirks, Lutz, Schlette), von Vertretern der “alten” Politischen Theologie (Schmitt, Barion, Przywara, Riedweg und die Liga Europa) oder von Vertretern anderer Positionen (Balthasar, Biser, Maier, Kuhn, Ratzinger) aus vorgetragen wurde und wird.

Felix Messerschmid hat eindrücklich und zu Recht die Auffassung zurückgewiesen, „Guardini sei auf dem Pass stehen geblieben, der aus alteuropäischer Geistigkeit und Gläubigkeit in die moderne Welt der technischen und wissenschaftlichen Zivilisation führt; er habe zwar deren Gefährdungen gesehen und beschrieben, sei aber davor zurückgeschreckt, sie mit neuen rationalen Methoden und Kategorien der Erkenntnisgewinnung anzugehen und die alten Denkmuster und Glaubensformen hinter sich zu lassen.“ Denn allein „mit dem bloßen Passrückblick“ hätte Guardini „die Wirkung, die er auf unzählige Menschen, darunter bis zu seiner Emeritierung auf Studenten aller Fakultäten ausgeübt hat“, nicht gewinnen können (Felix Messerschmid: Zum Geleit, in: Schmidt, Paul: Die pädagogische Relevanz einer anthropologischen Ethik. Eine Untersuchung zum Werk Romano Guardinis, Düsseldorf 1973, S. 9).

Nun ist im Verlauf der Untersuchungen deutlich geworden, dass Guardini erkenntnis- und verstehenstheoretisch an die neukantianische Soziologie Simmels und Rickerts angeknüpft hat; sogar an Max Weber, der selbst in dieser neukantianischen Tradition stand (vgl. für diesen Rückgriff auf Rickert und Simmel: Peter-Ulrich Merz: Max Weber und Heinrich Rickert. Die erkenntniskritischen Grundlagen der verstehenden Soziologie, Würzburg 1990 (Diss. Zürich 1985). In Bezug auf Simmel verweist Merz auf dessen Arbeiten “Über soziale Differenzierung. Soziologische und psychologische Untersuchungen” (Leipzig 1890) und “Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische Studie” (Leipzig 1892). Zum wechselseitigen Einfluss siehe Rickert, Heinrich: Max Weber und die Stellung zur Wissenschaft, in: Logos, Bd. 15, 1926, S. 222-237).

Dadurch bekommt aber Max Webers Satz, dass “die Sozialwissenschaft, die WIR treiben wollen ... eine WIRKLICHKEITSWISSENSCHAFT” ist, die “die uns umgebende Wirklichkeit des Lebens, in welches wir hineingestellt sind, IN IHRER EIGENART” zum Gegenstand hat (Max Weber: Die “Objektivität” sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen (4., erneut durchgesehene)1973, S. 146-214, hier S. 170), im Blick auf Guardini eine ganz neue Dimension. Während die „verstehende Soziologie“ der Neukantianer lediglich eine spiritualistische Grundlegung kannte und anerkannte (Wilhelm Hennis: Die spiritualistische Grundlegung der "verstehenden Soziologie" Max Webers. Ernst Troeltsch, Max Weber und William James' "Varieties of religious experience", in: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, I. Philologisch-historische Klasse, 1996, Nr. 1, S. 3-25) , ging Guardini – wenn auch in ihrer Tradition stehend – noch einen Schritt weiter. Er will diese Wirklichkeitswissenschaft gerade wegen ihres eigenen Anspruchs, Wirklichkeit darzustellen, immer wieder an den Wirklichkeitsgrund, also an die „letzte Wirklichkeit“ erinnern und heranführen. Guardini ging es wie Max Weber um ein “nacherlebendes `Verstehen´” geistiger Vorgänge (Max Weber: a.a.O., S. 173), vermisste bei den Neukantianern allerdings den konkret-lebendigen Nachvollzug religiöser Vorgänge. Gerade in diesem für das menschliche Zusammenleben so zentralen Lebensbereich blieben sie mit Kant und Hegel beim Abstrakt-Begrifflichen und somit beim abstrakt-begrifflichen Postulat stehen.

Guardini wandte sich wie Max Weber dagegen, im Namen der Wissenschaft Logik zu „betreiben“ anstatt “bekannte Ergebnisse der modernen Logik” anzuwenden, d.h. Probleme zu lösen, anstatt sie in ihrer Bedeutung zu veranschaulichen (ebd., S. 146). Beide wollten die Menschen in ihrer Befähigung, “zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen” (ebd., S. 180), unterstützen. Im Unterschied zu Weber vertrat Guardini allerdings nicht zwei separate Verstehens-Bereiche, den einen, für den die „Verstehende Soziologie“ allein, und den anderen, für den die „Verstehende Theologie“ allein zuständig wäre. Denn im wirklichen Leben lassen sich - so die Überzeugung Guardinis - diese Bereiche zwar als Typen denkend unterscheiden, aber eben nicht „rein“ voneinander trennen. Der katholischen Dogmatikers Johann Auer (1910-1989) zeigt das Modell einer "Verstehenden Theologie" auf, indem er deren Ansätze bis ins 11. Jahrhundert zurückverfolgt. Diese "Theologie, die Freude macht" (Johann Auer: Theologie, die Freude macht, Abensberg 1989 in Reaktion auf Karl Rahner: Eine Theologie, mit der wir leben können, in: Schriften zur Theologie, XV, 1983, S. 104-116), wird zum Dreh- und Angelpunkt seiner Lehre. Sie ist jene Theologie, "die auf dem Verstehen aufbaut, das aus lebendigem Glauben, nicht aus bloßem Denken oder Wissen wächst ... In dieser verstehenden Theologie aus dem Glauben verstehen wir auch uns selbst und unsere Welt immer neu, indem wir ... uns Gott ... zur Verfügung stellen. Verstehende Theologie ist kein System von immer fertigen Wahrheiten.“ Vielmehr ist sie „jene starke, innere Ordnungskraft im gläubigen Denken, die in den existentiellen Fragen und Konfliktsituationen unseres Lebens den Weg zu menschlich richtigen und sachlich wahren Antworten eröffnet" (Auer, Theologie, die Freude macht, a.a.O., 33f).

Guardinis Ansatz lebte also von zwei nicht hinterfragbaren, weil eben gesetzten Voraussetzungen: Es handelt sich um die Notwendigkeit des Glaubens an den personalen, drei-einen Gott und um die Notwendigkeit der Einsicht in die gegensätzliche Struktur des Daseins, deren Pole in einer lebendig-konkreten Spannungseinheit zu halten sind („Waage des Daseins“). Diese Setzungen sind qualitativ keine anderen, als sie atheistische, deistische, pantheistische, monotheistische oder polytheistische, ja sogar agnostische Denker vornehmen. Die Annahme der Möglichkeit einer “voraussetzungslosen Wissenschaft” ist selbst ein Glaube, der unhinterfragbare Voraussetzungen setzt. Selbst Max Weber, dem dies oft nachgesagt wurde, hat diesen pseudo-religiösen Mythos einer voraussetzungslosen Wissenschaft gerade nicht vertreten, sondern sich lediglich gegen jene “Katheder“-Sozialisten und wohl auch entsprechende Liberalisten, Nationalisten und Universalisten gewandt, die ihre Erkenntnisse mit ideologischen Wahrheitsansprüchen versehen hatten, die sie erkenntnis-theoretisch und wissensoziologisch nicht im Geringsten einlösen konnten, da sie eben nichts mit Erkennen und Wissen, sondern allein mit Glauben einzulösen gewesen wären. Und deren Maßstäbe sind nicht Wahrheit und Gesetz, sondern Wahrhaftigkeit und Menschlichkeit.

Wie alle anderen Voraussetzungen haben sich daher letztlich auch Guardinis Voraussetzungen in der politischen Theorie und Praxis zu bewähren: als tatsächliche Haltung von Christen in der Politik und in der Politologie, die aus diesem Glauben heraus nach den Gesetzen der Logik entwickelt werden. Dies ist dann eben keine “christliche” Politik oder “christliche” Politologie im ideologisch-integralistischen Sinn, sondern eine Politik und eine Wissenschaft von der Politik, die nicht nur ihre anthropologischen, sondern auch ihre theologischen Voraussetzungen ernst nimmt. In diesem Sinne kann dann aber “Politische Theologie” auch nie “erledigt” sein, wie Erik Peterson oder Hans Maier mutmassten, sondern ist im Rahmen ihrer Grenzen als Reflexion auf diese theologischen Voraussetzungen geradezu notwendig.

Politische Geschichtsphilosophie und Sozialtheologie

wird fortgesetzt

== Zum Verhältnis von Politik und Mystik als Reflexion politischer und mystischer Erfahrung(en)

Politische Ontologie, Metaphysik und Theologie

Politische Logik und politische Ethik: Von der politischen Erkenntnis zur politischen Gestalt(ung)

Politische Bildung in Analogie zu politischer Bildung

Politische Theorie und Erfahrungsreflexion: Politisches Denken und Handeln in Gegensätzen und Spannungseinheiten

Zum Verhältnis von politische und christlicher Anthropologie

Die Frage nach der Möglichkeit nur politischer, nicht- bzw. anti-politischer, un- bzw. post-politischer Politik

Politische und Christliche Überzeugungen, Gesinnungen und Haltungen

Politische und christliche Grundvollzüge

Kirchliche Ökumene nach Guardinis Gegensatzlehre als Modellfall politischer Einheit in Vielfalt