Romano Guardini und Karl May

Aus Romano-Guardini-Handbuch

Romano Guardini und Karl May, der wesentlich Ältere und bereits 1912 Verstorbene, sind sich persönlich nie begegnet, auch hat Guardini in seinem Werk nie explizit auf Karl May verwiesen. Dennoch ist dem Karl-May-Leser sicherlich nicht die Diskussion um dessen pazifistisches Weltbild entgangen, da im Diskurs insbesondere mit seinem Freund Karl Neundörfer, aber auch im Blick auf Friedrich Wilhelm Foerster sowie die katholische Friedensbewegung eine Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Formen des Pazifismus stattgefunden hat.

Guardini als Karl-May-Leser

Von Adam Gottron stammt die Erinnerung, er habe sich mit den Guardini-Brüdern nicht zuletzt wegen des gemeinsamen Interesses an Karl May (1842-1912) verbunden gefühlt. Immerhin waren diese nämlich im Besitz sämtlicher Bände gewesen. Diese hätten sie – gemeint sind wohl sein Schulkamerad Mario Guardini und sein Freund Daniel Neundörfer – nicht nur gemeinsam gelesen, sondern „Karl May mit der ganzen Inbrunst unserer Tertianerherzen” gelebt (Vgl. Walter Heist (Red.): Ein Leben im Schatten des Domes. Zum Gedächtnis an Adam Gottron, Mainz o.J., S. 39; Adam Gottron: Romano Antonio Guardini, in: Gymnasium Moguntinum, 28, 1968, Dez., S. 58f.). Es spricht vieles dafür, dass die einige Jahre älteren Brüder Romano Guardini und Karl Neundörfer sich zusammen mit ihren Freunden nicht anders verhalten haben.

Karl May in der öffentlichen Kritik

Gerade May stand nun aber in dieser Zeit für das politisch-weltanschauliche Schwanken des Proletariats zwischen Sozialismus, Liberalismus und Konservatismus in der öffentlichen Kritik und musste sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts zudem gerichtlich mit dem Vorwurf der „Unsittlichkeit“ auseinandersetzen. Von ganz unterschiedlichen Seiten wurde er Zeit seines Lebens und weit darüber hinaus immer wieder zum pädagogisch, aber auch weltanschaulich gefährlichen Scharlatan stilisiert. Im Jahr 1901 nimmt zum Beispiel die „Frankfurter Zeitung” unter der Überschrift "Gymnasiasten auf dem 'Kriegspfad'. (Karl May als Erzieher)" die pädagogischen Wirkungen Mays aufs Korn. Daraufhin lässt May 1902 anonym, angeblich „von einem dankbaren May-Leser” verfasste Selbstverteidigungsschrift "Karl May als Erzieher" in großer Auflage erscheinen. Dies wird wiederum von Ferdinand Avenarius im „Kunstwart“ kommentiert: „Im Lande der Dichter und Denker darf's ein munterer Verleger wagen, eine Reklameschrift für seine Ware mit dieser Überschrift zu versehen, die einen Schundromanfabrikanten als eine geistige Macht hinstellt. Er darf's ohne Besorgnis, dass die Lächerlichkeit ihn töte“ (Ferdinand Avenarius: Karl May als Erzieher, in: Der Kunstwart, 15, 1902, H. 12). Vgl. zur pädagogischen Bedeutung Karl Mays auch Weigl, Franz: Karl Mays pädagogische Bedeutung, München 1908). Tatsächlich muss man sich dann mit dem Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein allerdings „fragen, warum wohl die Vielzahl unter seinen erwachsenen Anhängern (von Bergengruen bis Einstein, von Kissinger bis Liebknecht, von Heuss bis zu Kardinal Frings) nicht bemerkt haben sollte, welch gefährlichem Scharlatan man hier aufgesessen war” (Rudolf Augstein: Weiter Weg zu Winnetou. Über den nach Radebeul zurückgekehrten Schriftsteller Karl May, in: Der Spiegel vom 1.5.1995). Werner Bergengruen verteidigte Karl May gegen seine Gegner: "Karl May ist naiv zu genießen oder von einem höheren Punkte aus. Seine Gegner sind Leute, welche die Naivität verloren, jenen höheren Punkt aber nicht einzunehmen gewusst haben“ (zitiert nach: Dichtung als Wunscherfüllung. Aussprüche über Karl May. Materialien zur Karl-May-Forschung, Bd. 13, Ubstadt 1992, S. 8).

Guardinis pädagogisches Interesse an Karl May

Man könnte in dieser Reihe getrost den Namen Guardinis ergänzen, der noch bei der Einrichtung der Bibliothek auf Burg Rothenfels Anfang der zwanziger Jahre die Bücher Karl Mays für so lesenswert und pädagogisch wertvoll hielt, dass er seine eigene May-Sammlung dort einstellen ließ (Vgl. E. Wilmes-Merz: Erinnerungen II A, S. 19f.). Daher lohnt es sich, den möglichen Einfluss Mays auf Guardini und seine Freunde einmal genauer zu untersuchen.

Kritik an May durch Karl Muth

Nun war zum Beispiel der eben vorgestellte Karl Muth alles andere als ein Freund von Mays Romanen (Vgl. Franz Cornaro: Karl Muth, Karl May und dessen Schlüsselpolemik, in: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft, 1975, S. 200-219). Nachdem im Kulturkampf 1874 der katholische Verlag Pustet Karl May als Mitarbeiter für den „Deutschen Hausschatz” gewinnen konnte, der als bewusstes Gegenstück zur protestantischen und Bismarck unterstützenden „Gartenlaube” gegründet wurde, erschienen zwischen 1879 und 1898 die Mehrzahl von Mays Reiseromanen bei Pustet, viele andere Werke dann auch bei anderen katholischen Verlagen (vgl. Karl May - Biographie in Dokumenten und Bildern, Hildesheim/New York 1978, S. 101ff.). Bereits in seinem „Veremundus“ von 1899 heißt es dazu, das Familienunterhaltungsblatt „Deutscher Hausschatz“ habe „das zweifelhafte Verdienst“, den Abenteurerroman „unter der Firma Karl May in weiten Kreisen eingebürgert zu haben“: "Zur literarischen Geschmacksverderbnis haben die Karl Mayschen Romane sicherlich viel beigetragen, und wenn der `Hausschatz´ die durch seinen Karl May-Kultus gerufenen Geister heute nicht mehr loswird, so ist das angesichts der letzten Geschichte `Im Reich des silbernen Löwen´ schon ein bedenkliches Zeichen.“ Die „reiseliterarischen Taxiliaden mit ihren als captationes benevolentiae eingeflochtenen religiösen Phrasen“ seien „vom erzieherischen Standpunkt aus nicht ganz einwandfrei“ (Karl Muth unter Pseudonym Veremundus: Die literarischen Aufgaben der deutschen Katholiken, Mainz 1899, S. 71). 1902 rühmte sich Muth nach der ersten öffentlichen Kritik an den sogenannten „Münchmeyer-Romanen“, in seiner Veremundus-Schrift „als erster“ nicht nur „vor der literarischen Geschmacksverderbnis“ gewarnt zu haben, die durch Mays „massenhaft und gierig verschlungenen Reiseromane herbeigeführt wurde“, sondern diese auch schon als „reiseliterarische Taxiliaden mit... eingeflochtenen religiösen Phrasen“ bezeichnet zu haben, obwohl ihm „stringente äußere Beweise, wie sie heute für die doppelseitige, verlogene Schriftstellerei Karl Mays vorliegen“, damals noch nicht zu Gebote standen. So seien die Münchmeyer-Romane „einfach scheußlich, und nicht bloß in sittlicher, sondern auch in literarischer Hinsicht.“ Dagegen seien die Reiseerzählungen zumindest literarisch „flott, mit einer gewissen stilistischen Routine, mit lebhafter Phantasie und hin und wieder sogar mit poetischem Sinn, der sich in Schilderungen und Situationen bekundet, geschrieben.“ Wenn man jedoch „über die zwei bis drei ersten Bände“ hinausgelesen habe, beginne man aber bei ihnen auch wahrzunehmen, „mit welch lächerlichen Mitteln der Technik dieser Mann arbeitet, wie er sich selbstgefällig, unwahr und systematisch immer zum Mittelpunkt aller Hauptaktionen macht und wie es sich schließlich bei alledem um nichts anders als um Ausdünstungen einer hypertrophen Phantasie handelt, die mit der Zeit jeden Geschmack für eine gesunde und ernste literarische Kost bei den Lestern verderben“ (Karl Muth: Ein entlarvter Jugendschriftsteller, in: Die Zeit, Wien, 14. 6. 1902). Zu diesem Zeitpunkt konnte Muth noch nicht wissen, dass die „unsittlichen“ Stellen an fünf Werken Karl Mays tatsächlich durch den Verlag Münchmeyer unter dem Münchmeyer-Nachfolger Adalbert Fischer eingefügt worden waren.

Gerichtliche Auseinandersetzungen um Karl May

Bereits 1902 klagte May erstmals gegen den Münchmeyer-Verlag. Nachdem May am 5. Februar 1906 in zweiter und am 9. Januar 1907 in dritter Instanz gewonnen hatte, erstattete der Münchmeyer-Anwalt Gerlach gegen May und seine Mitstreiter im April 1907 Anzeige wegen Meineides, ein Vorwurf der sich aber ebenfalls als haltlos erwies. Erst im Anschluss daran erklärten die Erben des Verlegers Fischer, dem Münchmeyer-Nachfolger, in einem Vergleich, „dass die im Verlage der Firma H. G. Münchmeyer erschienenen Romane des Schriftstellers Karl May im Laufe der Zeit durch Einschiebungen und Abänderungen von dritter Hand eine derartige Veränderung erlitten haben, dass sie in ihrer jetzigen Form nicht mehr als von Herrn Karl May verfasst gelten können.“ Am 22. Dezember 1911 kommt es zum letzten Urteil in den sogenannten Münchmeyer-Prozessen: Pauline Münchmeyer wird zur Zahlung von 60.000 Mark verurteilt. Sowohl von der damit verbundenen Rehabilitierung und finanziellen Entlastung hatte Karl May selbst nicht mehr sehr viel, er starb gut vier Monate später am 30. März 1912. Der Ruf Mays als seriöser Autor war ohnehin auf Dauer geschädigt worden.

Hinzu kam, dass der Journalist Rudolf Lebius (1868-1946) Karl May Ende 1904 aus Rache für ein nicht bewilligtes Darlehen mit der Veröffentlichung seiner Haftstrafen aus der Jugendzeit gedroht hatte. Als May gegen ihn Klage vor Gericht erhob, kündigte er „Die Vorstrafen Karl Mays“ durch große Plakate in den Dresdner Buchhändlerläden an, die dann auch tatsächlich publik werden. 1906 setzte Lebius mit einem Artikel in der „Wahrheit“, 1908 mit der Broschüre „Karl May - ein Verderber der deutschen Jugend“, 1909 mit dem Artikel „Hinter den Kulissen“ im Wochenjournal „Der Bund“ und in einem Brief an Selma vom Scheidt sowie 1910 mit Flugblättern und dem Pamphlet „Die Zeugen Karl May und Klara May - ein Beitrag zur Kriminalgeschichte unserer Zeit“ nach. Sowohl die Verbreitung der Broschüre von Lebius als auch der Verkauf der im November 1910 erschienenen Autobiographie Mays unter dem Titel „Mein Leben und Streben“ werden wegen gegenseitiger Einsprüche nach kurzer Zeit verboten. Die Beleidigungsklagen und Strafanträge ziehen sich hin. Das Verfahren wegen versuchter Erpressung wurde am 14. März 1905 eingestellt, die Beschwerde Mays dagegen abgewiesen und die Abweisung bestätigt. Am 19. Mai 1909 kam es zu einem Vergleich. Erst am 18. Dezember 1911 wird eine Klage vom 17. Dezember 1909 in der Berufungsverhandlung zugunsten von May entschieden, die Klagen vom 10. Januar 1910 und 28. April 1910 kamen nicht mehr zur Hauptverhandlung, da May am 30. März 1912 starb. Am 5. Juni 1912 wurde der Witwe der Einstellungsbeschluss vom 31. Mai 1912 zu den beiden offenen Klagen zugestellt. Von welcher Gesinnung Lebius als Journalist war, zeigte er noch häufiger, zum Beispiel bei seiner Polemik gegen den pazifistischen „Bund Neues Vaterland“ Anfang der zwanziger Jahre, wie Willy Meyer in einer Leserzuschrift von 1921 an die Zeitschrift „Die Weltbühne“ konstatierte: „Herrn Rudolf Lebius erscheint die Reitpeitsche als politisches Kampfmittel noch zu milde. Er schreit nach der Schusswaffe. Aus Anlass einer Unterredung zwischen dem Berliner Vertreter des `Matin´ und dem Sekretär des `Bunds Neues Vaterland´ Otto Lehmann-Rüßbüldt polemisiert Lebius in schärfster Weise gegen die genannte Vereinigung. Wörtlich heißt es: `Der Liga gehören unter andern an Maximilian Harden, Professor Einstein, Professor Foerster, Herr v. Gerlach. Hier liegt glatter Volksverrat vor. Wir würden jeden Deutschen, der diese Schufte niederschießt, für einen Wohltäter des deutschen Volks erklären. Wir wundern uns überhaupt, dass sich Niemand dazu bereitfindet. Fast zwei Millionen Deutsche haben ihr Leben für die Sicherheit des deutschen Volks geopfert. Warum findet sich jetzt Niemand, der das deutsche Volk von diesen Verbrechern befreit?' Wenn unsre Justiz nicht noch eine weitere starke Einbuße an Vertrauen erdulden will, muss hier der Staatsanwalt unverzüglich eingreifen. Das Volk hat ein Recht darauf, vor einem Mann geschützt zu werden, dessen Treiben als gemeingefährlich bezeichnet werden darf" (Zuschrift von Hauptmann a. D. Willy Meyer, in: Die Weltbühne, 17, 1921, Bd. I, S. 87f.).

Diese „Aufforderung zum Mord“ kostete Lebius offensichtlich zwar 1000 Mark, aber keine Haftstrafe: „Ein gewisser Lebius hatte den sein Gedrucktes lesenden Staatsbürgern als Beweismittel dafür, dass das alte Vaterland noch zappelt, angeraten, die Führer des Bundes Neues Vaterland samt und sonders `landesverräterische Halunken´ abzuknallen. ... Ich habe mich nun erkundigt, wie denn die Anreizung zur Aufforderung zum Mord bestraft werde. Man antwortete mir, sie falle unter die bekannte Amnestie für alte Beamte" (Willi Wolfradt: „Aufforderung zum Mord kostet tausend Mark!“, in: Die Weltbühne, 17, 1921, Bd. 1, S. 444f.). Tatsächlich hatte Rudolf Lebius 1913 die „Staatsbürger-Zeitung“ erworben und darin gehässig vor allem gegen Pazifisten gehetzt. Dabei ist es durchaus „bemerkenswert, dass alle Kandidaten der Lebius´schen Abschussliste in irgendeiner Beziehung zu May stehen. Maximilian Harden, auf den 1922 tatsächlich ein Mordanschlag verübt wurde – brachte Karl May mit Justizrat Sello zusammen, welcher im letzten Prozess, den May zu seinen Lebzeiten durchzustehen hatte, die Verurteilung des Lebius erreichte: auch Albert Einstein stand späterhin auf der Seite Mays; die beiden anderen waren seinerzeit führende Persönlichkeiten des deutschen Pazifismus, Hellmut von Gerlach sogar Mitbegründer der `Deutschen Friedensgesellschaft´, und somit `Gesinnungsgenossen´ der Bertha von Suttner, welche Karl Mays Vortrag in Wien, seinem letzten großen Erfolg zu Lebzeiten beiwohnte“ (Rudolf Sauer: Fundsache oder Neue, aber keineswegs überraschende Kund von Rudolf Lebius. Die Weltbühne, in: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft, 11, 1979, Nr. 41, S. 20-22, hier S. 21.)

Die letzten zehn Jahre seines Lebens stand Karl May also unter öffentlichem Dauerdruck. Wie man heute besser weiß, hat in den letzten zehn Jahren seines Lebens tatsächlich ein regelrechtes Komplott gegen May stattgefunden, das eine Lüge nach der anderen über ihn verbreitete.

Dies nötigte ihn immer wieder dazu, vor Gericht zu ziehen, um seine Ehre zu beweisen, und dabei doch gleichzeitig Gefahr lief, dass aufgrund seiner faktischen „Jugendsünden“ und seiner Zusammenarbeit mit dem Verleger Münchmeyer der Ruf der Unsittlichkeit an ihm hängen bliebe. Hinzu kam, dass May die Attacke anfangs unterschätzt und seine Verteidigung alles andere als geschickt organisiert hatte. Wie sehr er unter den öffentlichen Anfeindungen wegen seiner Vergangenheit und den umstrittenen „Münchmeyer-Romanen“ litt, zeigt ein Brief an Peter Rosegger vom 12. Mai 1910. Darin bekennt er: „Ich habe nie geleugnet, dass ich vor fast 50 Jahren mit den Strafgesetzen in Konflikt gekommen bin. Das was ich tat, würde jetzt vor den Arzt, nicht aber vor den Richter gehören. Meine Gegner wühlen das auf und fügen raffiniert Erlogenes hinzu. Es sind fünf Strafanträge gestellt, aus denen die Wahrheit hervorgehen wird“ (Brief von Karl May an Peter Rosegger vom 12. Mai 1910, zitiert nach Alfred Schneider: „... unsere Seelen haben viel Gemeinsames!“ Zum Verhältnis Peter Rosegger – Karl May, in: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft, 1975, S. 237).

Fortgesetzte Kritik auch in katholischen Reihen

Selbst in katholischen Kreisen nicht unter dem Vorbehalt des „Im Zweifel für den Angeklagten“ stand, sondern sich immer mehr zuungunsten von Karl May ausgewirkt hatte. So hat zum Beispiel auch Karl Muth in seinem „Nachruf auf Karl May“ (in: Hochland, 9/II, 1912, S. 249-252; auch in: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft, 1975, S. 220-225) sich zwar dagegen ausgesprochen, in May „allzu einseitig“ „einen literarischen und jugendpädagogischen Schädling“ (1912, S. 249; 1975, S. 220) zu sehen, verteidigte aber seine frühe Kritik am literarischen Geschmack der katholischen Leserschaft und an der „ungebührlichen Rolle..., die ein Karl May in einem damals noch weitverbreiteten Familienunterhaltungsblatt und darüber hinaus bei uns spielen konnte“ (1912, S. 250; 1975, S. 221). So ist Muth in seinem negativen Urteil über den Charakter Mays wohl eben auch den Verbreitungen der „Lebius und Konsorten“ (ebd.) aufgesessen, obwohl er selbst zu diesem Zeitpunkt schon wusste, dass sie eine ehrgeizige „Treibjagd“ aufführten und aus persönlichen Gründen „den Kampf bis aufs Messer“ führten. So ist es nur gut, dass auch im Blick auf dieses Urteil richtig bleibt, dass „unter den jugendlichen Lesern... es gewiss auch nicht gerade die schlechtesten“ waren, „die ihren Tatendrang, ihre Liebe zu einem Leben der Gefahren und der Wagnisse, ihre noch ungeformte Sehnsucht nach einem Heldentum geistig daran auslebten. Von der subjektiven Unwahrheit, die dahinter stand, wussten sie ja nichts“ (1912, S. 250; 1975, S. 222).

Der ehedem jugendliche Leser Romano Guardini war jedenfalls einer derjenigen von Karl Muth angeführten „tüchtigen Jugenderzieher“ die Mays Schriften nicht nur duldeten, sondern sie weiterhin – wie auch „mehr als ein Dutzend Bischöfe“ - empfahlen (1912, S. 251; 1975, S. 223).

Politische und politisch-theologische Verortung Karl Mays und seines Werks

Im Kontext der Frage nach einer Politischen Theologie Romano Guardinis und des faktischen Einflusses Karl Mays stellt sich die Frage, ob es auch einen „politisch-theologischen“ Kern im Werk von Karl May gibt, der auch das politisch-theologische Denken Romano Guardinis beeinflusst haben könnte?

Heterogenität im Denken und Weltbild Karl Mays

Der Streit der Interpreten um das tatsächliche „politische Weltbild” Karl Mays ist wohl noch lange nicht entschieden (Stefan Schmatz: Karl Mays politisches Weltbild. Ein Proletarier zwischen Liberalismus und Konservativismus (Sonderheft der Karl-May-Gesellschaft 86), Radebeul 1990).

Die Einschätzungen reichen:

  • vom konservativen Denker, der das aristokratische Prinzip als Maß aller Dinge nahm (Volker Klotz: Ausverkauf der Abenteuer. Karl Mays Kolportageroman Das Waldröschen, in: Martini (Hrsg.): Probleme des Erzählens in der Weltliteratur, Stuttgart 1971, S. 159ff.), bis zum bürgerlich-emanzipierten und ohnmächtigen Sozialkritiker (Gert Ueding: Glanzvolles Elend. Versuch über Kitsch und Kolportage, Frankfurt 1973);
  • vom „überzeugten Demokraten” (Wesselin Radkov: Politisches Engagement und soziale Problematik in den Balkanbänden Karl Mays, in: Mitteilungen der Karl May-Gesellschaft, 1974, Nr. 21, S. 4ff und Nr. 22, S. 3 ff.) bis zum an den Wilhelminischen Normen und Werten orientierten Verfechter einer streng hierarchischen Ordnung (Gertrud Oel-Willenborg: Von deutschen Helden, Weilheim/Basel 1973);
  • vom gegen die Aufklärung polemisierenden „korrumpierten Bürger” (Klaus Lindemann: Verdrängte Revolutionen?, in: Auorora, Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft, 34, 1974, S. 24 ff.) bis zu einem der Aufklärung offen gegenüberstehenden Dichter (Claus Roxin: Vernunft und Aufklärung bei Karl May. Zur Deutung der Klekih-petra-Episode im Winnetou, in: Mitteilungen der Karl May-Gesellschaft, 1976, Nr. 28, S. 10ff.; unter dem Titel: Winnetou im Widerstreit von Ideologie und Ideologiekritik, in: D. Sudhoff/H. Vollmer: Karl Mays Winnetou, Frankfurt 1979, S. 283 ff.).

Manch ein Interpret stellte angesichts dieser Bandbreite offen die Frage nach der Widersprüchlichkeit in den Texten selbst (Helmut Schmiedt: Karl May und die Literaturwissenschaft, in: 75 Jahre Verlagsarbeit für Karl May und sein Werk 1913-1988, Bamberg 1988, S. 149ff, hier S. 153).

Stefan Schmatz möchte diese angeblichen Widersprüche, vor allem zwischen den beiden Polen liberal und konservativ, dagegen ausdrücklich „verknüpfen” (Stefan Schmatz: Karl Mays politisches Weltbild, a.a.O., S. 5). Und dies erweist sich auch als plausibel, zumal ähnliches auch in Bezug auf seine Religiosität zu beobachten ist: Der Protestant May stand dem Katholischen immer näher als dem protestantisch-liberalen Bürgertum und blieb doch Zeit seines Lebens Protestant. Er bekannte sich zur „richtig verstandenen liebevollen Weltanschauung Christi, des Erlösers“ (Karl May, in: Lichte Höhen, GW49 (Ausgabe von 1956), S. 270 f.) und zur "einzigen, alles umfassenden katholischen Gemeinde der Gläubigen", wie er am 1. Oktober und am 21. Dezember 1906 während und nach Beendigung seiner Arbeit an „Babel und Bibel“ verkündete (Karl May: Mein Glaubensbekenntnis (21.12.1906), in: Donau-Zeitung. Passau 1907, auch in: Schriften zu Karl May. Materialien zur Karl-May-Forschung, Bd. 2. Ubstadt 1975, S. 245f, hier S. 246; zu Karl May als Exeget: Martin Nicol: Karl May als Ausleger der Bibel. Beobachtungen zur „Old Surehand“-Trilogie, in: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft, 1998, S. 305-321). Bereits 3 Tage zuvor hatte er sein Credo in einem Brief an Prinzessin Wiltrud in Bayern vorformuliert (vgl. Karl May: Briefe an das bayerische Königshaus, in: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft, 1983, S. 76-122, hier S. 100f.; vgl. zur Interpretation dieses Textes: Ernst Seybold: Plädoyer für Karl Mays Christlichkeit, in: MKMG 68, 1986, S. 11-17 und MKMG 69, 1986, S. 31-38 unter Rücknahme seines früheren Urteils in: ders., Aspekte christlichen Glaubens bei Karl May, in: Sh-KMG 55, S. 18, Anm. 89; ders., Karl Mays Glaubensbekenntnisse von 1906, in: ders., Karl-May-Gratulationen. Geistliche und andere Text zu und von Karl May II, Ergersheim 1989, S. 49-73; vgl. neuerdings auch Hermann Wohlgschaft: Große Karl-May-Biographie, Paderborn 1994, darin: Zweiter Teil: 5. Mein Glaubensbekenntnis oder `Wider die Resignation und für eine offene Katholizität´, S. 674ff.) Es ist interessant, dass Seybold Karl Mays Anti-Dogmatizismus hier ausdrücklich mit Guardinis „Blick ins Weite und Freie“ gegen die reaktionäre Haltung und den romantischen Pessimismus von Ludwig Bendix in Verbindung bringt (Seybold, Plädoyer für Karl Mays Christlichkeit, a.a.O., S. 14 und S. 16, FN 21 in Bezug auf Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, a.a.O., S. 29).

Nicht nur wegen seiner Nähe zum Katholischen geriet May um die Jahrhundertwende auch ins Visier liberal-protestantischer Kritik. Und nicht wenige katholische Literaturkritiker standen dieser Annäherung distanziert und kritisch, vor allem aber ratlos gegenüber.

Anti-Militarist und Pazifist

Schon zu Lebzeiten galt May vielen – je nach eigener politischer Weltanschauung zustimmend oder ablehnend - als Anti-Militarist und Pazifist, der sich für Völkerverständigung und Völkerfrieden einsetzte. Als Beispiel können die Texte "Die Liebe des Ulanen", "Deutsche Herzen, deutsche Helden", "Und Friede auf Erden!", "Waldröschen", "Die Sklavenkarawane" und "Old Surehand I" dienen (Karl May: Die Liebe des Ulanen, Dresden 1883-1885, S. 1683; ders., Deutsche Herzen, deutsche Helden, Dresden 1885-1888, S. 1913; ders., Und Friede auf Erden!, Freiburg 1904, S. 490f.; ders., Waldröschen, Dresden 1882-1884, S. 1105, S. 1570; ders., Die Sklavenkarawane, zitiert nach der Buchausgabe Stuttgart 1893, S. 206, S. 340; ders., Old Surehand I, Freiburg 1894, S. 240f.; vgl. dazu: Koch, Eckehard: "... die Farbe der Haut macht keinen Un-terschied". Betrachtungen zum angeblichen Rassisten Karl May, in: Exemplarisches zu Karl May. Frankfurt/M. 1993, S. 99-120.).

Schon 1896 schrieb er zum Beispiel im „Old Surehand III“ vielbeachtete pazifistische Sätze wie: „Steckt, wie Petrus, Eure Schwerter in die Scheide; Eure einzige Waffe soll nur die Liebe sein... Wie es einen Menschen gab, welcher die erste Mordwaffe erfand, so wird es dereinst, so wahr ein Himmel über uns ist, auch einen Menschen geben, der die letzte Waffe zwischen seinen Fäusten zerbricht” (Karl May: Old Surehand III. Freiburg 1896, S. 128). Dies kann außerdem als ein Beleg für die Bibelfestigkeit Karl Mays dienen, die er zum Teil unspezifisch, zum Teil sehr spezifisch verwendet (vgl. Martin Nicol: Karl May als Ausleger der Bibel. Beobachtungen zur `Old Surehand´- Trilogie, in: Jahrbuch der Karl May-Gesellschaft, 1998, S. 305-320).

1901 im Sammelwerk „China“ und 1904 erweitert als eigenständiges Buch erschien sein pazifistisches Werk „Et in terra pax“/„Und Friede auf Erden!“ (Karl May: Und Friede auf Erden, Freiburg 1904; vgl. dazu Hermann Wohlgschaft: Mays Friede-Roman und die Lehre der Kirche, in: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft, 83, 1990, S. 18-24).

Ethnische Stereotypisierung und Altruismus

Durch manche literarisch gewählte ethnische Stereotypisierung von „Helden” und „Anti-Helden” hat May sicherlich auch dazu beigetragen, vorhandene Vorurteile nicht nur nicht abzubauen, sondern sogar zu manifestieren. Doch seine grundsätzliche Absicht ist sicherlich jene gewesen, die er 1901 in einem Offenen Brief an die „Wiener Reichspost“ bekundete: „Ich habe nun über ein Vierteljahrhundert lang an der schriftstellerischen Aufgabe gearbeitet, die deutsche Volksseele hinaus zu fremden Völkern zu führen, damit sie die Seelen dieser Völker kennen und lieben lerne, und sich für den Gedanken begeistere, dass diese Seelen ebenso wie sie Gott dem Herrn gehören, welcher der Urquell alles Hohen, Edlen und Schönen ist" (Aus Mays Brief an die Wiener „Reichspost” vom 15. 4. 1901; zit. nach Wilhelm Vinzenz: Karl Mays Reichspost-Briefe. Zur Beziehung Karl Mays zum „Deutschen Hausschatz”, in: Jahrbuch der Karl May-Gesellschaft 1982, Husum 1982, S. 214).

Mays starker Jenseitsglaube zielte – wie Hermann Wohlgschaft betont - auf altruistische Ideale, seine Diesseitshoffnung auf Engagement für den Frieden (Hermann Wohlgschaft: „Und Friede auf Erden!” Eine theologische Interpretation, in: Jahrbuch der Karl May-Gesellschaft, 1989, S. 101-145, hier S. 131ff.). Es handelt sich in seinem Spätwerk gerade nicht um eine rein diesseitigen „Prophetie vom `neuen Menschen´” (Martin Lowsky: Karl May. Stuttgart 1987, S. 107, mit Bezug auf Wollschläger, Hans: Das Alterswerk, in: Karl May's Gesammelte Werke Bd.34: »Ich«. Bamberg, 21. Aufl. 1958, S.353 ff.) oder um ein säkularisiertes „Reich des Menschen” (Gert Ueding: Der Traum des Gefangenen. Geschichte und Geschichten im Werk Karl Mays, in: Helmut Schmiedt (Hrsg.): Karl May, Frankfurt a. M. 1983, S. 164; das folgende Zitat ebd. S. 174; später hat Ueding laut Wohlgschaft die Transzendenz in Mays Werken stärker beachtet; vgl. ders., Die Rückkehr des Fremden. Spuren der anderen Welt in Karl Mays Werk, in: Jahrbuch der Karl May-Gesellschaft 1982, Husum 1982, S. 15-39).

Christliche Orthodoxie

Sein Jenseitsglaube und seine Diesseitshoffnung sind im christlichen Sinne durchaus „orthodox” (Ernst Seybold: Plädoyer für Karl Mays Christlichkeit, in: Mitteilungen der Karl May-Gesellschaft, 68/1986, S. 14). Die Orthodoxie Karl Mays war allerdings zu seinen Lebzeiten immer umstritten und führten sogar zu einer anonymen Anzeige vor der Index-Kongregation Anfang 1910 (vgl. dazu: Hubert Wolf: Karl May und die Inquisition, in: Dieter Sudhoff (Hrsg.), Zwischen Himmel und Hölle, Karl May und die Religion, Bamberg 2003, 335-440). Wohlgschaft führt dazu aus: “Innerweltliche Utopien, Träume von Recht und Gerechtigkeit, von Liebe und Frieden sind notwendig. Sie gehören zum Menschen und seiner Bestimmung. Ohne solche Träume bliebe alles beim Alten, und ohne solche Träume verlöre der Mensch seine Seele. `Häretisch´ und `ketzerisch´ wäre es, wenn irdische Zukunftsentwürfe... mit dem Gottesreich identifiziert würden; nicht häretisch, sondern biblisch ist es, wenn Diesseits- und Jenseitshoffnung aufs engste miteinander verknüpft werden. Dies und nichts anderes tut May, wenn er Heartman sagen lässt: `Das Paradies der Erde ist nicht das Himmelreich des Welterlösers, doch hat das Letztere zum Ersteren zu kommen´” (Hermann Wohlgschaft: „Und Friede auf Erden!“, a.a.O., S. 133 in Bezug auf May, Und Friede auf Erden, S. 637).

Bezugnahmen auf Dante

Wie Albert von Schirnding sind sicher auch Guardini in Karl Mays Jenseitsphantasie mit dem Titel „Am Jenseits” (1898/1899) die Parallelen zu Dante nicht entgangen. Gemeint ist die darin vorkommende „Odyssee'”. Ihr elfter Gesang erzählt den Abstieg des Helden in den Hades, wo er den Schatten seiner Kampfgenossen vor Troja und dem Schatten seiner Mutter begegnet und sich von Teiresias die Zukunft weissagen lässt (vgl. Albert Schirnding: Über Dantes Göttliche Komödie. Vortrag im Rahmen eines Studientags der Kath. Akademie am 20.03.1999 in München: Romano Guardini "Landschaft der Ewigkeit" - Wege zu Dantes Göttlicher Komödie, http://www.klassphil.uni-muenchen.de/~waiblinger/dante.html. Vgl. dazu auch: Hermann Wohlgschaft: „Das ist die Wage der Gerechtigkeit”: Bemerkungen zu Karl Mays "Jenseitsroman", in: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1988, S.184-204; ähnlich auch das Schlusskapitel von „Und Friede auf Erden”, a.a.O., S. 490-660, hier S. 574-587).

May selbst berief sich sogar gegenüber seinen Kritikern explizit auf Dantes veranschaulichende Visionen in seiner „Beichte” von 1908: „Wenn ich z. B. das Reich der Kunst, um es veranschaulichen zu können, nach Indien verlege und das Reich der religiösen Unduldsamkeit nach Belutschistan, so verlangen diese innerlich blinden Menschen flugs von mir, auch wirklich in Indien und Belutschistan gewesen zu sein. Wo nicht, so bin ich ein literarischer Lügner und Schwindler. Nach diesem Maßstabe gemessen, würde Dante der größte aller Schwindler sein, denn er behauptet, nicht nur im Fegefeuer und in der Hölle, sondern sogar auch im Himmel gewesen zu sein!” (Karl May: Meine Beichte, in: Rudolf Lebius: Die Zeugen Karl May und Klara May. Ein Beitrag zur Kriminalgeschichte unserer Zeit, Berlin 1910, S. 4).

Auch die Vorstellung der „Waage der Gerechtigkeit”, vor der eine Klarheit herrsche, "für welche der Ausdruck 'zum Erschrecken' viel, ja viel zu wenig sagt. Ich kannte jedes... Wort, welches ich in meinem Leben gesprochen habe, mochte es nun nützlich, schädlich oder gleichgültig sein. Aber... vor der Waage der Gerechtigkeit gibt es nichts Gleichgültiges...", kann hier als Beispiel angeführt werden (May, Im Jenseits, a.a.O., S. 510). Mays religiöses Anliegen war also durchaus die Suche nach einem „wahren Christentum” und zwar jenseits aller Gewaltreligion (Wohlgschaft, „Und Friede auf Erden!“, a.a.O., S. 136).

"Konservativ geprägt, liberal begründet und anti-sozialistisch"

Politisch war May dagegen zweifellos ein offener Gegner der Sozialdemokratie, der er – wie später auch Guardini - „Demokratismus” vorwarf (Karl May: Sozialdemokratismus und andere Krankheiten”, in: ders., Und Friede auf Erden, Freiburg, S. 173). In einer Entgegnung auf Brigadier Ostwalt, der ihm unterstellt, er sei „Sozialdemokrat durch und durch”, hielt er dagegen, dass Sozialisten im Unterschied zu ihm selbst nicht „auf dem festen Boden des göttlichen und staatlichen Gesetzes” stehen würden (vgl. Maschke, Karl May und Emma Pollmer, Bamberg 1973, Anhang: Die Kate Sollberg 129, hier S. 140, Blatt 2, und S. 152, Blatt 15). So schreibt Karl May in "Winnetou I": „Wer keinen Gott anerkennt, dem ist auch kein König, kein Vaterland heilig.” (Vgl. auch May, Winnetou I, Freiburg/Radebeul, S. 128). May nannte den Sozialdemokratismus in einem Atemzug mit Anarchismus und Nihilismus (May, Und Friede auf Erden, a.a.O., S. 172).

Sein eigenes Weltbild war zwar von seiner proletarischen Herkunft geprägt, aber auch von seiner Angst vor Masse und Revolution sowie vor Konflikten mit der Obrigkeit. So spricht er wohl nicht von ungefähr in "Old Surehand III" von der "millionenköpfigen Hydra" der Gesellschaft (vgl. May, Old Surehand III, Freiburg, S. 2). Eine weitere Prägung erfährt er aufgrund seiner spezifischen, unkonfessionellen und undogmatischen, aber im Letzten christlichen Religiosität, für die der eine, große Gottesgedanke zählt: „Welchen Namen man ihm auch geben möge, ob man ihn Herr, Gott, Manitou oder Allah nenne, er ist doch Ein- und Derselbe, die ewige, unendliche Liebe, der Schöpfer und Vater aller Menschen, der nicht nach der Verschiedenheit der Bekenntnisse fragt, sondern nur das Herz und die Nieren prüft. Vor ihm sind Alle gleich, Christen, Juden, Türken, Heiden. Nicht das Bekenntnis tat es, nicht die Konfession, sondern der eine, große Gottesgedanke...” (vgl. Karl May: Deutsche Herzen - Deutsche Helden. Dresden 1885-87; Bamberg (Reprint), S. 584).

Stefan Schmatz kennzeichnete Mays politisches Weltbild daher zu Recht als „konservativ geprägt, liberal begründet und anti-sozialistisch” (Schmatz, Karl Mays politisches Weltbild, a.a.O., S. 46 mit Schaubild). Schmatz sieht es als „originale Leistung” von Karl May an, „dass der Proletarier May ... liberales Gedankengut dazu verwendete, den Konservatismus zu begründen”, was sein konservatives, durchaus auch autoritäres Weltbild stark von dem herkömmlicher konservativer Ideologen abweichen lasse (ebd., S. 50). Seine politische Vision war die einer aristokratischen, nach liberalen Grundsätzen bestimmten Demokratie mit einem Arbeiterkaiser an der Spitze (Ebd., S. 38). In der Mischung von utopischer, liberal geprägter Exotik und dem zeitgenössischen obrigkeitsstaatlich-absolutistischen Deutschland bildete May eine neue „Synthese” heraus: den „utopischen aufgeklärten Absolutismus” als „Reformismus” (Ebd., S. 39).

Gerade sein gleichzeitig konservativer und liberaler Anti-Sozialismus zeigte in katholischen Kreisen seine Wirkung und führte allem Anschein nach auch zu „Konversionen” aus der Sozialdemokratie zum katholischen Lager des „Deutschen Hausschatzes”, wie May selbst aus einer Leserzuschrift aus dem 1896 stolz zitierte: „Seit wir Ihre Werke gelesen haben, sind wir keine Sozialdemokraten mehr und sehen zu unserer Freude, dass alle, denen wir sie borgen, auch langsam zu uns übertreten” (Karl May: Freuden und Leiden eines Vielgelesenen, in: Deutsche Hausschatz, 23, 1896/97, H. 1-2, S. 18 re; jetzt in ders.: Kleinere Hausschatz-Erzählungen. Reprint der Karl-May-Gesellschaft 1982, S. 35 f).

Er kämpfe als gläubiger Christ aber gerade nicht gegen Sozialdemokraten als Personen. 1909 glaubte May sogar, sich pseudonym gegen diesen Vorwurf verteidigen zu müssen: „Er verschweigt nicht, ein gläubiger Christ zu sein, aber er achtet auch jeden anderen Glauben und stellt den Sozialdemokraten rein persönlich ebenso hoch wie jeden anderen Menschen” (Franz Langer: Die Schund- und Giftliteratur und Karl May, ihr unerbitterlicher Gegner, o.O. 1909, zitiert nach Roxin, in: Schriften zu Karl May, Materialien zur Karl May-Forschung 2, Ubstadt 1975, S. 227).

Bewußt politisch, aber nicht parteipolitisch

Letztlich konnte May mit diesen Ansichten aber auch keine eigene konkrete parteipolitische Heimat finden. Es ist auch nicht überliefert, dass die Parteipolitiker der in Frage kommenden Parteien ein Interesse an einer Diskussion mit Karl May gezeigt hätten. Dies bedeutet jedoch gerade nicht, dass Mays politische Aussagen „in ihrer Naivität (...) kaum diskussionswürdig” gewesen wären (so urteilt Peter Krauskopf: Die Heldenrevision in Karl Mays Reiseerzählung „Und Friede auf Erden” als Kritik am wilhelminischen Imperialismus II, in: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft, 72/1987, S. 8) Und auch Wohlgschaft bestätigt, seine Aussagen "seien vielmehr gerade „so ›naiv‹ wie die Bergpredigt Jesu. Den politischen Sachverstand werden sie nicht ersetzen können; als Gesinnungsethik, als Gewissensstachel (für Christen zumindest) sind sie aber doch aktuell” (Wohlgschaft, Und Friede auf Erden!, a.a.O., S. 136).

Karl May hat sich darüber hinaus nach Abschluss seiner Jugendschriftstellerei „zum bewussten politischen Menschen entwickelt” (Hermann Zieger/Joseph Kürschner: Briefe über Karl Mays Roman ›Et in terra pax‹, in: Jahrbuch der Karl May-Gesellschaft 1983, Husum 1983. S. 160).

Insbesondere in seinem allegorischen Spätwerk finden sich immer mehr kulturkritisch-pazifistische Passagen. In seinem 1909 als Buch herausgegebenen Alterswerk „Ardistan und Dschinnistan“ steht in der Geschichte „Der Mir von Dschinnistan“ die bis heute vielzitierte Passage: "Heute, in diesem Augenblicke, ist nicht die Zeit, über diese Fragen viele Worte zu machen. Worte tun es überhaupt nicht, sondern Taten müssen geschehen. Ihr habt Kriegswissenschaften, theoretische und praktische. Und ihr habt Friedenswissenschaften, theoretische, aber keine praktischen. Wie man den Krieg führt, das weiß jedermann; wie man den Frieden führt, das weiß kein Mensch. Ihr habt stehende Heere für den Krieg, die jährlich viele Milliarden kosten. Wo habt ihr eure stehenden Heere für den Frieden, die keinen einzigen Para kosten, sondern Milliarden einbringen würden? Wo sind eure Friedensfestungen, eure Friedensmarschälle, eure Friedensstrategien, eure Friedensoffiziere?" (Karl May: Der Mir von Dschinnistan. Reiseerzählung von Karl May, Kapitel 1, 1909, S. 17).

Bekanntschaft mit Bertha von Suttner

Diese Haltung eines politischen Gesinnungsethikers hatte sich durch die Bekanntschaft mit der aus Österreich stammenden Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner (1843-1914) verstärkt. Er hatte sie bereits im Oktober 1905 in Dresden kennen gelernt, also noch bevor diese im Dezember desselben Jahres den Friedensnobelpreis zugesprochen bekam und dann am 18. April 1906 vielbeachtet entgegennahm. Die wechselseitige freundschaftliche Wertschätzung ist mehrfach bezeugt. Er stand mit ihr in einem persönlichen, freundschaftlichen Kontakt (vgl. Hansotto Hatzig: Bertha von Suttner und Karl May, in: Jahrbuch der Karl May-Gesellschaft 1971, Hamburg 1971, S. 246 ff.).

Empor ins Reich des Edelmenschen

Bertha von Suttner hatte 1892 gemeinsam mit Alfred Hermann Fried die „Deutsche Friedensgesellschaft“ gegründet, der auch noch in der Weimarer Republik der größte Verband der deutschen Friedensbewegung war. Mit ihren Schriften „Das Maschinenzeitalter. Zukunftsvorlesungen über unsere Zeit“ (1888), in der sie politisch-philosophisch gegen den Nationalismus argumentierte, und „Die Waffen nieder!“ (1889), in der sie eine Lebensgeschichte zum Antikriegsroman gestaltete, wurde sie schnell bekannt.

Unter Suttners deutlichem Einfluss und in ihrer Anwesenheit hielt Karl May dann am 22. März 1912, acht Tage vor seinem Tod, im Wiener Sophiensaal vor 2000 bis 3000 Zuhörern seinen letzten Vortrag unter dem Titel „Empor ins Reich des Edelmenschen“ (Karl May: Empor ins Reich des Edelmenschen!, in: "Ich", Karl Mays Leben und Werk, Karl-May-Verlag Bamberg 1975, S. 293-312; vgl. dazu Ekkehrd Bartsch: Karl Mays Wiener Rede. Eine Dokumentation, in: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft, Hamburg 1970, S. 52-68; sowie Günter Scholdt: „Empor ins Reich der Edelmenschen“. Eine Menschheitsidee im Kontext der Zeit, in: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft, 2000, S 94 ff). Damit übernahm er den von Bertha von Suttner geprägten Begriff des „Edelmenschen”, der weder vom Begriff des „Übermenschen” Nietzsches herkommt, den May sogar ausdrücklich zurückwies (Vgl. die Kritik an Übermenschen und Übernationen, in: May, Und Friede auf Erden, a.a.O., S. 151. Siehe allgemeiner zum Verhältnis von May zu Nietzsche auch Hans Rüdiger Schwab: Der Sieg über den Panther. Karl Mays Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsche, in: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft, 2002, S. 235-275), noch etwas mit alldeutschem Chauvinismus zu tun hatte, da May in seiner Rede ja gerade am „Terror” der abendländischen „Zivilisatoren” Kritik übte (Vgl. May, Und Friede auf Erden, a.a.O., S. 278f.).

Der Begriff hat also – wie Claus Roxin zurecht betont - „seinen Ursprung in der Weltfriedensbewegung, zu deren Pionieren auch May gehört” (Claus Roxin, Vorwort, in: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft, 1971).

Der Unterschied zu Nietzsches "Übermenschen" gilt, obwohl Meta von Salis-Marschlins bereits 1897 auch Nietzsche als „Edelmenschen” bezeichnet hatte (vgl. Meta von Salis-Marschlins: Philosoph und Edelmensch: Ein Beitrag zur Charakteristik Friedrich Nietzsche's, Leipzig 1897; Schutterwald/Baden 2000), da Salis-Marschlin von einem anderen Hintergrund ausgeht.

Interessant im Zusammenhang mit Guardinis Gegensatzlehre sind die Ausführungen von Johannes Maria Verweyen in seiner Schrift: Der Edelmensch und seine Werte: Eine Charakterlehre neuer Prägung (München 1919; (2)1922; (3)1933). wird noch weiter erstellt

Pathetischer Utopismus

May hielt in dieser Rede ein pathetisch-utopisches Plädoyer für eine Welt, in der das Gute über das Böse siegt, in der der Dialog zwischen den Völkern im Mittelpunkt steht und die unterschiedliche Hautfarbe oder Religion keine Rolle mehr spielen. Dieses kommende Reich des Friedens beschwor er in seinem Märchen vom Stern Sitara: „Da kann es nicht 3 oder gar 5 Menschenrassen und 5 Erdteile geben, sondern nur 2 Erdteile mit einer einzigen Rasse, die aber nach gut und bös, nach hoch und niedrig denkend, nach auf- und abwärtsstrebend geschieden ist. Körperbau, Hautfarbe usw. sind da vollständig gleichgültig, verändern nicht im Geringsten den Wert oder Unwert des betreffenden Menschen. In Ardistan leben die Niedrigen, die Unedlen, in Dschinnistan die Hohen, die Edlen. Beide sind verbunden durch den schmalen, aufsteigenden Streifen von Märdistan, wo im Walde von Kulub der `See der Schmerzen´ und die Geisterschmiede liegt.“ Das Ziel des Menschen müsse demnach sein, das dunkle Ardistan zu verlassen, sich nach Dschinnistan vorzukämpfen und „Edelmensch“ zu werden. Er selbst, der in Ardistan geboren sei, habe sich aus diesen Abgründen emporgearbeitet in ein freieres, geistiges Reich von Edelmenschen; und obwohl er „von Hunderten, von Tausenden mit den Füßen immer wieder zurückgestoßen“ werde, liebe er „sie doch alle, alle.“

Am Schluss des Abends las May aus Bertha von Suttners 1911 erschienenem Tendenzroman „Der Menschheit Hochgedanken“, in dem sie das im Radium liegende totale Vernichtungspotential bei einem kriegerischen Einsatz als erste bekannte Schreckensvision einer atomaren Waffe entwirft: "Damit ist eine Machtfülle in unsere Hand gegeben, für die uns noch das Fassungsvermögen fehlt. Ein Kraftquantum ist uns zur Verfügung gestellt, das alle Arbeitswirkung verhundertfachen, vertausendfachen, verhunderttausendfachen kann. [...] Der Radiumkondensator ist erfunden. Mit von Wolkenhöhen herabgesandten Radiumstrahlenbündeln in ein paar Minuten feindliche Flotten und Heere zu vernichten, feindliche Städte zu zertrümmern, ist Kinderspiel. Gegenseitig. Achtundvierzig Stunden nach der sogenannten `Eröffnung der Feindseligkeiten´ könnten beide kriegsführende Parteien einander besiegen und im feindlichen Lande kein Gebäude und kein Lebewesen zurückgelassen haben" (Bertha von Suttner: Der Menschheit Hochgedanken. Roman aus der nächsten Zukunft, Berlin 1911, S.395).

May solidarisierte sich also mit seiner umstrittenen „Meisterin“ im Kampf für den Weltfrieden (Ekkehard Bartsch: Karl Mays Wiener Rede, a.a.O., S. 50 f. und 55 ff). Und er beendet seine Rede, besser gesagt seine Predigt, mit den Worten: „Die Liebe ist die Wunderkraft der Erde. Das walte Gott - Amen!”

Ambivalenzen der Karl-May-Interpretation im Nationalsozialismus

Die bis heute oft noch unklare Wahrnehmung der Positionen Karl Mays liegt natürlich auch daran, dass seine Werke von Gegnern und Apologeten in der Folgezeit als Steinbruch verwendet wurden, ohne die einzelnen Passagen in ihrem Zusammenhang zu sehen. So konnte es auch dazu kommen, dass Karl May von einem Teil der Nationalisten und Nationalsozialisten selektiert als Musterdeutscher angepriesen wurde, indem sie über die pazifistischen und völkerrechtlichen Stellen geflissentlich hinweglasen. Ein anderer Teil aus diesem Lager hatte dagegen Zitate aus ihrem zeitgeistigen Kontext herausgerissen und ideologisch missbraucht. Wiederum ein anderer Teil bekämpfte May gerade wegen seiner antirassistischen und pazifistischen Haltung. Nicht zuletzt wurden während der nationalsozialistischen Herrschaft Teile seines Werks verboten, andere zensiert, wiederum in andere sogar antisemitische Stellen hineingearbeitet (vgl. Baruch Hamerski: Missdeutet und missbraucht. Karl May im Nationalsozialismus, in: Exemplarisches zu Karl May, Frankfurt/M.1993. S. 205-228; Erich Heinemann: "Karl May passt zum Nationalsozialismus wie die Faust aufs Auge". Der Kampf des Lehrers Wilhelm Fronemann, in: Jahrbuch der Karl May-Gesellschaft, 12, 1982, S. 234-244).

Besonders Klaus Mann hatte Karl May zum „Propheten des Dritten Reiches” stilisiert: "Er nahm in der literarischen Halbwelt jene katastrophale Wirklich-keit vorweg, vor der wir heute stehen; er war der große Prophet eines falschen Messias... Das Dritte Reich ist Karl Mays äußerster Triumph, die schaurige Verwirklichung seiner Träume" (Klaus Mann: Cowboy Mentor of the Führer. In: The Living Age, Nov. 1940; vgl. dazu: Wolf-Dieter Bach: Hitlers Schatten zwischen Klaus Mann und Karl May, in: Mitteilungen der Karl May-Gesellschaft, 27, 1976, S. 14).

Dagegen ist Hermann Hesse davon überzeugt: "Hätte er doch den Krieg noch erlebt und wäre Pazifist gewesen. Kein Sechzehnjähriger wäre mehr eingerückt" (vgl. dazu: Claus Roxin: Hermann Hesse, Karl May und der Pazifismus, in: Mitteilungen der Karl May-Gesellschaft, 5, 1970, S. 11; Amand von Ozoróczy: Zum Thema: Hermann Hesse, Karl May und der Pazifismus, in: Mitteilungen der Karl May Gesellschaft, 6, 1970, S. 28).

Während ihn manche Nationalsozialisten offen als „Marxisten” bekämpften, wurde er schließlich nach 1945 interessanterweise bis in ehedem rechte Kreise hinein als „Faschist” verteufelt. So z.B. durch den Lehrer Wilhelm Fronemann (vgl. Erich Heinemann, Karl May passt zum Nationalsozialismus wie die Faust aufs Auge. Der Kampf des Lehrers Wilhelm Fronemann, in: Jahrbuch der Karl May-Gesellschaft, 1982, S. 234-244).

Hitler selbst war dagegen nachweislich ein großer May-Verehrer war (Brigitte Hamann: Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, München/Zürich 1996, S. 21, S. 238 und S. 547 u.a. unter Verweis auf Franz Jetzinger: Hitlers Jugend, Wien 1956, S. 105 (Erinnerungen seines Lehrers Dr. Huemer von 1924); Werner Jochmann (Hrsg.): Adolf Hitler. Monologe im Führerhauptquartier 1941-1944. Die Aufzeichnungen Heinrich Heims, Hamburg 1980, S. 281; Hans Severus Ziegler: Adolf Hitler aus dem Erleben dargestellt, Göttingen 1965, S. 77; Albert Speer: Erinnerungen, Frankfurt am Main 1969, S. 523f.). Insbesondere Speer betont den Einfluss der Gestalt Winnetous auf Hitler, der ihm als „Musterbeispiel eines Kompanieführers“, als „Vorbild eines edlen Menschen“, als „Heldengestalt“ galt, an dem die Jugend „die richtigen Begriffe von Edelmut“ lernen könnten. Hitler hatte zudem im Frühjahr 1912 sogar den Wiener Vortrag von Karl May gehört, war im Anschluss daran von ihm überschwänglich begeistert und hat ihn gegen jegliche Kritik verteidigt (Anonymus: Mein Freund Hitler, in: Moravsky ilustrovany zpravodaj, 1935, Nr. 40, S. 10f., zitiert nach Hamann, a.a.O., S. 547).

Daraus aber schließen zu wollen, dass May ein Wegbereiter des Nationalsozialismus gewesen sein könnte, ist abwegig. Vielmehr hat Hitler in seiner übersichtlichen, weil bipolar aufgebauten Weltanschauung, nämlich aus den sicher nicht von May stammenden oder vertretenen Lehren von Herren- und Sklavenmenschen, Übermenschen und Untermenschen, Starken und Schwachen, Blonden und Dunklen, vom männlichem und weiblichen Prinzip, vom christlichen und jüdischen Gegensatz, von May lediglich die klare Scheidung in Gut und Böse übernommen, so wie dieser sie in „Ardistan und Dschinnistan“ entworfen hatte (Hamann, a.a.O., S. 334). Erst aber in dieser Kombination gerät es zu jenem fatalen Freund-Feind-Schema, wonach das Böse versucht, nicht offen, im fairen „Heldenkampf“, sondern nach Art der „Untermenschen“ durch „Bazillen“, „Parasiten“, „Schmarotzer“ und durch „Verunreinigung“ der „Zucht“ und des „Blutes“ das Gute zu vernichten. Demnach gilt es dann in den Augen Hitlers dem Guten, notfalls mit Gewalt und den Mitteln des Bösen, zu seinem Recht zu verhelfen (ebd.).

In „Mein Kampf“ distanzierte sich Hitler endgültig vom Pazifismus des anfänglich verehrten Karl May, wenn er einen Frieden postuliert, der nicht „durch die Palmwedel tränenreicher pazifistischer Klageweiber“ gestützt sei, „sondern begründet durch das siegreiche Schwert eines die Welt in den Dienst einer höheren Kultur nehmenden Herrenvolkes“ (Hitler, Adolf: Mein Kampf, einbändige Volksausgabe, S. 438). Aus dem pazifistisch gesinnten Indianer Winnetou Karl Mays wird bei Hitler schließlich ein adoptierter Angehöriger des deutschen Herrenvolkes, der eine höhere Kultur notfalls mit Gewalt durchsetzt.

May hatte in Wien gerade das Gegenteil verkündet: „Das Edle muss über das Böse siegen, der Bessere über den Schlechteren, auf dass sich die gesamte Menschheit emporentwickle in das Reich der Edelmenschen! Güte ist größer als alle Gewalt! Güte ist größer als Gewalt! Milde mächtiger als Mord!“ (Karl May: Empor ins Reich des Edelmenschen!, in: "Ich", Karl Mays Leben und Werk, Karl-May-Verlag Bamberg 1975, S. 293-312). May war damit in der Weltanschauung vieler Nationalisten und Nationalsozialisten ein Narr, Vaterlandsverräter und „Judenknecht“. Bertha von Suttner hatte sich immerhin jahrelang im Verein zur Abwehr des Antisemitismus engagiert (ebd., S. 548 f.).

Die Hitler viel näher stehenden Autoren der von Lanz von Liebenfels herausgegebenen Ostara-Reihe, wie zum Beispiel Adolf Harpf, wandten sich entschieden gegen die „modernen internationalen Friedensduseler“, das „widerliche Friedensgesäusel der modernen internationalen Völkervermenger“ und „die blutleeren Ideale allgemeinen Völkerunterganges im Internationalismus.“ Man berief sich hingegen auf Moltke, für den der Krieg „ein Element der von Gott eingesetzten Weltordnung“ war (Adolf Harpf: Die Zeit des ewigen Friedens, eine Apologie des Krieges als Kultur- und Rassenauffrischer, in: Ostara, Wien 1908, S. 4ff, 7 und 11, zitiert nach Hamann, a.a.O., S. 549).

Abschließende Bewertung im Blick auf Guardini

Wenn dieser mögliche pazifistische Einfluss auf Guardini nur über die Lektüre von Karl Mays Romanen zu begründen wäre, wäre dies nicht hinreichend. Allerdings kommt zu dieser Lektüre noch die Auseinandersetzung mit einem pädagogischen Autor hinzu, der ebenfalls Zeit seines Lebens einen klaren Pazifismus vertrat, siehe Romano Guardini und Friedrich Wilhelm Foerster.