Die “Katholische Demokratie” Guardinis als alternatives politisch-theologisches Modell einer “Zivilisation der Liebe”

Aus Romano-Guardini-Handbuch

Die “Katholische Demokratie” Guardinis als alternatives politisch-theologisches Modell einer “Zivilisation der Liebe” (Autor: Helmut Zenz)

Ein erstes Fazit: Ideologische Sichtweisen und Steinbruchverfahren trüben Blick auf Guardinis Ansatz

Wenn man sich intensiv mit Romano Guardinis politisch-theologischem Denken auseinandersetzt kommt man am Ende zu folgendem Fazit: Der eigenständige Ansatz seines Gegensatzdenkens hat Guardini Kritik von stark entgegengesetzten Seiten eingebracht. Sein origineller und interdisziplinärer Ansatz stellte ihn zwischen die jeweiligen ideologischen Fronten und akademischen Fakultäten. Und bis heute wird immer wieder versucht, ihn und seine Ideen entweder zu vereinnahmen oder aber auszugrenzen.

Hans Urs von Balthasar begründete diesen problematischen Umgang mit der Schlichtheit, Klarheit und Einheitlichkeit von Guardinis Denken, so dass ihm gegenüber die Entscheidung leicht werde: „Zu distinguieren ist wenig; man stimmt ihm zu oder lehnt ihn ab.“ (Hans Urs Balthasar: Romano Guardini. Reform aus dem Ursprung, München 1970, S. 13. Leider ist Balthasars eigene Haltung im Gefolge von Erich Przywara gegenüber Guardini nicht so eindeutig, wie er es hier formuliert und von seiner hegelianisch-dialektischen Ablehnung des anderen Pols, namentlich vertreten durch Karl Rahner und Johann Baptist Metz, wobei er letzteren gegenüber Guardini sogar expressis verbis als häretischen Feind stilisiert). Und wenn Heinz Robert Schlette „ein hermeneutisch sorgfältiges Mit- und Weiterdenken, wenn nötig auch über Guardini hinaus“ fordert, um „seinen Gedanken, Hinweisen, Urteilen, Versuchen, Befürchtungen, Vorblicken eher gerecht“ zu werden, als ihn undistanziert und unkritisch zu rezipieren und applizieren und dabei „zudem zahlreiche philosophische und theologische Konzeptionen und Bemühungen schlicht“ auszublenden, ist dies so lange berechtigt, als die unhegelianische Grundposition seiner Gegensatzlehre davon nicht beeinträchtigt wird. (Dies ist bei Schlette selbst durchaus in Frage zu stellen, weil er sich in seinem eigenen politisch-theologischen Denken stärker an der hegelschen Dialektik als an Guardinis Dialogik orientiert.)

Wer dagegen aus Guardinis Werk wie aus einem Steinbruch axiomatische Sätze auswählt, um ein bereits feststehendes „Bild“ zu bestätigen, die Unvereinbarkeit des Katholischen mit den “Prinzipien der Mündigkeit und Autonomie” sowie mit einer “auf Selbstbestimmung und Selbstorganisation beruhenden Gesellschaft libertär-sozialistischer Prägung” zu erklären und umgekehrt das eigentlich Katholische im Sinne des Allgemeinen mit dieser Gesellschaft zu identifizieren, für den bleibt Guardini nur ein Teil dieses auf den Totalitarismus zustrebenden “katholischen Systems”(Richard Faber: Katholisch/Katholizismus II, a.a.O., S. 341-344. Vgl. dazu auch ders.: Politischer Katholizismus. Die Bewegung von Maria Laach, in: Hubert Cancik (Hrsg.): Religions- und Geistesgeschichte der Weimarer Republik, Düsseldorf 1982, S. 136-158.) Den anderen wird er – unter Berufung auf andere Versatzstücke - wiederum zum Teil bzw. Förderer eines modernistischen, reformkatholischen bzw. linkskatholischen „Projekts“. Aus dem - aus persönlicher Betroffenheit heraus formulierten - Vorwurf Ernst Michels, Guardini sei Opportunist gewesen, wird dann ein apodiktisches Vorurteil. Er wird zum verkappten hegelianischen oder aber anti-hegelianischen Dialektiker, den man soweit bruchstückhaft aufnimmt, wie er in die eigene hegelianische oder anti-hegelianische Position integrierbar ist. Ohne Frage kann man im Werk Guardinis Sätze isolieren, die in seinem Gehorsamsverständnis „romantische ... Züge“ zu belegen scheinen (Clemens Vollnhals: Guardini, Romano, in: Biographisches Lexikon zur Weimarer Republik, München 1988, a.a.O., S. 116). Auch wird er für all jene zu einem - im Vergleich zum gesamten zeitgenössischen Spektrum immerhin “gemäßigten” - “Apologeten von Führerprinzip und autoritär-ständischer Ordnung” (Ulrich Bröckling: Katholische Intellektuelle in der Weimarer Republik. Zeitkritik und Gesellschaftstheorie bei Walter Dirks, Romano Guardini, Carl Schmitt, Ernst Michel und Heinrich Mertens, München 1993, S. 51.), denen Guardinis Position eines schöpferischen Gehorsams und Ungehorsams nur als “Betriebsunfall” einer ansonsten den Subjektivismus bekämpfenden Lehre gilt, die den “Ungehorsam als Gehorsam im höheren Sinn begreift, sofern er, statt nur niederzureißen, eine höhere, von Gott `eigentlich´ gewollte Ordnung aufbauen” wolle (ebd., S. 52).

Für jene Interpreten hat Guardini grundsätzlich einen “radikalisierten Katholizismus oder katholischen Radikalismus” vertreten (ebd., S. 42), und dabei die Autorität über die Gemeinschaft und die Gemeinschaft über die individuelle Freiheit gestellt (ebd., S. 51f.). Guardini sei demnach bei der Übertragung seines Modells von Autorität und Freiheit, das für kleine Gruppen konzipiert war, auf die ganze Gesellschaft gescheitert, weil “mit der Kategorie der `personalen Beziehung´ die soziale Synthesis moderner Gesellschaften nicht zu fassen war” (ebd., S. 55). Wer selbst von einer vorher so festgelegten, einseitigen Vorstellung von Freiheit und Autonomie ausgeht, wird Guardinis Gegensatzdenken zwischen Autorität und Gehorsam einerseits, Freiheit und Autonomie (Widerstand) andererseits gar nicht anders deuten und verorten können. Seine personale Dialogik als politisch-theologische Grundlage gerade für die Zusammenschau all jener Faktoren, die moderne Gesellschaften sozialethisch verantwortlich und soziologisch nachhaltig ausmachen, gerät dann ins Abseits und wird vorschnell als „untauglich“ eingestuft. Nur passiert dies eben oft genug und ebenso unverhohlen auch von Seiten derer, die in Guardini keinen konservativen, restaurativen und regressiven Bewahrer, sondern einen reformierenden, renovativen und progressiven Neuerer, und zwar keineswegs nur auf dem Gebiet der Liturgie, sondern auch auf dem Gebiet der Politik sehen.

Der Weg von Kant zu Hitler und Stalin

Guardinis Konzept der "katholischen Demokratie"

Kirche und Staat: Von der societas perfecta zur societas imperfecta

Ermöglicht wurde diese Position Guardinis allerdings nur, weil er – vor allem von Dante und Ketteler herkommend - weiterhin dem “Staat” als Ganzheit im Sinne einer “Societas” die „Kirche“ gegenüberstellt. Beide treten bei Guardini aber nicht mehr - wie bisher üblich – nur als “societas perfecta”, sondern im Vorgriff und in der Betonung des charismatischeren und demokratischeren „Volk Gottes“-Begriffes (Vgl. dazu Romano Guardini, Existenz des Christen, a.a.O., S. 401f.) geradezu als “societas imperfecta” auf. Der Ausdruck „societas imperfectae“ bzw. „societas libera et aequalis“ steht in der Tradition des Pufendorf folgenden Staats- und Kirchenverständnis des Kollegialismus und Territorialismus. Diese Tradition wendete ihn aber nur auf die Kirche an, die dem Staat, dem allein der Titel einer „societas perfecta“ gebühre, untergeordnet sei (vgl. Roland M. Lehmann: Die Transformation des Kirchenbegriffs in der Frühaufklärung, Tübingen 2013, S. 178). Das katholische Verständnis setzte dagegen lange in Abgrenzung von diesem protestantischen Verständnis auf die Kirche als „societas perfectae et inaequalis“ (ebd., S. 166; vgl. dazu auch: Klaus Schlaich: Die Kirche - eine societas inaequalis et perfecta?, in: Zeitschrift der Savigny—Stiftung für Rechtsgeschichte 100, 1983, S. 363-377). Tatsächlich hat die katholische Kirche mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil dieses Verständnis stärker theologisch akzentuiert und somit die defensive Frontstellung aufgegeben (ebd., S. 363), mit der man sich zuvor sowohl gegen die protestantische Kollegialtheorie und das protestantische landes-herrliche Kirchenregiment als auch gegen die staatlichen Herrschaftsansprüche des Josephinismus und Gallikanismus gewandt hatte (Vgl. Werner Heun: Organisation von Religionsgemeinschaften aus juristischer Perspektive, in: Jan Hermelink/Stefan Grotefeld (Hrsg.): Religion und Ethik als Organisationen – eine Quadratur des Kreises, Zürich 2008, S. 23-52, hier S. 26). Joseph Listl hatte in seiner Habilitationsschrift noch zu zeigen versucht (vgl. Kirche und Staat in der neueren katholischen Kirchenrechtswissenschaft, Berlin 1978), dass der Wesensgehalt der societas-perfecta-Lehre weiter und unveränderlich bestehe, während der Staat als „societas imperfecta“ anzusehen sei (vgl. P. Granfield: Aufkommen und Verschwinden des Begriffs `societas perfecta´, in: Concilium, 18, 1982, S. 460-464). Schon bei Augustinus galt der Staat als „societas imperfecta“, im modernen Verfassungsstaat als „societas imperfecta et incompleta“, da er aus kirchlicher Sicht von Voraussetzungen lebt, über die er nicht selbst verfügen kann (vgl. Anton Rauscher (Hrsg.): Handbuch der Katholischen Soziallehre, Berlin 2008, S. 765). Während insbesondere die Kirche im Staat auch das Unperfekte sah, bezieht sie dies nun verstärkt auch auf sich selbst.

Durch diese Verlagerung wurden sowohl eine wechselseitige Relativierung beider Gesellschaften als auch das für beide geltende Gebot des „semper reformanda“ in Kraft gesetzt. Sowohl die Kirche als auch der Staat sind immer unvollständig und somit immer zu reformieren. Beide, Staat und Kirche, werden ganz thomistisch als “sichtbare” und “unsichtbare” Ganzheiten, oder augustinisch als Idee und Realität aufgefasst. Guardini setzte also bei den real-existierenden Ausprägungen an, führte sie aber mit ihrem ideal-existierenden “Sinn” zurück und entgrenzte sie dadurch von illegitimen „Zwecken“. Indem er beiden Ganzheiten nicht nur - wie frühere Konzeptionen in ihrer “Vollkommenheit” - miteinander konfrontierte, sondern sie wechselseitig in ihren Defiziten aufeinander verweist, bewahrte er gedanklich den Staat vor Staatsabsolutismus (Totalitarismus), aber auch die Kirche vor Kirchenabsolutismus (Integralismus). Gleichzeitig machte dies aber eine Wiederkehr „politischer Religion“ im antiken Sinne obsolet, ohne aber „Politische Theologie“ als eigenständiges Vermittlungsmodell gleich mitzu“erledigen“, wie Erik Peterson und in seiner Tradition Hans Maier dies vorschnell versuchten. Stattdessen ist „Politische Theologie“ als „Theologie der Welt“ bei Guardini geradezu die notwendige Ergänzung zu rein naturrechtlichen Modellen (Vgl. dazu meine Ausführungen zum Unterschied sozialethischer Überlegungen der „Neuen Politischen Theologie“ gegenüber dem polaren Ansatz des Zweiten Vatikanischen Konzils, siehe Helmut Zenz: "Jenseits Katholischer Soziallehre", in: Neue Ordnung, Heft 3/Juni 1996, S.180-191).

Guardini hatte durch sein Anknüpfen an Sokrates, Bonaventura, Dante, Newman und – wenn auch nie explizit, so doch immer deutlich als Mainzer Prägung wahrnehmbar – an Ketteler versucht, eine eigene Traditionslinie aufzuzeigen, die es ihm ermöglichte, nicht dem Neo-Platonismus oder dem Neo-Aristotelismus, nicht dem Neo-Augustinismus oder Neo-Thomismus, nicht dem Neo-Pascalianismus oder dem Neo-Kantianismus zu verfallen und daher auch nicht, wie häufig in der Auseinandersetzung der Weimarer Republik, diese Vereinseitigungen politisch im Wechselspiel von Staat und Gesellschaft, Staat und Gemeinschaft, Staat und Kultur, Staat und Zivilisation, Staat und Kirche, Kirche und Kultur, Kirche und Gemeinschaft, Kirche und Gesellschaft, Kirche und Zivilisation, Kultur und Gemeinschaft, Kultur und Gesellschaft, Kultur und Zivilisation, Gesellschaft und Gemeinschaft, Gesellschaft und Zivilisation sowie Gemeinschaft und Gesellschaft zu instrumentalisieren. Tatsächlich lebt auch für Guardini der irdische Staat von Voraussetzungen, die er selber nicht herstellen kann, wie bekanntermaßen Böckenförde festgestellt hat. Aber auch die irdische Kirche - und das ist das für die zwanziger Jahre provozierend „Neue“ der „politischen Ekklesiologie“ Guardinis - lebt von Voraussetzungen, die sie selber nicht herstellen kann, nicht einmal durch die für diese Strukturfragen gar nicht greifende „Unfehlbarkeit des Papstes“, worin er sich mit Newman einig weiß. Kirche und Staat sind von Gott gestiftete und mit Hoheit ausgestattete notwendig aufeinander verwiesene Größen, wobei die real-existierenden Kirchen den „Vorteil“ haben, bei ihrer Gestaltung von Macht und Recht diesen Stiftungscharakter unmittelbar in Rechnung stellen zu können und damit nicht auf naturrechtliche oder politisch-theologische Hilfskonstruktionen zurückgreifen zu müssen. Dies schützt sie eher, wenn auch nicht prinzipiell vor den diversen Gottesgnadentumsvorstellungen, aber auch vor den rein säkularen Vertragstheorien. Der Kirche bzw. den real-existierenden Kirchen kommt daher bei Guardini ebenso ein Primat der Ordnung vor dem Staat bzw. den real-existierenden Staaten zu wie dem Logos vor dem Ethos. Ausdrücklich handelt es sich aber auch dabei nicht um einen Primat der Würde, sondern allein der Ordnung. Kirche und Staat sind gleichwürdig, nur nicht gleichgeordnet. Beide sind zunächst „unsichtbar“ und „universal“ präexistent und konkretisieren sich von Beginn an auf zwei unterschiedliche Weisen im „Volk Gottes“. Auch das Volk des unsichtbaren Staates, der hinter den realexistierenden Staaten steht, ist „Volk Gottes“. Schon allein deshalb verbietet sich für Guardini jegliche Vorstellung eines „Gottesgnadentums“, sowohl im Sinne eines religiös legitimierten Absolutismus als auch im Sinne einer religiös legitimierten Anarchie. Gerade deshalb betonte er aber gleichzeitig auch die Notwendigkeit einer Legitimation der Herrschaft und Macht „von innen“, durchaus im Sinne einer personalisierten Volkssouveränität. Diese steht zur theonomen Souveränität nicht in einem Widerspruchs-, sondern in einem Identitätsverhältnis und bildet die lebendig-konkrete Spannungseinheit der autonomen und der heteronomen Souveränität. Daher stellt sich sowohl die Frage nach der konkret-lebendigen bzw. situativen Spannungseinheit als auch nach dem Primat der Ordnung. Insofern also die Idee der Volkssouveränität vom Innen, also von der Personalität der Bürger her begründet würde, und nicht nur „von unten“ als „Menschenwerk“, käme der Volkssouveränität sogar ein Primat vor der „Obrigkeitssouveränität“ zu, wobei letztere auch nur dann „gleichwürdig“ wäre, wenn sie sich wiederum vom personalen, trinitarischen Gott her legitimieren würde. Auch aus politisch-theologischer Sicht ist die Polarität von oben und von innen nämlich immer in Gott eingeholt, einmal als höchste Hoheit, einmal als innerste Innerlichkeit. Und gerade darin wird bei Guardini, wie gesehen, Gott zum „Politikum“ der Autorität und der Freiheit gleichermaßen und schlechthin.

Durch die polare, lebendig-konkrete Spannungseinheit zwischen Staat und Kirche wird der Bereich der “res mixtae”, der Bereich der Zivilisation und Kultur, der Gesellschaft und Gemeinschaft “entspannt” – vom totalen Zugriff der einen oder anderen Seite. In Kooperation und Konkordat, in Konsens und Konflikt wird zwischen Staat und Kirche der Raum gestaltet, in dem sich Gesellschaft und Gemeinschaft, Zivilisation und Kultur genossenschaftlich, solidarisch und subsidiär entfalten können, ohne Angst haben zu müssen, von der einen oder anderen Seite totalitär aufgesogen zu werden. Dies gilt zumindest solange, wie beide im Blick auf ihre „unsichtbaren“ Vor-Bilder unter eschatologischem Vorbehalt stehen und dieser von den Verantwortlichen auch anerkannt und gelebt wird. In der politisch-theologischen Konzeption Guardinis gibt es also nicht nur die Idee einer „unsichtbaren Kirche“, sondern auch jene eines „unsichtbaren Staates“, der als Ideal, aber auch als eigentlicher Träger der eschatologischen Verheißung besteht. Realexistierende Kirchen und Staaten repräsentieren als „societas“ lediglich das Volk Gottes, das selbst wiederum als Kirchenvolk der „unsichtbaren Kirche“ und als Staatsvolk des „unsichtbaren Staates“ erscheint. Hier führte Guardini einerseits die augustinische Konzeption von der „civitas terrenae“ und „civitas coelestis“ weiter, lehnt aber eine häufig vorgenommene einseitige Identifizierung des Staates mit der „civitas terrenae“ und der Kirche mit der „civitas coelestis“ ab: Für Guardini haben Kirche UND Staat jeweils irdische und himmlische Gestalten (vgl. dazu unter anderem Paul Tillich: Die Staatslehre Augustins nach De Civita Dei (1925), in: Begegnungen: Paul Tillich über sich selbst und andere, Gesammelte Werke, Bd. XII, hrsg. von Renate Albrecht, Stuttgart 1971, S. 81-96; Ludwig Buisson: Potestas und Caritas. Die päpstliche Gewalt im Spätmittelalter, Köln 1958, S. 21; Ferdinand Frodl: Gesellschaftslehre, Wien 1936; Paderborn/Zürich (Neudruck)1962, S. 78).

Der Gedanke der Repräsentation des Volkes und der Gedanke eines Parlaments als Form des Dialogs und der Teilhabe standen für Guardini nie zur Disposition, auch wenn er sich eine andere Ausgestaltung vorstellen konnte und ergänzende Institutionen für wünschenswert gehalten hat. Dies lag vor allem daran, dass er bei den politischen Praktikern die notwendige Identifikation mit den ursprünglich zugrundeliegenden Inhalten vermisste. Repräsentation des Volkes ist für Guardini undenkbar ohne Repräsentation Gottes, da es sich ja in der Tradition Dantes in beiden Fällen um das “Volk Gottes” handle. Das Volk Gottes repräsentieren zu wollen, ohne dabei die Hoheit Gottes zu repräsentieren, war für Guardini der eigentliche politisch-theologische Sündenfall der Neuzeit in ihren rechts- und linkshegelianischen Ausprägungen. Und damit einhergehend: In einem Parlament politischen Dialog und politische Teilhabe praktizieren zu wollen, ohne die politisch-theologische Grundlage dieses Dialogs und dieser Teilhabe in der göttlichen Trinität anzuerkennen, führt nach Guardini zwangsläufig in die Krise. Hier ging er sogar entschieden weiter als viele der anderen Dialogphilosophen, die aus dem jüdischen oder dem protestantischen Bereich die Dreifaltigkeit Gottes nicht oder nicht in diesem Maße in Anschlag bringen konnten bzw. wollten. Bei Guardini ist von Anfang an jede wirkliche, lebendig-konkrete Repräsentation immer "ein 'VESTIGIUM TRINITATIS', ein Spurbild der dreieinigen Gottesgemeinschaft" (Guardini, a.a.O., S. 93), gerade auch im praktischen Vollzug des politischen Dialogs und der politischen Teilhabe und in deutlicher Analogie zum Dialog und zur Teilhabe in der Liturgie. Dazu gehört in der Repräsentation des Hauptes Christi die „politische Konzelebration“ ebenso wie die von Guardini mit angestrebte und im Zweiten Vatikanischen Konzil geklärte „liturgische Konzelebration“. Ob es zutrifft, dass Guardini - wie Werner Becker in einem Brief vom 4. Dezember 1964 gegenüber Carl Schmitt meinte - so alt sei, dass er sich über die durch das Zweite Vatikanische Konzil ermöglichte Konzelebration als erreichtes gemeinsames Ziel nicht mehr richtig freuen könne, kann hier dahingestellt bleiben (Vgl. Werner Becker: Briefe an Carl Schmitt, Berlin 1998, S. 78).

Nun war Guardini alles andere als ein Illusionist. Er war sich sehr wohl bewusst, dass in einer bereits weitgehend vom Pantheismus und Atheismus geprägten Gesellschaft und Zivilisation diese theologischen Implikationen eben nicht diktatorisch gesetzt werden können. Allerdings war er angesichts der fortschreitenden Säkularisierung auch sehr enttäuscht darüber, dass viele Christen nicht mehr bereit waren, ihre Mitbürger von diesen notwendigen Implikationen missionarisch – also in Wort (Bekenntnis) und Tat (Vorbild) - zu überzeugen und sich stattdessen bis zur Unkenntlichkeit ihrer christlichen Herkunft erneut in das Ghetto der privaten oder integralistischen Religion zurückzogen, das doch Peter Wust gerade erst für überwunden erklärt hatte. Guardini war unglücklich, dass sich viele Christen weiterhin selbst vorgaukelten, dass Glaube entweder Privat- oder aber Klerikalangelegenheit sei. Durch beides werde der Glaube nämlich letztlich „unpolitisch“. Umso mehr hat ihn erkennbar geschmerzt, selbst für „unpolitisch“ gehalten zu werden, da er doch explizit und fortdauernd für die „Rettung des Politischen“ und für die „Rettung des Liturgischen“ jenseits von „Privatismus“ und „Integralismus“ bzw. „Total(itar)ismus“ eingetreten war. Bezüglich des Privatismus unterscheidet Jürgen Habermas (Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt am Main 1973, S. 106) zwischen staatsbürgerlichen Privatismus (mit seinem geringen Interesse an politischer Partizipation) und des familial-beruflichen Privatismus (mit seiner Orientierung an Konsum- und Freizeitinteressen). Eine ähnliche Unterscheidung könnte man wohl auch bezüglich des Integralismus und Total(itar)ismus treffen.

Die christlich-katholische Weltanschauung zu erklären und einzubringen, war für Guardini eben nicht eine private oder elitäre, auch nicht eine professorale oder klerikale Angelegenheit, sondern die Aufgabe jedes Christen in der Welt. Diese Verantwortung darf nach Guardini auch weder anonymisiert auf “die Kirche” abgeschoben noch an „Dritte“ delegiert werden. Denn es ist nicht ein „anonymer“ Staat oder eine „anonyme“ Kirche oder ein „Amtsstaat“ oder eine „Amtskirche“ für die Pflege ihrer christlich-abendländischen Wurzeln zuständig, sondern insofern der Staat und die Kirche „in uns“, in unseren Seelen erwachen und daher alle Staat und Kirche sind, trägt jeder Christ als Bürger die Verantwortung, die notwendigen Grund- und Wert-Entscheidungen immer neu zu treffen, vor allem aber die Frage zu klären, ob er weiterhin als lebendig-konkreter Demokrat leben will oder in einer unwirklichen tot-abstrakten Schein-Demokratie, in der sich unter Pervertierung der Freiheit die Es-Mächte entfalten; in der die avantgardistisch-totalitäre Kräfte unter dem ideologischen Deckmantel, angeblich eine “wahre Demokratie” herbeiführen wollen, nur die nächste Diktatur vorbereiten.

Politischer Pantheismus, politischer Deismus, „politischer Atheismus“ (Marcel Reding: Der Politische Atheismus, Graz/Wien/Köln 1957) waren für Guardini Widersprüche in sich. Es kommt nicht von ungefähr, dass der Guardini-Freund Marcel Reding sein Werk abschloss mit der Forderung „Rückkehr zu Gott, das Ende der Dialektik“: „Nicht durch eine Verschärfung des Risses zwischen Gott und Welt, der seit dem 19. Jahrhundert immer verderblicher wird, sondern durch bewusste Umkehr zu Gott kann allein eine Gesundung individueller und sozialer Verhältnisse erreicht werden. ... Gott ist für den Juden wie für den Christen der Garant einer gerechten sozialen Ordnung, genauso wie er der Garant individueller Sittlichkeit ist. Freilich kann der Begriff Gottes missbraucht werden. Dann tritt an die Stelle der Verehrung Gottes die unheilstiftende Verehrung der Götzen.“ Und in seinem Ausblick über „Echte und unechte Befreiung des Menschen: Befreiung oder Beraubung?“ ergänzt er: „Der Gedanke Gottes relativiert die menschliche Autorität in dem gleichen Maße, als er sie stützt. Menschliche Autorität ist nichts Letztes; sie kann nicht willkürlich entscheiden, sondern ist einer höchsten Autorität verantwortlich. So bedeutet die Religion eine zweifache Einschränkung der politischen Gewalt. Die Kirche schränkt die Alleinherrschaft des Staates institutionell ein, der Gottesglaube ethisch und rechtlich. Wo diese Einschränkung fällt, wird der Staat selbst Gott, allmächtig und eifersüchtig darüber wachend, göttliche Verehrung zu genießen. Und da er von Menschen, von einzelnen geführt wird, wer-den diese einzelnen versuchen, alle anderen absolut zu knechten, um sich des angemaßten göttlichen Ranges in jedem Augenblick zu versichern. Wo dieser göttliche Anspruch von Menschen gestellt wird, brechen die alten Ideen von Gerechtigkeit und Freiheit des Menschen in sich zusammen.“ Ganz zum Schluss steht eine Reflexion über das Verhältnis von östlichem und westlichen Christentum: „Osten und Westen bedeuten gegensätzliche Lebenswege innerhalb einer gemeinsamen Menschenwelt. Die künftige Aufgabe besteht darin, die Frieden stiftenden Gesetze der Menschlichkeit innerhalb dieser Gegensätze zur Geltung zu bringen, alle Menschen zu einem humanen Zusammen-leben zu bewegen. Das setzt viel guten Willen auf beiden Seiten und ein gewaltiges Potential von Bereitschaft zur Selbstkritik hier wie dort voraus. Dürfen wir damit rechnen? Angesichts der Bedeutung dieser Aufgabe, bei der es um die Zukunft der Menschheit geht, sollten wir es fordern können.“ Dies schrieb Reding wohlgemerkt zu Beginn des Kalten Krieges für die damals existierenden Blöcke und im Blick auf zwei christliche Konfessionen in der Auseinandersetzung mit Atheismus und Totalitarismus. Es gilt aber umso mehr für den neuen Kalten Krieg zwischen Okzident und Orient und im Blick auf zwei abrahamitische Weltreligionen, allerdings auch immer noch in der Auseinandersetzung mit Atheismus und Totalitarismus. Darüber wie sehr Reding in Guardinis Denktradition steht.

All diese pseudoreligiösen Ideologien könnten zwar im Einzelfall humane Ausprägungen haben, allerdings nicht als solche human, menschlich sein, weil sie im Menschen nicht mehr Gottes Ebenbild sehen, sondern entweder Gott als das Göttliche im Sinne einer bloßen Idee aus der Welt verbannen oder aber den Menschen als Geisttier naturalistisch an die Welt binden. Stattdessen betonte Guardini immer wieder: „Nur wer Gott kennt, kennt den Menschen“ und nur wer jede Einzelperson und damit vor allem auch sich selbst als Person annimmt, kann auch das Weltganze annehmen und erkennen. Und dieser Gott des Ursprungs ist eben ein einziger Gott in drei Personen. Wenn nun aber dieser christlich-trinitarische Gott, wie die Offenbarung sagt, die Liebe ist, bedeutet dieser Grundsatz, wie gesehen, gleichzeitig auch: “Nur wer die Liebe kennt, kennt den Menschen”.

Der Kirche und Staat können ohne Gott, der die Liebe ist, nicht in und aus sich selbst vollständig sein, bleiben auf ihn angewiesen und zwar nicht nur im Sinne eines ethischen Imperativs, sondern als lebendig-konkrete Du-Wirklichkeit.

"Katholische Demokratie" und "Zivilisation der Liebe"

Es geht Guardini in seiner politischen Theologie um eine Darstellung dieser Liebe, die Gott ist, in die Gesellschaft und Zivilisation hinein. Von daher kann er als ein Vordenker jener auf die politische Ganzheit bezogenen “Zivilisation der Liebe“ bzw. „Kultur der Liebe” angesehen werden, von der neuerdings auch in der päpstlichen Soziallehre wieder so häufig die Rede ist.

Der italienische Ausdruck „civiltà dell´amore“ meint dabei sowohl die Zivilisation als auch die Kultur der Liebe. Papst Paul VI. hat den Begriff „Zivilisation der Liebe“ zum ersten Mal bei einem Aufruf im Zusammenhang mit dem Angelus-Gebet an Pfingsten, 18. Mai 1975, verwandt. Papst Johannes Paul II. wählt ihn zum Leitbild seiner sozialethischen Überlegungen. Vgl. zum Beispiel in seiner Enzyklika „Centesimus Annus“ von 1991 die Nummer 10. Interessanterweise hat ausgerechnet die politische Philosophin Hannah Arendt diesen Impetus der Liebe anhand der Sozialphilosophie des hl. Augustinus aufgenommen, nachdem sie kurz zuvor Guardinis politisch-theologischen Ansatz seiner Gegensatzlehre kennen gelernt hatte (Vgl. Hannah Arendt: Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation, Berlin, 1929; Berlin-Wien (Nachdruck, hrsg. durch L. Lütkehaus)2003). Sie promovierte mit dieser Arbeit unter dem Einfluss von Martin Heidegger bei Karl Jaspers an der Universität Heidelberg. Allerdings darf man eben auch den Einfluss Guardinis nicht unterschätzen.

Im Sinne Guardinis darf die „katholische“ - auch hier im nicht-konfessionellen Sinne gemeint - Soziallehre weder in eine moralisierende Tugendlehre noch in eine pragmatisierende Institutionenlehre hinein aufgelöst werden. Sie muss ihre Grundlage in einer Zivilisations- und Kulturethik finden, die die Polarität von Tugend und Institution aushält, wie Bernhard Sutor betont:

„Tugend und Institution stützen sich gegenseitig, Tugend als innere Stabilisierung menschlichen Verhaltens, Institutionen als äußere Stabilisierung“ (Bernhard Sutor: Politische Ethik, Gesamtdarstellung auf der Basis der Christlichen Gesellschafts-lehre, Paderborn u.a. 1991, S. 65).

Tugenden und Institutionen sind jene Grund-Polaritäten, die in einer weiterhin nach innen und oben gerichteten Spannungseinheit ausgehalten werden müssen: der christlich-realistischen Verantwortung. In der Gesinnung und in der Mächtigkeit des „Christus in uns“(Romano Guardini: Der Rosenkranz Unserer Lieben Frau, Würzburg 1940; Neuausgabe 2003, Abschnitt „Christus in uns“), das sich in der „Kirche in uns“ und im „Staat in uns“ in unseren Alltagsbezügen konkretisiert, kann der Christ als Glied der Kirche und als Bürger des Staates die Welt als Reich Gottes verstehen, gestalten und verwirklichen.

Guardini stand mit den soziologischen und philosophischen Anteilen dieser Gedankengänge den Vertretern der “verstehenden Soziologie” der Neukantianer (Max Weber, Georg Simmel, Heinrich Rickert) erstaunlich nahe, ergänzte sie aber eben um jenes politisch-theologische Fundament, das jene Vertreter zwar als „Logos“ gegenüber dem Mythos wieder zu postulieren wagten, um dann aber vielfach doch nur beim Primat des „Ethos“ stehen zu bleiben. Andere haben sich im Zuge der neuzeitlichen Säkularisierung nur zur Wiederentdeckung eines allgemein-abstrakten, unpersonalen Logos-Verständnisses im Sinne des Hegelschen „Weltgeistes“ durchringen können, noch nicht aber zu einem lebendig-konkreten, personalen Verständnis des Logos als eines sich selbst offenbarenden, Einheit und Trinität darstellenden Gottes.

Hier forderte Guardini seine Mitchristen zu einem notfalls auch „einsamen“ Bekenntnis zur Trinität, zu Jesus Christus und zur Kirche auf: Denn nur wer diesen einen und trinitarischen Gott wirklich kennt, kennt in der Nachfolge Jesu Christi auch den Menschen so, dass er in der Lage ist, gemeinsam mit anderen überzeugten Christen und allen Menschen „guten Willens“ eine nachhaltige „Zivilisation der Liebe” bzw. „Kultur der Liebe“ aufzubauen.

Die tiefsten Grundvollzüge dieser Gemeinschaft sind für die Kirche die Liturgie, Diakonie und Martyrie. Es handelt sich um hoheitliche Aufgaben der Kirche. Die hoheitlichen Aufgaben des Staates hingegen sind die Rechtsetzung (Legislative), das eigentliche Feld der Politik, die Rechtsanwendung (Exekutive) und die Rechtspflege (Judikative). So wie Guardini sein Hauptaugenmerk innerhalb der Kirche auf die „Liturgische Bildung“ legte, aber auch von der Einübung in die Diakonie und die Martyrie ausging, legte er ihn innerhalb des Staates auf die „Politische Bildung“, ohne die Einübung in die Administration und in die Rechtspflege vernachlässigen zu wollen. Liturgie und Politik sind für Guardini als analoge Vollzüge innerhalb der Sozietäten Kirche und Staat durchaus auch gleichgerichtet in ihren Prinzipien und Zielen. Liturgische Bildung zielt auf die Befähigung zum aktiven Dialog und zur aktiven Teilhabe am liturgischen Prozess, auf eine rechte liturgische Gesinnung und Haltung. Politische Bildung will das Gleiche für den politischen Prozess erreichen. Die Prinzipien liturgischer Bildung sind bei Guardini daher das Erklären und Nachvollziehbarmachen der liturgischen Zeichen und Riten, die Prinzipien politischer Bildung besagen das Gleiche für die politischen Zeichen und Riten der Rechtsetzung.

„Bildung“ heißt dabei für Guardini, wie schon gesehen, immer, „dass einer aus innerem Wesensbilde her geformt sei, in Sein und Tun. Ob aber dieses Bild sich auswirken kann, hängt zu sehr weitem Maße davon ab, wie es in der Umgebung steht: Ob es von einem gleichgerichteten Gesamtbilde umfangen, getragen, oder aber von einem anders gerichteten durchkreuzt und gestört, oder gar von Unklarheit und Richtungslosigkeit irre gemacht und gelähmt wird. Von der Umgebung hängt es ab, wie weit der Einzelne eine Fülle von Werten, von lebendigem Können, von lebendiger Qualität ins Dasein oder doch ins reife Leben mitbekommt, es ihm leicht gemacht wird, sie zu erwerben - oder aber ob er alles selbst mühsam erringen muss, vielleicht dabei Verlust um Verlust erleidet. Und so gewiss die letzte Entscheidung über Charakter oder Nicht-Charakter, über Erfüllung oder Entleerung der Person, die letzte Entscheidung über die religio zum Ewigen im Einzelnen selber fällt, aus seiner Freiheit heraus und daher unabhängig von allem Vorgegebenen - ebenso sicher ist aber auch, dass dieses Vorgegebene hereinspricht, fördernd oder hemmend, klärend oder beirrend“ (Romano Guardini: Die Gefährdung der lebendigen Persönlichkeit (1926), in: ders.: Wurzeln eines großen Lebenswerks, Mainz/Paderborn 2001, Bd. 2, S. 263).

Die Verknüpfung des inneren Wesensbildes mit der unbedingten Wahrhaftigkeit im Miteinander in Kirche und Staat ist die Grundlage einer „wirklichen“, einer „katholischen“ Demokratie:

„Grundsatz der ethischen Selbstbildung und pädagogischen Erziehung scheint die unbedingte Wahrhaftigkeit zu sein, die Bejahung dessen, was ist, die Annahme des Menschen durch ihn selbst und durch den Erzieher. Mit dieser Situation scheint aufs engste das demokratische Element zusammenzuhängen. Es scheint, dass eine wirkliche Demokratie erst von hierher möglich wird. Dass sie nicht von einem abstrakten Begriff der Gleichheit aller Menschen formuliert werden kann, sondern durch eine bis auf den - wenn auch noch so beschämenden - Grund gehende Erkenntnis dessen, was der Mensch ist ... welcher Grund offenbar für alle Menschen gleich ist, ein im Grunde gleiches Schicksal für alle bedingt usw. Demokratie hieße von hier aus das Nebeneinanderstehen in der Grundwahrheit des Menschen ... ein Sich-zum-Anderen-Stellen in der von hierher gegebenen Gefährdung; ethisch-soziale Aufgabe usw.“ (Romano Guardini: Theologische Briefe an einen Freund, Paderborn (2)1977, S. 57).

Wenn Guardini Demokratie mit absoluten Werten und objektiven Autoritäten verknüpft, bleibt seine Definition von Demokratie richtungsweisend für alle katholischen Christen, die somit in ihrem Leben „die primäre Initiative des sowohl persönlichen wie öffentlichen Tuns im einzelnen“ liegen sehen, gleichzeitig aber dieser Initiative gegenüber „ein waches Bewusstsein vom Recht des anderen und vom Recht der Ganzheiten, der res publica“ haben. Sie fühlen sich der Verfassung, Gesetzen und Urteilssprüchen gegenüber gebunden, auch wenn sie persönlich anderer Meinung sind. Jedem bleibt „nur der vom Gesetz vorgesehene Weg, dagegen anzugehen.“ Und somit gehört für Guardini wesentlich „zum demokratischen Grundgefühl … die Selbstverständlichkeit, dass alle Fragen, die in den Lebensbereich des anderen oder in den der Gemeinschaft greifen, in ebenbürtiger Verhandlung, in einem vernünftigen und von Achtung getragenen Ausgleich gelöst werden“ (Romano Guardini: Zum Problem der Demokratie. Ein Versuch der Klärung (1946), in: ders.: Wurzeln eines großen Lebenswerkes, Paderborn/Mainz 2002, Bd. 3, S. 321). Das sollte aber das Selbstverständnis jeglicher „liberalen“, „sozialen“, „nationalen“ und „universalen“ Demokratie sein und insofern ist Guardini gleichermaßen „liberaler“, „sozialer“, „nationaler“ und „universaler“ Demokrat in einem, verstanden als Träger und Gestalter der polaren Spannungseinheit „katholischer Demokratie“.

So kommt Papst Franziskus in seiner Enzyklika „Laudato si“ zum Schluss, dass es zur Lösung von so komplexen Situationen „wie der, mit der sich die Welt von heute auseinandersetzen muss“, nicht reiche, „dass jeder Einzelne sich bessert“, sondern „mit Netzen der Gemeinschaft reagiert werden“ müsse (219), und verweist dazu ausdrücklich auf ein Diktum Guardinis aus „Ende der Neuzeit“, nämlich:

„Die Anforderungen dieses Werkes werden so ungeheuer sein, dass sie aus den Möglichkeiten der individuellen Initiative und des Zusammenschlusses individualistisch geformter Einzelner nicht zu lösen sind. Es wird einer Sammlung der Kräfte und einer Einheit der Leistung bedürfen“ (Romano Guardini: Das Ende der Neuzeit, Würzburg (9)1965, S. 72).

Daher kommt es nicht von ungefähr, wenn er als Angebot der Kirche an die Welt „das Ideal der `Kultur der Liebe´“ (Papst Franziskus, Laudato si, Nr. 231 unter Verweis auf Paul VI., Botschaft zum Weltfriedenstag 1977: L’Osservatore Romano (dt.) Jg. 6, Nr. 52/53, S. 4; AAS 68, 1976, S. 709) vorschlägt und dazu das Kompendium der Soziallehre der Kirche von 2006 zitiert, wo es heißt:

„Um die Gesellschaft menschlicher, der menschlichen Person würdiger zu machen, muss die Liebe im sozialen Leben – auf politischer, wirtschaftlicher und kultureller Ebene – neu bewertet und zur beständigen obersten Norm des Handelns erhoben werden.“ (Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Kompendium der Soziallehre der Kirche, Freiburg 2006, 582)

Es ist also, wie Guardini schon 1916 festhält: „Im Geheimnis der heiligsten Dreieinigkeit hat jede menschliche Gemeinschaft das Gesetz ihrer Kraft und Würde. In all ihren Formen ist Menschengemeinschaft ein `vestigium Trinitatis´, ein Spurbild der dreieinigen Gottesgemeinschaft.“

Das „Band der Gnade“, das in der Geschwisterschaft in Christus liegt, gibt nach Guardini allein den Menschen die sittliche Kraft, „das Wesensziel der Gemeinschaft zu verwirklichen, wirklich ein lebendiges `Spurbild´ der Hochheiligen Dreieinigkeit zu werden. So kommt ihm aus der Trinität nicht nur das Vorbild des Gemeinschaftslebens, sondern auch die Kraft, es zu erreichen.“ (Romano Guardini: Die Bedeutung des Dogmas vom dreieinigen Gott für das sittliche Leben der Gemeinschaft, in: Wurzeln, a.a.O., S. 52f.)

Oder wie es Papst Franziskus mit Verweis auf die Lehre des hl. Bonaventura - wiederum in Übereinstimmung mit Guardini - formuliert:

„Für die Christen führt der Glaube an den einen Gott, der trinitarische Communio ist, zu dem Gedanken, dass die gesamte Wirklichkeit in ihrem Innern eine eigentlich trinitarische Prägung besitzt. … Denn die menschliche Person wächst, reift und heiligt sich zunehmend in dem Maß, in dem sie in Beziehung tritt, wenn sie aus sich selbst herausgeht, um in Gemeinschaft mit Gott, mit den anderen und mit allen Geschöpfen zu leben. So übernimmt sie in ihr eigenes Dasein jene trinitarische Dynamik, die Gott dem Menschen seit seiner Erschaffung eingeprägt hat. Alles ist miteinander verbunden, und das lädt uns ein, eine Spiritualität der globalen Solidarität heranreifen zu lassen, die aus dem Geheimnis der Dreifaltigkeit entspringt.“ (Papst Franziskus, Laudato si, Nr. 239).

Wenn Individuum und Gemeinschaft in die polare Spannungseinheit eines Corpus mysticum stehen und die damit verbundene Spannung in einer Dialogik von Hingabe und Selbsthaltung ausgehalten wird, dann bedeutet dies die Verwirklichung einer trinitarischen politischen Theologie. Guardinis Gegensatzlehre wird so zu einer umfassenden trinitarisch ausgerichteten, politischen Theologie des „Menschlich-Unerlässlichen im Neuen“, verbunden mit dem politisch-theologischen Modell einer „Zivilisation der Liebe“ bzw. „Kultur der Liebe“, oder wie Guardini es ausdrückt: einer „Ordnung der Liebe“. Im Blick auf die menschliche Neigung, den Anderen zum Fremden, Feind und Bösen zu erklären, konstatierte Guardini:

„`Der Andere´ ist der Fremde, der Feind, der Böse. Ein Urwort, aus dem verworrenen Herzen aufsteigend, und was wir Zivilisation nennen, Gesittung, Kultur, ist der unablässige Versuch, dieses Wort außer Kraft zu setzen. Aber jede menschliche Begegnung enthält die Möglichkeit, dass es sich als gültig erweise. … So ist es ein Weg zum Frieden, wenn Jemand, der es vermag, uns das Gefühl für `den Anderen´ zurechtrückt. Ein Wort allgemeiner Lebensweisheit sagt: `Was du nicht willst, das man dir tue, das tu auch keinem Anderen.´ Der Herr geht einen Schritt - nein eine ganze Weltlänge weiter und sagt: `Was ihr wollt, dass die Leute euch tun sollen, das sollt auch ihr ihnen tun.´ (Mt 7,12) Das Wort setzt eine Revolution in Gang, wenn es ernst genommen wird. Zunächst ist es doch so, dass ich sage: `Ich - und die Anderen´. Ich bin der Mittelpunkt; die Anderen reihe ich in meine Umwelt ein, freundliche, oder gleichgültige, oder feindliche, und behandle sie danach. Das Eigenrecht des Anderen, sein Antlitz lasse ich gar nicht richtig heraus. Es bleibt Hintergrund für mein Selbst; und es ist schon viel, wenn meiner Selbstsucht eine Grenze gesetzt wird, indem ich daran erinnert werde, dass der Andere das Unrecht gerade so fühlt wie ich, und ich ihm also nicht antun darf, was mich verletzen würde, wenn es mir geschähe. Das Wort Jesu geht aber viel, sozusagen absolut weiter und sagt: Bringe dir zu Bewusstsein, dass der Andere auch `Ich´ ist, auch Mittelpunkt der Welt, und gib ihm in deinem Gefühl, in deinen Augen, in deinem Verhalten Freiheit, dass er hervortreten könne: sieh in ihm `den Bruder´. Wenn aber die Selbstverfangenheit sich wehrt, dann sagt der Herr: Ich helfe dir. Er hat ja die geheimnisvolle Wahrheit verkündet, dass alles, was wir dem Anderen tun, wir Ihm selbst tun; so genau, dass Er danach uns richten wird (Mt 25,35ff). Jeder Beziehung, die zwischen dem Menschen läuft, ist Er also selbst inne und gibt dadurch für Jeden dessen Anderem den Charakter. Er hat das Naturwort - nein, das von der Urschuld geschaffene Grundwort: `der Andere ist der Feind´ verwandelt und gesagt: `der Andere bin Ich!´ Wenn wir diesen Satz nicht bloß in der Schrift stehen lassen, sondern ihn in Wirkung umsetzen: Der Andere da drüben, in ihm ist Christus, so, wie Er in mir ist - dann wandelt sich alles. Die Wider-Ordnung der Selbstsucht, die wir `Natur´ nennen, wird zur Ordnung der Liebe. Das ist `sein Friede´; der Friede, den Christus gibt." (Romano Guardini: Johanneische Botschaft, 1962, S. 39; jetzt auch in: ders. Johanneische Botschaft / Jesus Christus, 2./2. Auflage 1992, S. 30ff.; vgl. zum Begriff „Ordnung der Liebe“ auch Erik Wolf: Ordnung der Liebe. Gottesgebot und Nächstenrecht im Heidelberger Katechismus, 1963)

Egoismus, Individualismus sind für Guardini Selbst-Sucht, auf der anderen Seite stehen Totalismus, Kollektivismus als – Gemeinschafts-Sucht. Bei beidem handelt es sich um extreme Positionen, die sich unversöhnlich gegenüberstehen. Selbstliebe und Annahme des Selbst auf der einen Seite und Gemeinschaftsliebe und Annahme der Gemeinschaft auf der anderen Seite dagegen sind sich ergänzende Pole. Die Spannungseinheit wird theologische eingeholt über die Trinität und anthropologisch im „Kirche in uns“- und „Staat in uns“-Gedanken, das zum unverwechselbar, von Gott beim Namen gerufenen „Selbst in uns“ hinzutritt. Der dreifaltige Gott ist zugleich Schöpfer unseres Selbst und unserer sozialen Bezüge.

„Am Anfang meiner Existenz steht eine Initiative, ein jemand, der mich mir gegeben hat. Nicht als Menschen einfachhin, sondern als diesen Menschen: diesem Volk zugehörig, dieser Zeit, von diesem Typus und diesen Anlagen. Bis zu jenen letzten Bestimmtheiten, die es überhaupt nur einmal gibt, nämlich in mir; jener letzten Eigenart, die macht, dass ich in allem, was ich tue, mich selbst wiedererkenne, und die sich in meinem Namen ausdrückt. Damit ist aber zugleich eine Aufgabe gestellt. Eine sehr große, vielleicht kann man sagen, eine, welche allen einzelnen Aufgaben zu Grunde liegt. Ich soll sein wollen, der ich bin; wirklich ich sein wollen, und nur ich. Ich soll mich in mein Selbst stellen, wie es ist, und die Aufgabe übernehmen, die mir dadurch in der Welt zugewiesen ist.“

Nur wenn wir wieder die Selbstachtung lernen, können wir der zunehmenden Entehrung des Menschen Einhalt gebieten: „Der moderne Krieg mit seinen Waffen wäre nicht möglich, wenn im Menschen nicht der Trieb zum Tode wirkte; und kein Totalismus würde gelingen, wenn etwas im Menschen nicht mit seiner eigenen Entehrung einverstanden wäre. Gott hat aber den Menschen nicht in einer Weise erschaffen, wie er es mit den Himmelskörpern getan hat, nämlich als Objekte. Sondern so, dass er ihn zu seinem Du gesetzt und ihn angerufen hat.“ (Romano Guardini: Die Annahme meines Selbst, Würzburg 1950; (2)1960; (4)1965, S. 21f.; Gläubiges Dasein/Die Annahme seiner selbst, (3./6./5./10.)1993, S. 23).

Der Geist der Liebe ist es, der machen kann, „dass ich die haarschmale und doch so tief trennende Ferne durchmesse, die zwischen mir und mir-selbst liegt. Er kann wirken, dass ich in Frieden mit mir gelange.“ (ebd., S. 27)

Eine Zivilisation, eine Kultur, eine Ordnung der Liebe ist immer nur dann und dort möglich, wenn und wo Menschen den Geist der Liebe in sich entdecken und sich in diesem Geist als Geschwister erkennen und anerkennen, sich vertrauen und in ihrer Würde achten.